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Was tun, wenn der allerbeste Freund plötzlich verschwindet? Jack und sein geliebtes Kuscheltier Swein sind unzertrennlich. Doch eines Tages passiert etwas Schreckliches und Swein geht verloren. Um ihn zurückzugewinnen, muss Jack ins Land der Verlorenen – einen magischen Ort voller Überraschungen und seltsamer Wesen. Dort muss er sich vielen Gefahren stellen und wird am Ende vor die größte Entscheidung seines Lebens gestellt – schließlich geht es um seinen besten Freund! Die berührende Geschichte über wahre Freundschaft und den Mut, über sich selbst hinauszuwachsen, hat bezaubernde Bilder und ist ideal zum Vor- und Selberlesen geeignet. Ein herzerwärmendes Kinderbuch von Bestseller-Autorin J.K. Rowling mit Charme, Spannung und ganz viel Magie!
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Seitenzahl: 271
Jack und sein geliebtes Kuscheltier Swein sind unzertrennlich. Doch eines Tages passiert etwas Schreckliches und Swein geht verloren. Um ihn zurückzugewinnen, muss Jack ins Land der Verlorenen – einen magischen Ort voller Überraschungen und seltsamer Wesen. Dort muss er sich vielen Gefahren stellen und wird am Ende vor die größte Entscheidung seines Lebens gestellt – schließlich geht es um seinen besten Freund!
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Danksagung
Viten
Für David
J.K. Rowling
Für Sandy und Lola
Jim Field
Das Swein war ein kleines Kuschelschwein aus weichem Frotteestoff. Sein Bauch war mit kleinen Plastikbohnen gefüllt, sodass man es gut herumwerfen konnte. Die knautschigen Schweinepfötchen hatten genau die richtige Größe, um damit Tränen aus dem Auge zu wischen. Das Swein gehörte Jack, und anfangs schlief er jeden Abend mit einem Schweinsöhrchen im Mund ein.
Als Jack zu sprechen anfing, nannte er es »das Swein«, weil er noch nicht »Schwein« sagen konnte. So bekam das Swein seinen Namen. Eigentlich war es lachsrosa, mit glänzend schwarzen Plastikaugen, aber Jack wusste gar nicht mehr, dass es einmal so ausgesehen hatte. Für ihn war das Swein schon immer so gewesen wie jetzt: grau, ausgebleicht und mit einem steifen Ohr vom vielen Nuckeln. Nach einiger Zeit fielen dem Swein die Augen aus und es hatte nur noch zwei winzige Löcher im Gesicht, aber Jacks Mutter war Krankenschwester und nähte kleine Knöpfe anstelle der Plastikperlen an. Als Jack an diesem Nachmittag aus dem Kindergarten kam, lag das Swein in einen Wollschal gewickelt auf dem Küchentisch und wartete darauf, dass Jack ihm den Verband von den Augen abnahm. Seine Mutter hatte sogar eine kleine Krankenakte angelegt: »DS Jones. Knopfbefestigungsoperation. Ausführende Ärztin: Mum.«
Nach der Augenoperation hieß das Swein bei allen nur noch kurz und bündig »DS«. Seit Jack zwei Jahre alt war, ging er nicht mehr ohne DS ins Bett, was oft Probleme machte, denn wenn die Zeit zum Schlafen kam, war DS meist nirgends zu finden. Manchmal mussten Mum und Dad lange suchen, bis er irgendwo auftauchte – an allen möglichen Stellen, zum Beispiel tief in Dads Turnschuh oder zusammengeknüllt in einem Blumentopf.
»Warum musst du ihn immer verstecken, Jack?«, fragte Mum, wenn sie DS dann in der Küchenschublade oder hinter einem Sofakissen entdeckte.
Die Antwort kannten nur Jack und DS. Jack wusste, dass DS gemütliche Ecken liebte, wo er sich zusammenrollen und schlafen konnte.
DS mochte genau dieselben Dinge wie Jack: unter Büsche und in Verstecke kriechen oder in die Luft geworfen werden – Jack von seinem Vater und DS von Jack. DS machte es nichts aus, wenn er schmutzig wurde oder mal in einer Pfütze landete, solange Jack und er zusammen Spaß hatten.
Einmal, als Jack drei war, steckte er DS in die Recyclingtonne. Er hatte Mum sagen hören, die Sachen dort drin kämen zurück in den Kreislauf, und Jack dachte, das hätte etwas mit Fahrradfahren zu tun. Deshalb wartete er, bis Mum aus der Küche gegangen war, und warf DS dann in diese Tonne. Er stellte sich vor, DS würde darin ein bisschen im Kreis herumgeschleudert werden, sobald der Deckel zu war. Mum lachte, als Jack ihr erklärte, er wolle hineingucken und sehen, was sich da alles bewegte. Da erklärte sie ihm, das mit dem Kreislauf sei etwas ganz anderes, als Fahrrad zu fahren. Die Sachen in der Tonne würden weggebracht und neue Dinge daraus gemacht werden. Sie bekämen sozusagen ein neues Leben. Jack wollte natürlich auf keinen Fall, dass jemand DS mitnahm und etwas Neues aus ihm machte, und er steckte ihn nicht noch einmal in die Recyclingtonne.
Durch die vielen Abenteuer nahm DS einen besonderen Geruch an, den Jack sehr an ihm mochte. Es war eine Duftmischung von all den Orten, an denen DS bei seinen Abenteuern gewesen war, dazu die dunkle warme Höhle unter Jacks Bettdecke und eine Spur von Mums Parfüm, denn wenn sie kam und Jack Gute Nacht sagte, nahm sie auch immer DS in den Arm und küsste ihn.
Manchmal fand Mum, dass DS ein bisschen zu streng roch und eine Wäsche vertragen konnte. Als DS zum ersten Mal in die Waschmaschine kam, lag Jack wütend und vor lauter Angst schreiend auf dem Küchenboden. Mum hatte ihm zu erklären versucht, dass DS das Herumwirbeln in der Maschine großen Spaß mache, aber erst als DS wieder in der Höhle unter Jacks Bettdecke lag, weich und trocken und nach Waschpulver duftend, verzieh er seiner Mutter. Bald gewöhnte Jack sich daran, dass DS manchmal in die Waschmaschine kam, aber richtig froh war er erst dann, wenn das Schwein wieder seinen normalen Geruch angenommen hatte.
Das schlimmste Erlebnis hatte DS, als Jack vier Jahre alt war und ihn am Strand verlor. Dad hatte schon die Badetücher zusammengepackt, und Mum half Jack gerade in sein Sweatshirt, als ihm einfiel, dass er DS irgendwo im Sand verbuddelt hatte, nur wo genau, das wusste er nicht mehr. Sie suchten, bis die Sonne unterging und der Strand fast verlassen war, und Dad war richtig sauer, und Jack jammerte und heulte, aber Mum meinte, er dürfe die Hoffnung nicht aufgeben, und sie grub weiter mit den Händen überall herum. Und gerade als Dad sagte, sie müssten jetzt eben ohne DS los, steckte Jack seinen Fuß in den Sand und spürte etwas Weiches. Jack zog DS heraus und schluchzte vor Glück, und Dad sagte, DS dürfe von nun an nicht mehr mit zum Strand kommen, was Jack ziemlich ungerecht fand, weil DS den Sand sehr mochte. Deshalb hatte Jack ihn ja überhaupt erst vergraben.
Kurz bevor Jack in die Schule kam, traf ein Brief ein mit der Nachricht an alle Eltern, die Kinder sollten am ersten Tag ihr liebstes Schmusetier mitbringen. Alle in der Klasse kamen mit einem Teddy in die Schule, aber Jack hatte natürlich DS dabei. Die Kinder gingen nacheinander nach vorn und erzählten, wie ihr Tier hieß und warum sie es mochten. Als Jack an der Reihe war, erklärte er, wie es dazu kam, das sein Schweinchen DS hieß. Er berichtete über die Operation an seinen Augen und auch über den Tag, als DS am Strand eingebuddelt war und beinahe für immer verloren gegangen wäre. Die Kinder mussten über die Geschichten von DS und seinen Abenteuern lachen, und als Jack zu Ende erzählt hatte, klatschten sie alle. DS war mit Abstand das lustigste und interessanteste Spielzeug, obwohl er eigentlich ziemlich schäbig aussah. Während der Pause warfen sich Jack und ein Junge namens Freddie DS gegenseitig zu. Kurz bevor der Unterricht weiterging, fiel er Jack versehentlich in eine Pfütze. Am Abend musste DS dann wieder einmal in die Waschmaschine.
Wenn Jack in der Schule mal einen schlechten Tag hatte – eine schlechte Note vielleicht oder Streit mit Freddie, oder jemand hatte sich über Jacks krummen Tontopf lustig gemacht –, dann wartete zu Hause DS und wischte ihm mit seinen knautschigen Schweinepfötchen die eine oder andere Träne ab. Egal was Jack auch passierte, DS war für ihn da. Er verstand Jack, verzieh ihm alles und hatte außerdem diesen vertrauten Zuhausegeruch, der immer wiederkam, mochte ihn Mum noch so oft wegwaschen.
Jack ging noch nicht lange zur Schule, als er eines Nachts von Lärm geweckt wurde. Er tastete nach DS und presste ihn im Dunkeln an sich.
Jemand rief laut. Die Stimme klang ein bisschen wie die von Dad. Dann krachte etwas und eine Frau schrie. Sie klang wie Mum, aber so hatte Jack sie noch nie gehört. Er hatte Angst. Er lauschte noch einige Augenblicke, drückte sich DS auf Mund und Nase und wusste, dass auch DS Angst hatte.
Jack dachte, vielleicht kämpfen Mum und Dad zusammen gegen einen Einbrecher. Er kannte die Nummer, mit der man bei der Polizei anrufen konnte, und stand im Dunkeln auf, um hinaus auf den Flur zu schleichen. Mit DS in der Hand ging er auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Dad brüllte immer noch und Mum schrie. Vom Einbrecher konnte Jack nichts hören.
Da flog mit einem lauten Knall die Wohnzimmertür auf und Dad stürmte auf die Diele. Er war gar nicht im Schlafanzug, sondern hatte Jeans und einen Pullover an. Jack auf der Treppe bemerkte er nicht. Dad riss die Haustür auf, stürzte hinaus und schlug sie hinter sich zu. Jack hörte den Wagen in der Einfahrt starten. Dann fuhr Dad davon.
Jack schlich ins Wohnzimmer. Die Stehlampe lag auf dem Boden, und Mum saß mit den Händen vor dem Gesicht auf dem Sofa und weinte. Als sie Jack kommen hörte, blickte sie erschrocken auf und weinte noch heftiger. Jack dachte, sie würde ihm das Ganze erklären, und alles würde dann gut werden, aber als er zu ihr rannte, nahm sie ihn nur ganz fest in den Arm, so wie er es mit DS immer machte, wenn er wütend oder traurig war.
Dad wohnte von nun an nicht mehr bei ihnen.
Mum und Dad erklärten Jack jeder einzeln, dass sie nicht mehr miteinander verheiratet sein wollten. Jack sagte, dass er das verstehen könne. Er sagte, andere in der Schule hätten auch Mütter und Väter, die nicht mehr zusammenlebten. Er spürte, dass es wichtig für sie war, dass er damit fertigwurde, und tat deshalb so, als ob.
Manchmal wenn Mum ihm abends einen Gutenachtkuss gegeben und die Tür geschlossen hatte, weinte Jack allerdings in den schlaffen Körper von DS. DS wusste und verstand alles, ohne dass man etwas sagen musste. DS kannte den schweren Kloß, der in Jacks Brust lag. Seine Schweinepfötchen wischten Jacks Tränen ab. Im Dunkeln an der Seite von DS brauchte Jack sich nicht zu verstellen.
Nicht lange nach Jacks sechstem Geburtstag lud Dad ihn zu einem Hamburger ein. Er schenkte ihm eine große Schachtel Lego und erzählte, dass er jetzt eine Arbeit im Ausland habe.
»Ich kann aber immer mit dir reden, Jack«, sagte Dad. »Und du kannst mich mit dem Flugzeug besuchen kommen. Das wäre doch toll, oder?«
Nicht so toll, wie einen Dad zum Spielen in der Nähe zu haben, dachte Jack, aber das sagte er nicht. Jack gewöhnte sich langsam daran, Dinge nicht zu sagen.
Dann meinte Mum, es wäre doch eine gute Idee, wenn sie in die Nähe von Gran und Grandpa ziehen würden. Die könnten für Jack da sein, wenn Mum abends arbeiten musste. Sie arbeitete jetzt in einem großen Krankenhaus, und Grandpa hatte ein hübsches Haus mit einem Garten für sie gefunden, nur zwei Straßen von Grans und Grandpas Haus entfernt. Jacks Großeltern hatten einen ziemlich ungezogenen Hund namens Toby. Jack fand ihn lustig.
»Muss ich dann in eine andere Schule?«, fragte Jack und dachte an seinen besten Freund Freddie.
»Ja«, antwortete Mum, »aber es gibt eine Schule ganz in der Nähe von unserem neuen Haus. Die wird dir bestimmt gefallen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Jack.
Er wollte nicht umziehen und wollte auch nicht in eine neue Schule. Mum schien das nicht zu verstehen: Jack wollte nicht noch mehr Veränderungen. Er wollte bei seinen Schulfreunden bleiben und in dem alten Haus, wo er und DS schon so viele Abenteuer erlebt hatten.
Gran und Grandpa telefonierten mit Jack. Sie betonten, wie sehr sie sich darauf freuten, dass er und Mum bald in ihrer Nähe wohnen würden, und wie viel Spaß sie dann hätten, wenn sie mit Toby im Park spielen würden. Also willigte Jack ein, aber eigentlich wollte er das nicht. Der Einzige, der ihn zu verstehen schien, war DS. Jack wusste, dass auch DS ihre ganzen tollen Verstecke vermissen würde.
Ein paar Wochen nachdem Mum Jack von dem neuen Haus erzählt hatte, verabschiedete er sich von seiner Lehrerin und von Freddie. Am nächsten Tag kamen die Möbelpacker und nahmen alles mit, was ihr altes Haus zu Jacks Zuhause gemacht hatte, und dann fuhr Mum mit ihm und DS über hundert Kilometer weit in ihrem Auto.
Die Reise machte Spaß, das musste Jack zugeben. DS saß auf seinem Schoß, und Mum und Jack spielten Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst und machten auf halber Strecke Pause, um Pizza und Eis zu essen. Jack durfte zwei Wunderkugeln aus dem Kaugummiautomaten herauslassen, eine für sich und eine für DS (die er natürlich für DS essen musste, wie Jack seiner Mutter später im Auto erklärte).
Jack hatte das nicht erwartet, aber das neue Haus gefiel ihm gut. Sein Zimmer lag gleich neben Mums Schlafzimmer, und vor seinem Fenster wuchs ein hoher Baum. Gran und Grandpa kamen fünf Minuten nach ihnen dort an, mit Taschen voller Esssachen für den Kühlschrank. Der Hund Toby versuchte gleich als Erstes, Jack das Kuschelschwein aus der Hand zu schnappen.
»Nein, Toby, du weißt, dass DS mir gehört!«, sagte Jack. Er schob DS zur Sicherheit vorn in seinen Pullover, aber so, dass der Kopf herausschaute und DS sehen konnte, was um ihn herum passierte.
Die Umzugshelfer schafften die ganzen Möbel ins Haus. Mum und Gran räumten die Küche ein, während Jack, Grandpa, Toby und DS den Garten erkundeten. Dort gab es viele interessante Verstecke und außerdem hervorragende Aussichtspunkte, von denen aus DS alles sehen konnte, aber Jack behielt ihn dicht bei sich, falls Toby noch einmal versuchen sollte, ihn wegzuschnappen.
Abends im Bett hielt Jack sein Stoffschwein in der Hand, während er seinen vertrauten und beruhigenden Geruch genoss, und sie waren sich wortlos darin einig, dass der Umzugstag längst nicht so schlimm gewesen war, wie Jack befürchtet hatte. Noch hingen am Fenster keine Vorhänge, und DS und Jack beobachteten das Spiel der Blätter in der Abenddämmerung, bevor sie einschliefen.
Am Montagmorgen wurde Jack von seiner Mutter dabei ertappt, wie er versuchte, DS in seinen Schulranzen zu schmuggeln.
»Nein, Jack«, sagte sie sanft. »Was, wenn er verloren geht?«
Die Vorstellung, DS könnte in einer neuen Schule voller fremder Menschen verloren gehen, war furchtbar, und deshalb brachte ihn Jack wieder in sein Zimmer. Als er dann aber auf das Schultor zuging, kam er sich sehr einsam vor und ihm war bange.
»Du wirst bestimmt einen wunderschönen Tag haben«, sagte Mum und drückte ihn an sich, bevor die Schulglocke läutete und er hineingehen musste.
Jack sagte nichts. Er runzelte die Stirn vor lauter Anstrengung, nicht ängstlich auszusehen.
Alle Kinder in der neuen Klasse starrten ihn an. Sie kamen ihm größer vor als seine alten Schulkameraden. Die Lehrerin war aber nett und fragte ihn nach seinem Namen. Dann sollten die anderen Schüler einer nach dem anderen nach vorn kommen und vorführen, was sie für ihr Naturprojekt gesammelt hatten. Jack hatte natürlich nichts dabei und sah deshalb zu, während die anderen aus der Klasse ihre Blätter, Eicheln und Kastanien zeigten.
Dann kam die Pause. Jack suchte sich eine Ecke, um erst mal seine Ruhe zu haben.
Nach der Pause sagte die Lehrerin, dass alle ihre Lesebücher herausnehmen sollten. Jack gab sie auch eines. Dann erklärte sie den Kindern, heute sei ein besonderer Tag, denn gleich würden einige Viertklässler zu ihnen kommen. Jeder bekomme einen Partner, der ihm beim Lesen helfen werde.
Die Tür ging auf, und viele ältere Schüler kamen herein. Alle grinsten, und einige winkten den Erstklässlern zu, die sie kannten. Jack war ängstlicher denn je.
Ein großes Mädchen fiel besonders auf. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Anders als die meisten anderen Mädchen kicherte sie nicht hinter vorgehaltener Hand. Sie stand einfach ruhig da, während die Lehrerin die Viertklässler aufforderte, sich einen Partner oder eine Partnerin zu suchen. Als der Blick des großen Mädchens auf Jack fiel, sah er rasch auf seine Hände.
Die Viertklässler gingen zwischen den Schulbänken herum, und Jacks Klassenkameraden fingen an zu flüstern: »Holly! Holly! Hierher, Holly!«
Auch Jacks Banknachbarin rief leise: »Holly! Holly!«
Als sie bemerkte, dass Jack sie ansah, erklärte sie: »Siehst du die mit den langen schwarzen Haaren? Das ist Holly Macaulay. Sie ist eine sehr gute Turnerin. Sie war sogar schon im Fernsehen.«
»Hallo«, hörte Jack jemanden hoch über sich sagen.
Er blickte auf. Holly Macaulay, die schon im Fernsehen gewesen war, sah auf ihn herunter.
»Du bist neu, nicht wahr?«, sagte sie.
Jack wollte Ja sagen, aber seine Stimme spielte nicht mit. Alle starrten ihn an, und das wilde »Hier, Holly, Holly, hierher!«-Geflüster wurde noch lauter.
Aber Holly Macaulay beachtete es nicht. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Jack.
»Wir sind jetzt Partner«, sagte sie.
Eigentlich ist es merkwürdig, ein labberiges kleines Kuschelschwein mit einem elfjährigen Mädchen zu vergleichen, das schon im Fernsehen war – aber nicht für Jack. DS hatte ihm damals an seinem allerersten Schultag Freunde beschert, und mit Holly Macaulay war es hier in der neuen Schule genauso. Schon nach einer einzigen Stunde mit Holly als Lesepartnerin war Jack nicht mehr der schüchterne Neue in der Klasse. Er war der Junge, den sich Holly Macaulay ausgesucht hatte und den Holly Macaulay »mein Freund Jack« nannte, als sie ihn später in der Mittagspause mit den anderen am Tisch sitzen sah.
Die Kinder in seiner Klasse staunten nicht schlecht. Alle wollten jetzt mit ihm reden. Nachdem Jack seine belegten Brote gegessen hatte, fragte ihn ein Junge namens Rory, ob er Lust hätte, mit ihm Fußball zu spielen. Rory kannte jede Menge gute Witze. Und als Mum Jack nach der Schule abholte, zog Rory seine Mutter hinüber zur Jacks Mum, und die beiden vereinbarten, dass Jack später in der Woche zu Rory zum Spielen kommen solle.
DS war begeistert, dass der erste Tag in Jacks neuer Schule so gut verlaufen war, und hörte sich alles gern an, was Jack über Rory und Holly Macaulay erzählte. Natürlich musste Jack dabei kein einziges Wort sagen. Schweigend lagen sie zusammen unter die Decke gekuschelt, während draußen vor dem Fenster die Blätter raschelten, und DS wusste und verstand trotzdem alles. Jack schlief ein, die Wange an den weichen, mit Bohnen gefüllten Körper geschmiegt, dessen vertrauter Geruch sich mit dem der frisch gestrichenen Wände von Jacks Zimmer mischte.
Jack und Holly blieben in dem ganzen Schuljahr Lesepartner. Je besser er sie kennenlernte, desto mehr wurde ihm klar, warum alle in der Klasse mit ihr befreundet sein wollten.
Holly Macaulay war nicht nur sehr klug und bekam immer gute Noten, sondern konnte auch so schön singen, dass sie bei der Schulversammlung die Solostimme übernehmen durfte. Außerdem war sie eine der besten jungen Turnerinnen des Landes. Sie war einmal im Fernsehen gewesen und zweimal in der Zeitung. Ihr Ziel war es, bei den Olympischen Spielen anzutreten. Manches davon erzählte sie Jack selbst, den Rest hörte er von anderen.
Doch obwohl sie berühmt war, war sie nicht eingebildet. Sie zeigte Jack die blauen Flecke von ihren Stürzen vom Schwebebalken. Turnen hörte sich nach harter Arbeit an. Holly erzählte Jack, dass sie immer gewinnen musste. Selbst ein zweiter Platz reichte nicht, wenn sie zur Olympiade wollte.
Eines Tages sah Holly merkwürdig aus, als sie zu ihrer Lesestunde kam. Sie hatte rote, geschwollene Augen, und als sie Hallo sagte, kam nur ein Krächzen heraus.
Jack mochte Holly sehr gern, aber er war ihr gegenüber immer noch ein bisschen schüchtern.
»Hast du … hast du verloren?«, flüsterte er. Er wusste, dass am Wochenende ein wichtiger Turnwettkampf stattgefunden hatte. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin gar nicht hingegangen.«
»Warst du krank?«, fragte Jack.
Holly schüttelte noch einmal den Kopf.
Sie lasen die nächste Seite in Jacks Lesebuch. Dann tropfte eine dicke Träne auf das Papier.
»Meine Mum hat meinen Dad verlassen«, flüsterte Holly.
Hinter Jacks Lesebuch geduckt, erzählte sie ihm alles.
Hollys Mutter habe zu ihr gesagt, sie solle eine Tasche packen, und sei dann mit ihr zu einer anderen Wohnung gefahren, während Hollys Vater bei der Arbeit war, im Krankenhaus. Holly wusste nicht, wann sie ihren Vater wiedersehen würde. Sie vermisste ihn. Normalerweise war er es, der sie zu den Turnwettkämpfen brachte. Ihre Mutter hatte erklärt, sie würde Hollys Dad nicht mehr lieben.
»Sie wollen beide, dass ich bei ihnen wohne«, flüsterte Holly. »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Nach der Lesestunde musste Holly in ihre Klasse zurück, und Jack fragte sich, warum sie ihm diese geheimen, vertraulichen Dinge erzählt hatte. Er dachte, vielleicht war er ja Hollys DS. Viel hatte er zwar nicht gesagt, aber er hatte sie verstanden.
Jack hatte sich daran gewöhnt, dass Dad ihm Postkarten aus all den Städten schickte, in denen er arbeitete. Mum hängte die Postkarten an den Kühlschrank, wo Jack sie immer sehen konnte. Auf einer davon waren Brücken zu sehen, die über Kanäle führten, auf einer anderen eine Stadt vor schneebedeckten Bergen. Jack telefonierte mit ihm und schickte ihm Fotos der Bilder, die er in der Schule gemalt hatte, und auch von seinem Schwimmabzeichen. Jack schwamm für sein Leben gern. Er war einer der Besten in seiner Klasse, und er feierte seinen siebten Geburtstag mit einer Party im Schwimmbad. Es kamen jede Menge Klassenkameraden, auch sein bester Freund Rory.
Kurz vor den Sommerferien war Holly Macaulay zum zweiten Mal im Fernsehen. Bei der Schulversammlung kam sie nach vorn und zeigte der ganzen Schule ihre nächste Goldmedaille, und als alle klatschten, winkte sie und zwinkerte Jack zu.
Mum und Jack fuhren in den Ferien mit Gran und Grandpa nach Griechenland. Auch DS kam mit. Ihm gefiel die Sonne. Sein schlaffer grauer Frotteekörper blich auf dem Handtuch neben Jack am Pool noch ein bisschen mehr aus, aber Jack verbuddelte ihn nicht noch einmal im Sand.
Als die Schule wieder losging, hatte Holly Macaulay auf die Schule für die Großen gewechselt. Jack fand es schade, dass er sie nicht mehr sah, aber er hatte jetzt viele neue Freunde.
Eines Abends kamen Gran und Grandpa vorbei, um auf ihn aufzupassen, weil Mum ausgehen wollte. Das war merkwürdig, denn Mum ging abends eigentlich nie aus. Als Jack fragte, wohin sie gehe, sagte sie, sie gehe mit einem Bekannten abendessen. Sie sah hübsch aus und trug ein neues Kleid.
Von da an ging Mum einmal die Woche abends aus. Jack hatte nichts dagegen. Die Spieleabende mit Gran und Grandpa machten ihm Spaß, aber er achtete darauf, DS irgendwo hoch oben hinzulegen, wenn Toby über Nacht dablieb.
Dann, an einem sonnigen Wochenende, verkündete Mum, dass ein gewisser Brendan sie mit dem Auto abholen würde und sie den Tag zu dritt verbringen würden.
»Ist Brendan der, mit dem du immer essen gehst?«, fragte Jack. Ja, das sei er, sagte sie.
Brendan war ein freundlich aussehender Mann mit einer tiefen Stimme. Er fuhr Mum und Jack zu einem Naturpark mit Abenteuerspielplatz. Jack probierte die Rutsche aus und hangelte sich an dem Kletternetz hinauf, aber richtig Spaß machte es ihm nicht. Es war komisch, dass er Mum nicht für sich hatte. Als Jack von dem Spielplatz genug hatte, gingen die drei unten am Fluss spazieren. Brendan zeigte Jack, wie man Steine übers Wasser hüpfen ließ. Jack wäre es lieber gewesen, Dad hätte ihm das beigebracht.
Nachdem Brendan sie nach Hause gefahren und sich verabschiedet hatte, fragte Mum, ob Jack Brendan möge. Er sei nett, sagte Jack.
Sie waren nun oft mit Brendan unterwegs. Jack merkte, dass Mum ihn wirklich gernhatte. Als Jack einmal von der Schaukel zu ihrer Bank zurückkam, sah er, dass sich die beiden an der Hand hielten, aber als Mum seinen Blick bemerkte, ließ sie ganz schnell wieder los.
Unter der Bettdecke verstand DS alles, ohne dass man es ihm sagen musste. Er wusste, dass Jack nicht wohl dabei war, wenn Brendan Mums Hand hielt, obwohl Jack ihn jetzt, wo er ihn besser kannte, schon etwas mehr mochte. DS verstand, dass es Jack lieber gewesen wäre, wenn Dad die Hand von Mum gehalten hätte. DS befürchtete genau wie Jack, dass Mum wieder traurig werden könnte, falls Brendan nicht mehr ihr Freund sein wollte. DS war der Einzige, dem Jack anvertrauen konnte, wie sehr er sich wünschte, dass die Dinge sich nicht ständig veränderten. DS brauchte er nichts vorzutäuschen.
Jack wusste, dass Brendan – genau wie Mum – schon einmal verheiratet gewesen war und dass er eine Tochter hatte. An manchen Wochenenden konnte sich Brendan nicht mit Mum treffen, weil seine Tochter bei ihm war und er etwas mit ihr unternahm.
Eines Tages kündigte Mum an, dass sie zu viert ins Kino gehen würden: Mum, Jack, Brendan und seine Tochter Holly.
»Holly?«, sagte Jack.
Und tatsächlich, sie war es: Holly Macaulay, die inzwischen noch größer geworden war und sehr viel älter aussah, als Jack sie in Erinnerung hatte. Und noch etwas hatte sich geändert. Im Gegensatz zu ihm schien sie sich gar nicht darüber zu freuen, ihn zu sehen. Sie war höflich zu Mum, aber auf Mums Fragen nach ihrem Turnen antwortete Holly nur einsilbig. Sie ließ sich von Mum auch bei gar nichts helfen, und als Mum sie fragte, ob sie zur Toilette müsse, sagte sie, sie sei alt genug und könne das allein, besten Dank. Jack gefiel es nicht, dass Holly seine Mutter so unfreundlich behandelte. Er hatte noch nie erlebt, dass Holly irgendjemandem gegenüber so böse war.
Als er später im Bett mit DS darüber sprach (auch wenn sie natürlich nicht sprachen, aber es kam auf dasselbe hinaus, weil DS ja alles verstand, was Jack dachte), vermutete Jack, dass es Holly wohl seltsam vorkam, ihren Vater mit einer anderen Frau zu sehen. Obwohl seine Mum doch wunderbar war. Holly sollte nicht so mit ihr reden.
Es war fast ein Jahr her, dass Brendan Jack beigebracht hatte, wie man Steine über das Wasser hüpfen ließ, als Mum sagte, sie müsse Jack etwas mitteilen. Sie sah nervös aus. Ihre linke Hand verbarg sie im Schoß.
»Brendan hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten möchte«, erklärte sie.
»Oh«, sagte Jack.
Er dachte kurz darüber nach.
»Wird er dann auch bei uns wohnen?«
»Ja«, antwortete Mum. Sie schien immer noch nervös. »Macht dir das etwas aus, Jack?«
Jack mochte Brendan inzwischen sehr viel lieber. Brendan hatte ihm gezeigt, wie man Dame spielte, und ihm bei den Hausaufgaben geholfen. Trotzdem verstand er nicht, warum nicht alles so bleiben konnte, wie es war.
»Muss ich dann Dad zu ihm sagen?«
»Nein«, sagte Mum. »›Dad‹ ist und bleibt dein Vater. Zu Brendan kannst du einfach weiter ›Brendan‹ sagen.«
»Wissen es Gran und Grandpa schon?«, fragte Jack. Insgeheim hoffte er, dass die beiden nicht glücklich darüber wären, aber Mum sagte, dass sie Brendan sehr gern hätten.
»Und Holly ist dann meine Schwester?«
»Deine Stiefschwester«, antwortete Mum. »Du magst Holly doch, oder?«
»Ja«, sagte Jack.
Und eigentlich stimmte das auch. Er erinnerte sich noch gut daran, wie nett Holly an seinem ersten Tag in der neuen Schule zu ihm gewesen war. Manchmal hatten sie richtig Spaß zusammen, aber sie konnte auch gemein sein mit ihren spitzen Bemerkungen. Mum sagte, das sei so, weil sie ein Teenager war.
Mum und Brendan heirateten Ende des Sommers in einem Standesamt. Jack musste einen Anzug tragen, weil er für die Ringe verantwortlich war. Holly war Brautjungfer und trug ein blaues Kleid und Kornblumen in ihrem langen Haar.
Hinterher gingen sie zusammen in ein Restaurant. Brendans Mum und Dad waren auch dabei. Sie waren sehr nett zu Jack und verstanden sich auch mit Gran und Grandpa gut. Alle schienen glücklich zu sein, auch wenn Holly nicht viel sagte.
»Sie hat nächste Woche einen großen Wettkampf«, erklärte Brendan und legte den Arm um Holly in ihrem Brautjungfernkleid. »Da werden wir alle hingehen und sie anfeuern.«
»Wen meinst du mit ›wir‹?«, fragte Holly.
»Judy und Jack könnten ja auch kommen«, antwortete Brendan. Judy, das war Jacks Mutter.
»Ich will aber nicht, dass sie kommen«, sagte Holly. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ich möchte, dass du allein kommst, wie immer.«
Für einen Augenblick war es still am Tisch, und dann redeten plötzlich alle ganz laut.
Spät am Abend spielte einer von Brendans Freunden Klavier, und die Erwachsenen tanzten. Jack war müde. Er wollte ins Bett und zu DS.
Da setzte sich Holly neben ihm an den Tisch. Sie sprach leise und klang wütend.
»Er ist nicht dein Dad«, sagte sie, »sondern meiner. Wenn er bei euch wohnt, heißt das noch lange nicht, dass er dein Dad ist. Verstanden?«
Holly machte Jack ein bisschen Angst.
»Ja«, antwortete er. »Verstanden.«
Holly kam nun jedes zweite Wochenende zu ihnen. Jack wusste vorher nie, ob die nette Holly oder die böse Holly kommen würde. Er und Mum durften ihr nie beim Turnen zusehen, ja sie durften sie kaum fragen, wie ihre Wettkämpfe abgelaufen waren.
Wenn Holly gute Laune hatte, machte sie mit Jack Videospiele oder sie spielten Fußball im Garten. Sie konnte aber auch unausstehlich sein, besonders wenn sie einen Wettkampf verloren hatte. Einmal nannte sie ihn ein dummes Baby, als sie sah, wie er DS an sich drückte. Jack schämte sich und versteckte DS von da an, immer wenn Holly kam.
Brendan erklärte Jack, dass Holly sich gerade doppelt so sehr anstrengen müsse, um zu gewinnen, weil ein Mädchen in die Gegend gezogen sei, das fast so gut turne wie sie.
Jack gab sich große Mühe, Holly nicht zu verärgern, wenn sie das Wochenende bei ihnen verbrachte, aber man konnte nie genau wissen, was sie wütend machte. Als Jack erkältet war, schrie sie ihn an, weil er während ihrer Lieblingsfernsehsendung schniefte. Brendan wies sie zurecht, woraufhin sie aus dem Zimmer stürmte und die Tür hinter sich zuknallte. Brendan lief ihr nach. Jack blieb noch eine Weile allein sitzen, ging dann aber hinauf in sein Zimmer. Er rollte sich auf dem Bett mit DS zusammen, der ihm wortlos beipflichtete, dass Jack nichts dafür konnte, dass er schniefen musste, und dass Holly sich unmöglich benommen hatte.
Weihnachten stand vor der Tür. Die Ferien hatten begonnen. Jack war aufgeregt, denn er hatte sich ein neues Fahrrad gewünscht, genau wie sein bester Freund Rory. Bei Rory in der Nähe gab es einen Spielplatz mit einer ordentlichen Teerstrecke, wo die beiden mit ihren neuen Rädern herumsausen wollten.
Als Mum die Kiste mit dem Weihnachtsschmuck auspackte, zeigte sie Brendan den Engel, der immer den Ehrenplatz an der Spitze ihres Baums gehabt hatte. Jack hatte ihn gebastelt, als er noch im Kindergarten gewesen war. Sein Körper bestand aus einer Toilettenpapierrolle, die Flügel waren aus Pappe mit aufgeklebtem Glitzerzeug, und er hatte einen Bart aus brauner Wolle.
»Engel haben doch keinen Bart!«, meinte Holly verächtlich, als sie Jacks Werk oben auf dem Baum entdeckte. Da waren Mum und Brendan gerade in der Küche. »Wie kann man nur eine alte Klopapierrolle an den Christbaum hängen? Meine Mum würde nie Sachen zum Schmücken nehmen, die ich als Baby gebastelt habe. Sie wüsste, dass ich mich dafür schämen würde.«
In dem Moment fiel Jack plötzlich wieder ein, wie Dad immer gesagt hatte: »Jetzt fehlt nur noch der letzte Schliff«, und wie er Jack dann hochgehoben hatte, damit er den Klorollenengel oben auf die Baumspitze stecken konnte, ganz zum Schluss. Einen Augenblick lang wünschte sich Jack so sehnlich, dass sein Vater wieder nach Hause käme, dass seine Brust schmerzte.