Jacobowsky und der Oberst - Franz Werfel - E-Book

Jacobowsky und der Oberst E-Book

Franz Werfel

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Beschreibung

»Franz Werfels ›Komödie einer Tragödie‹, wie sich ›Jacobowsky und der Oberst‹ im Untertitel nennt, ist brillant. Es ist Werfels bestes Drama. Nichts mehr erinnert hier an den einstigen O-Mensch-Lyriker des Expressionismus, hier sprühen Funken, hier mischen sich Satire, Witz, Humor und eine leise, lächelnde Skepsis zu einem faszinierenden Dialog. Zwischen 1941 und 1942, nach einer waghalsigen Flucht des 50-jährigen Werfel durch verschiedene Länder Europas bis nach Amerika, entstand dieses Stück. Es empfing seine Handlung aus den Erlebnissen des Prager Autors und aus den Erzählungen eines Emigranten namens Jacobowicz. Es ist also ein authentisches Drama, ein Zeitstück über das Frankreich von 1940 und ein Dokument für die durch alle Kontinente gehetzten Juden. Doch darüber hinaus zeigt es die Geschichte zweier menschlicher Gegensätze.« ›Düsseldorfer Nachrichten‹

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Seitenzahl: 146

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Franz Werfel

Jacobowsky und der Oberst

Komödie einer Tragödie in drei Akten

FISCHER E-Books

Inhalt

Erster AktDes ersten Aktes erster TeilDes ersten Aktes zweiter TeilZweiter AktDes zweiten Aktes erster TeilDes zweiten Aktes zweiter TeilDritter AktDes dritten Aktes erster TeilDes dritten Aktes zweiter TeilPersonen der Komödie

Des ersten Aktes erster Teil

Die Waschküche des Hotels ›Mon Repos et de la Rose‹. Die Waschküche dient als Luftschutzkeller. – Beim Aufgehen des Vorhangs läßt sich im ersten Augenblick die Befürchtung nicht ganz abweisen, man werde einem pathetischen, unangenehmen und schwer verständlichen Drama beiwohnen müssen, denn die Bühne ist in ein magisch blaues Licht getaucht, aus dem sich in gespenstischer Erstarrung einige menschliche Gestalten losringen, die regungslos entlang der Wände auf Holzbänken sitzen. Nicht genug damit, es erschallt zu Häupten der blau beleuchteten Gespenster die überlebensgroße Grabesstimme eines unheilverkündenden griechischen Gottes. – Zum Glück stellt es sich jedoch sofort heraus, daß die Stimme keinem Deus ex machina angehört, der aus den Wolken spricht, sondern einem französischen Ministerpräsidenten im Radio, daß ferner das magische Licht von einigen nackten Glühbirnen ausgesendet wird, die man nach Vorschrift des französischen Luftschutzes blau angestrichen hat, und daß schließlich die regungslosen Gestalten keine symbolische Bedeutung haben, sondern Hotelgäste sind, die der nächtliche Angriff auf Paris um ein Uhr nachts aus den Betten gescheucht und in dieser Waschküche zusammengetrieben hat.

STIMME DES MINISTERPRÄSIDENTEN REYNAUD

La situation est grave mais pas désespérée … Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. An der Somme verteidigen unsere braven Truppen jeden Zoll des heimatlichen Bodens mit der größten Tapferkeit. Die Übermacht des Feindes an Mannschaft und Material aber ist so groß, daß damit gerechnet werden muß … Das Radio schnappt jäh mit einem erschrockenen Schnalzer ab. Noch kann man die Gestalten der Anwesenden nicht deutlich unterscheiden.

STIMME DES TRAGISCHEN HERRN

Bei uns darf man sich nicht einmal mehr auf die Unzuverlässigkeit verlassen. Jetzt schalten sie wirklich das Radio aus, wie es bei Luftangriffen vorgeschrieben ist …

KNABENSTIMME

Wer hat da im Radio gesprochen?

STIMME DES TRAGISCHEN HERRN

Der kleine Mann einer großen Stunde, mein Sohn! Er spricht von Bordeaux und verfügt über die passende Grabesstimme: »La situation est grave.« Der Ministerpräsident Reynaud.

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

mit der klagenden hohlen Stimme eines Käuzchens Wie?! Das war Monsieur Reynaud selbst, o Gott, o Gott! Monsieur Reynaud steht sehr links. Alle die Herren stehen sehr links. Monsieur Léon Blum duldet nicht, daß in der Woche mehr als vierzig Stunden gearbeitet wird. So sagt meine Tochter. Meine Tochter ist Professor am Lycée Jean Bodel. Da haben wirs nun! Den letzten Krieg hab ich verstanden. Diesen Krieg versteh ich nicht. Warum für Danzig sterben, fragt meine Tochter täglich. Wo Danzig liegt, das wissen doch nur die Gelehrten … Heilige Mutter Gottes, war das eine Bombe? …

DER TRAGISCHE HERR

Keine Bomben, Madame, das sind die Abwehrbatterien beim Bahnhof Saint Lazare. Ein Wunder, daß diese Batterien nicht von einem unserer Minister gestohlen und an die Boches verkauft worden sind …

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Ja, ja, Monsieur! Meine Tochter sagt immer, Demokratie, das ist, wenn die Politiker gute Geschäfte machen und die Geschäftsleute schlechte Politik …

DER TRAGISCHE HERR

Demokratie, meine Beste, sie ist wie das Leben selbst: die Korruption der einen dividiert durch die Korruption der andern!

STIMME DES JUNGEN MÄDCHENS

unterdrückt Gehen Sie … Das ist doch …

MÄNNERSTIMME

Was gibt es da?

STIMME DES JUNGEN MÄDCHENS

verlegen Ach, ich habe meine Mascotte verloren … Ein kleiner süßer Elephant aus Elfenbein mit einem Türmchen drauf und einem winzigen Maharadscha … Einige der Gäste lassen ihre Taschenlampen aufblitzen, um den Boden nach dem Elephanten abzusuchen.

DER TRAGISCHE HERR

Vermeiden Sie das gefälligst, meine Herrschaften! Dies hier ist kein bombensicherer Abri, sondern nur die Waschküche unseres lieben muffigen Hotels ›Mon Repos et de la Rose.‹ Dort die Luken gehen auf die Straße, und die Vorhänge sind nicht dicht. Und unser Chef d’Ilot ist ein Esel …

MÄNNERSTIMME

Nein! Ein räudiger Hund! Wie der gebrüllt hat bei der letzten Alerte!

DER TRAGISCHE HERR

Er wäre idiotisch genug zu glauben, jemand von uns gibt den deutschen Fliegern geheime Signale …

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Könnte das nicht wirklich vorkommen? Es wohnen so viel Ausländer in diesem Haus … Mit einem leisen Schrei Aber das war bestimmt eine Bombe …

DER TRAGISCHE HERR

Noch immer die Abwehrbatterien. Gute Frau, Sie gleichen einem Kraftwerk zur Erzeugung von Panik … Da kommt Madame Bouffier, und sie bringt uns sogar ein bißchen Licht mit … Madame Bouffier, die Hotelwirtin, ist mit einer oben abgedeckten Laterne eingetreten. Sie ist eine dicke Fünfzigerin mit flammend rot gefärbtem Haar. Ihr folgt Salomon, der Concierge des Hotels, ein sehr kleiner, melancholischer, etwas verwachsener junger Mann. – Nun erkennt man in dem bescheidenen Licht den kahlen Raum mit den Bänken an der Wand und einigen Stühlen, auf denen die frierenden Hotelgäste sitzen, die meisten in Schlafanzügen mit übergeworfenen Mänteln.

MADAME BOUFFIER

Kontrollieren Sie die Vorhänge, Salomon, damit wir keinen Anstand mit dem Chef d’Ilot haben wie gestern …

SALOMON

Jawohl, Madame Bouffier … Er holt eine Leiter zu den hochgelegenen Luken und sieht nach, ob die blauen Vorhänge gut schließen.Die alte Dame aus Arras trägt unter ihrem dürftigen Straßenmantel ein Nachtjäckchen im Stil des vorigen Jahrhunderts. Neben ihr sitzt Clémentine, ihre Enkelin, ein vierzehnjähriges Mädchen mit naschhaften Augen und einem Nachtjäckchen desselben Stils.

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Wie lange wird die Alerte heute dauern? Wir haben bereits die siebente Nacht nicht geschlafen. Und ich bin schon dreiundsiebzig alt und die Kleine ist erst vierzehn …

DER TRAGISCHE HERR

Frankreich hat zu viel und zu komfortabel geschlafen, Madame, und jetzt stirbt es … Bei diesen Worten erhebt er sich, ein großer Mann, dunkel gekleidet, in einem havelockartigen Mantel. Mit seiner abgeeckten, von weißem Haar umrahmten Stirn macht er den Eindruck eines jener Boulevardiers, wie man ihnen dann und wann bei den Bücherständen des Quai Voltaire begegnet. Die Taschen seines Mantels sind auch voll von Büchern.

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Daß ich das noch erleben mußte. Wissen Sie, ich bin aus der Provinz, aus Arras … Es war der schönste Maimorgen, und wir wußten nichts, absolut nichts! Ich sage zu meiner Tochter: Die Eier sind teurer geworden. Und meine Tochter sagt, dieser Krieg ist das größte Verbrechen der Weltgeschichte. Meine Tochter unterrichtet nämlich Geographie und Weltgeschichte … Sie fängt zu schluchzen an Leih mir dein Taschentuch, Clémentine ma petite …

CLEMENTINE

Hier, Großmama …

SALOMON

von der Leiter steigend In Ordnung, Madame Bouffier! Heut muß er das Maul halten, der Chef d’Ilot …

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Die Ärmste ist vielleicht schon eine Waise … Ihr Vater, mein Sohn, steht als Leutnant der Festungsartillerie in der Maginot-Linie … Nicht wahr, Clémentine?

CLEMENTINE

Ja, Großmama …

MADAME BOUFFIER

das Lamento der alten Dame abschneidend Ich habe die Rede des Ministerpräsidenten nicht gehört. Was hat Monsieur Reynaud gesagt? Szabuniewicz, der schläfrige Pole, ein stiernackig athletischer Mann, der gegen die Wand gelehnt, zu schlafen schien, öffnet die Augen zu einem Blinzeln. Sein harter, slawischer Akzent erregt sofort Aufmerksamkeit.

SZABUNIEWICZ

Der Herr hat gesagt: »Die Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos.« Vielleicht hat der Herr auch gesagt umgekehrt: »Die Situation ist hoffnungslos, aber nicht ernst.« Ich bin schon lang genug in Frankreich. Aber eine fremde Sprache ist immer leichter zu sprechen als zu verstehn …

MADAME BOUFFIER

die Hände faltend Möge Gott unsere Generäle inspirieren: Maréchal Pétain und Général Weygand!

DER TRAGISCHE HERR

So alte Männer, Madame, pflegt Gott nicht gerne zu inspirieren …

SZABUNIEWICZ

reicht dem jungen Mädchen neben ihm die Mascotte, ohne die Augen zu öffnen Hier ist Ihr Elephant, Mademoiselle …

DAS JUNGE MÄDCHEN

Ah! Wie haben Sie ihn gefunden, Monsieur? Sie haben ja geschlafen.

SZABUNIEWICZ

Szabuniewicz ist einer, der alles im Schlaf findet, sagt der Oberst … Gähnt und schläft weiter.

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Helfen Sie doch meinem armen Kopf! Demnach … Es ist demnach möglich, daß die Deutschen siegen … O Gott, o Gott …

DER TRAGISCHE HERR

Der alte Gott wird sie daran nicht hindern, Madame, und der alte Pétain noch weniger. Ich fürchte, daß diese beiden reifen und verehrungswürdigen Persönlichkeiten der Fünften Kolonne angehören …

MADAME BOUFFIER

Halt, meine Freunde, das ist ja der reinste Defaitismus! Ich bin das Oberhaupt dieses Hauses. Sie haben mir zu gehorchen wie die Passagiere des Schiffes ihrem Kapitän! Als Kapitän dulde ich keinen Defaitismus. Die Deutschen sind noch mehr als hundert Meilen von Paris entfernt. Ein Wunder kann geschehen, wie es 1914 geschehen ist, als die Boches noch viel näher waren als heute und Gott den General Galieni inspirierte, alle Taxis von Paris, mit Truppen beladen, dem Feinde entgegen zu werfen. Glauben wir doch an Wunder! Damals haben wir gezittert wie heute und wurden gerettet. Also ein wenig Zuversicht und Heiterkeit, wenn ich bitten darf! Ich habe meine Gäste immer als meine Familie betrachtet … Zum Concierge Lieber Salomon, holen Sie doch das Grammophon aus dem Salon …

DAS JUNGE MÄDCHEN

Ja, lieber Salomon, das Grammophon aus dem Salon! Und die neue Platte von Chevalier …

DER TRAGISCHE HERR

stöhnend Auch das noch! Dieser heisere Gigolo ist mir auch ohne Bombenbegleitung ein Greuel!

SALOMON

Also vielleicht etwas klassische Musik?

DAS JUNGE MÄDCHEN

Nur keine klassische Musik, Salomon! Die ist so schrecklich lang, selbst wenn sie kurz ist …

SALOMON

Also vielleicht etwas Jazz?

DER TRAGISCHE HERR

Ich würde Sie in diesem Falle ermorden, Salomon, und von jedem französischen Gericht freigesprochen werden!

SALOMON

Also vielleicht … Achselzuckend Wem kann man es recht machen auf der Welt? Will abgehn

MADAME BOUFFIER

Warten Sie, Salomon! Sie zählt mit einem Feldherrnblick die Häupter ihrer Gäste Irgendwer fehlt mir. Irgendwer scheint im Bett liegen geblieben zu sein. Dieser Leichtsinn ist unerhört! Wenn der Chef d’Ilot dahinterkommt! Wenn ein Unglück geschieht! Ich fühle mich verantwortlich für die Familie meiner Gäste … Ich habs! Monsieur Jacobowsky ist abwesend. Monsieur Jacobowsky hat sich wieder einmal gedrückt, die liebe leichtsinnige Seele …

DER TRAGISCHE HERR

Für diesen Monsieur Jacobowsky scheinen Sie sich ja besonders verantwortlich zu fühlen, beste Bouffier …

MADAME BOUFFIER

Das will ich meinen. Er ist eine sonnige Natur. Und ich ziehe sonnige Naturen allen Schwarzsehern vor.

DER TRAGISCHE HERR

Dieser Ausspruch richtet sich gegen mich. Und ich habe seit zwanzig Jahren Ihr kleines Hotel zum Hauptquartier meiner Lebens-Irrfahrt erkoren …

MADAME BOUFFIER

Monsieur Jacobowsky hat mein kleines Hotel zwar erst seit zwei Jahren zum Hauptquartier erkoren, aber er ist noch keine einzige Wochenrechnung schuldig geblieben. Im Gegenteil! Er irrt sich oft zu seinen Ungunsten! Welch ein Wunder! Ein Mann und kein Egoist! Zu Salomon Gehen Sie hinauf und holen Sie ihn aus dem Bett!

JACOBOWSKY

der unversehens eingetreten ist Nicht nötig, Madame Bouffier … Sie brauchen sich nicht zu échauffieren, mein lieber Salomon … Ich habe nur einen kleinen Weg gemacht, in die Rue Royale … Jacobowsky ist ein untersetzter Mann in mittleren Jahren mit einem rosig rundlichen Gesicht und schönen langbewimperten Augen. Er ist peinlich adrett gekleidet, in einem etwas altmodischen, von Seidenborten umsäumten Cutaway. Er zeichnet sich, diesem Anzug entsprechend, durch ein höfliches, ja oft feierliches Gehaben aus. Seine Ausdrucksweise ist wohlüberlegt, formvollendet, manchmal bis zur Gewundenheit. Er spricht gewissermaßen ›wie gedruckt‹. Nur manchmal durchbricht das Magma der Nervosität seine modellierten Sätze und man erkennt, daß dieser Mann seine Haltung dem Schicksal abgerungen hat.

MADAME BOUFFIER

schlägt die Hände zusammen In die Rue Royale? Und das während eines Bombardements? Wenn die Polizei Sie erwischt hätte, oder der Chef d’Ilot, dieser Bösewicht, oder gar eine Bombe, ein zusammenstürzendes Haus …

DAS JUNGE MÄDCHEN

Jacobowsky kokett betrachtend Monsieur Jacobowsky ist eben sehr mutig!

JACOBOWSKY

Nicht die Bohne, mein liebes Fräulein! Mut beruht auf der Unfähigkeit, sich in die Seele des Gegners versetzen zu können. Am mutigsten sind Säuglinge, denn sie greifen sogar ins Feuer. Ich beurteile die Gefahr nur mit Vernunft!

DER TRAGISCHE HERR

hämisch Sie glauben wohl, die Bombe, die Sie treffen könnte, sei noch nicht gegossen … Sie ist gegossen, mein Herr, bei Krupp oder Skoda!

JACOBOWSKY

Ich glaube an die Wahrscheinlichkeitsrechnung, mein Herr, denn ich bin ein Liebhaber der Mathematik und Logik. Warum, so frage ich mich, warum sollte unter vier Millionen Parisern gerade ich, S. L. Jacobowsky, einer Bombe zum Opfer fallen? Der mathematische Bruchteil dieser Wahrscheinlichkeit ist doch verschwindend klein …

MADAME BOUFFIER

Was, bei allen Heiligen, haben Sie in der Rue Royale zu suchen, wenn es Bomben regnet?

JACOBOWSKY

Ich dachte mir, die Damen würden an ein paar Marrons glacés Vergnügen finden. Die Damen leiden am meisten unter den aufregenden Ereignissen der letzten Wochen. Die Nacht ist lang, und die Marrons glacés sind ganz frisch … Er bietet ringsum den weiblichen Gästen an. Bitte sich ungeniert zu bedienen. Ich habe eine vorzügliche Quelle in der Rue Royale, die mir sogar nachts offen steht …

MADAME BOUFFIER

Da sehen Sie’s, meine Herrschaften, hab ich recht gehabt? Immer nur an andere denken …

JACOBOWSKY

irritiert unterbrechend Sie überschätzen mich, Madame Bouffier. Natürlich möchte ich, daß sich alle wohl fühlen, aber doch nur aus dem einzigen Grunde, damit ich mich selbst wohl fühlen kann.

MADAME BOUFFIER

Oh, daß gerade die besten Ehemänner unverheiratet sind! Sie sollten heiraten!

JACOBOWSKY

Nein, das sollte ich nicht! Ich bin ein Troubadour. Die Schönheit der Damen bestürzt mich und macht mich beklommen …

DAS JUNGE MÄDCHEN

Sie werden einsam sterben!

JACOBOWSKY

Keine Sorge, mein schönes Kind! Man findet heute überall die üppigste Gelegenheit, in großer Gesellschaft zu sterben … Bitte nur zuzugreifen, auch die Herren, es sind reich lich Reserven vorhanden … Zur alten Dame aus Arras Madame, darf ich bitten …

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Oh, danke, Monsieur, danke! Ich bin so frei. Süßigkeiten trösten im Unglück. Der Herr bietet dir an, Clémentine. Du darfst dir ein Marron glacé nehmen …

JACOBOWSKY

Zwei, Mademoiselle, nehmen Sie ruhig zwei …

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Sie müssen nämlich wissen, wir sind geflohen, Hals über Kopf. Ich bin Witwe und aus Arras. Alles habe ich zurückgelassen, auch Frau Professor, meine Tochter. Sie hat gesagt: Ich bleibe auf dem Posten, wenn Hitler kommt … O Gott, geflohen, geflohen, ich, eine Französin, wer kann das ausdenken?! Leih mir dein Taschentuch, Clémentine …

CLEMENTINE

Hier, Großmama … Salomon hat mittlerweile ein Grammophon gebracht und legt den Walzer von Strauß ›Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust‹ auf die Scheibe.

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

schluchzt vor sich hin Geflohen in Frankreich, geflohen … Jacobowsky setzt sich freundlich neben die alte Dame und Clémentine. Seine Erzählung wird begleitet vom Straußwalzer und dem Geknatter und Gebombe draußen, das sich nähert. Sie wird unterbrochen von den Ausrufen einiger Gäste, die Karten zu spielen begonnen haben.

JACOBOWSKY

Vielleicht, Madame, schafft es Ihnen Erleichterung, zu hören, daß meine Wenigkeit im Leben schon viermal geflohen ist, schlecht gerech net. Das erstemal, als meine gute selige Mutter mit ihren fünf Kindern aus einem polnischen Städtchen nach Deutschland floh, da war ich nicht mehr und nicht weniger als drei Jahre alt. Wir mußten alles zurücklassen, damals, auch meinen frommen Vater, den die berühmten ›Schwarzen Hundert‹ des Zaren während eines netten kleinen Pogroms ums Leben gebracht hatten …

DAS JUNGE MÄDCHEN

Mit drei Jahren! Wie schrecklich!

JACOBOWSKY

Es war gar nicht schrecklich, Mademoiselle, denn in Deutschland wuchs ich auf, von der festen Überzeugung gewiegt, ein kleiner strammer Deutscher zu sein. Dieser begreifliche Irrtum wurde leider viel zu spät aufgeklärt, und zwar durch Hitlers ›Braune Millionen‹. Ich floh nach Wien, mit leichtem Gepäck, glücklich, daß es ohne Konzentrationslager abgegangen war … Wien! Hören Sie nur: ›Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust‹ … Er summt zwei Takte der Musik mit Kaum hatte ich begonnen, ein waschechter Wiener zu sein und für neuen Wein und alte Walzer zu schwärmen, da holte mich das Schicksal wieder ein. Ich floh nach Prag, und diesmal ohne Gepäck … Prag! Kennen Sie Prag? … Er lächelt träumerisch Prag ist eine wunderschöne Stadt. Es tat mir aufrichtig leid, aus Prag fliehen zu müssen, und zwar zu Fuß, über die verschneite Grenze und ohne Winterrock … Paris aber ist die Stadt aller Städte. Ich habe eine große Eignung zum französischen Patrioten, Madame. Frankreich ist Gottes Land, dachte ich, und Franzose wirst du bleiben bis an dein Lebensende. Und nun …

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Ich bin so unruhig, Monsieur …

JACOBOWSKY

Und nun? Flucht Nummer fünf steht vor mir, nachdem ich bereits viermal mein Leben aus dem puren Nichts habe aufbauen müssen. Und sehen Sie, Madame, meine Freundin Bouffier hält mich trotz allem für ein heiteres Naturell …

MADAME BOUFFIER

Sonnig, unerschütterlich sonnig …

JACOBOWSKY

Wer weiß? Man bekommt Routine im Fliehen und Verlieren. Merken Sie sich, Madame: kein Unglück ist in der Wirklichkeit so groß wie in unserer Angst: ausgenommen vielleicht Zahnschmerzen …

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Ihr Fall läßt sich mit uns doch nicht vergleichen, Monsieur! Unsere Familie lebt seit Jahrhunderten in Arras …

JACOBOWSKY

Nein! Der Fall läßt sich wirklich nicht vergleichen …

DIE ALTE DAME AUS ARRAS

Hast du gehört, Clémentine? Wir werden auch noch aus Paris fliehen müssen … Meine Tochter hat recht: auch Frankreich braucht einen Hitler …

AUSRUFE DER GÄSTE

Das ist wirklich zu bunt … So etwas anhören müssen …

DER TRAGISCHE HERR

schreit mit geballten Fäusten Ihre Tochter und Frankreich hat ihn schon, den Hitler …

JACOBOWSKY

bietet, um abzulenken, Zigaretten an Ich habe noch einige echte Dimitrinos …

DAS JUNGE MÄDCHEN

Sie wissen aber, was gut ist, Monsieur …

JACOBOWSKY

Ja, das weiß ich. Ich habe nämlich früh erfahren, was schlecht ist …

SZABUNIEWICZ

öffnet die Augen Der Herr scheint die Lage sehr ruhig zu beurteilen, der Herr … Die fernen dumpfen Schläge folgen zahlreicher aufeinander.

JACOBOWSKY

Nicht ruhiger als möglich und nicht unruhiger als nötig …

SZABUNIEWICZ

eine Zigarette nehmend Der Herr hat nicht viel zu fürchten von den Boches, der Herr, vermutlich …

JACOBOWSKY

Es gibt ohne Zweifel einige, die noch mehr zu fürchten haben von den Nazis, als ich, aber nicht viele. Ich habe mich nämlich durch einige Verdienste mißliebig gemacht …

SZABUNIEWICZ

Das glaub ich!

JACOBOWSKY