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»Franz Werfels ›Komödie einer Tragödie‹, wie sich ›Jacobowsky und der Oberst‹ im Untertitel nennt, ist brillant. Es ist Werfels bestes Drama. Nichts mehr erinnert hier an den einstigen O-Mensch-Lyriker des Expressionismus, hier sprühen Funken, hier mischen sich Satire, Witz, Humor und eine leise, lächelnde Skepsis zu einem faszinierenden Dialog. Zwischen 1941 und 1942, nach einer waghalsigen Flucht des 50-jährigen Werfel durch verschiedene Länder Europas bis nach Amerika, entstand dieses Stück. Es empfing seine Handlung aus den Erlebnissen des Prager Autors und aus den Erzählungen eines Emigranten namens Jacobowicz. Es ist also ein authentisches Drama, ein Zeitstück über das Frankreich von 1940 und ein Dokument für die durch alle Kontinente gehetzten Juden. Doch darüber hinaus zeigt es die Geschichte zweier menschlicher Gegensätze.« ›Düsseldorfer Nachrichten‹
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Seitenzahl: 146
Franz Werfel
Jacobowsky und der Oberst
Komödie einer Tragödie in drei Akten
FISCHER E-Books
Die Waschküche des Hotels ›Mon Repos et de la Rose‹. Die Waschküche dient als Luftschutzkeller. – Beim Aufgehen des Vorhangs läßt sich im ersten Augenblick die Befürchtung nicht ganz abweisen, man werde einem pathetischen, unangenehmen und schwer verständlichen Drama beiwohnen müssen, denn die Bühne ist in ein magisch blaues Licht getaucht, aus dem sich in gespenstischer Erstarrung einige menschliche Gestalten losringen, die regungslos entlang der Wände auf Holzbänken sitzen. Nicht genug damit, es erschallt zu Häupten der blau beleuchteten Gespenster die überlebensgroße Grabesstimme eines unheilverkündenden griechischen Gottes. – Zum Glück stellt es sich jedoch sofort heraus, daß die Stimme keinem Deus ex machina angehört, der aus den Wolken spricht, sondern einem französischen Ministerpräsidenten im Radio, daß ferner das magische Licht von einigen nackten Glühbirnen ausgesendet wird, die man nach Vorschrift des französischen Luftschutzes blau angestrichen hat, und daß schließlich die regungslosen Gestalten keine symbolische Bedeutung haben, sondern Hotelgäste sind, die der nächtliche Angriff auf Paris um ein Uhr nachts aus den Betten gescheucht und in dieser Waschküche zusammengetrieben hat.
STIMME DES MINISTERPRÄSIDENTEN REYNAUD
La situation est grave mais pas désespérée … Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. An der Somme verteidigen unsere braven Truppen jeden Zoll des heimatlichen Bodens mit der größten Tapferkeit. Die Übermacht des Feindes an Mannschaft und Material aber ist so groß, daß damit gerechnet werden muß … Das Radio schnappt jäh mit einem erschrockenen Schnalzer ab. Noch kann man die Gestalten der Anwesenden nicht deutlich unterscheiden.
STIMME DES TRAGISCHEN HERRN
Bei uns darf man sich nicht einmal mehr auf die Unzuverlässigkeit verlassen. Jetzt schalten sie wirklich das Radio aus, wie es bei Luftangriffen vorgeschrieben ist …
KNABENSTIMME
Wer hat da im Radio gesprochen?
STIMME DES TRAGISCHEN HERRN
Der kleine Mann einer großen Stunde, mein Sohn! Er spricht von Bordeaux und verfügt über die passende Grabesstimme: »La situation est grave.« Der Ministerpräsident Reynaud.
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
mit der klagenden hohlen Stimme eines Käuzchens Wie?! Das war Monsieur Reynaud selbst, o Gott, o Gott! Monsieur Reynaud steht sehr links. Alle die Herren stehen sehr links. Monsieur Léon Blum duldet nicht, daß in der Woche mehr als vierzig Stunden gearbeitet wird. So sagt meine Tochter. Meine Tochter ist Professor am Lycée Jean Bodel. Da haben wirs nun! Den letzten Krieg hab ich verstanden. Diesen Krieg versteh ich nicht. Warum für Danzig sterben, fragt meine Tochter täglich. Wo Danzig liegt, das wissen doch nur die Gelehrten … Heilige Mutter Gottes, war das eine Bombe? …
DER TRAGISCHE HERR
Keine Bomben, Madame, das sind die Abwehrbatterien beim Bahnhof Saint Lazare. Ein Wunder, daß diese Batterien nicht von einem unserer Minister gestohlen und an die Boches verkauft worden sind …
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Ja, ja, Monsieur! Meine Tochter sagt immer, Demokratie, das ist, wenn die Politiker gute Geschäfte machen und die Geschäftsleute schlechte Politik …
DER TRAGISCHE HERR
Demokratie, meine Beste, sie ist wie das Leben selbst: die Korruption der einen dividiert durch die Korruption der andern!
STIMME DES JUNGEN MÄDCHENS
unterdrückt Gehen Sie … Das ist doch …
MÄNNERSTIMME
Was gibt es da?
STIMME DES JUNGEN MÄDCHENS
verlegen Ach, ich habe meine Mascotte verloren … Ein kleiner süßer Elephant aus Elfenbein mit einem Türmchen drauf und einem winzigen Maharadscha … Einige der Gäste lassen ihre Taschenlampen aufblitzen, um den Boden nach dem Elephanten abzusuchen.
DER TRAGISCHE HERR
Vermeiden Sie das gefälligst, meine Herrschaften! Dies hier ist kein bombensicherer Abri, sondern nur die Waschküche unseres lieben muffigen Hotels ›Mon Repos et de la Rose.‹ Dort die Luken gehen auf die Straße, und die Vorhänge sind nicht dicht. Und unser Chef d’Ilot ist ein Esel …
MÄNNERSTIMME
Nein! Ein räudiger Hund! Wie der gebrüllt hat bei der letzten Alerte!
DER TRAGISCHE HERR
Er wäre idiotisch genug zu glauben, jemand von uns gibt den deutschen Fliegern geheime Signale …
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Könnte das nicht wirklich vorkommen? Es wohnen so viel Ausländer in diesem Haus … Mit einem leisen Schrei Aber das war bestimmt eine Bombe …
DER TRAGISCHE HERR
Noch immer die Abwehrbatterien. Gute Frau, Sie gleichen einem Kraftwerk zur Erzeugung von Panik … Da kommt Madame Bouffier, und sie bringt uns sogar ein bißchen Licht mit … Madame Bouffier, die Hotelwirtin, ist mit einer oben abgedeckten Laterne eingetreten. Sie ist eine dicke Fünfzigerin mit flammend rot gefärbtem Haar. Ihr folgt Salomon, der Concierge des Hotels, ein sehr kleiner, melancholischer, etwas verwachsener junger Mann. – Nun erkennt man in dem bescheidenen Licht den kahlen Raum mit den Bänken an der Wand und einigen Stühlen, auf denen die frierenden Hotelgäste sitzen, die meisten in Schlafanzügen mit übergeworfenen Mänteln.
MADAME BOUFFIER
Kontrollieren Sie die Vorhänge, Salomon, damit wir keinen Anstand mit dem Chef d’Ilot haben wie gestern …
SALOMON
Jawohl, Madame Bouffier … Er holt eine Leiter zu den hochgelegenen Luken und sieht nach, ob die blauen Vorhänge gut schließen.Die alte Dame aus Arras trägt unter ihrem dürftigen Straßenmantel ein Nachtjäckchen im Stil des vorigen Jahrhunderts. Neben ihr sitzt Clémentine, ihre Enkelin, ein vierzehnjähriges Mädchen mit naschhaften Augen und einem Nachtjäckchen desselben Stils.
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Wie lange wird die Alerte heute dauern? Wir haben bereits die siebente Nacht nicht geschlafen. Und ich bin schon dreiundsiebzig alt und die Kleine ist erst vierzehn …
DER TRAGISCHE HERR
Frankreich hat zu viel und zu komfortabel geschlafen, Madame, und jetzt stirbt es … Bei diesen Worten erhebt er sich, ein großer Mann, dunkel gekleidet, in einem havelockartigen Mantel. Mit seiner abgeeckten, von weißem Haar umrahmten Stirn macht er den Eindruck eines jener Boulevardiers, wie man ihnen dann und wann bei den Bücherständen des Quai Voltaire begegnet. Die Taschen seines Mantels sind auch voll von Büchern.
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Daß ich das noch erleben mußte. Wissen Sie, ich bin aus der Provinz, aus Arras … Es war der schönste Maimorgen, und wir wußten nichts, absolut nichts! Ich sage zu meiner Tochter: Die Eier sind teurer geworden. Und meine Tochter sagt, dieser Krieg ist das größte Verbrechen der Weltgeschichte. Meine Tochter unterrichtet nämlich Geographie und Weltgeschichte … Sie fängt zu schluchzen an Leih mir dein Taschentuch, Clémentine ma petite …
CLEMENTINE
Hier, Großmama …
SALOMON
von der Leiter steigend In Ordnung, Madame Bouffier! Heut muß er das Maul halten, der Chef d’Ilot …
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Die Ärmste ist vielleicht schon eine Waise … Ihr Vater, mein Sohn, steht als Leutnant der Festungsartillerie in der Maginot-Linie … Nicht wahr, Clémentine?
CLEMENTINE
Ja, Großmama …
MADAME BOUFFIER
das Lamento der alten Dame abschneidend Ich habe die Rede des Ministerpräsidenten nicht gehört. Was hat Monsieur Reynaud gesagt? Szabuniewicz, der schläfrige Pole, ein stiernackig athletischer Mann, der gegen die Wand gelehnt, zu schlafen schien, öffnet die Augen zu einem Blinzeln. Sein harter, slawischer Akzent erregt sofort Aufmerksamkeit.
SZABUNIEWICZ
Der Herr hat gesagt: »Die Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos.« Vielleicht hat der Herr auch gesagt umgekehrt: »Die Situation ist hoffnungslos, aber nicht ernst.« Ich bin schon lang genug in Frankreich. Aber eine fremde Sprache ist immer leichter zu sprechen als zu verstehn …
MADAME BOUFFIER
die Hände faltend Möge Gott unsere Generäle inspirieren: Maréchal Pétain und Général Weygand!
DER TRAGISCHE HERR
So alte Männer, Madame, pflegt Gott nicht gerne zu inspirieren …
SZABUNIEWICZ
reicht dem jungen Mädchen neben ihm die Mascotte, ohne die Augen zu öffnen Hier ist Ihr Elephant, Mademoiselle …
DAS JUNGE MÄDCHEN
Ah! Wie haben Sie ihn gefunden, Monsieur? Sie haben ja geschlafen.
SZABUNIEWICZ
Szabuniewicz ist einer, der alles im Schlaf findet, sagt der Oberst … Gähnt und schläft weiter.
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Helfen Sie doch meinem armen Kopf! Demnach … Es ist demnach möglich, daß die Deutschen siegen … O Gott, o Gott …
DER TRAGISCHE HERR
Der alte Gott wird sie daran nicht hindern, Madame, und der alte Pétain noch weniger. Ich fürchte, daß diese beiden reifen und verehrungswürdigen Persönlichkeiten der Fünften Kolonne angehören …
MADAME BOUFFIER
Halt, meine Freunde, das ist ja der reinste Defaitismus! Ich bin das Oberhaupt dieses Hauses. Sie haben mir zu gehorchen wie die Passagiere des Schiffes ihrem Kapitän! Als Kapitän dulde ich keinen Defaitismus. Die Deutschen sind noch mehr als hundert Meilen von Paris entfernt. Ein Wunder kann geschehen, wie es 1914 geschehen ist, als die Boches noch viel näher waren als heute und Gott den General Galieni inspirierte, alle Taxis von Paris, mit Truppen beladen, dem Feinde entgegen zu werfen. Glauben wir doch an Wunder! Damals haben wir gezittert wie heute und wurden gerettet. Also ein wenig Zuversicht und Heiterkeit, wenn ich bitten darf! Ich habe meine Gäste immer als meine Familie betrachtet … Zum Concierge Lieber Salomon, holen Sie doch das Grammophon aus dem Salon …
DAS JUNGE MÄDCHEN
Ja, lieber Salomon, das Grammophon aus dem Salon! Und die neue Platte von Chevalier …
DER TRAGISCHE HERR
stöhnend Auch das noch! Dieser heisere Gigolo ist mir auch ohne Bombenbegleitung ein Greuel!
SALOMON
Also vielleicht etwas klassische Musik?
DAS JUNGE MÄDCHEN
Nur keine klassische Musik, Salomon! Die ist so schrecklich lang, selbst wenn sie kurz ist …
SALOMON
Also vielleicht etwas Jazz?
DER TRAGISCHE HERR
Ich würde Sie in diesem Falle ermorden, Salomon, und von jedem französischen Gericht freigesprochen werden!
SALOMON
Also vielleicht … Achselzuckend Wem kann man es recht machen auf der Welt? Will abgehn
MADAME BOUFFIER
Warten Sie, Salomon! Sie zählt mit einem Feldherrnblick die Häupter ihrer Gäste Irgendwer fehlt mir. Irgendwer scheint im Bett liegen geblieben zu sein. Dieser Leichtsinn ist unerhört! Wenn der Chef d’Ilot dahinterkommt! Wenn ein Unglück geschieht! Ich fühle mich verantwortlich für die Familie meiner Gäste … Ich habs! Monsieur Jacobowsky ist abwesend. Monsieur Jacobowsky hat sich wieder einmal gedrückt, die liebe leichtsinnige Seele …
DER TRAGISCHE HERR
Für diesen Monsieur Jacobowsky scheinen Sie sich ja besonders verantwortlich zu fühlen, beste Bouffier …
MADAME BOUFFIER
Das will ich meinen. Er ist eine sonnige Natur. Und ich ziehe sonnige Naturen allen Schwarzsehern vor.
DER TRAGISCHE HERR
Dieser Ausspruch richtet sich gegen mich. Und ich habe seit zwanzig Jahren Ihr kleines Hotel zum Hauptquartier meiner Lebens-Irrfahrt erkoren …
MADAME BOUFFIER
Monsieur Jacobowsky hat mein kleines Hotel zwar erst seit zwei Jahren zum Hauptquartier erkoren, aber er ist noch keine einzige Wochenrechnung schuldig geblieben. Im Gegenteil! Er irrt sich oft zu seinen Ungunsten! Welch ein Wunder! Ein Mann und kein Egoist! Zu Salomon Gehen Sie hinauf und holen Sie ihn aus dem Bett!
JACOBOWSKY
der unversehens eingetreten ist Nicht nötig, Madame Bouffier … Sie brauchen sich nicht zu échauffieren, mein lieber Salomon … Ich habe nur einen kleinen Weg gemacht, in die Rue Royale … Jacobowsky ist ein untersetzter Mann in mittleren Jahren mit einem rosig rundlichen Gesicht und schönen langbewimperten Augen. Er ist peinlich adrett gekleidet, in einem etwas altmodischen, von Seidenborten umsäumten Cutaway. Er zeichnet sich, diesem Anzug entsprechend, durch ein höfliches, ja oft feierliches Gehaben aus. Seine Ausdrucksweise ist wohlüberlegt, formvollendet, manchmal bis zur Gewundenheit. Er spricht gewissermaßen ›wie gedruckt‹. Nur manchmal durchbricht das Magma der Nervosität seine modellierten Sätze und man erkennt, daß dieser Mann seine Haltung dem Schicksal abgerungen hat.
MADAME BOUFFIER
schlägt die Hände zusammen In die Rue Royale? Und das während eines Bombardements? Wenn die Polizei Sie erwischt hätte, oder der Chef d’Ilot, dieser Bösewicht, oder gar eine Bombe, ein zusammenstürzendes Haus …
DAS JUNGE MÄDCHEN
Jacobowsky kokett betrachtend Monsieur Jacobowsky ist eben sehr mutig!
JACOBOWSKY
Nicht die Bohne, mein liebes Fräulein! Mut beruht auf der Unfähigkeit, sich in die Seele des Gegners versetzen zu können. Am mutigsten sind Säuglinge, denn sie greifen sogar ins Feuer. Ich beurteile die Gefahr nur mit Vernunft!
DER TRAGISCHE HERR
hämisch Sie glauben wohl, die Bombe, die Sie treffen könnte, sei noch nicht gegossen … Sie ist gegossen, mein Herr, bei Krupp oder Skoda!
JACOBOWSKY
Ich glaube an die Wahrscheinlichkeitsrechnung, mein Herr, denn ich bin ein Liebhaber der Mathematik und Logik. Warum, so frage ich mich, warum sollte unter vier Millionen Parisern gerade ich, S. L. Jacobowsky, einer Bombe zum Opfer fallen? Der mathematische Bruchteil dieser Wahrscheinlichkeit ist doch verschwindend klein …
MADAME BOUFFIER
Was, bei allen Heiligen, haben Sie in der Rue Royale zu suchen, wenn es Bomben regnet?
JACOBOWSKY
Ich dachte mir, die Damen würden an ein paar Marrons glacés Vergnügen finden. Die Damen leiden am meisten unter den aufregenden Ereignissen der letzten Wochen. Die Nacht ist lang, und die Marrons glacés sind ganz frisch … Er bietet ringsum den weiblichen Gästen an. Bitte sich ungeniert zu bedienen. Ich habe eine vorzügliche Quelle in der Rue Royale, die mir sogar nachts offen steht …
MADAME BOUFFIER
Da sehen Sie’s, meine Herrschaften, hab ich recht gehabt? Immer nur an andere denken …
JACOBOWSKY
irritiert unterbrechend Sie überschätzen mich, Madame Bouffier. Natürlich möchte ich, daß sich alle wohl fühlen, aber doch nur aus dem einzigen Grunde, damit ich mich selbst wohl fühlen kann.
MADAME BOUFFIER
Oh, daß gerade die besten Ehemänner unverheiratet sind! Sie sollten heiraten!
JACOBOWSKY
Nein, das sollte ich nicht! Ich bin ein Troubadour. Die Schönheit der Damen bestürzt mich und macht mich beklommen …
DAS JUNGE MÄDCHEN
Sie werden einsam sterben!
JACOBOWSKY
Keine Sorge, mein schönes Kind! Man findet heute überall die üppigste Gelegenheit, in großer Gesellschaft zu sterben … Bitte nur zuzugreifen, auch die Herren, es sind reich lich Reserven vorhanden … Zur alten Dame aus Arras Madame, darf ich bitten …
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Oh, danke, Monsieur, danke! Ich bin so frei. Süßigkeiten trösten im Unglück. Der Herr bietet dir an, Clémentine. Du darfst dir ein Marron glacé nehmen …
JACOBOWSKY
Zwei, Mademoiselle, nehmen Sie ruhig zwei …
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Sie müssen nämlich wissen, wir sind geflohen, Hals über Kopf. Ich bin Witwe und aus Arras. Alles habe ich zurückgelassen, auch Frau Professor, meine Tochter. Sie hat gesagt: Ich bleibe auf dem Posten, wenn Hitler kommt … O Gott, geflohen, geflohen, ich, eine Französin, wer kann das ausdenken?! Leih mir dein Taschentuch, Clémentine …
CLEMENTINE
Hier, Großmama … Salomon hat mittlerweile ein Grammophon gebracht und legt den Walzer von Strauß ›Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust‹ auf die Scheibe.
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
schluchzt vor sich hin Geflohen in Frankreich, geflohen … Jacobowsky setzt sich freundlich neben die alte Dame und Clémentine. Seine Erzählung wird begleitet vom Straußwalzer und dem Geknatter und Gebombe draußen, das sich nähert. Sie wird unterbrochen von den Ausrufen einiger Gäste, die Karten zu spielen begonnen haben.
JACOBOWSKY
Vielleicht, Madame, schafft es Ihnen Erleichterung, zu hören, daß meine Wenigkeit im Leben schon viermal geflohen ist, schlecht gerech net. Das erstemal, als meine gute selige Mutter mit ihren fünf Kindern aus einem polnischen Städtchen nach Deutschland floh, da war ich nicht mehr und nicht weniger als drei Jahre alt. Wir mußten alles zurücklassen, damals, auch meinen frommen Vater, den die berühmten ›Schwarzen Hundert‹ des Zaren während eines netten kleinen Pogroms ums Leben gebracht hatten …
DAS JUNGE MÄDCHEN
Mit drei Jahren! Wie schrecklich!
JACOBOWSKY
Es war gar nicht schrecklich, Mademoiselle, denn in Deutschland wuchs ich auf, von der festen Überzeugung gewiegt, ein kleiner strammer Deutscher zu sein. Dieser begreifliche Irrtum wurde leider viel zu spät aufgeklärt, und zwar durch Hitlers ›Braune Millionen‹. Ich floh nach Wien, mit leichtem Gepäck, glücklich, daß es ohne Konzentrationslager abgegangen war … Wien! Hören Sie nur: ›Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust‹ … Er summt zwei Takte der Musik mit Kaum hatte ich begonnen, ein waschechter Wiener zu sein und für neuen Wein und alte Walzer zu schwärmen, da holte mich das Schicksal wieder ein. Ich floh nach Prag, und diesmal ohne Gepäck … Prag! Kennen Sie Prag? … Er lächelt träumerisch Prag ist eine wunderschöne Stadt. Es tat mir aufrichtig leid, aus Prag fliehen zu müssen, und zwar zu Fuß, über die verschneite Grenze und ohne Winterrock … Paris aber ist die Stadt aller Städte. Ich habe eine große Eignung zum französischen Patrioten, Madame. Frankreich ist Gottes Land, dachte ich, und Franzose wirst du bleiben bis an dein Lebensende. Und nun …
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Ich bin so unruhig, Monsieur …
JACOBOWSKY
Und nun? Flucht Nummer fünf steht vor mir, nachdem ich bereits viermal mein Leben aus dem puren Nichts habe aufbauen müssen. Und sehen Sie, Madame, meine Freundin Bouffier hält mich trotz allem für ein heiteres Naturell …
MADAME BOUFFIER
Sonnig, unerschütterlich sonnig …
JACOBOWSKY
Wer weiß? Man bekommt Routine im Fliehen und Verlieren. Merken Sie sich, Madame: kein Unglück ist in der Wirklichkeit so groß wie in unserer Angst: ausgenommen vielleicht Zahnschmerzen …
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Ihr Fall läßt sich mit uns doch nicht vergleichen, Monsieur! Unsere Familie lebt seit Jahrhunderten in Arras …
JACOBOWSKY
Nein! Der Fall läßt sich wirklich nicht vergleichen …
DIE ALTE DAME AUS ARRAS
Hast du gehört, Clémentine? Wir werden auch noch aus Paris fliehen müssen … Meine Tochter hat recht: auch Frankreich braucht einen Hitler …
AUSRUFE DER GÄSTE
Das ist wirklich zu bunt … So etwas anhören müssen …
DER TRAGISCHE HERR
schreit mit geballten Fäusten Ihre Tochter und Frankreich hat ihn schon, den Hitler …
JACOBOWSKY
bietet, um abzulenken, Zigaretten an Ich habe noch einige echte Dimitrinos …
DAS JUNGE MÄDCHEN
Sie wissen aber, was gut ist, Monsieur …
JACOBOWSKY
Ja, das weiß ich. Ich habe nämlich früh erfahren, was schlecht ist …
SZABUNIEWICZ
öffnet die Augen Der Herr scheint die Lage sehr ruhig zu beurteilen, der Herr … Die fernen dumpfen Schläge folgen zahlreicher aufeinander.
JACOBOWSKY
Nicht ruhiger als möglich und nicht unruhiger als nötig …
SZABUNIEWICZ
eine Zigarette nehmend Der Herr hat nicht viel zu fürchten von den Boches, der Herr, vermutlich …
JACOBOWSKY
Es gibt ohne Zweifel einige, die noch mehr zu fürchten haben von den Nazis, als ich, aber nicht viele. Ich habe mich nämlich durch einige Verdienste mißliebig gemacht …
SZABUNIEWICZ
Das glaub ich!
JACOBOWSKY