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Peter Roseggers Klassiker erstmals in verlässlicher Textfassung. Mit Materialien zum biografischen, werkgeschichtlichen und politischen Kontext. »Jakob der Letzte«, 1887 im »Heimgarten«, 1888 bei Hartleben als Buch veröffentlicht, wurde rasch zum Bestseller. Rosegger reagierte damit auf die zunehmende Landflucht. Sein Protagonist Jakob Reuthofer, der unbeirrbar an seinem ererbten Fleck Erde festhält, wird zum gebrochenen Helden. Ohne seine Frau und seine Kinder endet Jakob als Desperado, es triumphiert nicht die heilsame Kraft der Heimat, sondern ein radikaler Pessimismus – Jakob ist der »Modernisierungsverlierer« par excellence, für seine Rettung weiß auch der Autor kein Rezept anzubieten.
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Seitenzahl: 484
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Ausgewählte Werke in Einzelbänden
Mit Materialien, Kommentar und Nachwort,
herausgegeben von Daniela Strigl und Karl Wagner
Band 2
Peter Rosegger
Eine Waldbauerngeschichte aus unseren Tagen
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Daniela Strigl
Dieses Werk hat einen tieferen Zweck, als den, bloß zu unterhalten. Es soll eine auffallende und wichtige Erscheinung der Gegenwart schildern, es soll ein Bild geben von dem Untergange des Bauerntums in unseren Alpen.
Ich fühle von dem, was den Bauernstand angeht, mich fast persönlich betroffen, und so zwang mich mein Herz, dieses Buch zu schreiben. Es ist ein Stück tragischer Wirklichkeit; der Dichter hatte das Gemälde nur zu gruppieren, zu runden und im besonderen die wenigen Blumen, die in Wüsten und auf Ruinen sprossen, mit Liebe zu pflegen.
Was heute vorgeht, da draußen in den Bergen, es vollzieht sich nicht so sehr von Natur wegen, es vollzieht sich durch die Schuld der Menschen.
Es ist ein an sich altes, aber in unseren Tagen vertieftes Vorurteil, daß der Bauer keine Bildung habe. Diese Anschauung kann nicht etwa darin ihren Grund haben, daß im allgemeinen der Bauer unvernünftig lebe und vielen Vorurteilen ergeben sei. Denn jene Leute, die sich vorzugsweise die Gebildeten nennen, nämlich die Städter, leben vielfach noch unvernünftiger als der Landmann und sind noch größeren Vorurteilen unterworfen. Man denke nur einmal nach und vergleiche im ganzen die Sitten des Landmannes mit den Zuständen und Angewohnheiten des Städters. Wer sich wie der Bauer an die Natur hält, der kann wohl roh, sinnlich und eigennützig sein, nie aber in solcher Weise abirren von den gesunden Wegen, als es den Leuten im Bereiche der Überkultur möglich ist und geschieht.
Der Landmann gilt vielmehr bei den Städtern für ungebildet, weil ihm das Schulwissen fehlt, weil er nicht höhere Mathematik treibt, die Naturgeschichte nicht aus Büchern gelernt hat, nicht mitsprechen kann über Politik und Theater, keine gelehrten Abhandlungen zu schreiben versteht und sich nicht fein zu gehaben weiß.
Das ist ja eben ein Zeichen von der krankhaften Verbildung vieler Weltleute, daß diese im allgemeinen nicht wissen, was Bildung ist. Wenn jemand die Meinung aufstellte, gebildet solle jeder sein, aber jeder brauche nicht das Gleiche zu wissen; die Bildung müsse erstens dem Charakter eines Menschen, zweitens seiner natürlichen Fähigkeit und seinem Berufe angemessen sein; als gebildet könne jeder gelten, der seine sittlichen Eigenschaften entwickelt habe, seinem Stande gerecht werde, indem er das Seinige leistet, der sich in seine Verhältnisse zu fügen wisse, den näheren Mitmenschen zum Wohlgefallen und sich selbst zur Befriedigung sei: Wenn jemand diese Meinung aufstellte, ich könnte nicht anders, ich müßte ihm recht geben. Jeder Beruf, jeder Stand fordert seine Kenntnisse, seine Fertigkeiten und seine besonderen Tugenden. Wenn der Bauer als Bauer tüchtig ist, nachbarlich und zufrieden in seinen engen Grenzen, dann hat’s keine Not, dann ist er in seiner Art ebenso gebildet als der Philosoph auf dem Lehrstuhl, von dem kein Mensch verlangen wird, daß er den Pflug zu führen und den Dünger zu schätzen verstehe. Das allgemeine gesellschaftliche Wohl verlange, sagt man, Teilung der Arbeit, und die schwerste Arbeit sollte die geachtetste sein.
Da möchte ich mich bedanken, wenn gerade der älteste Beruf des Menschengeschlechts und die wichtigste Arbeit für dasselbe nicht mindestens ebenso hoch bewertet würde, als die weniger wichtigen, etwa jene Beschäftigungen, die erst durch die menschlichen Gebrechen, Leidenschaften und Laster notwendig wurden, als die Arzneikunde, die Rechtskunde, oder als die Leistungen, die nur von der künstlich gezüchteten Genußsucht verlangt werden! Wenn man einwendet, daß etwa zu letzteren eine größere Fähigkeit nötig sei, als zum Bauernstande, so wäre, abgesehen von anderem, darauf zu entgegnen, daß heutzutage der Bauer schon eine sehr tüchtige Kraft sein und einen sehr klugen Kopf haben müsse, wenn er sich in seinem Stande tapfer soll behaupten können.
Denn es ist fast alles gegen ihn. Während man allerorts, vom Reichsrate bis zum letzten Winkelverein herab, die Phrasen von der Wiederaufrichtung des braven Bauernstandes hören kann, spitzen sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf das schärfste zum Nachteile unseres Bauernstandes zu. Mancher reiche Herr, der im Parlamente schöne Reden hält für den Bauer, für den Mann der Arbeit, drückt daheim auf seinen Gütern den Arbeiter so arg er kann, bringt die nachbarlichen Bauern um Haus und Hof und zwingt ihnen, wenn sie sich nicht lieber in der weiten Welt zerstreuen und verlieren, wieder die Zustände der alten Hörigkeit auf.
Aber der Bauer ist in dieser Sache auch nicht ohne Schuld, und nun kommt der Grund, aus welchem man dem Landmann von heute die Bildung absprechen muß. Er mag und will sich nicht mehr schicken in seinen Stand, er schämt sich seiner, nicht allein, weil dieser Stand gedrückt und verhöhnt wird, sondern noch vielmehr, weil auch den Bauern der Größenwahn erfaßt hat. Er will etwas „Besseres“ sein, als der Vater gewesen. Er trachtet zu lernen, aber nicht für seinen Stand, oder des Wissens wegen, sondern um möglichst ein „Herr“ zu werden. Das ist nicht ein Zeichen der Bildungsbedürftigkeit, es ist ein Zeichen von Verrohung des Gemütes, vom Schwinden der Treue, und vom Hunger nach „Ehre“ und „vornehmeren“ sinnlichen Genüssen. Es wäre einerseits kein Wunder, daß man von einem Stande abspringen will, der von allen Seiten ausgesogen, mißbraucht und übervorteilt wird. Indes, so war es mehr oder minder ja zu allen Zeiten, und dem Bauer wohnt naturgemäß eine Kraft inne, solchen Widerwärtigkeiten zu trotzen. Die Gegenwart hätte ihm vielleicht Mittel geboten, sich wahrhaft frei und geachtet zu machen. Aber er verlor seinen festen Bauerncharakter und damit seine Beharrungskraft. Die Krankheiten der Zeit haben ihn erfaßt, die Fahrigkeit, der Größenwahn. Er ist nicht mehr für seinen Stand gebildet und gestählt, und so vollzieht sich gegenwärtig eine merkwürdige Flucht. Es vollzieht sich eine Flucht vom Pfluge zum Hammer, vom Hammer etwa zum Zirkel, von diesem zur Feder, zum Doktorhut und so weiter. Nichts will im Staate mehr Grundstein bilden, alles will Dachgiebel sein – wäre es ein Wunder, wenn eines Tages der Bau das Übergewicht bekäme? Der Bauer, weil er nicht in die Höhe kann, so strebt er in das Weite aus; nach allen Richtungen der Windrose hin eilt der schollenflüchtige Landmann; von zehn Flüchtlingen versinken auf fremdem Boden neun …
Unsere hohen Herren – die lüstern nach der Scholle greifen, aber nicht um sie zu bebauen, sondern um sie verwildern zu lassen und darauf ihres Lebens höchstem Berufe, der Weidmannslust zu frönen – haben bereits die Stirn, zu behaupten, daß in den Alpen der Bauernstand nicht mehr zu halten und auch überflüssig sei. „Mit der Einfuhr von Feldfrüchten keine Konkurrenz mehr möglich.“ Das ist der Standpunkt des Händlers und nicht der des Bauers. Der Alpenbauer ist überhaupt nicht da, um zu „konkurrieren“, sondern um auf seinem Boden für sich zu arbeiten und zu leben. Zwar einfach zu leben, aber naturgemäß und als freier Mann. Es wird sich zeigen, ob bei dem steten Wachstum der Bevölkerung unsere wenn auch oft kümmerliche Erdscholle verachtet werden darf, ob der Mensch des Jagdwildes willen heimatlos sein soll, und ob das Reh und der Hirsch seine Herrschaft in unseren Bergen behaupten kann. Schon heute vollzieht sich alljährlich eine Völkerwanderung von den Städten aufs Land, ins Gebirge. Noch kehren sie, wenn die Blätter gilben, wieder in ihre Mauern zurück, aber es wird eine Zeit sein, da werden die wohlhabenden Stadtleute sich Bauerngründe kaufen und bäuerlich bewirtschaften, Arbeiter sich solche aus der Wildnis roden und reuten. Sie werden auf Vielwisserei verzichten, an körperlicher Arbeit Gefallen und Kräftigung finden, sie werden Gesetze schaffen, unter denen wieder ein festständiges, ehrenreiches Bauerntum bestehen kann, und das Schlagwort vom „ungebildeten Bauer“ wird man nicht mehr hören.
Aber das alte Bauerngeschlecht wird vernichtet sein. Wie in unserem Alpenlande der Kampf gegen dasselbe und die Vernichtung vor sich geht, das soll dieses Buch erzählen. Es sei jedoch nicht geschrieben, bloß um ein Bild von dem äußeren Wandel zu stellen, sondern vor allem, um bei Lostrennung von der Heimatsscholle die Vorgänge im Menschenherzen zu schildern; und es sei geschrieben der Treue wegen, die in meinem Jakob lebt.
Das war am heiligen Pfingstsonntag nach der Mahlzeit.
Jakob, der Hausvater, saß in der wohldurchwärmten Stube und las in einem alten Buche. In weißen Hemdärmeln, wie er war – der durchnäßte Lodenrock trocknete am großen Kachelofen – stützte er seine Arme breit auf den Eschentisch, und die Finger über dem Buche ineinandergeschlungen, las er das „Besetzel“ vom heiligen Geist. Er las vielleicht nicht mit voller Andacht, wie sie sich für einen so hohen Festtag wohl geziemte, denn bisweilen hob er sein Haupt und blickte hinaus in das Schneegestöber. Die Flocken wirbelten so dicht, daß die Linde, die dort an der Wegtorschranke stand, nur als dunkle verschwommene Masse durch das trübe Grau schattete. Die hohen Fichtenbäume vor dem Hause, welche kaum über die Hälfte hinauf sichtbar waren, beugten ihre verknorrten Äste unter den Schneelasten, die jungen Lärchen auf dem Anger standen wie Zuckerhüte, und dort, wo gestern die maienhaft blühenden, duftenden Holundersträucher gestanden, waren eitel Schneeberge. Die Säulen der Torschranke hatten hohe Hauben auf, wie der Bischof, wenn er draußen zu Sandeben die Firmung hält. Die Zaunstecken hatten spitze und stumpfe Hütlein, Helme, Schnäbel, Kissen und Bänder von Schnee.
Wenn das Pfingststaat sein soll!
Jetzt kam der Wind und fegte den Schneestaub von den Bäumen, Sträuchern und Dächern des Hofes und ließ ihn tanzen und wehte ihn an die Fenster, wo er sich in die Ecken, Ritzen und an die Rahmen schmiegte.
„Gott sei Dank, daß der Wind kommt!“ sagte der Jakob, „sonst wollt’s bald Fetzen geben in den Kirschbäumen und Linden. Die Elessen-(Traubenkirschen-)Stauden hat’s schon zerrissen. Ist ein schlimmer Kamerad, der Schnee, wenn er zu solcher Jahreszeit kommt.“
Auf den Dachgiebeln und unter den Vorsprüngen der Dächer hüpften und schwirrten Vögel umher; die Finken und Drosseln waren vom Walde, die Zeischen und Lerchen von dem Felde hergekommen und mußten sich bei den Schwalben zu Gaste laden, Schutz und Unterstand suchen im Reuthofe. Aus dem Hause war ein wilder Knabe gestürmt, um mit Schneeballen nach ihnen zu werfen.
Der Jakob beobachtete den Knaben, der mit heißen Wangen und Augen im Schneegestöber umlief, von jungen Bäumen den Flaum auf sich niederschüttelte und mit Geschrei und Geschleuder das ratlose Geflügel verfolgte. Schier mit Wohlgefallen schaute der Jakob darauf hin, als dächte er: das wird auch einmal ein rechter Altenmooser Jodel! Dann öffnete er das Fenster und rief scharf hinaus: „Jackerl! Laß mir die Vögel in Ruh’ und geh’ herein, es ist zum Beten!“
Jetzt stand der Hausvater aufrecht. Was er in seiner Gebirgstracht für ein strammer stattlicher Mann war! Das frische jugendliche Gesicht glatt rasiert bis auf den Schnurrbart; die Nase scharf und kühn gebogen, die Augen unter dunkeln Brauen etwas tief liegend und freundlich blau von Farbe. Bart und Haar waren lichtblond und schimmerten schier ein wenig golden; das Haar war rückwärts kurz geschnitten und vorne quer und locker über die Stirne gelegt. An der Stirne waren, wer genau sehen wollte, einige Blatternarben. So aufrecht der Mann dastand, der Kopf war leicht vorgeneigt, das ist kein Wunder bei einem hochgewachsenen Haus- und Familienvater, der auf die Seinen immer herabschauen muß, der auch das kleinste zu seinen Füßen kniende oder an seinen Knien krabbelnde Wesen nicht übersehen darf, der seine Kraft und seine Sorge und seine Liebe aus dem Boden zieht, auf dem er steht, und von seinem Haupte wieder niederspendet auf diesen Boden und auf alles, was darauf wächst und ihn umgibt. Er ist immer der Säemann und der Erntende zugleich. Der Aufrechte, aber der Kopfgeneigte.
Nun spitzte der Jakob die Lippen und tat einen hellen Pfiff. Alsbald kamen die Hausleute aus den Kammern, aus der Küche, aus den Stallungen herbei und versammelten sich in der großen Stube zur Pfingstandacht am Nachmittage, die heute nicht wie sonst draußen in der Kapelle abgehalten werden konnte.
Es waren derbe, eckige Knechte und schäkernde Mägde; es war ein buckeliges Männlein dabei und es waren halberwachsene Jungen, gleichsam eine niedergehende und eine aufgehende Zeit. Alles harmlos munter. Es kam auch die Hausmutter herein, ein etwas schmächtiges blasses Weib, welches – so jung an Jahren es noch sein mochte – allen Übermut und alle Bausbäckigkeit den Kindern abgetreten zu haben schien. Ein Knäblein hing an des Weibes Kittelfalte, das noch blässer als die Mutter war und kreisrunde, ganz vergißmeinnichtblaue Augen hatte. Auch der Knabe Jackerl war zur Tür hereingetollt, über und über voller Schnee, wurde aber in solcher Gestalt vom Vater zurück in die Küche gewiesen, wo er – den Hut ausschlenkernd – der alten am Herde kauernden Einlegerin Schnee und Wasser ans Gewand warf. Weil die Alte sich dagegen auflehnte, so sprang er an die Hühnersteige, die unterhalb des Herdes war, sprengte Schnee hinein und trällerte:
Hendl bi bi,
Hendl bo bo,
Wannst ma koan Orl (Eierchen) gibst,
Stich ih dih oh!
In der Stube gingen die Leute zu den Sitzbänken, die ringsum an den Wänden waren, und knieten davor auf dem Fußboden nieder, so daß sie bei gefalteten Händen ihre Ellbogen auf die Bänke stützen konnten. Der Jakob nahm vom Hausaltare, der hoch in der Wandecke angebracht war, das kleine hölzerne Kruzifix herab, stellte es mitten auf den Tisch und zündete davor eine aus dem Wachsstock abgewickelte Kerze an. Dann langte er vom Wandnagel die große Rosenkranzschnur, kniete damit auf einen Schemel an den Tisch, machte unter lautem Ausruf der Worte mit dem Daumen über Stirn, Mund und Brust die Kreuzzeichen und begann zu beten.
„Jetzt wollen wir“, hub er an, „zum Heiligen Geist rufen, daß er uns erleuchte in Glück und Unglück zum rechten Tun und Lassen. Und wollen Gott bitten um ein gesegnetes Jahr in Feld und Stall für uns, unsere Nachbarn und alle Freund’ und Feind’. Wollen auch beten für alle, die aus diesem Haus hinausgestorben sind – christlich zu gedenken.“ Dann beteten sie den „glorreichen Rosenkranz“ zum Gedächtnisse an die Auferstehung, Himmelfahrt des Herrn und an die Sendung des Heiligen Geistes. Der Hausvater sprach stets den ersten Teil des Gebetes, das Gesinde sprach im Chor den zweiten Teil desselben, und es erscholl schier harmonisch wie gedämpfter Orgelklang.
Während des Gebetes wollte zwar ein vorwitziger Knecht seiner schalkhaften Nachbarin mit dem Zeigefinger ein „Bröserl“ den entblößten Arm kitzeln; der Hausvater hörte das mühsam und vergebens verhaltene Kichern der Angegriffenen, setzte einen Augenblick im Gebete aus und warf einen ernsthaften Blick auf das schäkernde Pärchen, sofort war dieses ruhig und die Andacht nahm ihren würdigen Fortgang.
Noch bevor sie zu Ende war, polterte zur Türe ein Mann herein, strampfte an der Schwelle den Schnee von den Füßen, schüttelte den Schnee von Hut und Rock, kniete dann neben einen Knecht an die Bank hin und betete mit. Er wurde weiter nicht beachtet. Als das Gebet unter nochmaliger Anrufung des göttlichen Geistes „um Weisheit und Beständigkeit“ zu Ende war und der Hausvater das Kreuz gemacht hatte, sagte dieser, sich von seinem Schemel erhebend: „Schau, der Knatschel! Wir haben dich ein wenig zum Beten gebraucht.“
„Schadet mir eh nit“, antwortete der früher Eingetretene, während auch er steif und unbehilflich aus der knienden Stellung aufstand. Der Nachbar Knatschel war’s, der auf dem Heimweg aus Sandeben im Reuthofe zusprach, um sich ein wenig von der Unbill des Wetters zu erholen.
Er war ein untersetzter Mann mit kurzem Halse und breitem, stets gutmütig lachendem Gesicht, das heute vom Frost und vielleicht auch von etwas anderem gerötet war.
„Ein sauberes Pfingstsonntagswetter, das!“ sagte der Knatschel.
„Eh hasen frei wahr“, redete der buckelige Alte in seiner ihm eigenen weitläufigen und unbestimmten Ausdrucksweise drein, „so fein weiß haben die Kirschbäum’ schier völlig lang nimmer ’blüht, als wie dasmal. Das ist richtig wahr auch.“
„Wird schon wieder aper werden“, meinte der Jakob.
„Drei Vierteljahr Winter und ein Vierteljahr kalt“, sagte der alte Knecht, „namla wohl, so geht’s hisch zu, bei uns im Gebirg.“
„Geh’ her zum Tisch“, lud der Jakob den Nachbar ein, „und schneid’ dir ein Brot ab.“ Damit tat er aus der Tischlade einen großen Laib Brot mit Schneidmesser, legte beides auf den Tisch und setzte sich auch selber hin.
Der Knatschel setzte sich daran, füllte aus der Tabaksblase seine Pfeife, zog ein zierliches Stahlzänglein aus dem Hosensack, hielt es einem kleinen Mädel hin (das so dastand und am Finger sog) und sagte: „Geh’ Dirndl, bring’ mir Feuer!“
Während die Kleine zur Herdglut hinauslief und bald mit einer glühenden Kohle im Zänglein zurückkam, sagte der Knatschel: „Ja, Nachbar, ich hab’ mir’s anders gemacht. – Brav’ Dirndl, kriegst zu Lohn einen sauberen Mann, wenn du groß bist.“ Blies die Kohle rotglühend und steckte sie in die Pfeife. „Ja, Nachbar“, fuhr er paffend fort, „ich hab’ mir’s anders gemacht.“
„Was meinst?“ fragte der Jakob.
„Mir ist’s zu dumm worden in Altenmoos. Wer sich’s besser machen kann – ein Lapp, der’s nit tut.“
Der Jakob sah ihn fragend an.
Der Knatschel beugte sich vor gegen ihn, gab noch ein paar Rauchstöße von sich, daß die blauen Strähnlein wagrecht in der Luft schwammen, und sagte halblaut: „Mein Haus hab’ ich verkauft.“
Dann belauerte er den Eindruck, welchen diese Nachricht auf den Nachbar machen würde. Weil aber der Jakob gar so unbeweglich dasaß, als hätte er das Wort nicht verstanden, wiederholte der Knatschel noch einmal: „Mein Haus hab’ ich heut’ verkauft.“
Jetzt zuckte der Jakob ein wenig mit den Augenwimpern, des Weiteren blieb er immer noch unbeweglich und blickte den Knatschel fragend an.
„Ich rat’ dir’s auch, Jakob“, sagte der Knatschel, „wirf’s hinter dich, das kümmerliche Altenmoos, wo der Mensch sich sein Lebtag lang rackern muß, daß er in seinen alten Tagen ohne Sorg’ verhungern kann. Laß das Fretten sein. Verkauf den Bettel. Der Kampelherr zahlt gut. Nimmt auch den Reuthof, hat er gesagt, aus Gefälligkeit nimmt er ihn, wenn du hergibst. Zahlt nit schlecht. Meinen Grund kennst. Siebzig Joch just genau, wenn man Heid’ und Weid’ dazutut. Rat’ einmal, was er mir dafür auf die Hand gelegt hat, der Kampelherr!“
„Leicht etwan gar hasen einen Hut voll Taler!“ redete wieder der buckelige Alte drein.
„Soviel gibt der Teufel für eine arme Seel’“, sagte ein anderer Knecht, wie sie sich jetzt auf die Bänke herumgesetzt hatten. Der Knatschel beachtete diese Bemerkung nicht, sondern sagte noch einmal: „Rat’, Jakob, wieviel hat er mir auf die Hand getan?“
„Gar im Ernst, Nachbar?“ fragte jetzt der Jakob, „und du hättest dein Haus verkauft?“
„Hast schon einmal einen Tausender gesehen?“ schmunzelte der Knatschel und nestelte seine stark abgenützte Brieftasche auf.
Der große nagelneue Geldschein lag auf dem Tisch, der Jakob starrte draufhin wie auf ein Gespenst, das man zuhalb mit Neugier, zuhalb mit Grauen ansieht. Die Knechte machten lange Hälse und blinzelten schier stumm vor Ehrfurcht auf die Erscheinung hin.
„Möcht’ ich’s doch frei ein klein Eichtel angucken, das Sündenpflaster“, murmelte der alte Knecht und kam ein wenig gegen den Tisch gebuckelt.
„Das Pflaster wollt’ uns nit schaden“, witzelte ein anderer, „vielleicht tät’s auch dir deine Gicht und Gall ausziehen, Luschelpeterl.“
„Selb’ kunnt eh frei sein, mir wollt’s taugen, selb’ ist eh wahr“, kicherte der Alte.
„Ist rechtschaffen gut, daß wir schon den Rosenkranz gebetet haben“, sagte eine Magd, „nach so einem Bildl da“, sie deutete auf den Tausender, „wär’s mit aller Andacht vorbei.“
„Geht’s, geht’s“, meinte ein altkluger Bursche, „immer einer kauft sich die Höll mit so einem Fetzen. Die krieg’ ich wohlfeiler, wenn ich sie haben will.“
„Selb’ wird eh leicht namla wahr sein“, gab der buckelige Luschelpeterl lachend bei und hockte sich, während die anderen noch aus achtungsvoller Ferne die unerhörte Geldnote betrachteten, in seinen Ofenwinkel.
„Wenn der Mensch gescheit ist“, sagte jetzt eine Magd, „so denke ich, wird er sich wohl auch den Himmel damit kaufen mögen. Nit?“
„Hisch wahr, namla wohl wahr. Den Himmel auf der Welt.“ So der Luschelpeterl. „Der andere Himmel – der da oben – der himmlisch’ Himmel, der kostet gar nichts, als wie das Leben, hi, hi, wohl gewiß wahr.“
„Da!“ schmunzelte nun der Knatschel und hieb mit Wucht, wie der Spieler einen scharfen Trumpf ausspielt, den zweiten Tausendguldenschein auf den Tisch, „da hab’ ich noch einen!“
„Sapperment!“ sagte der Jakob.
„Gelt!“ rief der Knatschel, „gelt, Nachbar, das ist ein gutes Jahr, trutz daß es schneit am Pfingstsonntag!“
„Zwei hat er dir gegeben für dein Haus und Grund!“ fragte der Jakob mit leiser Stimme.
„Du kannst drei haben für deines!“ sagte der Knatschel. „Besinn’ dich nit lang, Nachbar, tu’ deine Wasserstiefel an und geh’ eilends auf die Sandeben. Beim Fleischhacker sitzt er, der Kampelherr. Seine Geldtaschen hat einen schauderhaften Bauch, kann ich dir sagen. Als Winkelbauer gehst jetzo fort, als gemachter Herr kommst heim.“
„Heim?“ fragte der Jakob kopfschüttelnd, „heim? – Wie kann der Mensch sein Haus verkaufen!“
„Knatschelvater!“ sprach jetzt einer der Knechte, „geh’, steck’ dein Fliegenpapier nur wieder ein. Hergibst eh nix davon.“
Des wollte der Knatschel schier verdrießlich sein, daß die zwei Geldnoten, die er nun wieder bedächtig zusammenfaltete und in die Brieftasche schob, kein größeres Aufsehen gemacht hatten. Das Haus wollte in gewohnter Ordnung bleiben, gleichmäßig langsamen Ganges. Da war draußen plötzlich ein Prasseln und Krachen, daß die Holzwände ächzten, finstere Schneestaubwolken wirbelten an den Fenstern vorüber. Die Leute schauten sich an.
Bald jubelte der Wildfang Jackerl mit der Nachricht herein: Von der Linde sei ein großer Ast niedergebrochen und habe die Kapelle niedergeschlagen.
Als der Jakob dieses hörte, sprang er von seiner Bank auf.
„Die Kapelle!“ rief der Knatschel, „deine Jakobikapelle da draußen hat’s derschlagen? Nachbar, wenn das kein Wink vom Himmel ist!“ In die Hände klatschend rief er noch lauter: „Der heilige Sankt Jakob ist hin! Reuthofer, verkauf dein Haus!“
Der Hausvater ging in Hemdärmeln, wie er war, zur Tür hinaus und durch den wogenden Sturm der verstümmelten Linde zu.
In den Lüften tanzten die Flocken und die Schwalben.
Am Vorabend zu Fronleichnam – das war neun Tage nach dem Schneesturm – leuchtete über den Bergen von Altenmoos der helle glühende Sommertag. Die frischgrünen Lärchen, die drüben am Hange in jungen Beständen prangten oder eingesprengt waren in die dämmernden Fichtenwälder, hatten – wer sie näher besah – auf ihren Zweigen purpurrote Kätzchen. Aber auch die Fichtenwälder waren zu solcher Zeit nicht so dämmernd als sonst, die weichen Triebe der Zweige und Wipfel, an denen auch manch rotes Blütenzäpfchen stand, hatten ein helleres Grün über die Wälder gehaucht. Auf den Wiesen, in deren Furchen unter Ampfer- und Lattichblättern klare Wässerlein dahingurgelten, standen in Gruppen Ahorne und Eschen, die erst auszutreiben begannen. An den Feldrainen und Gehöften schimmerte das weiße und rosige Geflocke der blühenden Kirsch- und Wildäpfelbäume, und der Duft von den weißen Blütenzapfen des Traubenkirschenstrauches erfüllte weithin die Luft mit seiner berauschenden Süße. Die Hafer- und Roggenfelder an den Lehnen schauten in ihrem schönen bläulichen Grün auf die Wiesengründe nieder. Dazwischen lagen Weideblößen, auf welchen weiße und scheckige Herden glockten; in eingezäunten Angern Schafe und Ziegen, die zu solcher Stunde schon satt waren und miteinander scherzten oder sich ein wenig faul auf dem Rasen sonnten.
Auf freien Höhungen und in traulichen Talmulden, aber auch an steinigen Lehnen, am Waldrande oder in geschützten Schluchten standen Gehöfte, größere und kleinere, teils von Kirschbäumen, Linden und Eschen schier überwuchert, teils frei mit ihren Bretterdächern wie Taubengefieder in der Sonne schimmernd, teils auch bestanden von einer Gruppe wuchtiger, in Stürmen starr und unbesiegbar gewordener Schirmtannen. An den Häusern kleine Gemüse- und Ziergärtlein, in welchen Reseden dufteten und Pfingstrosen flammten und inzwischen auch – selbst eine Blume, der Blumen pflegend – manch fröhlich Mägdlein. Von einem Gehöfte zum anderen führten Wege, die mit Büschen und Bäumen bestanden waren, über Feldlehnen hin zogen sich die weißen Fäden der Fußsteige, auf welchen jetzt zur Feierabendzeit junge Bursche zu zweien oder auch zu mehreren gesellt, langsam dahingingen und Jodler sangen.
Von dem Hügel aus, auf dem das Haus des Jakob, der Reuthof stand, konnte man in weiter Runde die Gegend übersehen. Man hörte aus der Ferne den Reigen der weidenden Herden und den halb in den Lüften verwehten Hall der Sänger. Man hörte auch aus dem engen Talgrunde herauf das traumhafte immerwährende Rauschen der Sandach. Diese Tiefgründe und dieses rauschende Wasser kamen aus hochgelegenen Wildschluchten, zogen sich hier im weiten Halbrund um den Hügel des Reuthofes, durchschlängelten die Gegend, Altenmoos genannt, um dann stundenlange Enggräben entlangzuziehen und bei dem Pfarrdorfe Sandeben in das Tal der Freising auszumünden. An der Sandach standen Getreidemühlen, an den höher gelegenen Halden duckten sich dort und da die grauen Hütten der Sommerstadeln und der Holzhauer.
Auf dem Hügel des Reuthofes stand man wie mitten in dem weiten felder- und wiesenreichen Bergkessel, und ein wellenliniges, in ferneren Höhen blauendes Waldrund schloß den Gesichtskreis. Wo sich so die Linie zog zwischen Erde und Himmel, da stand hier und dort aus jüngerem Waldwuchs das scharfe Zähnchen eines Tannenbaumes oder eines struppigen Lärchenwipfels in das Firmament auf, gleichsam wie Lanzen, die auf der Hochwacht die stille Berggemeinde Altenmoos einfriedeten. Von dem Dachfenster des Reuthofes aus konnte man eine Felsenspitze sehen, die hinter dem westlichen Höhenzug emporragte – ein Zeichen des nahen Hochgebirges.
Eine Kirche hatte die Gemeinde Altenmoos nicht, sie war eingepfarrt zu Sandeben. Für den Hausgebrauch hatten alle größeren Höfe ihre Kapellen oder Kreuzsäulen, davor die Leute, die nicht zur Pfarrkirche kommen konnten, ihre Andacht zu verrichten pflegten. Mit den Vorgegenden war die Gemeinde Altenmoos durch einen einzigen Fahrweg verbunden, der an den Hängen und Wänden der Sandachschluchten hin angelegt über zahlreiche Stege und Brücklein führte.
Wenn man vom Reuthofe aus der Sandach entlang aufwärts ging, so kam man durch Wald und Geschläge, an welchen manch rauchende Kohlenstätte stand, dann kam man in Haselnuß- und Erlengebüsche, und dann kam man in Sand- und Steinhalden, wo zwischen der wildwuchernden Pflanzenwelt moosige Felsblöcke lagen, die herabgekommen sein sollen von dem Hochgebirge, das sich hinter diesen Vorbergen gewaltig erhebt. An den beiden Hängen ziehen sich einengende Felsrippen nieder. Hier klettert der kümmerliche Fußsteig über einen Steinwall, der mit Wildfarn, Dornsträuchern und Schierling bewachsen ist. Das Wasser gräbt sich unten schäumend und schreiend durch eine Kluft, die tief und finster und so eng ist, daß ein Mann mit ausgespreizten Beinen zugleich an beiden Rändern stehen könnte. Heute greift hier das Geflecht der Baumwurzeln und Sträucher, das Gefilze der Moose von beiden Ufern schon so sehr ineinander, daß die unten durchfließende Sandach an dieser Stelle kein Tageslicht mehr hat.
Hinter dem Steinwall weitet sich die Schlucht und der Fußpfad schlängelt von dem rauhen Schutthügel nieder in einen stillen Grund, der von nackten Felswänden umstanden ist. In dem kleinen sandigen Tale wuchert kein Gestrüppe, stehen nur in Gruppen schlanke und üppige Fichtenbäume. Das Wasser rieselt im breiten Bette fast lautlos und so klar, daß man jedes Goldfünklein sprühen sieht in seinem Sandgrunde. In diesem Wasser ist keine Forelle zu sehen, im Gefelse kein Vogel zu hören; aber Eidechsen pfeifen, wenn man ihnen auf den Schweif tritt. Wir biegen um eine Fichtengruppe, und es liegt ein See da. Er ruht in einem Kessel und hat mehrere Buchtungen. An seinem Rande, wo bemooste Felstrümmer hervorragen, ist er durchsichtig, an tieferen Stellen grün wie der reinste Smaragd; gegen die Mitte hin dunkelt sich die Farbe, dort soll – so spricht die Sage – das Wasser unermeßlich tief sein.
Hinter dem See – wenn wir unsere Schritte weiter lenken – hebt ein dumpfes Tosen an. Schreiten wir zehn oder zwölf Minuten lang dahin in diesem kühlen Grunde, so werden unsere Kleider feucht von einem feinen Wasserstaub; auch an allen Bäumen hängen Tropfen. Dann stehen wir vor dem Wasserfall. Der springt turmhoch von einer Felsenrinne nieder, macht zwei große Absätze, in denen er schneeweiße Bänder bildet, und stürzt sich in einen Tümpel. In diesem Tümpel schäumen, kreisen und kochen die wild herabgeworfenen Wellen, daß aus den eisigen Quirlen ein Nebelqualm aufsteigt, der alles Gestein und alle Pflanzen betaut, die im Grunde stehen. Der ebene Sandgrund mit seinen grünen Säumen ist hier zu Ende, hinter dem Wasserfall heben die hohen Felswüsten an.
Das kleine Hochtal war von den letzten Häusern des Altenmoos nur eine Stunde weit entfernt, aber selten kam ein Altenmooser hinauf. Es hatte niemand dort etwas zu suchen, und wer doch einmal über das Hochgebirge mußte, der rastete wohl auf einem Stein am See, aber nicht lange. Der Grund war ihm zu leblos und zu still. Das Hochtal war benannt: Im Gottesfrieden.
Also ist das Berg- und Waldrund beschaffen, das unsere Gemeinde umgibt und in welchem der Jakob Steinreuter sein Haus hat. Das liebe Altenmoos.
An diesem Vorabende zu Fronleichnam, da zu Altenmoos der frohe Feiertag anhub und auch im Reuthofe die knechtlichen Arbeiten schon zur Ruhe gekommen waren, hielt der Jakob noch nicht Rast. Er hämmerte an der Kapelle die letzten Dachbretter fest; nun war der Schaden wieder getilgt, den der stürzende Lindenast angerichtet hatte. Die darüber aufragende Linde prangte in voller Pracht, und man merkte im finstergrünen Buschwerk kaum mehr die Scharte, wo der Ast herabgebrochen war. So hatte der Sommer rasch und ruhmreich gesiegt über jenen tückischen Eindringling zu Pfingsten, wie solcher zur Frühsommerszeit wohl manchmal anzurücken pflegt in der hochgelegenen Gegend von Altenmoos.
Zu wahrer Erhebung gereichte es dem Jakob, daß dem Bildnisse in der Kapelle nichts geschehen war. Der roh geschnitzte, mit Farben bemalte heilige Jakobus war damals unversehrt auf seinem Altar stehengeblieben, während der gebrochene Ast unter Schnee und Splittern zu seinen Füßen lag. Dieser Heilige war der Schutzpatron des Hauses. Jakobs Vater hatte Jakob geheißen, und dessen Vater hatte auch Jakob geheißen, und so der Großvater und der Urgroßvater, und jeder Hausvater auf dem Reuthofe hatte Jakob geheißen, weil vor Jahrhunderten der Mann, welcher die Ansiedlung gegründet, den Grund urbar gemacht und die Steine ausgereutet, Jakob geheißen hatte. Jakob, der Steinreuter. Von dem frommen Sinn und der kunstreichen Hand dieses ersten Jakob stammte, den Überlieferungen der Familie gemäß, das Bildnis, und so war die Statue und der Name ein besonderes Band, das sich von Geschlecht zu Geschlecht herabflocht und jeden Jakob Steinreuter enge mit seinen Vorfahren und seiner Scholle verknüpfte.
An die innere Wand der Kapelle war in aufrechtstehender Richtung eine Reihe von etwa sechs Schuh langen Brettern genagelt. In jedes dieser Bretter waren gegen den oberen Rand hin die Buchstaben J. S. eingeschnitten, und darunter eine Jahreszahl. Das waren die Leichbretter; auf jedem derselben war ein Jakob Steinreuter ausgestreckt gelegen drin im Hause, bevor sie ihn auf den Kirchhof trugen. Dann sind zum Gedächtnisse diese schmalen Läden hier aufgestellt worden in der Kapelle des heiligen Jakobus.
An diesem Tage sollte der Heilige, gleichsam zur Urständfeier, besonders geschmückt werden. Die kleine Angerl mit den langen schwarzen Haarsträhnen, die eben aus der Schule heimgekehrt war, kam und brachte ein mit Wasser gefülltes Glas, in dem zwei Pfingstrosen staken. Und es kam der kleine Friedel mit den kugelrunden Vergißmeinnichtaugen, der brachte das andere mit Wasser gefüllte Glas, in welchem zwei weitere Pfingstrosen staken.
„Brav seid ihr!“ sagte der Jakob zu seinen Kindern. Dann nahm er ihnen die Gläser aus den kleinen Händen und stellte sie zu beiden Seiten der Statue auf. Er mochte dabei vielleicht weniger an den heiligen Apostel, den das geschnitzte Bild vorstellen sollte, denken, als vielmehr an seine Voreltern, die das Bild gestiftet und bewahrt hatten und die er in ihm verehrte.
Vom Schachen herüber, barfuß, in zerfasertem Höslein, mit struppigem Haar und glühenden Wangen, kam der Jackerl, er zerrte zwei gefällte Lärchenbäumchen herbei und schrie lustig vor sich das Sprüchel hin:
Droben auf dem Kögerle
Sitzen drei Vögerle,
Oans g’hört mein, oans g’hört dein,
Oans g’hört dem Regerle.
Als er mit seinen Bäumchen an Ort und Stelle war, erfaßte er schnell das Beil, hieb es in die Holzwand der Kapelle, daß es darin stecken blieb. Der Vater verwies ihm dies, und alsogleich riß der Knabe das Beil wieder an sich, schleuderte es über den Angerzaun, daß es Funken gab in den Steinen, und lief mit dem Geschrei: „Droben auf dem Kögerle sitzen drei Vögerle!“ davon.
Als endlich an und in der Kapelle alles in Ordnung war, nahm der Jakob den kleinen sanften Friedel an der Hand und sagte. „Wenn du Jakob hießest und der andere Friedel – wär’ mir lieber. Der andere Friedel? es ist zum Lachen. Unfriedel, wenn er geheißen wär’. – Komm, Bübel.“
Er ging mit dem Knaben den ebenen Fahrweg hin gegen das Nachbarhaus des Knatschel, das dort drüben am Rande des Waldes stand. Dasselbige Haus war in Aufregung. Der Knatschel tat seit acht Tagen nichts mehr, als übersiedeln. Sein Weib, sein Gesinde, seine Ochsen halfen ihm dabei, teils mit Freuden, teils mit Schmerzen, teils mit Stumpfheit; den Ochsen freilich ist es gleichgültig, woher und wohin sie müssen, überall an den Pflug und an die Fleischbank, sie sind überall Ochsen. Das ganze Haus räumte der Knatschel aus, die rußigsten Kästen und Kübel und Pfannen und Bettstätten schleppte er auf großen Karren davon.
Der kleine Friedel blickte jetzt nicht hin, sondern auf die gegenüberstehende Berglehne, an welcher Bauernhäuser in einiger Entfernung voneinander standen.
„Vater“, fragte der wißbegierige Knabe, „wie heißt es dort?“
„Dort heißt es bei den Grubbauern“, antwortete der Vater.
„Und auf der anderen Seite, ganz oben auf dem Berg, ganz oben, wo das Weiße ist, wie heißt es dort?“
„Dort heißt es beim Guldeisner“, sagte der Vater und sagte es in einem schier feierlich getragenen Tone. Der Guldeisner war der größte Bauer zu Altenmoos, sein Grund war so weit, daß man – wie der Luschelpeter sich ausdrückte – mit einem guten Schustermesser daraus fünf Bauerngüter schneiden könnte. Der Guldeisnerhof mit seinen vielen Wirtschaftsgebäuden lag oben auf der Hochfläche da wie ein kleines Dorf. Das Wohnhaus war zur Hälfte gemauert und schaute mit der weißgetünchten Wand schier hochmütig herab auf die in der Gegend weitum zerstreuten Nachbarn.
„Vater“, fragte der Friedel, „wie viele Häuser sind auf der Welt?“
„O Kind!“ antwortete der Vater, „die Welt ist weit, nur Gott kann sie durchwandern und die Häuser und die Menschen zählen. Ich weiß nur von Altenmoos.“
„Und wie viele Häuser sind in Altenmoos?“
„In Altenmoos sind – wenn du der Lunselstina ihre Höhle und andere Hütten nicht dazuzählst – genau einundzwanzig Häuser.“
„Wieviel ist das?“ wollte der Kleine wissen.
„Wenn du“, belehrte der Vater, „deine Finger zusammenzählst an beiden Händen und deine Zehen an beiden Füßen und dazu die Nase im Gesicht, so hast du einundzwanzig.“
„So viele Häuser?!“ rief der Knabe verwundert. „Und welches ist die Nase?“
„Pst!“ machte der Vater plötzlich, blieb stehen, legte die Hand dem Söhnlein auf die Achsel, beugte sich vor und flüsterte: „Siehst du? Guck’ einmal dort zwischen die Eschen durch an den Waldrand hin – siehst du?“
„Eine rote Geiß!“
„Das ist ein Reh!“ sagte der Vater.
Das Tier hatte ein wenig grasen wollen auf der Wiese, aber es witterte Menschen. Hoch hob es das Haupt, lauerte ein Weilchen und sprang dann mit großen Sätzen in den Wald zurück. Der kleine Friedel hatte sich schier seine großen Augen herausgeschaut; es war das erste Reh, das er gesehen. Selbst für Jakobs Augen waren solche Tiere eine Seltenheit. Der Guldeisner, dem die Jagd gehörte, war ein grimmiger Schütze und ließ nicht viele laufen. Drüben in den Herrschaftswaldungen soll es schon mehr Wild geben, auch schöne Hirschen darunter. Der Jakob hat sein Lebtag erst einmal einen Hirschen gesehen, und der lag draußen in Sandeben auf einem Leiterkarren, reckte noch im Tode die Herrlichkeit seiner Geweihe empor und hatte den aufgeschlitzten Bauch voll grünen Reisigs.
Den Hohlweg heraus kam etwas Holperndes, die Siedelfuhr des Knatschel. Es war die letzte. Er saß selber drauf und leitete das Ochsenpaar; hinter ihm auf einem Kornsack saßen sein Weib und seine taubstumme Schwester. Die taubstumme Schwester schaute mit Befremdung um sich, sie wußte nicht, was das bedeuten soll; jetzt wegfahren, vom Hause weg, da es doch schon bald Nacht wird! – Und die Schwägerin neben ihr, die hat das Vortuch im Gesicht und weint, und der Bruder voran, der hat eine lange Wurzen im Mund und schmunzelt. Was das bedeuten mag!
Als der Wagen herankam, redete der Jakob den Knatschel zum Gruße an: „Du hast es eilig, Nachbar. Ich denke, du kommst für heute schon zu spät und für sonst immer noch früh genug nach Sandeben.“
„Heut’ lieber wie morgen“, antwortete der Knatschel. „Bedien’ dich, Steinreuter!“
Er hielt dem Jakob vom Karren herab eine neue, fein juchtene Zigarrentasche hin. Und den Spruch dazu: „Bedien’ dich!“
Wie vornehm er sich gehaben kann! Und auch beim Schreibnamen ansprechen, wie der Amtmann! – Der Jakob ging mit seinem Knaben neben der knarrenden Fuhr des Auswanderers einher.
„Gelt, mir merkst den Altenmooser nimmer an!“ sagte der Knatschel. „Na, nimm eine. Sind amerikanische.“
„Vergelt’s Gott!“ lehnte der Jakob ab. „Mir tät’ übel werden davon. Aber schau, Nachbar, ich kann allerweil noch nicht glauben, daß es Ernst ist bei dir!“
„Reuthofer!“ rief der Knatschel, „du kommst mir bald nach. Denk’ daran, da bei der Torschranke hab’ ich dir’s gesagt: Du kommst bald selber nach hinaus!“
„In der Totentruhen“, sagte der Jakob, „sein kann’s wohl, der Mensch weiß nicht Tag und Stund’.“
„Nicht in der Totentruhen!“ rief der Knatschel. „Leicht wohl eher auf des Kampelherrn Kaleschwagen!“
„Ich wünsche dir ein langes Leben“, entgegnete der Jakob, „aber das wirst du nicht erleben.“
„Hast du schon gehört, daß der obere Nock auch fliegt?“ fragte der Knatschel. „Den vertreiben die Schulden und muß er noch froh sein, daß ihm der Kampelherr Haus und Grund abgelöst hat. Besser verkaufen, als verganten. Allemal besser.“
„Für den Nock hätte sein Schwager, der Guldeisner, was tun sollen“, meinte der Jakob.
„Der Guldeisner?“ lachte der Knatschel. „Pass’ auf, der verkauft selber!“
„Was sagst du?“ fragte der Jakob und hielt sein Haupt gegen den Fuhrmann hin.
„Verkauft selber! Der Kampelherr steht schon im Handel mit ihm. Der Jagd wegen, heißt’s. Ihr kommt mir alle nach, Altenmooserleut’. Alle!“
Der Jakob schüttelte den Kopf.
„Besuch’ mich einmal“, lud ihn der Auswanderer ein, „in der Sandeben, gleich hinter der Kirchen. Kennst es ja, das Haus, was der Kreuzbäck gehabt hat. Wirst alleweil einen guten Tropfen finden bei mir.“
„Ein Wirtshaus?“
„So was. Etwas ein Geschäftel muß der Mensch doch haben, sonst wird ihm Zeit und Weil’ lang.“
„Knatschel!“ sagte jetzt der Jakob, „gib Achting, daß du dich nicht verraitest! Auf der Sandeben ist der Tausender nicht soviel wert, wie in Altenmoos. Dort kostet der Brotlaib einen halben Gulden, dahier kannst, wenn du selber keinen backest, einen um zwei Sechser haben und einen größeren.“
„Bauernbrot gefressen hab’ ich mir genug, mein Lebtag“, lachte der Knatschel, „jetzt will ich einmal Guglhupf (Kuchen) haben.“ Und er versetzte den Ochsen eins mit der Peitsche.
„Thomas“, sagte jetzt sein Weib und stupfte den Knatschel am Rücken, „tu’ mir den Gefallen und halt’ ein bissel still. Wir sind bei unserer Rainsäulen. Schau, wenn sie eine Leich’ haben hinausgetragen vom Knatschelgut, dahier haben sie die Truhen abgesetzt zum Urlaubnehmen. Und da will ich auch absteigen und dem Heimboden behüt’ Gott sagen.“
„Dummheiten!“ schrie der Knatschel und hieb noch schärfer auf das Ochsenpaar drein. Ein Ruck, und da waren sie auf fremdem Boden.
„Fahret gut!“ rief der Jakob und hielt seine Hand über den Karren hin, „ich wünsch’ euch Glück!“
Ohne anzuhalten schüttelte der Knatschel die gebotene Rechte kurz. Das Weib hatte sie auch gefaßt und wollte sie nicht loslassen, so daß der Reuthofer noch eine Strecke nebenherlaufen mußte.
Als er endlich ledig war, stillstand und dem Gefährte nachblickte, sah er, wie das Weib des Thomas, das Gesicht in die vorgehaltene Schürze pressend, heftig schluchzte. Der Knatschel knallte mit der Peitsche, daß es widerhallte in den Wäldern.
„Ist das der Mann mit den Tausendern gewesen?“ fragte der Knabe, als das Gefährt hinter der Talbiegung verschwunden war.
Der Jakob wendete sich und ging mit dem Knaben zwischen den grünenden Haferfeldern hin. Er war verstimmt. Nun hob er eine Erdscholle auf und betrachtete sie sinnend.
„Was ist denn das?“ fragte der Friedel.
„Das ist unser Tausender, mein Kind“, sagte der Vater. „Der kann nicht zerreißen und nicht verbrennen. Zu Mehl kann ich ihn zerreiben, in die Luft kann ich ihn streuen und ist doch nicht umzubringen. Und wenn ihn der Mensch pflegt und Gott gibt Sonnenschein und Regen vom Himmel, so ist er ein wohlversichertes Gut und bringt alle Jahr’ seine Zinsen, es mag im Land Krieg oder Frieden sein.“
„So einen Tausender“, sagte jetzt der Kleine, „hat der Jackerl gestern der Kuh nachgeworfen, daß er auseinandergespritzt ist.“
Der Vater entgegnete: „Dem Erdklumpen hat das nicht geschadet, der tut sich schon wieder zusammen, aber der Kuh kann es geschadet haben. Und dem Jackerl wird es geschadet haben. Ja! Dein Bruder wird mir neuding ein so arger Wildfang, daß ich ihn morgen auf den ganzen Tag in den Moosbarren sperren muß.“
Nun war es, daß der Wildfang an jenem Abende gar nicht ins Haus kam. Zuerst wurde nach ihm gepfiffen, er kam nicht. Dann ging die Angerl hinaus auf den Hügel und schrie: „Jackerl!“ so laut sie konnte, auch der Wald half ihr schreien. Der Knabe kam nicht. Als es schon finster war, ging der Reuthofer mit einem Haselstock bei den Nachbarn um und fragte, ob sein Bub nicht gesehen worden sei. Die Dreisambäuerin schlug ihre Hände zusammen und jammerte, das arme Kind sei sicherlich ins Wasser gefallen! Ganz Altenmoos wollte sie aufstöbern, um den Knaben zu suchen. Dem Reuthofer machte der Jammer des Weibes nicht viel Herzleid, er kannte seinen Jungen.
Als der Jakob Steinreuter auch zum Stindel im Stein kam – in den Hof, der hoch am Berge unter einem massigen Felsblock stand, welcher kurzweg der Stein genannt wurde – erfuhr er zwar auch dort nichts von seinem abhandengekommenen Jackerl, hingegen eine Neuigkeit, die eigentlich keine mehr war. Der Guldeisner sei mit dem Kampelherrn in Unterhandlung und wolle sein Gehöfte denn wahrhaftig verkaufen.
In der darauffolgenden Nacht konnte der Jakob nicht schlafen. Wenn der Guldeisner verkauft, dann verliert die Gemeinde Altenmoos ihren Grundstock. Wenn die Guldeisnerleute mit Mann und Magd, mit Kind und Knecht auswandern, dann wird es langweilig werden hierum. Wenn die Guldeisnergründe zu Wald anwachsen – und die hohen Herren lassen alles Wildnis werden – dann – –
Es wird ja nicht wahr sein, tröstete sich der Jakob, es kann ja nicht wahr sein. Das Haus vertun und davonzigeunern! Nein, es ist nicht, es ist nicht. – Wenn ich nur ein Stündel schlafen könnte, bevor es tagt!
Nun war der Morgen des heiligen Fronleichnamstages. Das stille, grünende Altenmoos lag im jungen Sonnenfrieden da. Aus den Höfen hervor, von den Lehnen und Leuthen herab, an den Wiesensteigen heran kamen die Leute in schmuckem Feiertagsgewande und gingen dem Hauptwege zu, wo sie sich in Gruppen vereinigten, um selbander unter ruhigen Gesprächen gegen die ferne Pfarrkirche zu wandern.
Es waren ihrer heute viele. Obwohl an den Werktagen arbeitend vom Sonnenaufgang bis zum Niedergang, sind sie am Feiertage doch nicht müde; gestern war es an den Händen, heute ist es an den Füßen, und die Zunge haben sie auch mit, daß sie können schwatzen unterwegs, und die Augen, daß sie den kirchlichen Aufzug sehen zu Sandeben, und die Gurgel, durch die etwelchen Trunk zu tun einige gesinnt sind. Der Weg ist hier glatt, dort steinig, die Sonntagswanderer loben weder das eine, noch beklagen sie das andere. Die jüngeren Weibspersonen haben hellrote Busentücher um, und vorne am Joppenlatz steckt ein Sträußl von Herzenstrost und Rosmarin. Oder sie tragen das Sträußchen zwischen dem Gebetbuch und dem weißen, viereckig gefalteten Taschentüchel in der Hand. Die Burschen haben grüne Zweige von Reseden und Nelken auf den Hut gesteckt bekommen – von wem, das sagt keiner, denn es kann sich’s jeder denken. Und bei dem Blüml steht die Wildhahnfeder, das Starke beim Schönen, das Kecke beim Zarten. Selbst die alten Männer tragen auf ihren schwarzen breiten Filzhüten ein helles Röslein, denn irgendwo und irgendwie muß an solchen Festtagen die Lebensfreude der Waldbergbewohner hervorblühen.
Das junge Volk gesellt sich zusammen zum Schäkern und Necken, und der frische Sandlersebast behauptet dreist, dem Bachhäuseldirndl wäre am Busen das Rosmarinstammel lose geworden, und er will ihr den Freundschaftsdienst erweisen, selbiges zu befestigen.
„Brav bist, Sebast, daß du frei soviel Nächstenlieb’ hast“, redete da der alte Luschelpeterl drein, der mit seinem wulstigen roten Regenschirm hinten nachhumpelte. Er trug ein recht altweltisches Gewand, der Luschelpeterl, einen vergilbten lodenen Frack mit Messingknöpfen und einen ausgeschweiften gelbgrünen Zylinderhut mit breitem Band und der großen Schnalle. Seit dieser Hut und dieser Kopf beisammen waren, hatten beide Farbe gewechselt, der blonde Kopf war grau und der grüne Hut gelb geworden. Das Gewand war alles hübsch mit grünem Tuche ausgebrämt; aus diesem waren allerlei Bäumchen, Schnörkeln und andere Zierraten geschnitten und auf die Ärmeln, Brustflügeln, Taschen und Schößeln genäht worden, was zu dem verwitterten Gesichte des Alten mit dem grauen Bartwisch unter der Nase gar nicht übel stand.
„Festmachen das Rosmarinstammel, eh’ wahr auch. Brav bist, Sebast“, sagte er noch einmal.
Das Bachhäuseldirndl, die Dullerl, schlug dem kecken Burschen auf die Finger: „Da hast nix herzugreifen, Bübel!“
„So wohl, so wohl!“ stimmte der Luschelpeterl bei, da sang eine Amsel. Der Gesang war so schmetternd hell, daß sich alles umsah nach dem Vogel. Und er war nirgends zu sehen, und dem Gesange nach meinte man, er müsse einem der Leute auf der Achsel sitzen.
„Aha!“ rief der Luschelpeterl plötzlich, „da haben wir den Kampel, da drinnen da! In mein Regendach hinein hat er sich verfangen. Wohl, wohl, gewiß auch noch!“
Die Kirchengeher stellten sich rings um ihn, und die Dullerl war besonders begierig, den kleinen Sänger zu sehen. Der Luschelpeterl langte mit dem Arm sorgfältig in den zusammengefalteten Schirm hinein, der Vogel kreischte, der Peterl mußte ihn gefaßt haben, als dieser nun aber den Arm langsam wieder zurückzog und den Schirm auseinander tat, war kein Vogel da. Obzwar es bekannt war, daß der Luschelpeterl mit einem Blatte, das er auf die Zunge tat, allerlei Vogelstimmen täuschend nachzuahmen verstand, saßen sie ihm doch fast allemal auf, wenn er in guter Laune seine Kunst übte.
„Jetzt ist er mir auskommen!“ murmelte der Alte mit weinerlichem Gesichte, spreitete die Finger aus und starrte in die Luft. Hierauf wandte er sich an die Dirnlein, und mit zwinkernden Augen sprach er die Vermutung aus, eine oder die andere werde den Vogel in der Tasche haben. Jede leugnete es, aber untersuchen ließ sich keine.
Weit hinter diesem munteren Völklein ging eine Gruppe von Männern, darunter der Sepp in der Grub, der Rodel, der Stindel im Stein, der Oberstöckel und der Jakob. Sie waren für einen solchen Frühsommermorgen fast zu ernsthaft. Sie führten in langsamem Takt ein angelegentliches Gespräch. Auch der Jakob redete. Er pflegte sonst außer Hause nicht viel zu sprechen, er stotterte ein klein wenig, aber man horchte doch, wenn er den Mund auftat, es war allemal der Mühe wert.
„Es darf nicht sein“, sagte der Jakob, „wir müssen es abwenden.“
„Wir müssen dem Guldeisner zureden, soviel wir können, er darf nicht verkaufen!“ so auch der Stindel im Stein.
„Seid ihr einverstanden, Nachbarn?“ fragte der Jakob, „daß wir heute abends, wenn wir von Sandeben heimkommen, miteinander zum Guldeisner gehen und ihm die Sache vorstellen? Es darf und es darf nicht sein. Wenn der Guldeisner losgeht, dann wird alles rutschend in Altenmoos.“
„Hingehen kann man“, meinte der Oberstöckel, „ob’s was hilft, ist eine Frage. Ja, wenn das viele Geld nicht wär’!“
„Das Geld und jetzt auf einmal das Geld!“ rief der Jakob völlig aufbrausend. „Haben wir Altenmooser jemals nach Geld soviel gefragt? Haben wir eins, ist’s gut, haben wir keins, leben wir auch so, arbeiten vielleicht lieber und schlafen besser. Was wir brauchen, das wachst auf unserem Grund: das Brot auf dem Feld, Milch und Butter auf den Wiesen, die Leinwand auf dem Flachsacker, die Wolle auf den Schafen und das Leder auf den Rindern. Was braucht man da Geld?“
„Ist so, ist eh so“, stimmten die anderen bei.
„Wollen wir Fleisch“, fuhr der Jakob fort, „wir haben es in den Schweinen, Eier legen uns die Hühner. Die Handwerker haben wir im Haus. Salz, Tabak und sonstiges Kleinzeug, auch den Steuergulden zahlen wir von dem Erlös der paar Stückeln Vieh, die wir verkaufen, oder vom Hafer. Was brauche ich denn sonst noch?“
„Wohl, wohl, ist eh so“, sagten die anderen.
„Und die Leute jetzt alleweil nur Geld, mehr Geld, viel Geld! Verkaufen ihr Heu, ihren Wald und gar noch ihre Häuser und Hosen ums Geld. Mir graust!“
„Wirst recht haben, Nachbar, wirst recht haben“, sagte der Rodel und machte eine Bewegung mit der Hand, als wollte er etwas in der Luft fangen. Wenn er diese Geste tat, da wußte man schon, er hat was Gescheites zu sagen. Und dumm war er nicht, der schlanke, hagere, etwas gebückte Mann; obgleich einäugig, sah er doch manches klarer und richtiger, als viele andere mit zwei Augen. „Verkaufen auch ihre armen Seelen!“ rief er aus, „es ist eine verdammte Sach’, es ist gerade, als ob das Geld ansteckend wäre, wie’s Nervenfieber.“
„Rodel, das wird nicht wahr sein“, redete der Bauer Klachel drein. „Bei meinem Nachbar Knatschel sind seit vierzehn Tagen zwei Tausender gelegen. Wenn Geld ansteckend wär’, so hätt’ ich davon kriegen müssen. Ich hab’ mich nicht ausräuchern lassen und auch sonst kein Gegenmittel angewendet.“
Der Rodel tat, als habe er den Witz nicht gemerkt, faßte den Klachel am Rockflügel, blieb mit ihm stehen und sagte: „Die anderen haben meine Red’ verstanden, dir sag’ ich’s deutlicher: Die Geldgier steckt an. Dagegen magst dich wohl brav räuchern lassen mit Wacholderstauden und Johanneskraut.“
„Da laß ich mich lieber mit Tausendguldenkraut räuchern!“ darauf lachend der Klachel.
„Hat denn dieser Kampelherr gar soviel Geld?“ fragte der Stindel.
„Gottslästerlich viel soll er haben“, antwortete der Rodel, „ich hab’ gehört, wenn der seinen Reichtum in lauter Gulden hätte und tät’ nach einer guten Mahlzeit anfangen, die Gulden zu zählen, und schnell zählen, und nichts als zählen, und keinen Bissen essen, ehevor er mit dem Zählen fertig wär’, so müßte er bei seinem Geldzählen verhungern.“
„Verdammter Kerl!“ knurrte der Sepp in der Grub.
„Wer ist er denn eigentlich, dieser Kampelherr?“ fragte der Stindel im Stein.
„Soviel ich gehört habe, soll sein Vater ein ungarischer Kornlieferant oder Sauhändler, oder so was gewesen sein“, wußte der Rodel zu berichten.
„Und was hat der Sohn für ein Geschäft?“
„Kein schlechtes“, sagte der Rodel, „der Sohn ist Millionär. Von Leuteschuldbriefen Papierschnitzeln abschneiden ist das einzige Handwerk, das in Wahrheit einen goldenen Boden hat. Früher hat er Gewerkschaften besessen, der Kampelherr, und eine ganze Eisenbahn soll er gehabt haben. Aber weil die Zeiten unsicher werden, so hat er die Sachen verkauft und will sich jetzt rechtschaffen breit auf Grund und Boden hinsetzen. Grund und Boden kann nicht zerstört werden und nicht davonlaufen. Und kostet auch nicht viel, man läßt Wald wachsen und braucht keine Leute dazu und zahlt für Wildnis nicht viel Steuergulden. Der Staat verliert dabei, aber das macht nichts. Einmal wird der Wald doch was wert. Kurz und gut, es ist ein sicher angelegtes Geld. Dazu das Jagdrevier, macht auch Spaß. Anschicken können sie sich’s, die Herren!“
„Du kannst dir’s halt ausdenken, Rodel“, zollte der Sepp in der Grub dem Sprecher sein Lob.
„Wissen möcht’ ich’s doch, wie er ausschaut, so ein Millionär“, meinte der Klachel.
„Ist zu sehen“, belehrte der Sepp, „zu Sandeben beim Fleischhacker soll er sich jetzt aufhalten.“
„Was gilt’s!“ rief der Klachel, „was gilt’s, ich meld’ mich heut’ bei ihm! Kosten tut’s nichts. Vielleicht schenkt er mir was.“
„Schenken?“ lachte der Rodel, „Narr, wenn der schenken tät’, wär’ er kein Millionär geworden.“
„Einen Hunderter kunnt er mir schon schenken“, meinte der Klachel, „ein Hunderter ist bei so einem gerade soviel, wie bei unsereinem ein Groschen, wenn man ihn dem Bettelmann schenkt. Vergelt’s Gott sag’ ich gern dafür. Und wirft er mich hinaus, so macht’s nichts, denk’ mir halt: bin eher auch draußen gewesen.“
„Klachel, du bist ein Wichtling!“ rief jetzt der Jakob, „wär’ doch eine Schand’, wenn sich ein Altenmooser Bauer von so einem fremden Herlaufer bei der Tür hinauswerfen lassen tät’! Was geht uns der Kampelherr an!“
„Man wird doch reden dürfen“, brummte der Klachel.
„Wenn du glaubst, mein lieber Klachel“, sagte der Rodel, „der Kampelherr selber sitzt draußen beim Fleischhacker, so bist wieder auf dem Holzweg. Der Kampelherr weiß sich was Besseres, als in einem Dorfwirtshaus tagelang zu warten auf die Gimpel, die ihm zufliegen sollen. Der da draußen, das ist nur sein Unterhändler, mußt du wissen.“
„Unterhändler oder Kampelherr!“ rief der Klachel und schlug mit den Armen um sich, als wollte er in der Luft anfangen zu schwimmen, „ist mir alles eins, wenn er nur Geld hat.“
Unter solchen Gesprächen waren sie hinausgekommen durch den Steppenwald; dieser gehörte nicht mehr zu Altenmoos, sondern der Herrschaft Rabenberg, was man schon den schönen schlanken buschigen Bäumen ansah, die keinem Bauern wirtschaften helfen mußten. Als unsere Kirchgänger zur Hirschenklamm kamen, wo an beiden Seiten die Wände aufsteigen, mußten sie still sein. Hier führte die Sandach das große Wort. Sie war da schon ein stattlicher Fluß, sie rauschte in ihrem wilden Bette, und das Rauschen hallte in den Wänden so sehr, daß keiner sein eigenes Wort verstand. Der Jakob war des schier froh, ihm hatte das Gespräch schon lange nicht gefallen.
Weiter hin begegnete ihnen der Rabenberger Waldförster mit der Büchse. Der Klachel rückte vor ihm den Hut, der Waldmann dankte herrisch und schritt vorüber.
„Das ist mir auch einer!“ sagte der Sepp in der Grub, „an so einem Tag, wenn der Christenmensch in die Kirche geht, steigt er im wilden Wald um. Jetzt möcht’ ich erst fragen, was der Wald, wenn er wachsen soll, notwendiger braucht, den Förster mit der Büchsen, oder den Segen Gottes!“
„Das ist derselbige“, wußte der Rodel zu erzählen, „der vor kurzem im Steppenhaus gesagt haben soll, die Bauern müßt’ man totschlagen. Wo ein Bauer wär’, kunnt’ sein Lebtag kein Wald wachsen.“
„Ich bin auch für den Wald“, sprach der Jakob, „und weiß recht gut, daß der Wald für den Menschen da ist, und nicht umgekehrt. Ich zügele den Wald, daß ich ihn schlagen kann. Mein Vater hat’s auch so gemacht. Unter siebzig Jahren stocke ich keinen Baum. Meine Vorfahren haben zwei- und dreihundertjährige stehen gehabt. Der Reuthof wird’s beweisen, daß Bauer und Baum recht gut nebeneinander stehen können.“
„So ist’s!“ stimmten die anderen bei.
Endlich lichteten sich die Berge, es kam der erste Holzrechen der Sandach. Hinter einer grünen Höhe, die sich als Ausböschung des Berges ins Tal hineinbog, reckte ein ziegelroter Riesenzwiebel seine Spitze in die Luft. Das war der Kirchturm zu Sandeben. Das Dorf steht auf einer sachten Anhöhe, denn der Talgrund ist ein graues Sandmeer, über das sich die Sandach in zahlreichen Bächlein ergießt. Über den Sand hin sind Holzrechen gezogen, um das aus den Steppenwäldern hervorgeschwemmte Holz aufzufangen. Am jenseitigen Gelände stehen rauchende Kohlenstätten, die ihr Rauchen und Rußen freilich auch an diesem Fronleichnamstage nicht unterbrechen konnten. Vom Kirchturme der Pfarre zum heiligen Michael klangen jetzt drei Glocken so hell und lustig, daß der Klachel den Spaß sagte: „Schau, schau, der heilige Michel jodelt uns schon entgegen.“
Die Dorfgasse war zu beiden Seiten mit frischen Birkenreisern geschmückt, das Kirchhofstor mit einem Tannenkranz geziert. Die Treppe hinan war schwarz von Menschen, darüber wehten rote Fahnen, und auf schwankenden Stangen ragten brennende Laternen. Vom Steinbühel her knallten Pöller. Unsere Altenmooser schlossen sich der betenden Gemeinde an. Am Fronleichnamstage bittet der Bauer den lieben Gott um ein fruchtbares Jahr und um Abwendung schwerer Gewitter. Was dem Vater das Kind, das ist dem Bauer das grünende Kornfeld – eine zitternde Freude.
Nach dem Gottesdienste kam der Stindel im Stein zum Jakob, der eben auf dem Kirchhof am Grabe seiner Vorfahren eine stille Andacht verrichtet hatte, und fragte ihn, ob er nicht mitgehen wolle zum Fleischhackerwirt, dort wären heute alle Altenmooser beisammen.
„Sollen sich nichts abgehen lassen“, antwortete der Jakob kurz. Er dachte sich’s nun, warum ihrer heute so viele aus Altenmoos nach Sandeben gekommen waren. Nicht die Kirchenfahnen hatten so sehr gewinkt, als vielmehr die Tausender des Knatschel, die gestern vorausgegangen. Ein Kirchgang nach dem Gelde.
Der Jakob sollte aber an diesem Tage auch einen anderen Ärger zu verwinden haben. Trat der Knatschel aus seinem weißgetünchten Holzhäusl, das er eben erst bezogen, ging auf den Reuthofer zu und sagte, das wäre schön vom Jakob, daß er auch einmal hervorkrieche aus dem ödweiligen Graben. Er, der Knatschel, könne heute zwar noch keine Einladung machen, es sei alles drunter und drüber und das Gesuch zum Weinausschänken fange erst an, beim Amt zu liegen. Aber einen guten Bekannten, wenn er sehen wolle, der Jakob! Er solle ein wenig mitkommen!
„Ein guter Bekannter?“ fragte der Jakob, „mag ja sein. Soll sich zeigen, wenn er was will von mir.“
„Wird nichts wollen von dir, denke ich“, sprach der Knatschel. „Wir haben ihn einsperren müssen, sonst wäre er gleich, wie er dich vom Fenster aus gesehen hat, davongelaufen. Und einholen wirst du den nicht; du hast zwar längere Füße, aber er jüngere.“
„Solltest von meinem Buben reden?“ fragte der Jakob, „ist er bei dir?“
„Mußt ihm’s nicht verübeln. Ist ihm halt auch langweilig geworden drin bei den Waldbären. Ist mir gestern nachgelaufen und hat sich hinten auf den Wagen gesetzt. Er geht nimmer heim, sagt er.“
„Alsdann werden wir ihn heimtragen“, sprach der Jakob.
„Da wirst du ihm wohl früher die Knochen zerschlagen müssen.“
„Schlagen werden wir nicht. Er soll herauskommen.“
Nicht lange hernach, und aus der Haustür des Knatschel schoß der Jackerl. Als er den Vater sah, stutzte er und duckte sich an die Wand. Die langen Haare hingen ihm wüst über das Gesicht, den Blick ließ er ein paarmal wild auf den Vater springen, die Fäuste hatte er geballt – so stand er da und stemmte den Kopf seitlings an die Wand.
Der Vater trat zum Knaben und sagte freundlich: „Jackerl, wir gehen jetzt heim.“
Der Junge rührte sich nicht.
Der Jakob wollte ihn am Arm nehmen, den riß er aus und kreischte: „Ich mag nicht!“
„Sei nicht störrisch, Kind!“
„Ich mag nicht heimgehen!“
„So sage mir, warum du nicht heimgehen willst!“
„Weil Ihr mich einsperren werdet!“ stieß der Knabe hervor und begann zu gröhlen.