Weltgift - Peter Rosegger - E-Book

Weltgift E-Book

Peter Rosegger

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Beschreibung

»Heute endlich bin ich gestorben.« Mit diesem Satz beginnt die Geschichte von Hadrian Hausler, Sohn eines Industriellen um 1900. Anstatt des Vaters Wunsch zu entsprechen und in dessen Fußstapfen zu treten, das Angebot, neues Oberhaupt von, ab nun »Hausler und Sohn« zu werden, verzichtet er darauf, begnügt sich mit einem Pflichtteil und kehrt seiner Familie den Rücken. Mit seinem Burschen Saberl macht er sich in einer Kutsche auf den Weg und versucht mit diesem eine eigene Existenz zu gründen. Weltgift (1901) ist das einzige Werk der Rosegger-Gesamtausgabe, welches schon kurz nach seiner Entstehung schnell aus den Bibliotheken verschwand und bis heute nur in Fraktur zu finden war. Kritisch gegenüber der großen Kluft zwischen den sozialen Klassen, ist dieser große Roman des Österreichers erschreckend nah am Puls der Zeit und hat mehr als hundert Jahre danach nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: Gerade jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um dieses Buch einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen. 1913 war Rosegger zudem für den Nobelpreis für Literatur nominiert.

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Seitenzahl: 572

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autor und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Nachwort

Leseproben

Shusaku Endo - Schweigen

José Luís Peixoto - Das Haus im Dunkel

Rodrigo Rey Rosa - Die Gehörlosen

Ryu Murakami - Coin Locker Babys

Ryu Murakami - Das Casting

Andrea Stefanoni - Die erinnerte Insel

Jan Kjaerstad - Ich bin die Walker Brüder

Carlos Gamerro - Der Traum des Richters

Fußnoten

Peter Rosegger, Weltgift

mit einem Nachwort von Gerald Schöpfer

© 2016, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Der Texte folgt in seiner Schreibweise und Orthografie der Erstausgabe bei Staackmann, Leipzig aus dem Jahre 1903.

Umschlag und Satz: Jürgen Schütz

Umschlagbild: © fotolia – Erica Guilane-Nachez

Totenschädel: © fotolia – Oleksandr Babich

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-46-0

Printversion: Halbleinen, Prägung, Fadenheftung, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-59-5

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

Peter Rosegger

(1843–1918) wurde in Krieglach geboren und begann seine Karriere mit einer Schneiderlehre. Während seiner Lehrzeit verfasste er zahlreiche Schriften. Durch seine Förderer Adalbert Svoboda und Peter von Reininghaus konnte Rosegger seine versäumte Bildung nachholen. Von 1869 an lebte er als freier Schriftsteller. Er war zudem Herausgeber der Zeitschrift Der Heimgarten. Als engagierter, kritischer Journalist schrieb er über die Missstände seiner Zeit und veröffentlichte Sozialreportagen über gesellschaftliche Randgruppen, sein Roman Weltgift spiegelt dies wider.

1913 war Rosegger zudem für den Nobelpreis für Literatur nominiert.

»Heute endlich bin ich gestorben.«

Mit diesem Satz beginnt die Geschichte von Hadrian Hausler, Sohn eines Industriellen um 1900.

Anstatt des Vaters Wunsch zu entsprechen und in dessen Fußstapfen zu treten, das Angebot, neues Oberhaupt von, ab nun »Hausler und Sohn« zu werden, verzichtet er darauf, begnügt sich mit einem Pflichtteil und kehrt seiner Familie den Rücken.

Mit seinem Burschen Saberl macht er sich in einer Kutsche auf den Weg und versucht mit diesem eine eigene Existenz zu gründen.

Weltgift (1901) ist das einzige Werk der Rosegger-Gesamtausgabe, welches schon kurz nach seiner Entstehung schnell aus den Bibliotheken verschwand und bis heute nur in Fraktur zu finden war. Kritisch gegenüber der großen Kluft zwischen den sozialen Klassen, ist dieser große Roman des Österreichers erschreckend nah am Puls der Zeit und hat mehr als hundert Jahre danach nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: Gerade jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um dieses Buch einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen.

PETER ROSEGGER

Weltgift

Roman

»Heute endlich bin ich gestorben.«

Mit dieser Neuigkeit beginnen die Aufzeichnungen eines Mannes, der nach seinem Tod ein Leben anfing, so wunderlich und heillos, daß man darüber ein Buch schreiben muß. Es wird geschrieben auf Grund und mit teilweiser Benutzung vorhandener Blätter.

Nach obiger Verkündung seines Gestorbenseins fährt der Mann fort: »Kein Schade um den Schelm! wird die Leichenrede meiner Bekannten lauten. Mein armer Papa! Die Thränen schießen ihm aus den Augen und die Phrasen aus der Feder. Möchte nur jeder, der sein Kind überlebt, so leicht getröstet sein, wie mein ›armer Papa!‹ Er war so gut, dieser Papa! Wenn es nach seinem Willen ginge, müßte ich jetzt ein reicher, von aller Welt hochgeachteter Mann sein, als vielfacher Verwaltungsrat großer Unternehmungen an grünen Tischen herumsitzen, auch in der Börse, vielleicht sogar im Parlament. Und so weiter. Vor allem müßte ich eine feine Frau haben und das häusliche Glück teilen mit dem alten – weiß nicht was. Ein beneidenswerter Herr, wenn ich gut gethan hätte. Es hat Mühe gekostet, bis ich so anständig wurde, daß mein Vater mich enterbt hat. Nun ist es aus. Ich schließe die alte Buchhaltung, um eine neue zu beginnen. Eine ohne Haben und mit viel Soll.«

Dieser Mann, der in seinem neununddreißigsten Lebensjahr also schrieb, nennt sich Hadrian Hausler. Seine Vergangenheit ist verworren, eine rostbraune Rauchschicht liegt darüber. Eine Rauchschicht, die sich in dünnen Fäden und schwarzaufwirbelnden Stricken aus dem Schornsteinwald spinnt. Zwischen den Fabrikgebäuden staubiges, geschnirgeltes Buschwerk, Gärten genannt. In diesen Gärten die Herrenhäuser, mit allem ausgestattet, »was das Leben ziert«. Doch hinter den Mauern herum das Gemurre störrischer Arbeiter in Massen, das erstickte Geschrei verwahrloster Kinder in Rudeln.

Daneben, fast darüber hinweg, vierspännige Herrschaftswagen. Im Palast aber glänzende Gesellschaften mit den artigsten Höflichkeiten – zwischendurch allerlei Anderes, Verstecktes und doch Alles Durchdringendes. Die üppigen Mahlzeiten, die fein verdeckten Sondervergnügungen gewürzt mit immer drohenden Arbeiterstreiks und Revolten. Die Geschäftsstuben mit ihrer abgestandenen Luft, mit ihrem unendlichen Geklingel, durch hundert Drähte weit ausgreifend in die Welt der Kurszettel, Konkurrenzschlachten der Geschäftsmachinationen. Und der Niederschlag von allem: Geld, Geld, unendliches Geld.

Solcherlei Dinge sind es, die dem Hadrian Hausler noch verschwommen herüberdämmern aus dem Meer des rostbraunen Rauches, des Großstadtbrodems. Das war ja das so viel umworbene, glanzvolle Leben der Reichen. Vergnügungen? In Überfülle. Freuden? Keine. Mit angestrengtem Auge sucht er nach echten Freuden dieser Vergangenheit, mit der Lupe sucht er – und findet keine. Es seien denn ein paar aus der Knabenzeit, wenn er auf staubigem Plan mit Arbeiterkindern spielte. Leiden? Auch eigentlich Leiden nicht, außer dem einen, als man die sterbenskranke Mutter fortgeschleppt hatte nach Korfu, woher sie nicht wiedergekehrt ist. Ärger? Ärger über die Maßen. Der grenzte thatsächlich manchmal an Schmerz, so wenn die Fabrik wieder und immer wieder vergrößert wurde, wenn neue Dampfmaschinen aufgestellt, neue Schlote gebaut wurden, daß die Sonne am Himmel nicht mehr anders zu sehn war, denn als schmutzige rote Scheibe, wie durch rauchiges Glas. Und dann die schreckliche Arbeit! Die Leute beneideten den Millionärsohn, daß er nur genießen könne, und er beneidete sie – um diesen Neid. Immer schreiben, rechnen, inspizieren, agentieren – alles fürs Geschäft. Hadrian hatte immer geglaubt, das Geld hätte man, um zu leben, und Hausler senior war der Meinung, leben müsse man, um Geld zu machen. Also Ärger, wenn das Geschäft glänzend ging, aber noch größeren Ärger, wenn zeitweise Stillstand eintrat und ungünstige Konjunkturen herrschten.

Oft war Hadrian auf Geschäftsreisen geschickt worden. Doch war erst Papa mit dem großen Etablissement hinter seinem Rücken, ließ er Geschäft Geschäft sein und durchreiste Italien, die Schweiz, Frankreich, England, Rußland als Mensch. Und wenn so einer als Mensch reist – dann vertiert er. Sein Lebensgenuß war derart, daß er zumeist im verfallenen Zustand heimkam und einen unbeschreiblichen Ekel vor dem Leben hatte.

Wie ganz anders sein Vater, Hausler senior. Der empfand nicht einen Augenblick die Gefangenschaft im Rauchbrodem, nicht einen Augenblick die rostige Kette seiner Maschinen und Eisenwaren, mit der sein Herz völlig gefesselt war. Je mehr Rauch über dem Fabrikkomplex, die »Fletz« genannt, je vergnügter war er. Im Trüben ist’s gut fischen, pflegte er scherzhaft zu sagen, und er fischte seinen Vorteil aus allen Gründen, in allen Weiten. Aber stets korrekt! Den Arbeitern war er ein väterlicher Freund und wurde nur rasend, wenn die »Bestien« ihre Ansprüche erhöhen wollten. Den Geschäftsfreunden lieferte er stets gediegene Ware, die freilich gesteigert wurde nach jeder Lohnerhöhung und gesteigert nach jeder Lohndrückung. Der Ruf der Firma stieg von Jahr zu Jahr, das Wachsen des Vermögens war ein so rasches, üppiges, daß es den Hausler junior fast ängstigte, während Papa die schwindelndsten Haussen mit aller Kaltblütigkeit ertrug. Vielleicht gehört wirklich eine Heldenhaftigkeit dazu, gelassen und gleichmütig zu bleiben, wenn man Jahr für Jahr um eine Million reicher wird. Man wird sich aber gewöhnen. Gold härtet nicht bloß die Herzen, sondern auch die Nerven. Hausler senior war seit Jahren nicht mehr erregt, nicht mehr zornig, oder gar gefühlselig gewesen. Er war im Generalstab seiner Oberbeamten immer der Mittelpunkt des Geschäfts und arbeitete still und genau und unermüdlich. Ganz im Gegensatz von dem Sohn, dem nervösen, blasierten und doch stets unbefriedigten Kind des Reichtums.

Während Hadrian immer hastete, ohne eigentlich etwas zu thun, immer wollte, ohne zu wissen was, war Papa Hausler der feine Weltmann, anzusehn wie ein schöner, ernstfreundlicher Abbé. In der That, er erinnerte an einen solchen, wenn er in seinem schwarzen Anzug, mit der weißen Halsbinde, dem breitkrempigen Rundhut, dem wohlgeröteten, glattrasierten Gesicht und den lebhaften Augen feierlich einherschritt – der Chef der Weltfirma Hausler und Kompagnie. Die Kompagnie hatte der energische Herr allerdings längst in sich aufgesogen. Hingegen wollte er bei zunehmendem Alter »Hausler und Sohn« machen.

Er wollte sein Haus ganz an das Unternehmen fesseln, wollte der Familie diese großartige Existenzgrundlage sichern, sie zu einem Fürstengeschlecht des Geldes und damit seinen Namen in der Geschichte des Landes festständig machen.

Und das gelang ihm nicht.

Wie Hausler senior, seit Dezennien in den besten Jahren, es verstand, nicht bloß mit Behagen zu arbeiten, sondern nach seiner Weise auch mit Behagen zu genießen, war umgekehrt dem Herrn Hadrian der Genuß kaum weniger zuwider geworden, als die Arbeit. Und so begann der Wandel. Hadrian hatte manchem Schlagwort der Mode nachgelebt und war nun angekommen bei dem einen: Ehrbarkeit. Ehrbarkeit in hausbackenstem Sinn. Ein tugendhaftes Weib wollte er nehmen, einen einfachen Haushalt führen, eine brave Familie gründen. Die Reichtümer abschütteln, draußen in der schönen, gesunden Landnatur leben, niemandes Herr und niemandes Knecht sein.

Schon als Knabe hatte er einst ein solches Edelleben geträumt, und seine Mutter hatte sogar einmal den Versuch gemacht, ihn für die Forst- und Landwirtschaft zu bestimmen. Papa hatte ihr damals bloß auf die Achsel geklopft: »Meine Liebe, laß das gut sein. Wer nur ein Kind hat, der wirft es nicht den Hasen und Rindern vor.«

Das einzige Kind! Wie oft, wenn des Morgens im Bureau wieder die Arbeit mit dem Kassabuch anging, hatte Hadrian fromm gebetet: »Herr Gott, schicke mir einen Bruder, der mich erlöst! Schicke mir Geschwister, die mich ausschalten! Es ist Verdammnis, das einzige Kind eines Geschäftsmillionärs zu sein!«

Von dem Familienleben der Arbeiter hatte er gelegentlich nur Schlimmes gehört. Die Männer trinken, und die Weiber treiben Ärgeres. Da er jedoch ein paarmal Gelegenheit hatte, in die Hütten zu blicken, fand er es in den schlichten warmen Stübchen heimlicher, als in den prächtigen Räumen seines Herrenhauses. Besonders bei einer Wäscherfamilie.

Aber an dieser Stelle werden die Aufzeichnungen unseres Helden äußerst unordentlich. Sie stottern gleichsam und verfallen in die Sprache der schweigenden Schwätzer, in die – Gedankenstriche –

In der nächsten Zeile hingegen steht wieder der volle Brustton: Ehrbarkeit. Die Fletz ist ein Grenzort der großen Stadt, in der es allerhand Leute giebt. Auch schöne, hochgebildete, liebe Mädchen. Ein solches wird zu einem Karnevalsfest in unser Herrenhaus geladen. Dann kommt das Blatt des Überschäumens einer schwärmerischen Seele. Man sucht unwillkürlich nach dem Datum. Ist das wirklich der blasierte Hadrian? Ist es nicht etwa der einstige Junge aus der Quinta? Da giebt’s ja Hochzeit schon in wenigen Wochen! Da giebt’s ja ein Ehepaar, wie sie glücklicher in den letzten Kapiteln unserer Frauenromane nicht herumlaufen.

Und auf dem nächsten Blatt – ein haarsträubender Fluch. Ein Ausdruck von so schmetternder Wucht, daß man meint, Haus und Hausler seien zusammengebrochen.

Was ist geschehen?

»Was ich dir sagen wollte, lieber Hadri«, hatte eines Tags im Geschäftsbureau Guido Hausler zu seinem Sohn hinübergesprochen, »wenn du mir mit dem Überschlag fertig bist, dann mache rasch Toilette und empfange. Wir haben abends Gesellschaft.«

Hadrian, der den ganzen Tag schon unlustig gewesen war, warf die Feder hin, ging mit großen Schritten bis zur entgegengesetzten Zimmerecke und wieder zurück.

Dann sagte er: »Hast du dich je zu beklagen, Papa, daß ich mein Amt vernachlässige? Acht Stunden, wie jeder Arbeiter, stehe ich in der Schicht. Aber wenn sie um sind, will ich, wie jeder Arbeiter, mein eigener Herr sein. Ist das zuviel verlangt.«

»Gewiß nicht«, sagte Senior. »Sehr wohl gefällt es mir, daß du dein eigener Herr sein willst. Möge es nie an Selbstbeherrschung fehlen!«

»Man will doch einmal eine Stunde für sich sein.«

»Für sich. Sage mir, lieber Freund, was fängt man denn eigentlich mit sich an, wenn man für sich ist?«

»Ist diese Frage ernst, dann bedaure ich. Ist sie Spott, so antworte ich nicht.«

»Das thut nichts, mein Sohn. Du wirst doch die Güte haben, die Honneurs zu machen.«

Und Hadrian machte sie. Er lächelte wieder, wo er hätte knirschen mögen, schmeichelte wieder, wo er hätte höhnen mögen, und dachte, es ist wahr, was der Alte sagt. Ich tue das Gegenteil von dem, was ich möchte. Und will mein Herr sein! Mit bitterem Neid beobachtete er an diesem Abend den Papa, der froh, geistreich und nach allen Seiten berückend liebenswürdig war, voll artiger Schelmerei gegen die Damen, voll heiteren Übermuts gegen die Herren. Fast fühlte er in diesem Augenblick ein bißchen Achtung vor seinem Vater. Das war doch ein Mann. Hadrian wußte nur zu gut um die Sorgen, die den Chef drückten. Es waren schwere Sorgen.

Die geschäftlichen Verhältnisse des Hauses hatten sich in letzter Zeit ganz merkwürdig mit der politischen Weltlage verknüpft, und diese Weltlage stand nach den neuesten Nachrichten auf des Messers Schneide. In dem Tagebuch ist von Eisenbahn und Flotten die Rede, wobei sich Hausler und Kompagnie ganz engagiert hätte. Aber Aufzeichnungen hierüber sind sehr undeutlich und voll düsterer Ahnungen. – Unwillkürlich mußte er seinen Vater loben: ist es nicht auch Aufopferung, wenn man sich und seine Anliegen zurückdrängt und bestrebt ist, andern einen frohen Abend zu machen?

Als der Diener auf silbernem Tablett die Post brachte – wie wichtig war sie in diesen Tagen! – winkte der Chef des Hauses gleichmütig ab. Ei doch, das Abendblatt verlangte er, und sich eine Zigarre anzündend, schnarrte er behaglich zwischen den Zähnen die Frage hervor, was denn wohl der Krieg mache? Extrablatt war zur Stunde keins erschienen, doch konnte die Kriegserklärung jeden Augenblick erwartet werden. Die Gesellschaft war in nicht geringer Aufregung, Hausler that einen kaum hörbaren Seufzer: »Die armen Eltern, die Söhne draußen haben! Übrigens, meine Damen und Herren, ich glaube, Joseph hat zum Souper kommandiert.«

Es schien, als wäre noch auf jemand gewartet worden. Aber die Dame erschien nicht, und so bot der Chef des Hauses mit jugendlicher Elastizität seinen Arm einem andern der fraulichen Sterne, die kreisend mit ihrem Diamantengefunkel die Augen blendeten. Alles rauschte und trippelte in den Speisesaal, wo sich um die mit Silber, Gold, schwellenden Früchten und funkelnden Pokalen prunkende Tafel bald ein lustiges, fast ausgelassenes Leben entwickelte, bis spät in den Abend hinein.

Hadrian schien sich wenig Mühe zu geben, die schönen Tischnachbarinnen zu unterhalten, oder wenigstens seine Mißstimmung zu verdecken. Es that ihm hingegen wohl, diesen Kreisen, die er so genau kannte, eine leichte Geringschätzung zu zeigen. Natürlich fanden die Damen das erst recht anziehend, und sie zogen ihren flatternden Kreis immer enger um den blasierten Sonderling Hausler junior. Da erhob sich dieser plötzlich und ging davon.

Nächtlich im Garten strich er umher unter alten Bäumen.

Anstatt der Nachtigallen das dumpfe Getöse der Werkstätten ringsum. Da sann er und sann, wie der traurigen Existenz endlich zu entkommen wäre. Was soll’s denn eigentlich mit diesem Reichtum, was soll’s denn mit ihm, wenn er nur Last und Langweile bringt! Seine Freuden vergiften das Herz, seine Sorgen zerstören die Seele. Und die Angst, dieses nie rastende Ungetüm, die Angst vor dem Verlieren! Du kommst zu keinem Frieden, du kommst zu keinem. Rette dich, ehe das Haar erbleicht! Hinweg vom Dämon, fliehe ins Leben, in den Tod, gleichviel. Lasse dich nimmer locken von diesem »bewunderungswürdigen Werk des genialen Mannes«, wie die Sektdürstenden ihm schmeicheln. Der alte Egoist hat dir mit ewig belästigender Arbeit deine Jugend verdorben, aber mehr noch – dein Leben, deine Braut gestohlen. Gestohlen und nichts anders. Nicht mutig das Weib geraubt, nein, feige gestohlen.

Nun will er dir allmählich dein Mannesblut – den erbärmlichen Rest – aus den Adern zapfen. Wenn schon, dann verfüge über dein Leben eigenhändig …

Wohl an fünfzigmal mochte er den Rundweg zurückgelegt haben unter den finsteren Bäumen, deren Schäfte manchmal beleuchtet waren von einem feuerspeienden Schlot. Da stand es in ihm jählings klar: er will ein Ende machen. Es handelte sich um einen entschlossenen Augenblick – und – Punktum.

Es war spät geworden, die heitere Gesellschaft hatte sich längst verzogen. Doch siehe, dort oben, in den Zimmern des Alten ist noch Licht. Hinter dem hellen Seidenvorhang gleitet ein Schatten immer und immer wieder. Es ist wie ein schleichendes Gespenst. Vielleicht ringt der Alte jetzt in verlassener Stunde wieder einmal mit seinen bösen Geistern. Sollte man nicht dabei sein und rufen: »Heisa, Herr Papa! Die arme Seele ist beim Satan! Das ist das Facit!«

Er eilte die Treppe hinauf, aber schneller als seine Beine war seine Stimmung. Oben angelangt: Er will ihn nicht quälen, jetzt nicht. Der Alte mag allein bleiben mit seinem bösen Geist. – Hadrian will an der Thür vorbeischleichen in sein Schlafzimmer.

Da hört er drinnen etwas wie Stöhnen. Er klopft doch an, er öffnet. Noch im Festanzug stehen sich die beiden Männer gegenüber.

»Ist dir nicht wohl, Vater?« Teufel, wie diese Phrase dumm war! Heucheln, wie Franz, die Kanaille? Niemals. – Der alte Hausler sah erbarmungswürdig genug aus. Verstört, verwirrt, verfallen, seit wenigen Stunden vom heiteren Lebemann zum verzweifelten Greis geworden.

»Gut, daß du da bist, Hadri!«

Aber als der Sohn wieder diese Stimme hörte, wenn auch heiserer als vor Wochen, da sie im Gemach dem schönen Weib Erhörung abschmeichelte – diese Stimme wieder, da kochte der Tropfen Haß in seinem Herzen auf, und er warf der Anreden des Vaters das Wort entgegen: »Jawohl – es ist gut, daß ich da bin. Wozu denn? Wird’s Nacht?«

Hausler zerrte ihn am Rockflügel durch das Zimmer, bis zum Schreibtisch hin. »Hadri! Hadri! Wenn bis fünf Uhr morgens die Nachricht aus London nicht einlangt, so sind wir ruiniert!«

Hadrian stutzte. Das hörte sich doch einigermaßen anders an, als er sich ein großes Erlösungswort gedacht hatte. So entgegnete er unsicher: »Ich hatte gedacht, die Gefahr sei vorüber. Du gabst doch den Gesellschaftsabend und warst so aufgeräumt.«

»War ich? Ein Wickelkind bist du. Wenn ich dein Klageweibgesicht hätte, bedürfte es wahrlich keiner politischen Katastrophen, um den Kredit der Firma zu Grunde zu richten. Dieser Gesellschaftsabend war das Abscheulichste meines Lebens.«

Komödiant! wollte Hadrian aufschreien. Sekt spritzest du deinen Freunden in die Augen, damit sie es heut noch nicht sehen, daß sie bei dir ihr Vermögen verlieren. Aber er sagte es nicht. Die Gegenwart des Vaters übte immer einen Bann auf ihn; was er sich stets vornahm, ihm ins Gesicht zu schleudern, und was er später glühend wünschte, ihm gesagt zu haben, im entscheidenden Augenblick blieb’s in der Kehle stecken.

»Sohn! Sohn! Was sollen wir thun?« stöhnte der Chef auf.

Frage sie, die du zu deiner Trösterin erkoren hast! Auch dieses Wort blieb stecken.

Hausler griff, als habe ihn ein Erstickungsanfall gepackt, an die Halsbinde, riß sie entzwei, der Goldknopf sprang an die Wandtäfelung. Es war in dem Leben dieses glücklich gepriesenen Reichen ja nicht das erste Mal, daß Sorge und Angst vor dem Bankrott ihn würgte. Doch wie diesmal, so hatte er sich noch nie gebärdet. Nun langte er mit tastender Hand nach dem Schlüssel der Tischlade.

»Hadrian. Von fünf Uhr ab ist hier die Hauptkasse.«

Er zog die Lade auf. Zwei Revolver.

»S–o–o!« sagte Hadrian.

»Oder vermagst du es, als ehrloser Hund unter den Stiefeln der Gläubiger umherzukriechen?«

»Das vermag keiner«, antwortete Hadrian philosophisch gestimmt. »Darum weiterleben. Das Kartenhaus wieder aufbauen.«

»Wie du kolossal bist!« Der Alte hatte ihm einen Blick des Hohnes zugeworfen.

»Versteh mich, Vater. Dann erst, meine ich, hat das Leben Wert, wenn man’s für etwas Ordentliches ausspielen kann. Zum Beispiel für die Ehre! Ist der Name Hausler im Herrenhaus beim Kuckuck, in der Werkstatt soll er wieder zu Ehren kommen. Hier – zwei Arme!«

»Großartig!« wiederholte der Alte, dabei stand ihm sein dünnes Haar zur Höhe, wie von einem Sturm aufgewirbelt. »Wenigstens eins«, sagte er dann matt, »eins nimmst du mir weg. Den Jammer ums Kind. Wenn du dich tröstest! Wenn du zufrieden bist mit einer Ehre im schmierigen Proletarierkittel! Dann spare es an den Zwiebelwürsten ab und kaufe dir einen neuen Namen – ja?«

»Und das werde ich auch! Glaubst du, mir fehlt dazu die Kraft?«

»Das glaube ich auch, mein lieber Hadri.«

In diesem Gemisch von Verzweiflung, Wahnsinn und Hohn ging es fort, bis Hausler plötzlich den Finger an die Lippen legte: »Horch! Kommt nicht jemand die Treppe herauf?«

»Vielleicht.«

Nein. Die Depesche war es nicht. Es kam niemand die Treppe herauf. Ein Blick zum Fenster hinaus in die Nacht, wo weitum aus hundert Rachen Rauch und Funken stoben. Ist der Tod dieses Ungeheuers nicht schon beschlossen? Und es faucht und speit und grollt und will nicht verenden.

Hausler legte seinen Arm um den Nacken des Sohnes: »Ich denke, Hadri, du kommst mit mir. Siehe« – mit klappernden Zähnen sagte er es, dieweil er den Revolver umspannte – »ich, der Lebemann! Es ist mir ein Spaß. Und du, der das Leben ja satt hat, der’s gar nicht mehr mag – Hadri, komm mit mir! Du versäumst nichts, ich versichere es dir.«

»O, das weiß ich.«

»Du bringst nichts mehr vor dich. Es ist schade. Mir thut’s leid um unsern Namen. Hadrian, komm mit mir!«

Dieser nahm zögernd ihm die Waffe aus der Hand und steckte sie in seine Brusttasche. Dann langte er nach dem zweiten Revolver.

»Nein, mein Kind!« protestierte Hausler. »Das ganze Vermögen fällt dir nicht zu. Der da gehört mir! Unter allen Umständen.«

In einem Lehnstuhl war er zusammengeknickt, den Revolver hielt er fest umklammert, so daß die Adern blau anliefen an der Hand.

Hadrian stand am Fenster und schaute hinaus. In jenem Pfuhl dort atmen zweitausend Menschen, neun Zehnteile davon so arme Teufel, daß sie übermorgen hungern, wenn morgen die Fabrik stillsteht. Ob jetzt auch nur einer von ihnen an den Revolver denkt?

»Willst du nicht schlafen gehen, Kind? Nicht? Wachen willst du mir helfen? Und weißt es doch, daß ich nicht wachen mag.«

Den Finger hatte Hadrian am Hahn liegen. Er durfte ihn bloß ein bißchen krümmen. Vorhin im Garten hatte er den Entschluß gefaßt, über sein Leben eigenhändig zu verfügen. Punktum! Nun lag das eiserne Punktum so nahe und traut an seinem Herzen. Aber er gab acht, daß der ungestüme Schlag nicht etwa das Zünglein lockere …

Im Hofe schellte die Glocke. Ein Fenster auf. Kühle Luft strömt herein, nach Rauch und Schwefelwasserstoff riechend. Die Schlote dort drüben stehen wie Riesenstifte in ein schmutziges Morgenrot hinein. Der Pförtner bringt eine Zeitung herauf. Der bekannte Titelkopf. Darunter großgedruckt einige Zeilen.

»Die Kriegserklärung?« fragte Hausler den Sohn, der rasch nach dem Extrablatt gegriffen hatte. Im Ton lag jetzt weniger Angst als Neugierde.

Er durchflog die Zeilen, dann legte er das Blatt auf den Schreibtisch.

Hernach machte er langsam ein paar Schritte zum Tisch hin, legte die Waffe in die Lade, rieb sich die Hände und sprach: »Ich denke, man kann noch ein paar Stunden schlafen.«

Das Blatt berichtete, daß die Mächte mit Erfolg interveniert hätten.

Das drohende Unheil war vorübergegangen an der Welt – auch an der Firma Hausler und Kompagnie. Und dieser Mann, der vorher in dumpfer Verzweiflung zusammengebrochen war, er hatte bei der Rettungsnachricht keinen Freudenruf; nicht ein befreiender Atemzug stieg aus seiner Brust.

Hadrian verließ ihn, warf sich aufs Bett, fand aber keinen Schlaf. Er war so abgespannt, daß Puls und Atem stillstehen wollten. Er war zu müde, um zu schlafen.

Von seiner Seele fühlte er nichts mehr, als einen Bodensatz schlechter Laune.

Wenn Hadrian Hausler darauf hätte schwören müssen, daß der Auftritt in jener Nacht sich wirklich begeben habe – nicht ohne Bedenken hätte er es gethan. So ganz und gar ausgelöscht war diese Nacht. Als ob alles eine Fieberphantasie gewesen wäre. Man kann manchmal ja unglaublich überreizt sein. Nicht? War’s doch?

Mit Ausnahme der politischen Wendung war alles wie früher. Die Post kam und ging mit ihren schweren Summen wie vorher, die Fabrik war im vollsten Gang wie vorher, in den Kanzleien wurde mit Hunderttausenden so gleichgiltig gerechnet, wie mit den kleinsten Posten. Der Chef hatte seine gleichmäßige Ruhe und Heiterkeit wie immer.

Nur Hadrian allein. Ihm war noch öder, als vorher. Nun ahnte er, auf welch thönernen Füßen dieser Koloß stand. Wie ihm früher bange gewesen war bei dem Florieren des Geschäfts, so hatte er jetzt Angst vor dem Sturz. Und die alltägliche Gleichmäßigkeit hätte er erst recht nicht ertragen. Hausler senior hatte leichthin die Absicht geäußert, sein Etablissement in Zukunft auf Waffenfabrikation auszudehnen, damit aus dem Krieg Vorteil gezogen werden könne. Dann wieder ließ er etwas fallen von der Umwandlung seiner Firma in eine Aktiengesellschaft. Darauf horchte Hadrian hin – vielleicht konnte ihm das Erlösung bringen. Unter allen Umständen mit seinem Vater zu brechen, dieser Entschluß stand in ihm immer noch fest, aber es ergab sich keine rechte Gelegenheit, und so verschob er die Ausführung von Tag zu Tag. Als er dann eines Tages in der Stadt des ungleichen Paares ansichtig wurde, das im eleganten Wagen fast lautlos dahinrollte, hätte er vor Wut beide erdrosseln mögen. Aber bei dem nächsten Zusammentreffen mit Papa war die Energie wieder verflogen.

Da kam dieser Sommernachmittag. Hausler hatte den Sohn zu einer kleinen Landpartie eingeladen. Sie fuhren hinaus nach Stöckel, einem Dörfchen am Fuß der Hügelkette. Unterwegs wurde von gleichgültigen Dingen gesprochen, die Zigarre aber, die der Alte dem Sohn angeboten, hatte dieser abgelehnt. Im Dorfwirtsgarten kehrten sie ein und ließen sich Landwein und Hausbrot geben. Hausler blickte mehrmals zur Anhöhe hin, wo zwischen Gärten und Wäldchen ein alter Bauernhof breit und behaglich dalag. Im Wirtsgarten waren just zwei Männer im Wortstreit gewesen. Beendet ward er damit, daß der Ältere dem andern zuschrie: »So hol dich der Teufel!« und hastig davonging.

Der Jüngere rief ihm über die Achsel hin nach: »Hau, da kann er gleich einen Zweispänner nehmen. Fährt der Knecht ab, fährt auch der Bauer mit.«

Dieser Mensch, der am langen Brettertisch bei einem geleerten Glase saß, war halb ländlich und halb städtisch gekleidet, hatte im Mund eine Zigarre, an der er nagte und sog, ohne daß sie Rauch gab. Neben auf der Bank lag ein Kleiderbündel, in dessen Schlinge ein blauer Regenschirm stak. Er beobachtete die beiden Herren, die aus dem Wagen gestiegen waren und am runden, mit rotem Tuch gedeckten Tisch Platz genommen hatten. Er schaute eine Weile starr auf sie hin. Das ist ja ein wahrer Glücksfall! dachte er sich. Dann stand er auf, trat hin, lüftete den Hut, wobei er beim Wiederaufsetzen den Kopf nicht genau traf, und sagte mit breiter Stimme: »Ech habe die Eeere!«

Die Ehre mißlang völlig, weil der Schnabel nur für das »Grüß Gott« gewachsen war.

»Mit Verlaub, Se san der Herr Hausler von da enten. Wissens, ich möcht in die Fabrik gehen.«

»Wer sind Sie denn?« fragte Hausler.

»Ich? Derweil bin ich Knecht gewesen da oben beim Lahmfritzl.« Er wies mit der zugemachten Faust auf den stattlichen Bauernhof hin.

»Ah, das ist der Lahmfritzlhof?«

»Gelt, Herr! Sauber steht er da. Einwendig ist er halt nit so sauber – pfui Teuxel! Ein notiger Hungerleidbauer. Arbeiten wie ein Vieh und zum Schlampen nix, als alleweil Milchsuppen und Erdäpfel. Da hab ich mir denkt: gehst in die Fabrik.« Dann winkte er mit der Hand wie zum Abschied gegen den Bauer hin, der seinem Hof zueilte. »Alter Saggra, du! Kommst mir eh bald nach. Haltst dich nimmer lang auf deinem Bühl, das weiß ich. Leb wohl derweil!« Dann wieder gegen Hausler: »Also was ist’s, gnädiger Herr, kann ich Arbeit haben?«

Er bekam den kurzen Bescheid, sich bei dem Direktor der Fabrik zu melden.

Dieser gute Rat wäre mir am Ende auch ohne Glücksfall beigekommen, mochte der Knecht sich denken. Er schwang sein Bündel auf die Schulter und trottete zum Gartenthor hinaus.

»He! Franzel!« rief ihm der Wirt nach. »Gehst schon? Fallt dir nix ein?«

»Ja so – zahlen muß man auch«, knurrte der Knecht und warf eine Münze auf den Tisch. »Was herauskommt, ist Trinkgeld!«

»Der Stöckelwirt nimmt keins, Franzl. Nimm sie nur mit, deine zwei Kreuzer. Vielleicht kannst sie einmal brauchen.«

Hadrian schmunzelte, er schien sich zu freuen über den edlen Stolz dieser Naturmenschen. Er hatte edle Regungen, wie sie gern kommen, wenn der Stadtmensch aufs Land fährt. Am ersten Tag nämlich. Hausler senior drehte sich eine Zigarette, schaute wieder auf den Hof hin und sagte: »Ein hübsches Landhaus dort, so ein artiges Sanssouci. Was meinst du! Ein paar Stränge, Telegraph, Telephon, und alles bleibt im Laufenden. Wie?«

Hadrian trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Telegraph, Telephon! Und das nennt er Sanssouci!

Am hinteren Rand des Gartens, an der rostbraunen Stallwand saß bei seinem Warenballen ein Hausierer. Er hatte das Bündel nicht ins übliche schmutziggrüne Tuch geschlagen, es stak vielmehr in einem grauen, länglichen Sack. Seine Kleider, seine Haar- und Bartfrisur waren durchaus landesüblich, aber das half ihm nicht viel, jede Bewegung, jeder Laut verriet das Geblüt der Auserwählten. Sein halbes Glas Wein hatte er sehr sparsam getrunken. Nun verzehrte er die letzte Schmulle Brot, noch vorher mit ihr die Krümchen auftupfend, die auf dem Tisch lagen. Hausler senior ging hin und setzte sich zu diesem Menschen. Der Hausierer wollte sofort Höflichkeiten veranstalten, daß der Chef des Hauses Hausler und Kompagnie ihm die hohe Ehre erweise –

»Lassen Sie das, Ireb«, unterbrach ihn Hausler, sofort zur Sache kommend, in halb leisem Gesprächston. »Sie könnten mir einen Gefallen erweisen. Ich möchte wissen, ob der Bauernhof dort auf der Anhöhe käuflich ist. Gelegentlich, gegen übliche Provision natürlich. Brauchen nicht zu sagen, wer etwa darauf reflektieren möchte – verstehen Sie?«

»Aber Euer Gnaden! Wir und nit verstehen!«

»Ein Vetter von Ihnen, oder so, der sich um kümmerlich ersparte Sache einen Hof kaufen möchte. Was recht und billig.«

Der Hausierer zwinkerte mit einem Auge. »Euer Gnaden, da mach ich’s besser. Teurer, will ich sagen, kauft er. Mehr giebt er, als das notige Gütel wert ist – he, he.«

»Na denn – guten Abend, Freund!«

Hernach trat Hausler zu seinem Sohn zurück. Sie unternahmen einen Spaziergang den Hügel hinan, um den Hof herum und dann wieder thalwärts. Und auf diesem Rückweg geschah es.

»Daß ich einmal ernstlich mit dir spreche, Hadrian. Willst du in die Kompagnie treten oder nicht?«

»Ich würde unbequem sein«, antwortete der Sohn.

»Wie meinst du das? Sprich dich aus.«

»Ich würde zum Beispiel zu stolz sein, arme Bauern durch unwürdige Schelmenstückchen zu überlisten.«

Der Alte blieb ruhig stehen. Ein bißchen Schwarzes unter seinem Fingernagel, das stach er mit einem Federkiel hervor.

Hadrian fuhr fort: »Willst du das Gut haben, so geh doch zum Bauer und handle offen mit ihm.«

Hausler lächelte. »Geschäftsmann, mein lieber Hadri, bist du allerdings immer noch keiner. Insofern wärst du als Kompagnon leicht zu entbehren. Arbeiten willst du ja überhaupt nicht, und deine Moralanfälle sind nur Ausflüchte, nicht arbeiten zu müssen. Du verzeihst meine Aufrichtigkeit, zum Kompagnon will ich dich ja doch haben, weil mir leider keine Wahl bleibt, wenn es mich endlich verdrießt, alle Last und Verantwortung des Etablissements und seiner kaufmännischen Obliegenheiten allein zu tragen.«

»Du hast es dir auch allein aufgeladen. Ich habe dir Jahr für Jahr vergeblich geraten. Der Mensch lebt doch nicht allein vom Rechnen und Spekulieren.«

»Ich bitte dich ergebenst, behalte diese erhabene Weisheit für dich. Und lebe danach. Große Geister pflegen ihrer Philosophie auch nachzuleben, verstehst du? Wenn jemand den Reichtum verachtet und so tapfer davon Gebrauch macht, wenn jemand – nein, mein Sohn, darüber wollen wir uns nicht erhitzen. Wir wollen uns vielmehr einmal verständigen.«

Hadrian bebte im Innern, aber er dachte, nun gelte es, gelassen bleiben und klug sein.

»Wie alt bist du, Hadri?«

»Achtunddreißig, dünkt mich, oder so herum.«

»Gut, nun höre. In der Mitte deines Lebens kommt ein Mann und macht dich zum Miteigentümer eines großen Vermögens.«

»Ich habe in jener Nacht von diesem Vermögen einen Begriff bekommen.«

»Ein rechter Mann muß auch die Gefahren seines Berufs zu tragen wissen.«

»Ein rechter Mann wünscht das, was er liebt, allein zu besitzen.«

»Ah – du willst gleich das Ganze haben. Ich begreife es.«

»Papa, stelle dich nicht so. Du verstehst mich recht gut.«

»Nur gelassen, mein Sohn, die wichtigsten Dinge immer mit Ruhe. Also, du willst nicht?«

»Ich denke, du wirst nicht mehr über meine Willensstärke zu spotten haben.« Alles zuckte und zitterte in der Brust Hadrians, als er dieses sagte.

»Willensstärke! Dann weiß ich nicht, was Eigensinn ist. Nun, es hat weiter nichts zu sagen. Wisse, Hadrian, was ich bloß thue. Ich verkaufe den ganzen Plunder an eine Aktiengesellschaft und ziehe mich mit Helene auf einen Ruhesitz zurück.«

»Na also! Endlich wär’s heraus!« rief Hadrian, schrill auflachend. »Dahin geht’s. Deshalb sollen Bauern betrogen werden. Darum wird einer gesucht, der die Last und Verantwortung trägt. Damit der Herr mit der Zote ein vergnügtes Leben führen kann. Ich gratuliere.«

Das endlich war genug. Ohne auch nur noch ein Wort zu verlieren, wendete Hausler senior sich und schritt zwischen den Gärten dem Wirtshaus zu, wo der Wagen bereit stand. Er hatte nicht mehr umgeschaut. Er stieg gelassen in den Wagen und fuhr der Fletz zu.

Hadrian stand an einem Birnbaum. Er war betroffen. Ihm schwante, als wäre er jetzt nicht stark gewesen. –

Am nächsten Tag ließ Hausler seinen Sohn zu sich in’s Bureau bitten. Es war halb zwölf Uhr, die Stunde, da er Fremde zu empfangen pflegte. Er empfing ihn schweigend, feierlich. Dann schloß er die Thür ab und ging an den Schreibtisch. Dort lag ein Schriftstück. Das entfaltete er und sagte: »Das wäre zu unterschreiben.«

»Was ist es?« fragte Hadrian heiser.

»Bitte!«

Hadrian durchflog die Schrift, und hastig schrieb er darunter seinen Namen.

»Danke!« sagte Hausler und faltete das Papier zusammen. »Das wäre abgemacht. Ihres Pflichtteils wegen ist Doktor Kerbholz informiert. Es steht von dieser Stunde an zur Verfügung.«

Die beiden Männer verneigten sich gegenseitig – gemessen, schweigend.

Den Rückweg aus dem Zimmer nahm Hadrian nicht, wie er gekommen, durch die Geschäftsstuben, sondern durch die Thür, die nach der Freitreppe führte.

In einem Hotel einlogiert, schrieb der Enterbte ins Tagebuch: »Heute endlich bin ich gestorben – und neu geboren!«

Hadrian hatte die Wiedergeburt mit Sekt gefeiert. Ganz allein unter den roten Sammetmöbeln des Hotelzimmers. Am nächsten Morgen ekelte ihn, that ihm der Kopf weh, im Hinterschädel, wo das Gehirn sein soll.

Nun hatte er’s ja. Er war erlöst, war frei. Arm und bedürfnislos sein ist ein von Dichtern gepriesenes Glück. Er hatte einmal davon gelesen.

Sein nächster Gang war zu Doktor Kerbholz. Der war diskret, folgte ihm das Seinige ohne weiteres aus und fragte nicht, wieso das gekommen.

»Es ist ja leider nur das Pflichtteil«, sagte er in seiner gefälligen Weise, »aber das Pflichtteil eines Millionärs läßt beim besten Willen kein aufrichtiges Bedauern aufkommen. Lieber von einem Papa Hausler enterbt sein, als des Universalerbes irgendeines andern in der Fletz sich zu erfreuen. Darf ich gratulieren?«

»Gratulieren ist artig«, versetzte Hadrian. »Wenn Sie mir aber das Zeug gut verwalten möchten, Herr Doktor, so wäre das noch artiger. Aber keine Papiere, wenn ich bitten darf. Die allerbesten am wenigsten und schon auf gar keinen Fall etwaige Aktien der Stahl- und Eisenfabrik Hausler und Kompagnie. Ich begnüge mich mit Sparkassezinsen.«

»So. Ihr Papa würde Sie zwar ob solcher Mißwirtschaft neuerdings enterben, wenn es zweimal geschehen könnte.«

»Danke. Mir ist das eine Mal genug.«

»So wollen wir das Geld in mehreren Sparkassen verteilen, und Sie werden die Renten bei mir in Empfang nehmen, nicht wahr?«

»Ich werde Ihnen schreiben.«

»Bleiben Sie nicht hier?«

»Nein.«

»Was werden Sie denn beginnen, Herr Hausler?«

Hadrian zuckte die Achseln und empfahl sich.

Er hatte ihnen doch immer zu viel geredet und zu wenig geleistet. Nun sollen sie es nicht hören, sondern sehen, was er kann. Verachtung, die sagt man nicht, die schweigt man.

Die Pferde sind gesattelt.

Zwei braune Magyaren, stolz die Köpfe haltend, übermütig mit den Vorderfüßen stampfend, wenn sie drei Minuten auf dem Hofpflaster stehen sollen. Diesen leblustigen Hengsten wurde ein neuer Landauer angespannt, mit dem schweren Lederkoffer hinten – dem Felleisen eines armen reisenden Millionärs.

Und der Kutscher?

Es war einmal ein Stallknecht. Ein kleiner, rundlicher Bursche mit kastanienbraunem Haar, das – immer hübsch nach rückwärts gekämmt – hinten lang und weich hinabhing bis zur Schulter und dort in gerader Linie abgeschnitten war. Wenn der Junge den Kopf schüttelte, was manchmal wohl geschah, so schlug das Gelocke wie ein Pendel hin und her. Vorwitzige Leute nannten ihn den »Fliegenwachel«. Sei es drum – sie sind Herr ihrer Zunge, oder sind es oft auch nicht. Er ist Herr seines Hauptes und ist es immer. So deutet er sich’s. Weil er einfältig war, so machten sie sich gern über ihn lustig. Aber so oft man ihn berührte, sprang ein Funken aus ihm, mit heiterem Wort gab er alles zurück. Anständige Leute, meinte er, dürfen nichts schuldig bleiben. Der Bursche war kaum an die achtzehn, sein rundes, weißes Gesicht hatte etwas Mädchenhaftes, und es blieb nicht viel Kohlenstaub kleben an seinen Wangen.

Er war das Ziehkind einer alten Hökerin und hätte sich in der Fabrik als Kohlenträger und Aschenausführer fortbringen sollen. Dagegen pendelte er aber seine Locken! Kohlen und Asche – da waren ihm lebendige Sachen lieber. Zum Beispiel Pferde, bei denen er sein Nachtlager hatte. Zu diesen schickte er sich besser, als zu Asche und zu Leuten. Und wenn manchmal wilde Tiere im Stall standen, mit denen keiner was anzufangen wußte, so kam just einmal der kleine Saberl herbei und beschwichtigte sie sofort. Mit der Fahne hätten sie den Jungen an die Wand schlagen können, und doch ließen sie sich alles von ihm gefallen. Wenn die Rösser mit den Beinen stampften, guckten sie vorher beinahe, ob nicht der kleine Saberl darunter sei. Wenn er nächtigerweile in ihrem Futterbarren lag, plauderte er vor dem Einschlafen mit ihnen, und wenn sie ihn beschnupperten und sein Haar für Heu nehmen wollten, lachte er sie laut aus.

Mit dem Saberl war es am allersichersten zu fahren. Aber Hausler senior wollte den »Zwerg« nicht auf dem Bock sehen. Dem stand die Livree mit den großen Silberknöpfen, wie dem Kasperl die Generalsuniform. Mit einem solchen Geschöpf, das von den Leuten anstatt Sabin oder Saberl mit Vorliebe sogar »Tschapperl« geheißen wurde, konnte der Chef von der Fletz schlechterdings nicht auf die Straße fahren. Der Tschapperl also wurde degradiert, er kam von den Pferden wieder zu den Leuten. Allerdings als einer, der überall gern gesehen ist. Sie verspotteten ihn, trieben mit ihm Schabernack, aber liebten ihn, konnten oft kaum erwarten, bis er kam – denn Saberl war Briefträger geworden. Die Briefpost für zweitausend Personen der Gewerkschaft hatte er zu bestellen, und das that er weitschrittigen Ganges mit aller Gewissenhaftigkeit und Würde. Nur junge Weibsleute foppte er gern. Was er heute wieder für einen im Sack habe! Aber Bestellgebühr wäre dafür zu entrichten. »Tausend Küsse« seien sicherlich wieder in dem Brief, davon gebührten dem Zusteller fünf Prozent! Etliche gab es immer in der Fabrik, die diese Prozente prompt entrichteten, worauf der Saberl allemal mit der Zunge seine Lippen leckte, um auf den Geschmack zu kommen. Und einmal gestand er, seines Dafürhaltens zahle es sich kaum aus, daß man von diesen Dingen so viel Aufhebens mache.

Diesen jungen Menschen nun hatte Hadrian zu seinem Kutscher erkoren. »Aber du mußt nicht fragen, Saberl, wohin wir fahren!«

Drällerte der Junge: »Ich komm und weiß nit, woher, ich fahr und weiß nit, wohin – derowegen ich so lustig bin.«

»So ist’s recht, Saberl. Nicht fragen, nur wagen.«

Stellte der Junge sich treuherzig hin: »Gnädiger Herr, ein schönes Gebitt hätt ich. Nit alleweil mich Saberl heißen, das bin ich nit gewohnt. All haben s’ mich den Tschapperl geheißen – wissen S’, weil ich halt eins bin. Und wenn ich immer einmal Narrheiten treib, thun S’ nit bös sein. Weil S’ eh wissen, daß ich ein Tschapperl bin.«

»Du sollst aber gescheit sein, Junge.«

»Ich bitt, gnädiger Herr, ich mag nit gescheit sein. Weil einem dann die Dummheiten noch schwerer aufgemessen werden.«

»Du bist schlau!« lachte Hadrian. »Ich will dir sagen, daß es zweierlei Dummheit giebt. Die eine kannst du treiben, soviel du willst. Wenn du mir aber von der andern Gattung eine machst, dann verjage ich dich. Verstehst du?«

»Das ist leicht zu verstehen, gnädiger Herr. Dirndl keins ansetzen, gelt?«

»Ah, so ist’s nicht gemeint.«

»Also nit Tabakrauchen.«

»Ganz angenehm; soll aber kein Verbot sein.«

»Also nachher nit stehlen.«

»Das stimmt«, sagte Hadrian, der sich in seiner sittlichen Würde nachgerade entzückend vorkam. »Ehrlichkeit ist prima. Tschapperl will ich dich auch nennen, dafür sollst du als Gegendienst nicht gnädiger Herr zu mir sagen. Ich bin bloß dein Herr, und ob ich gnädig bin, das muß sich erst zeigen. Bleibst du brav, so wirst du nicht klagen.«

»Und bei mir ist’s auch so. Ein Herr, der mir ansteht – dem soll bei mir nix fehlen.«

»So nimm Abschied von Vater und Mutter, von Bruder und Schwester. In zwei Stunden reisen wir, und du wirst nie wieder zurückkehren.«

»Ich hab niemand. Ich bin allein«, sagte der Saberl. Dann ging er zu den Pferden und besorgte ihre Ausrüstung.

Hadrian hatte ein Hochgefühl, das ihm bisher unbekannt gewesen. Er kam sich ordentlich erhöht vor, seitdem er mit dem Alten gebrochen. Und der Verkehr mit dem Jungen gab ihm so eine Art gemütliches Gleichgewicht. Vor ihm lag eine neue Zukunft, die völlig dunkel war. Was wollte er nun? Er wußte nur, was er nicht wollte, und das war schon etwas. Hier wollte er nicht bleiben, sein altes Leben wollte er nicht fortsetzen. Und weiter? Da er zu ahnen begann, daß auf das menschliche Wollen kein Verlaß ist, so wollte er nichts, als sich dem Zufall überlassen. Dem Zufall und dem Tschapperl.

Die Pferde stehen also eingespannt und stampfen ungeduldig auf dem Pflaster. Im Wagen zurückgelehnt der einzige Sohn des reichen, gewaltigen Hausler. Auf dem Kutschbock der Junge im grauen Anzug, am Filzhütlein die Feder.

»Vorwärts!«

Der Saberl rührte sich nicht. Das Fragen war ja verboten.

»Vorwärts!«

Da wendete der Junge sich seitlings und sagte leise über die Achsel zurück: »Ihr Kutscher ist so gescheit, daß er nicht weiß, wohin er fahren soll.«

»Und dein Herr ist so klug, daß es ihn gleichgültig läßt, wohin du fährst.«

»Na, dann wissen es vielleicht die Rösser«, sagte der Junge und schlängelte ihnen den Leitriemen über den Rücken. Sie zogen frisch an und trabten mitten auf den großen Platz hin. Dort stand eine steinerne Säule, davor hielten sie an. Die Säule war vor zweihundert Jahren zur Zeit grassierender Pestilenz errichtet worden zum Sühnopfer. Am Schaft hinan standen die vierzehn Nothelfer, oben die heilige Jungfrau.

»Ist’s recht da?« fragte der Saberl.

»Sieh einmal auf den Giebel des Beamtenhauses, Kutscher. Siehst du dort die Windfahne? Na, wohin zeigt sie?«

»Gerade gegen die Sonnenseite.«

»So fahre der Sonne zu in des Teufelsnamen.«

Der Junge stutzte einen Augenblick, dann sagte er leise: »In Gottesnamen!« und fuhr los.

Es ging zwischen den rostbraunen Gebäuden entlang glatt voran auf offener Straße gegen Süden.

An den Abladeplätzen, wo haufenweise die rostigen Kessel, Blechplatten, zerfressenen Röhren und anderes Eisengerümpel lagen, begegnete ihnen der Herrschaftswagen. Die beiden saßen drinnen. Hadrian nahm sich vor, den Kopf nicht zu wenden, und hätte es so gerne gesehen, ob sie sich nach ihm umschauten. Nach einigen Sekunden blickte er aber doch zurück, gerade in dem Augenblick, als auch sie nach ihm die Köpfe gewendet hatten. Er knirschte vor Ärger. Sie sollen ja merken, wie grenzenlos gleichgültig ihm alles ist in diesem verrotteten Fletz – wie sie der gründlichen Verachtung und Vergessenheit hingeworfen sind, – beide.

Dann, hinter den Eisenbahndämmen, auf denen unter schrillem Gepfeife ununterbrochen die Lastwagen hin- und hergeschoben wurden, kamen Felder. Gelbe Halme neigten ihre Ähren in Bogen, der Rasenstreifen am Straßenrand war noch taunaß. An den Hügeln standen braune Rauchbänke von den Schloten. Aber die Luft wurde klarer, ein Mann schnitt Gras, und der Duft kam heran. Hadrian schrie so grell auf, daß der Saberl sich erschrocken wendete. Es hatte ein Jauchzen sein sollen. So frisch, so frei, so hoch war dem Mann ums Herz. In die weite Welt! Losgeschält aus allem Wust und Tand und Schund und Unsinn – ein Mensch endlich! Ein menschgewordener Homunkel.

Aber dieser Mensch war plötzlich wieder bange. Als ob ihm die Einsamkeit der Natur weh täte.

»Saberl, hast du all deine Sachen mit?«

Der Junge blickte nach allen Seiten an sich hinab, betastete die Taschen, die Glieder, schüttelte den Kopf. Tastete neuerdings und begann – während die Tiere langsamer trabten – laut zu zählen: »Der Wäschesack, der Wettermantel, das Taschenmesser, das Gewand, die Sackuhr, der Geldbeutel, der – das – Herr, ich hab was vergessen.«

»Was hast du vergessen?«

»Ja, das weiß ich nit. Sieben Sachen soll der Mensch haben. Meine Kirchnermutter selig, die hat allemal gesagt, bevor ich in die Schule gegangen bin: Hast deine sieben Sachen? – Und jetzt hab ich nur sechs mit. Und weiß nit, was mir fehlt!«

»Getröste dich, Knabe, solange du’s nicht weißt, fehlt nichts.«

Hadrian merkte, wie weise das klang. Ohne Zweifel, ein großer Mensch begann sich in ihm zu regen. Doch bisweilen ging ein Ahnen durch sein Wesen, als ob auch er etwas vergessen hätte in der Fletz. Und führte er doch in seinen Ledertaschen, in seinem Koffer eine Welt von Habseligkeiten mit sich.

Nach einer Stunde wand die Straße sich den Scharberg hinan. Auf der Paßhöhe, wo die Säule mit dem Radschuh steht, hielt der Wagen. Die Insassen stiegen ab und schauten zurück. Ein rostbrauner Dunstqualm weit und weit hin. Die Schlote der Fletz sind in diesem Qualm noch sichtbar; und weiter hinten, schier wie in die bleigraue Bank hineingebaut, die sich um den Sehkreis zieht, einzelne Kuppeln und Türme der Riesenstadt. Dort, dort! In jenem Dunstbrodem das Häusermeer mit seinen hunderttausend Höhlen und Gespenstern, ein Ort für die Nacht und für die Sünde. Der Saberl duckte sich und schaute zwischen seinen ausgespreizten Beinen durch – in jene Gegend hin. Das sei sein »Perspektiv«. Solches versuchte wundershalber auch Hadrian, und er staunte. Mit umgekehrtem Auge – man erkennt sein Heimatsthal nicht wieder. Welch ein entzückendes Landschaftsbild! Es wird wohl also sein: was dich mit umgekehrtem Auge entzückt, das entzückt andere mit umgekehrtem Herzen! Sie alle, die mit Freuden in der Unnatur der Großstadt leben, haben ein umgekehrtes Herz. Dem Auswanderer wurde das seine regsam. Lebe wohl, du Schöpfung der Hausler, du stolze Arbeitsstätte in der Fletz! Ich verachte dich!

»Vorwärts! Der Sonne zu! Kleiner Kerl!«

In demselben Thal, durch das Hadrians Wagen auf Gummirädern weltflüchtig dahinglitt, ging auch die Eisenbahn mit ihren endlosen Güterzügen, mit ihren fliegenden Eilzügen, mit ihren Drähten, in denen die Weltereignisse, die Börsenberichte, die Defraudations- und Selbstmordsanzeigen von Land zu Land zuckten. Hadrian fröstelte. Ein eiskalter Blutstropfen rollte durch seine Adern. Er versprach dem Saberl ein Trinkgeld, wenn er rasch fahre.

Der Junge murmelte darauf etwas.

»Wie? Hast du etwas gesagt?«

»Ich hab mir nur gedacht?«

»Was hast du gedacht?«

»Halt so, daß der Herr das gute Trinkgeld den Pferden geben sollte. Anziehn müssen die.«

Es ist wahr, dachte sich Hadrian. Das Pferd wird zu Schanden gehetzt, und der Kutscher steckt das Trinkgeld ein. Und da geben diese Leute vor, sie liebten ihre Tiere. Es ist alles Verrat.

»Fahre langsam!«

»Wohin, gnädiger Herr?«

»Zwei Gebote auf einmal übertreten. Soll ich dich erinnern?«

»Ich weiß schon. Das heißt, ich weiß nichts.«

»Das macht nichts.«

Nein, noch nie hatte Hadrian sich so glücklich gefühlt, als jetzt in dieser Unwissenheit, was die nächste Stunde für ihn sein wird. Den Einfältigen das Himmelreich. Wie wäre es, wenn er Christ würde, wirklicher Christ? In Einfalt leben, die Güter der Welt verachten, hieß es nicht so? Und das, was anderen so schwer ankommt, den Reichtum von sich zu werfen – bei ihm war es bereits geschehn. Er nahm die Sache jetzt so, als ob er freiwillig auf alles verzichtet, ja als ob er selbst in heiligem Zorn alles hingeworfen hätte. So kam er über den Ärger, daß seine Schwärmereien durch die ungeahnt eingetretene Enterbung zur Wahrheit geworden waren, am leichtesten hinweg. Nun soll das große philosophische Leben kommen: der Menschheit will er sich opfern, besonders den Armen. So oft an der Straße eine Jammergestalt auftauchte, ließ er den Wagen halten und beschenkte sie mit einer kleinen Münze.

»Ja, wenn der Herr alleweil Bettler machen thut, kommen wir nicht weiter!« sagte der Saberl einmal.

»Bettler machen?«

»Aber natürlich! Wenn sie sich aufs Almosen verlassen, dann thun sie nix.«

Ein wunderlicher Junge, dachte Hadrian. Er giebt manchmal zu denken. Giebt überhaupt zu denken. Wie lange kenne ich ihn denn schon? Zwei Wochen, oder drei. Und kommt mir doch dieses Gesicht so längst bekannt vor. Mit dem Stumpfnasel und dem aufgeböschten Kindermund ein ganz hübsches Lärvchen. Und die kleinen braunen Augen, die so gern hinter den langen Granen verstohlen hervorgucken. Just, als ob hinter diesem Gesicht einer versteckt wäre, so ein – wie soll man denn gleich sagen! – Der gute Kamerad aus einem früheren Leben. Es heißt ja, daß man früher auch schon einmal gelebt hat, oder öfters als einmal. Die Genossen kommen wieder! Mag sein, mir ist das zu hoch. Merkwürdig nur, daß man dem einen gut ist und dem andern böse, und man weiß nicht warum. Vorwärts!

Weit und luftig lag die Gegend. Sonst hatte Hadrian, wenn er mit seinem Vater auf Landfahrten war, alles daraufhin ansehn sollen, was es wert sei, wie man es ohne viel Aufsehn an sich ziehn und ausnützen könne. Jetzt freute er sich des Gedankens, daß in diesem Haus glückliche Menschen wohnen, auf jenem Feld genügsame Leute arbeiten, in jenem Wald Jäger und Hirtinnen ein romantisches Liebesleben führen! Aber es empörte ihn auch der unlustige Geselle, der dort unter dem Ahorn faulenzte, während der Acker nebenhin brachlag und die daranstehende Hütte verlottert war. In qualmigen Straßenschenken saßen halbbesoffene Bauern und spielten Karten – und draußen die schöne, heilige Natur, die herrliche Luft, das köstliche Wasser, und jede Scholle lohnt den fleißigen Spatenstiel. Konnten diese Leute nicht ein wahres Edelmannsleben führen im Vergleich zu dem Arbeiterfronwesen in den Fabriken und Städten! Sollte es doch wahr sein, daß unser gutes Landvolk morsch zu werden beginnt? Dann müßte es neu aufgefrischt werden.

Dort auf dem Hang arbeiteten ein Mann und ein Weib. Sie häufelten Kartoffeln an. Sie waren verkrümmt und schwerfällig. Hadrian ließ halten und lud die Leutchen ein, mit ihm ins Wirtshaus zu kommen, das an der Straße stand. Dort ließ er ihnen Wein auftragen, den besten, der im Keller war. Den Armen würde einmal ein gutes Tröpflein auch wohl bekommen. Das Getränk war stark, der Bauer schnob nach dem ersten Trunk aus der Kehle, sein Weib verkutzte sich an dem Schluck, geriet ins Husten, von dem es sich erst wieder erholte, als die Wirtin eine Schale warmer Milch gebracht hatte.

Schließlich waren die zwei Bauersleute froh, dem Wirtshaus und dem Fremden mit seinem gewaltthätigen Wein entkommen und wieder auf ihrem Kartoffelacker zu sein. Sie hatten nicht einmal dafür gedankt. Hadrian war darüber verdrießlich, er hatte gemeint, die ihnen erwiesene Gnade würde sie vor ihm zu Boden werfen, und sie würden ihm Lobsprüche stammeln. Schier erbarmte ihn sein gutes Herz, daß es enttäuscht worden war. Er nahm sich vor, trotzdem gut zu bleiben.

Gegen Abend dieser ersten Tagesfahrt verengte sich das Thal.

»Fahrt’s nur eini da!« rief den Reisenden ein alter Stromer zu und wies gegen die Schlucht. »Da drinnen giebt’s was!«

»Und hier auch was!« sagte Hadrian, ihm einen Silberling in den Hut werfend. Der Stromer sah das Geldstück an, schmunzelte und rülpste. Er dünkte sich wohl schon im Vorgenuß der künftigen Freuden, die diese Münze bringen sollte.

Im schluchtähnlichen Thal eingeengt stand ein Fabrikort, endlos lang hingestreckt zwischen steilen Waldlehnen. Es waren die Kohlen-, Erz- und Graphitwerke zu Schuttenthal, denen sich Leder- und Papierfabriken anschlossen. Unsere Reisenden suchten einen Seitenweg, um diesen Ort zu umgehen; denn Hadrian wollte nicht noch einmal in den Rauch, Ruß und Gestank einer Industriehöhle untertauchen. Der Seitenweg führte über einen Bergrücken und war steinig, holperig. Der Saberl stieg aus, Hadrian blieb sitzen und dachte über das Weltelend nach.

»Ein verdammt steiles Luder, dieser Weg!« rief der Saberl recht vernehmlich. Aber der Herr blieb sitzen. Da befestigte der Junge an der Deichsel rasch einen Riemen und spannte sich den Pferden vor. Das war dick, aber der Herr blieb sitzen. Die Pferde trappelten mit krampfhaften Beinen, sie strauchelten, die Steine gaben Funken. Es wollte rückwärtsgehen, statt vorwärts. Sollte er doch aussteigen? Hinten nachschieben? Nein, man muß den Meinungen eines Dieners nie zu weit nachgeben, das taugt nicht.

Der Wagen prallte von einem Stein ab und sank kraxend nach vorn ein – die Achse war hin.

Der Saberl that einen Pfiff und starrte seinen Herrn an. Dieser begann zu fluchen.

»Das hilft nix«, sagte der Junge und schupfte die Achseln. »Hab eh vorher selber geflucht, und der Herr ist doch sitzen geblieben.«

Dann haben sie mit Hilfe von Landleuten den Wagen wieder ins Thal zurückgebracht und nach Schuttenthal hinein, um dort einen Wagner aufzutreiben. Nun beredeten sie auch, wie sie es hätten machen sollen, und Hadrian erklärte mit Bestimmtheit, daß sie nicht den Umweg über den Berg hätten nehmen sollen, daß sie ohne weiteres durch Schuttenthal hätten fahren müssen; in kaum einer halben Stunde wären sie durchgewesen, während sie so in dem verhaßten Industrieort übernachten müßten.

In Schuttenthal ging’s merkwürdig her. Die Maschinen ruhten, und die Schlote hatten sich, wie der junge Rosselenker deutete, das Rauchen abgewöhnt. Hingegen waren alle Straßen und Plätze voll von Arbeitern. So leidlich diese rußigen Kerle sich in den Blaublusen ausnahmen bei der Arbeit, so widerwärtig erschienen sie darin im Müßiggang, oder wenn sie, die rote Nelke im Knopfloch, durch die Straßen revoltierten. Das war Hadrians Meinung. Besonders, wenn sie Schlägel, Feuerstößer und anderes Werkzeug in der Hand hatten, wo es doch nichts zu bearbeiten gab, als die »Bourgeois«, da waren sie dem Sohn des Großindustriellen besonders zuwider. Er sagte sich ja, daß ihm nichts geschehen könne, da er nun selbst zum Volk niedergestiegen sei, da er für die Menschenrechte eintreten werde – aber es war ihm doch unheimlich.

Auf Ecksteinen, an Brunnenständern standen schreiende Männer und verlangten in wilden Worten Arbeitsverkürzung und Lohnerhöhung. Und das trug sich fort von Gasse zu Gasse, überall, wo es an Rotten stieß, Beifallsgeschrei entzündend. Wirtshäuser waren mit roten Fahnen geschmückt, und drinnen surrte es wie in Bienenkörben vor dem Schwärmen. Manch kreischende Stimme stach hervor: »Nieder mit dem Kapital!« »Und den Kapitalisten!«

Die Herren- und Beamtenhäuser hatten ihre Thore und Fenster fest geschlossen und schienen ausgestorben zu sein. Stellenweise schritten Gendarmerieabteilungen dahin; die Spitzhauben waren recht nachsichtig gegen die lärmenden Massen, die ihnen freilich hundertfach an Zahl überlegen sein mochten.

Als unsern Reisenden diese Lage klar geworden war, bogen sie rasch in eine dunkle Seitengasse und ließen dort den Wagen in eine alte Scheune schieben, überließen dort den Wagen einem alten Schmiedemeister. Hadrian war gewillt, sich später unter die Männer zu mischen, die um ihre Rechte kämpften. Einstweilen stand er hinter einer Bretterwand und lugte durch eine Spalte auf die wogende Menge hinaus, wo die Losung laut geworden war: »Auf in die Stadt! Auf in die Fletz!«

Bei einer Schustersfrau fanden sie endlich besseren Versteck. Ihr waren die schützenden Männer sehr willkommen, denn sie war allein zu Hause. Meister und Gesellen waren irgendwo in den Herrenhäusern, um etwaige Schätze zu bewachen und in den Kellern zu bergen. Ihre Leute, erzählte die Frau, wären noch nicht verrückt und würden es auch nicht werden. Ihr Mann gebe anständigen Lohn, sie anständige Kost und ordentliches Quartier, die Arbeitszeit sei eher zu kurz als zu lang; ihr Mann sage immer, man dürfe den Leuten nicht so viel freie Zeit lassen, um sich zu Schanden zu saufen. So herrsche in ihrem Haus noch altbürgerliche Ehrbarkeit. Aber an den Fenstern keiften Arbeiterweiber vorüber: es wäre nicht mehr auszukommen, der Lohn zu gering, Fleisch, Kaffee, Zucker zu hoch!

Warum die Leute sich nicht in Bauernhöfe verdingten, wenn sie in der Fabrik nicht auszukommen glaubten? Das fragte Hadrian. Die Schustersfrau lachte ihm ins Gesicht: »In den Bauernhöfen? Was denkt man? Von dort kommen sie eben her. Ist’s ein Wunder? Nach Fleisch, Kaffee und Zucker schreien sie. Bei den Bauern schimmliges Brot, saure Milch und anderes Gefraß. Und nit einmal das genug. Was glauben Sie denn? Ich hab einen Buben in der Bäuerei gehabt. Vier Wochen, dann hat er genug gehabt bis da herauf!« Sie legte die Scheide der wagerechten Hand an den Hals. »Daß ich nit lüg: nit einmal, zehnmal ist er vom Leuttisch hungrig aufgestanden und zum Schweinstrog gegangen. Und nachher das Bett! Ich red nit. Ich sag nur soviel: ich red nit.«

Eine Magd mischte sich ins Gespräch: »Nur probieren, wer’s nit glaubt! Bei den Bauern ist unsereins ein Hund, muß kuschen, hat keine Ansprach, keine Kameradschaft, überall zuwidere Gesichter und Leutschinderei zwölf Stunden und länger, alle Tag. Schon gar, wenn der Hausvater ein Vieh und die Hausmutter ein Drach ist. Mag nachher so ein armes Dienstbot wohl liederlich werden, damit es bald in die Höll kommt. Dort hat s’ es besser, wie ein altes, mühseliges Leut beim Bauer! Just einmal probieren! Die Dummen bleiben beim Vieh, die Gescheiten gehen in die Fabrik, halten dort zusammen und wehren sich um ihr Sach. Recht haben sie!«

»So ist’s!« bestätigte die Schustersfrau. »Und jetzt marsch zu deiner Wäsche!«

Die Magd stand da, kreuzte über der Brust ihre Hände und grinste der Meistersfrau höhnisch ins Gesicht. Was wagt die Meisterin? Hört sie nicht, was draußen vorgeht?

Als es dunkelte, kam der Meister nach Hause. Den braunen Lederschurz um, die Hemdärmeln über die derben Arme zurückgestreift bis hinter die Ellbogen, als ob er von der Werkstatt käme.

»Wo hast du die Gesellen?« fragte sein Weib scharf.

»Futsch sind sie.«

»Was sind sie?«

»Die falschen Bestien! Mit solchen Leuten gegen die Roten marschieren wollen! Zu dumm! Kaum kommen wir auf den Platz, wo der Krisel predigt, tritt der Lump, der Altgesell, mir ins Gesicht, auf Spannweite, sag ich dir, und schreit: Schuster! Zwanzig Prozent Lohnerhöhung von heut ab!«

»Unser Altgesell?«

»Der im Haus alleweil so duckmäuserisch ist gewesen.«

»Und du? Du lassest dir das gefallen von diesen Knochenbohrern? Du gehst nit zu den andern Meistern und sagst: Männer! Streiken auch wir! Und hungern sie aus! Ich, wenn ich Mann wär!«

»Die Kleinmeister streiken, meinst du? So! So!« Mit höhnischem Mitleid schaute der Schuster sein Weib an. »Die Meister streiken! Just auf das warten sie ja, die Großfabrikanten.«

Jetzt wurde die Meisterin wütend. Mit ausgespitzten Ellenbogen schoß sie im Haus umher. Wenn es so weit sei, dann thue sie auch mit!

»Meiner Seel, ich selber!« knirschte der Meister.

Unsere Reisenden suchten zur Not ein Abendbrot zu bekommen – dem Saberl schmeckte der alte Käse, dem Hadrian schmeckte er nicht – und zogen sich ehestens zurück in eine Strohkammer. Als sie auf dem Stroh lagen, sagte Hadrian verzagt: »Ich glaube, Sabin, jetzt heißt’s mitgefangen, mitgehangen.«

»Nit gefangen, nit gehangen, Herr! Ich denk, wenn’s alle thun, wir empören uns auch!«

»Wir? Ja, Saberl, gegen wen denn?«

»Das weiß ich selber nit genau. Empören wir uns halt just einmal.« Sein rotes Sacktuch knüpfte er an den Peitschenstab und steckte es zum Kammerfenster hinaus. Also war das ganze Schusterhaus revolutionär geworden.

Trotzdem murmelte der Saberl seinen friedlichen Abendsegen und horchte den Pferden zu, die im Nebenraum untergebracht waren; sie gebärdeten sich unruhig, stampften und schnoben.

»Sie empören sich halt auch«, sagte der Saberl. »Nachher gehen wir zu Fuß ins Holland, oder wohin lauter.«

Als sie schon ruhten, rief plötzlich vor der Kammerthür die Schustersfrau: »Will nit fragen, wer die Herrn sind. Aber lieber wär’s mir schon, sie thäten ihr Nachtquartier anderswo suchen. Bei den unruhigen Zeiten kann man nit wissen, was geschieht. Der Lampelwirt nimmt Ihnen gern, der hat gute Betten.«

Der Saberl erhob ein lautes Schnarchen, und das war die Antwort. Und als sie draußen nicht mehr redete, flüsterte er: »Wegen meiner, ich bleib liegen. Ich geb mich nit zu erkennen, und der Herr, werd ich sagen, ist mein Bedienter.«

»Ganz so weit sind wir noch nicht, Saberl.«

»Ganz so weit sind wir schon«, versetzte der Junge lustig. »Vor acht Tagen hätt ich mir’s freilich nit eingebildet, daß der Herr Hausler sich vom kleinen Saberl bedienen lassen wollt!«