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Der neue Roman von Anthony Horowitz hebt sich von den modernen James Bond-Romanen in einzigartiger Weise ab: Er beinhaltet unveröffentlichtes Material, das von Ian Fleming verfasst wurde und zu dem Horowitz exklusiven Zugang hat. In den 1950ern schrieb Ian Fleming zahlreiche Episodenentwürfe für eine James Bond-TV-Serie die jedoch nie gedreht wurde. Als Vorlage für diesen Roman wählte Horowitz "Mord auf Rädern". James Bond taucht in die gefährliche Welt des Motorsports ein - und gelangt bei seiner Reise um die Welt auch nach Deutschland, zum Nürburgring.
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Seitenzahl: 448
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JAMES BOND
DER FINGER GOTTES
von
ANTHONY HOROWITZ
Ins Deutsche übertragen von
ANIKA KLÜVER
und
STEPHANIE PANNEN
Die deutsche Ausgabe von JAMES BOND – TRIGGER MORTIS – DER FINGER GOTTESwird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,Übersetzung: Anika Klüver und Stephanie Pannen;verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;Lektorat: Katrin Aust und Gisela Schell; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik;Cover Artwork: © Joy Cohn/Niels Jahn Knudsen, www.nielspapermodels.com.
Titel der Originalausgabe: JAMES BOND – TRIGGER MORTIS
German translation copyright © 2015, by Amigo Grafik GbR.
Copyright © Ian Fleming Publications Limited 2015The moral rights of the author have been asserted.Die Persönlichkeitsrechte des Autors wurden gewahrt.
Material from Murder On Wheels, by Ian Fleming,Copyright © The Ian Fleming Estate 2015
Ian Fleming and the Ian Fleming logo are both trademarks owned by the Ian FlemingEstate, used under licence by Ian Fleming Publications Ltd.
JAMES BOND and 007 are registered trademarks of Danjaq LLC,used under license by Ian Fleming Publications Limited. All Rights Reseved.
Print ISBN 978-3-86425-774-2 (September 2015)E-Book ISBN 978-3-86425-747-6 (September 2015)
WWW.CROSS-CULT.DE · WWW.IANFLEMING.COM · WWW.ANTHONYHOROWITZ.COM
Es war dieser Augenblick des Tages, in dem die Welt genug hat. Die Sonne stand tief am Horizont. Ein sanftes rotes Glühen kroch über die Sumpfebene, während hoch oben ein Schwarm Vögel ziellose Kreise am leeren Himmel zog. Der Wind hatte nachgelassen, und die Nachmittagshitze war drückend geworden, gefangen in einem Dunst aus Staub und Abgasen. Die Szenerie wurde durchbrochen von einem einsamen dunkelblauen Crosley-Kombi, der über die Route 13 von der Küste ins Landesinnere raste.
Der Crosley war ein hässliches kleines Auto mit einer übermäßig stark ausgeprägten Nase, einer flachen Fahrerkabine und einer Menge Rost, der sich durch die Karosserie aus Kupferstahl fraß. Der Fahrer kauerte hinter dem Steuer und hatte die Augen fest auf die Straße vor sich gerichtet. Er hatte den Wagen für dreihundert Dollar von einem Verkäufer erworben, der geschworen hatte, er würde die hundert Kilometer mit sechs Litern Benzin schaffen, und das bei einer Geschwindigkeit von bis zu achtzig Kilometern pro Stunde. Natürlich hatte er gelogen … mit dem perfekten Gebiss und dem freundlichen Lächeln eines typischen Schmalspurganoven. Der Crosley kam selbst dann kaum richtig in Gang, wenn es steil bergab ging, und hier, in der Nähe von Virginias Ostküste, war die Landschaft in allen Richtungen kilometerweit flach.
Der Fahrer hätte ein Professor oder ein Bibliothekar sein können. Er sah aus wie jemand, der zu viel Zeit seines Lebens drinnen verbracht hatte. Er hatte blasse Haut, nikotinverfärbte Finger und eine Brille, die sich im Laufe der Jahre langsam in seine Nase gedrückt hatte, bis sie zu einem festen Bestandteil seines Gesichts geworden war. Sein schütteres Haar offenbarte die Leberflecken hoch oben auf seiner Stirn. Sein Name war Thomas Keller. Obwohl er mittlerweile einen amerikanischen Pass besaß, war er in Deutschland geboren und sprach seine Muttersprache nach wie vor fließender als die seiner Wahlheimat. Ohne das Steuer loszulassen, drehte Keller seine Hand und warf einen Blick auf die Militärarmbanduhr von Elgin, die er bei einem Pfandleiher in Salisbury gekauft hatte. Zweifellos hatte sie dort irgendein vom Glück verlassener Soldat abgegeben. Er war genau pünktlich. Als er die Abfahrt direkt vor sich sah, blinkte er. Ihm wurde klar, dass er in einer Stunde genug Geld haben würde, um sich ein anständiges Auto und eine anständige Uhr zu kaufen – selbstverständlich ein Schweizer Fabrikat, vielleicht eine Heuer oder eine Rolex. Und endlich auch ein anständiges Leben.
Er hielt vor einem Diner, einem glatten silbernen Kasten, der aussah, als wäre er in einem Stück auf der Ladefläche eines Lasters angeliefert worden. Der Name – Lucie’s – prangte in pinken Neonbuchstaben über den vier Gerichten, die für den Großteil der Bevölkerung die gesamte amerikanische Küche definierten, egal in welchem Staat man sich befand: Hamburger, Hotdogs, Shakes, Fritten. Er stieg aus – sein Hemd blieb kurz am Vinylbezug des Sitzes kleben – und zog sein Jackett vom Beifahrersitz. Einen Augenblick lang stand er in der warmen Luft, lauschte dem gedämpften Klang einer Jukebox und dachte über die Reise nach, die ihn hierhergeführt hatte.
Thomas Keller hatte gerade erst seinen Abschluss in Physik und Ingenieurwissenschaften gemacht, als er über etwas gestolpert war, das zur großen Leidenschaft seines Lebens werden sollte. Es war im Harmonie-Kino in Sachsenhausen gewesen, in das er mit einem hübschen Mädchen gegangen war, um sich Fritz Langs neuen Film Frau im Mond anzusehen. Fünf Minuten nach Filmbeginn hatte er seine Begleitung und sogar seine Hoffnung, sie später auf dem Parkplatz des Kinos ein wenig befummeln zu können, komplett vergessen. Stattdessen hatte der Anblick einer Stufenrakete, die auf der Leinwand den Erdorbit verließ, etwas in ihm geweckt, und von diesem Moment an vereinnahmte ihn dieses Thema voll und ganz. Man konnte sagen, dass es dieselbe unwiderstehliche Kraft war, die ihn zuerst an die Universität von Berlin, dann zum Verein für Raumschiffahrt und schließlich an die Ostseeküste und zum Hafen von Peenemünde getrieben hatte.
Zu dieser Zeit war die deutsche Raketenforschung bereits sehr weit fortgeschritten, denn obwohl der verhasste Friedensvertrag von Versailles gewaltige Einschränkungen für die Entwicklung von Waffen beinhaltet hatte, war die Raumfahrt außen vor geblieben. Das spielte dem deutschen Militär in die Hände, denn dort erkannte man schnell, dass mit flüssigem Treibstoff betriebene Raketen, die von recht einfachen, behelfsmäßigen Plattformen gestartet wurden, weiter und schneller fliegen konnten als jede Artilleriewaffe. Was bedeutete, sie konnten ihre Ladungen in jede große Stadt Europas bringen.
Keller war sechsunddreißig, als er den Mann kennenlernte, der das deutsche Raumfahrtprogramm leitete: den Raketenwissenschaftler (und SS-Sturmbannführer) Wernher von Braun. Als Sohn eines preußischen Barons entstammte von Braun einer Familie, die seit dem dreizehnten Jahrhundert Kämpfe ausfocht, und er hatte seine aristokratische Ader nie verloren. Er stolzierte herum, blaffte jeden an, der ihm widersprach, und begegnete den Menschen mit kühler Herablassung, wenn er nicht in Stimmung war. Gleichzeitig widmete er sich voller Hingabe seiner Arbeit. Er verlangte sich selbst und allen um ihn herum immer das Beste ab. Keller fürchtete und bewunderte ihn gleichermaßen.
Natürlich hatte zu dieser Zeit ein gewisser österreichischer Gefreiter die Macht an sich gerissen, und Deutschland befand sich im Krieg. Aber das interessierte Keller nicht sonderlich. Wie viele der Akademiker und Physiker, aus denen sein gesamter Freundeskreis bestand, hatte er wenig Interesse an der Welt um ihn herum. Wenn Hitler Geld in die Entwicklung raketengetriebener Abfangmechanismen und ballistischer Flugkörper investieren wollte – elf Millionen Deutsche Mark, die von der Luftwaffe und der Armee bewilligt wurden –, konnte Keller in Bezug auf die anderen, weniger angenehmen Beschäftigungen der Nazis gerne ein Auge zudrücken. Als er im Sommer 1944 endlich in Peenemünde stand und die ersten V1-Raketen gestartet wurden, dachte er tatsächlich nicht über den Tod und die Zerstörung nach, die sie mit ihren eine Tonne schweren Sprengladungen bringen würden. Er war ein Künstler, und dies war seine Leinwand. Das Beobachten der Abschussvorgänge war für ihn ein Augenblick purer Ekstase: die Wolken aus weißem Rauch voller winziger Funken aus der Zündvorrichtung, die sich plötzlich zu einer strahlend roten Flamme vereinten, die abfallenden Seile und die elegante schlanke Gestalt, die in den Himmel entlassen wurde. Die Vibrationen fuhren durch seinen Körper. Seine ganze Haut schien zum Leben zu erwachen, und er spürte den Nervenkitzel der Gewissheit, dass er zu der Handvoll Techniker gehörte, die bei der Erschaffung dieses Wunders geholfen hatten, dessen Antriebe erstaunliche achthunderttausend Pferdestärken aufbrachten und schon bald ein Tempo erreichen würden, das fünfmal schneller als Schallgeschwindigkeit war. Die Bürger Londons hätten keine Ahnung von der Perfektion, der schieren Genialität der Waffe, die sie töten würde. Oft konnte sich Keller nicht zurückhalten. Er weinte Tränen der Freude.
Der Krieg endete, und für eine kurze Weile fragte sich Keller, ob er sich gewissen Konsequenzen würde stellen müssen. Er war sogar vor Ort gewesen, als sich von Braun den Amerikanern ergeben hatte und anschließend als Teil der berühmten Schwarzen Liste von ihnen verhört worden war. Die Schwarze Liste war der Codename für deutsche Wissenschaftler und Ingenieure von besonderer Bedeutung. Doch er machte sich keine allzu großen Sorgen. Was von Braun und sein Team geschaffen hatten, würde für die Alliierten zu wertvoll sein, und er war zuversichtlich, dass sie ihre Arbeit irgendwie fortsetzen würden. Er sollte recht behalten. Die beiden Männer wurden noch am selben Tag aus der Haft entlassen. Zusammen mit einem Dutzend weiterer Wissenschaftler und Techniker wurden sie aus Deutschland ausgeflogen und kamen schließlich in Fort Bliss an, einer amerikanischen Militärbasis in der Nähe von El Paso, wo sie mit neuen Meistern – und in ein paar Fällen neuen Identitäten – ihre Arbeit genau an der Stelle fortsetzten, an der sie aufgehört hatten, als man sie so unfreundlich unterbrochen hatte.
Nun war Keller fünfzig und näherte sich dem Ende seiner Karriere. Er hatte zwölf Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt, aber niemand hätte ihn je für einen Amerikaner gehalten. Er hatte die Statur und den Körperbau eines Ausländers, langsam und schwerfällig. Seine träge Sprechweise und sein starker Akzent verrieten seine Herkunft, sobald er den Mund aufmachte. Doch das spielte keine Rolle. Der Krieg war lange genug vorbei. Es kümmerte die Leute nicht mehr. Außerdem hatte er sich seiner Meinung nach auf eine Weise angepasst, die sehr viel wichtiger war – und die ihn vollkommen zufriedenstellte. Drei Jahre nach seiner Ankunft hatte er eine amerikanische Kellnerin geheiratet, die er in El Paso kennengelernt hatte, und sie waren zusammen in ein typisch amerikanisches Haus in Salisbury, Maryland, gezogen. Keller hatte eine Stelle als Generalplaner im Naval Research Laboratory (NRL) erhalten und arbeitete in deren Raketenabschussbasis auf Wallops Island. Sein dortiges Büro hatte er vor weniger als einer Stunde verlassen.
Und nun hatte er sein Ziel erreicht.
Er betrat das Diner und spürte sofort die kühle Luft der Klimaanlage. Genau in diesem Moment tönte ein Lied der Everly Brothers aus der Jukeboy.
Bye bye love
Bye bye happiness …
Keller hatte kein Interesse an amerikanischer Musik, aber in den vergangenen Monaten war es unmöglich gewesen, diesem Lied zu entkommen. Die Worte erschienen ihm seltsam unpassend. Denn er war in der Hoffnung und Erwartung des genauen Gegenteils hierhergefahren.
Der Mann, mit dem er sich treffen wollte, wartete an der Stelle auf ihn, die sie verabredet hatten: dem Tisch am Eckfenster. Er trug einen Anzug von Brooks Brothers, ein Buttondown-Hemd und Slipper. Es war die gleiche Kleidung, die er immer trug. Er war offenbar schon früher eingetroffen. Vor ihm auf dem Tisch lag eine Zeitung, und er hatte das Kreuzworträtsel teilweise ausgefüllt. Keller kannte ihn als Harry Johnson, aber er war sich ziemlich sicher, dass das nicht sein richtiger Name war. Ein wenig ungelenk hob er eine Hand zum Gruß. Dann ging er über den rot-weiß gefliesten Boden und quetschte sich an die andere Seite des Tischs. In letzter Sekunde wurde ihm klar, dass er vergessen hatte, sein Jackett anzuziehen. Tja, nun war es dafür zu spät. Fest entschlossen, nichts zu tun, was unsicher oder schlecht vorbereitet wirken mochte, legte er das Jackett neben sich auf die Bank.
»Wie geht es Ihnen, Mr Keller?« Johnson hatte einen breiten Manhattan-Akzent.
»Es geht mir gut. Danke.«
Harry Johnson war zehn oder fünfzehn Jahre jünger als er, wirkte allerdings mit seinem lang gezogenen Gesicht, den faltigen Wangen und dem kurz geschorenen grauen Haar älter. Er rollte einen Kugelschreiber zwischen den Fingern hin und her. An einem Finger trug er einen goldenen Siegelring.
»Wie heißt die Hauptstadt von Venezuela?«, fragte er.
»Verzeihung?« Keller war völlig überrumpelt.
»Neun senkrecht. Die Hauptstadt von Venezuela. Es ist ein Wort mit sieben Buchstaben und beginnt mit einem C.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Keller gereizt. »Ich mache keine Kreuzworträtsel.«
»Schon gut. War nur eine Frage.« Johnson hob den Blick von der Zeitung. »Dann ist also alles erledigt?«
Dieses Mal wusste Keller, was er meinte.
Dies war ihr viertes Treffen. Keller erinnerte sich an das erste Mal, eine scheinbar zufällige Begegnung in einer Bar in der Innenstadt von Salisbury. Johnson war einfach plötzlich da gewesen, auf dem Barhocker neben ihm. Keller hätte unmöglich sagen können, wann er sich gesetzt hatte. Sie waren ins Gespräch gekommen. Johnson hatte behauptet, er sei Geschäftsmann, was vermutlich stimmte, aber vieles bedeuten konnte. Die Tatsache, dass Keller Raketenwissenschaftler war, schien ihn zu faszinieren, und im Laufe der zweiten Runde Drinks – Johnson bestand darauf, zu bezahlen – stellte er eine Reihe interessierter, aber unverfänglicher Fragen, nichts Alarmierendes. Natürlich war die ganze Sache arrangiert gewesen. Er hatte alles über Keller gewusst, bevor sie auch nur ein einziges Wort gewechselt hatten. Am Ende des Abends verabredeten die beiden Männer ein erneutes Treffen. Warum nicht? Johnson war ein angenehmer Geselle, und als er ging, erwähnte er beiläufig, dass er vielleicht ein Angebot für Keller hätte. »Sie könnten ein wenig Geld verdienen. Nur ein Gedanke. Lassen Sie uns beim nächsten Mal darüber reden.«
Aber beim nächsten Mal hielt er ihn hin. Sie sprachen über ihre Frauen, ihre Familien, ihre Gehälter und ihre Sehnsüchte. Es war ein typisches Männergespräch, auch wenn meist Keller derjenige war, der redete. Erst beim dritten Treffen, als sie einander ein wenig besser kannten, unterbreitete Johnson ihm sein Angebot. Das war der Moment, in dem Keller zur Polizei oder noch besser zum Büro des Sicherheitschefs von Wallops Island hätte gehen sollen.
Natürlich hatte er das nicht getan. Johnson, oder seine Auftraggeber, hatten ihn ausgewählt, weil sie wussten, dass er es nicht tun würde. Sie hatten ihn vermutlich seit Monaten beobachtet. Und wer genau waren sie? Das kümmerte Keller nicht. Es war die gleiche Kurzsichtigkeit, die ihn durch den Krieg gebracht hatte. Er musste das große Ganze nicht kennen. Es war nicht wichtig. Er konzentrierte sich einfach auf das Angebot, das man ihm unterbreitete, und auf die zweihundertfünfzigtausend Dollar – steuerfrei –, die er erhalten würde, wenn er seine Aufgabe erfüllte. Er stimmte fast sofort zu, und es gab nur noch ein weiteres Treffen, um die Einzelheiten zu besprechen. Alles lief sehr direkt ab. Das, was man von ihm verlangte, war nicht leicht. Es erforderte ein umfassendes Verständnis von Festkörpermechanik und Zugspannung – aber das waren seine Fachgebiete. Doch sobald er die genauen Kalibrierungen ausgetüftelt hatte, blieb immer noch die Frage der eigentlichen Aufgabe. Bestenfalls würde er vier oder fünf Minuten allein haben. Das Risiko war beträchtlich – aber die Belohnung ebenfalls. Das war seine erste Berechnung gewesen.
»Also ist alles erledigt?«
»Ja.« Keller nickte. »Letztendlich war die Aufgabe sehr viel leichter, als ich erwartet hatte. Ich war in der Lage, die Montagehalle während einer Feuerübung zu betreten.« Er hielt inne. Er hatte sich von seiner Begeisterung mitreißen lassen und lief nun Gefahr, seine Leistung unter Wert zu verkaufen. »Natürlich musste ich sehr schnell arbeiten. Im Vorfeld eines Starts werden die Sicherheitsmaßnahmen immer erhöht. Und ich musste sehr sorgfältig vorgehen. Es bestand die Möglichkeit einer Inspektion in letzter Minute, müssen Sie wissen. Meine Arbeit musste …« Er suchte nach dem passenden Wort. »… unsichtbar sein.«
»Der Antrieb wird versagen?«
»Nein. Aber er wird nicht effektiv sein. Die Menge an Treibstoff, die in die Brennkammer gepumpt wird, wird nicht ausreichend sein. Es ist so, wie ich es Ihnen erklärt habe. Das Ergebnis wird genau so sein, wie Sie es sich gewünscht haben.«
Die beiden Männer schwiegen, als eine Kellnerin mit Kaffee und eisgekühltem Wasser an ihren Tisch kam. Zwei Speisekarten lagen ungeöffnet vor ihnen. Sie hatten nicht vor, etwas zu essen.
»Was ist mit dem Zeitplan des Starts?«, wollte Johnson wissen.
Keller zuckte mit den Schultern. Er mochte keinen Kaffee. Wie viele Liter dieses Zeugs hatte er seit seiner Ankunft in Amerika getrunken, während er rauchend die Nächte durchgearbeitet hatte? Er schob die Tasse von sich. »Er hat sich nicht geändert … zwölf Tage von heute an. Ich habe mir die Vorhersagen angesehen. Das Wetter ist gut. Aber man kann nie sicher sein. Die Windscherung ist von enormer Wichtigkeit, und wenn die Bedingungen nicht stimmen …« Er ließ den Satz in der Luft hängen. »Aber das ist nicht meine Sorge. Ich habe getan, was Sie verlangt haben. Haben Sie das Geld?«
Der andere Mann sprach nicht. Seine Augen waren fest auf den Deutschen gerichtet. Dann klappte er eine Sonnenbrille auf, die an seiner Brusttasche gehangen hatte. Es war das Zeichen, dass ihr Handel abgeschlossen war. »Unter dem Tisch steht ein Aktenkoffer.«
»Und das Geld?«
»Alles drin.«
Johnson schickte sich an, zu gehen, doch Keller hielt ihn zurück. »Ich muss Ihnen etwas mitteilen«, beharrte er. »Es ist wichtig.« Er hatte geprobt, was er nun sagen würde. Er war recht stolz auf die Formulierung, die er sich überlegt hatte, und darauf, wie sorgfältig er alles durchdacht hatte. »Ich werde das Geld nicht zählen. Ich werde davon ausgehen, dass alles da ist. Aber gleichzeitig muss ich Sie warnen. Ich weiß nicht, wer Ihre Auftraggeber sind, und es ist mir auch egal. Sie arbeiten ganz offensichtlich für wichtige Leute. Aber eine Viertelmillion Dollar ist eine Menge Geld. Es steht viel auf dem Spiel. Und es ist möglich, dass Sie mich zu Ihrer eigenen Sicherheit zum Schweigen bringen wollen. Das wäre nicht schwierig, oder? Soweit ich weiß, könnte sich in diesem Aktenkoffer ein Sprengsatz befinden, und ich könnte tot sein, bevor ich mein Auto erreiche. Oder es könnte einen Unfall auf der Autobahn geben.
Also sollten Sie wissen, dass ich alles, was zwischen uns stattgefunden hat, und alles, worum man mich gebeten hat, aufgeschrieben habe. Ich habe Sie nicht nur beschrieben, ich habe Sie auch fotografiert. Ich hoffe, Sie vergeben mir diese kleine List, aber ich bin sicher, Sie werden meine Lage verstehen. Ich habe auch eine Notiz zu dem Wagen, den Sie fahren, inklusive Nummernschild hinzugefügt. Das alles ist bei einem Freund von mir deponiert, und er hat die Anweisung erhalten, es den Behörden zu übergeben, falls mir irgendetwas Verdächtiges zustoßen sollte. Verstehen Sie, was ich sage? Es wird keine Raketenfehlfunktion geben. Und auch wenn die Polizei eine Weile brauchen wird, um Sie zu finden, wird sie von Ihrer Existenz wissen und Ihnen für immer auf den Fersen sein.«
Johnson hatte sich alles schweigend angehört. Keller kam zum Ende, und Johnson starrte ihn ungläubig an. Es war das erste Mal, dass er überhaupt eine echte Gefühlsregung zeigte. »Für was für Leute halten Sie uns?«, fragte er. »Glauben Sie, wir sind Gangster? Ich muss schon sagen, Tom, Sie haben die falschen Bücher gelesen. Wir haben Sie gebeten, uns einen Dienst zu erweisen. Sie haben uns diesen Dienst erwiesen und wurden bezahlt. Sie liegen übrigens falsch. Eine Viertelmillion Dollar ist im Großen und Ganzen gesehen nicht viel Geld. Sie werden nur dann wieder von uns hören, wenn sich herausstellen sollte, dass Sie nicht das getan haben, was ausgemacht war, und unter diesen Umständen könnte Ihr Leben tatsächlich auf dem Spiel stehen. Doch auch wenn Sie uns nicht vertrauen, haben wir absolutes Vertrauen in Sie.« Er warf ein paar Münzen auf den Tisch, um für den Kaffee zu bezahlen, rollte die Zeitung zusammen und stand auf. »Auf Wiedersehen.«
»Warten Sie …« Keller war ganz verlegen. »Caracas«, sagte er.
»Caracas?«
»Die Lösung für Ihr Kreuzworträtsel. Die Hauptstadt von Venezuela.«
Johnson nickte. »Natürlich. Danke.«
Keller beobachtete, wie er davonging. Seine Rede war tatsächlich ein wenig melodramatisch gewesen, inspiriert durch ein paar der Filme, die er mit seiner Frau gesehen hatte. Außerdem entsprach sie nicht der Wahrheit. Es gab keine Aufzeichnungen, kein Foto, keinen Freund, der darauf wartete, zur Polizei zu gehen. Er hatte nur gedacht, dass die Androhung ausreichen würde, ihn zu schützen, falls es notwendig werden sollte. Hatte er damit falschgelegen? Hatte er sich zum Narren gemacht? Dann erinnerte er sich an das Geld. Er tastete unter dem Tisch herum und stieß mit den Fingerknöcheln gegen etwas, das an der Wand stand. Der Aktenkoffer! Er zog ihn nach oben, klappte die Verschlüsse auf und öffnete den Koffer gerade weit genug, um einen schnellen Blick hineinwerfen zu können. Es schien alles da zu sein: Bündel aus Fünfzigdollarscheinen, in ordentlichen Stapeln aufgereiht. Er schloss den Koffer, zog sein Jackett an und eilte nach draußen. Auf dem Parkplatz war keine Spur von Harry Johnson zu sehen. Er ging zu seinem eigenen Wagen, warf den Aktenkoffer auf den Beifahrersitz und stieg ein.
Er brauchte weitere zwanzig Minuten, um nach Hause zu fahren, wo, wie er wusste, Gloria auf ihn warten würde. Der Gedanke an Gloria entlockte ihm ein Lächeln. Er entspannte sich ein wenig am Steuer. Letztendlich hatte er das alles für sie getan.
Sie war fünfzehn Jahre jünger als er, klein und ein wenig pummelig, aber auf eine Art und Weise, die er sehr aufregend fand. Ihre Brüste und Hüften drohten immer, den Stoff ihrer Kleidung zu sprengen. Sie war noch ein Teenager gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, und als er ihr von sich erzählt hatte, war sie begeistert gewesen. Dieser Mann war aus Europa ins Land geschmuggelt worden und arbeitete in einer streng geheimen Forschungseinrichtung, wo er Weltraumraketen baute. Das klang wie etwas aus den Schundromanen, die sie so gerne las, und die Tatsache, dass er Deutscher und unattraktiv war und manchmal schmerzhafte Dinge von ihr verlangte, schien ihr nichts auszumachen. Sie waren bei ihrer Hochzeit ziemlich glücklich gewesen und hatten sich dafür entschieden, nach Norden zu ziehen. Die Wahl war auf Salisbury gefallen, weil es in der Nähe von Wallops Island lag. Sie hatten ein Haus gekauft und die Möbel gemeinsam ausgesucht. Doch seitdem war es zwischen ihnen nicht so gut gelaufen. Sie konnten keine Kinder bekommen. Sie langweilte sich zu Hause und auf der Arbeit. Sie führte ein kleines Restaurant, das erst am Wochenende zum Leben erwachte und ansonsten kaum Gäste hatte. Sie wollte nichts mehr über Raketen hören, und in letzter Zeit kam sie auch nur noch widerwillig zu den Startveranstaltungen. Und doch liebte Keller sie noch. Er fühlte sich definitiv zu ihr hingezogen. In gewisser Weise betrachtete er sie als das ultimative Statussymbol, die Bestätigung eines arbeitsreichen Lebens. Sie war seine amerikanische Ehefrau. Er verdiente sie.
Er hatte ihr von seinem neuen Freund Harry Johnson erzählt und auch, worum dieser ihn gebeten hatte. Er hätte nicht im Traum daran gedacht, die Sache ohne ihre Zustimmung durchzuziehen. Er war froh, dass er es getan hatte. Es stand unglaublich viel auf dem Spiel. Er war kurz davor, ein Verbrechen zu begehen, für das er, falls er erwischt wurde, wegen Verrats angeklagt werden würde. Doch Gloria war von Anfang an sogar noch entschlossener als er gewesen. Sie hatte ihn angetrieben, wenn er den Mut verloren hatte. Seit Wochen sprachen sie nun schon über die Zukunft, die sie sich schaffen würden, darüber, was sie mit dem Geld anstellen würden, wie vorsichtig sie sein mussten, um nicht zu schnell zu viel davon auszugeben. Keller kam es vor, als wäre seine Frau wie ausgewechselt. Er erinnerte sich nun wieder daran, wie sie gewesen war, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. All ihre Energie und Lebensfreude waren zurückgekehrt. Und sie hatte auch wieder Lust im Bett und gab sich ihm mit der gleichen Leidenschaft hin wie in ihrer Hochzeitsnacht.
Sie wartete an der Eingangstür ihres holzverkleideten Bungalows mit dem einzelnen Panoramafenster und der Anbaugarage. Es war ein Haus wie aus einem Katalog, mit ordentlichem Vorgarten und weißem Gartenzaun. Keller parkte in der Auffahrt und ging mit dem Aktenkoffer in der Hand zu ihr. Sie küssten sich in der Tür. Sie trug ein Kleid mit Blumenmuster, das in der Taille gebunden war. Ihr blondes Haar fiel in Locken über ihre Schultern. In diesem Augenblick wollte Keller sie mehr als je zuvor.
»Hast du es?«, fragte sie.
»Ja.«
»Hast du es gezählt?«
»Es ist alles da. Das war nicht nötig.«
»Du hättest es zählen sollen.«
»Das können wir drinnen machen.«
Sie gingen zusammen hinein, in das hübsche Wohnzimmer mit dem Sofa, dem Beistelltisch und dem Fernseher. Sie öffneten den Koffer und zählten das Geld. Gloria stand dabei vor ihm und presste ihre Schultern und ihren Hintern gegen ihn, während er seine Arme um sie gelegt hatte. Als sie sicher waren, dass das ganze Geld da war, drehte sie sich um und küsste ihn auf die Wange. »Ich habe Champagner kalt gestellt«, sagte sie.
Er folgte ihr in die Küche und stand da, während sie in der Schublade herumkramte. »Ich kann den verdammten Korkenzieher nicht finden«, erklärte sie.
Er ging zu ihr, und erst als er sie erreichte, wurde ihm klar, dass man eigentlich gar keinen Korkenzieher brauchte, um eine Champagnerflasche zu öffnen. Genau in diesem Augenblick drehte sie sich um, und er spürte, wie sich etwas in ihn hineinbohrte. Er schaute nach unten und sah das Unglaubliche: Ein Messergriff ragte aus seinem Bauch. Das musste ein Fehler sein. Das konnte nicht wahr sein. Doch dann sah er auf, fand ihren Blick und wusste, dass es stimmte. Er versuchte, zu sprechen, doch das Blut strömte aus ihm heraus und nahm seinen Atem und sein Leben mit sich. Er hielt sie immer noch fest, als er auf die Knie sackte. Dann trat sie zur Seite, und er kippte vornüber auf den Boden. Gloria schaute zu ihm hinunter und erschauderte. Es war nicht der Anblick des Blutes, das sich auf dem Linoleum ausbreitete, der sie anwiderte. Es war die Erinnerung an seine Hände auf ihrem Körper, an den sauren Geruch seines Atems.
Es gab nicht mehr viel zu tun.
Sie hatte das Benzin bereits gekauft. Sie verteilte es auf ihrem toten Ehemann, in der Küche, im Wohnzimmer und auf der Treppe. Dann nahm sie den Koffer, in den sie die paar Dinge gepackt hatte, die sie mitnehmen wollte, und legte das Geld hinein. Schließlich zündete sie ein Streichholz an.
Sie nahm den Crosley-Kombi ihres Mannes, obwohl es ein scheußliches Auto war. Wenigstens konnte sie sich darauf verlassen, dass es sie bis nach Kalifornien brachte, wo sie ihr neues Leben beginnen wollte. Sie erreichte das Ende der Auffahrt und bog auf die Straße, ohne zurückzuschauen. Daher sah sie weder die ersten Flammen, die hinter ihr aufstoben, noch den Rauch, der in die Abendluft aufstieg.
James Bond öffnete die Augen. Es war genau sieben Uhr. Das wusste er, ohne einen Blick auf den Wecker neben seinem Bett werfen zu müssen. Das Licht der Morgensonne strömte bereits ins Zimmer und bahnte sich seinen Weg durch die Spalten zwischen den Vorhängen. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund, ein sicheres Zeichen dafür, dass er am Abend zuvor einen Whisky zu viel getrunken hatte. Um wie viel Uhr war er ins Bett gegangen? Weit nach Mitternacht. Und ins Bett gehen hatte nicht schlafen bedeutet.
»Wie spät ist es?« Die Frau, die neben ihm lag, war ebenfalls aufgewacht. Ihre Stimme war weich und schläfrig.
»Sieben.« Bond streckte eine Hand aus und streichelte das kinnlange schwarze Haar. Dann ließ er die Hand sanft weiter nach unten wandern.
»Hör auf, James. Ich brauche meinen Schlaf. Es ist viel zu früh.«
»Nicht für mich.«
Bond schwang sich aus dem Bett und tappte ins Bad. Eine der Besonderheiten des umgebauten Regency-Hauses an der King’s Road in Chelsea, in dem er lebte, war die Tatsache, dass das helle, weiß gekachelte Badezimmer exakt die gleiche Größe wie das Schlafzimmer hatte. Vielleicht war das eine zu klein und das andere zu groß, aber Bond hatte sich daran gewöhnt, und es bestand absolut kein Grund, etwas daran zu ändern. Man würde einfach nur um der Konvention willen Zeit mit Architekten und Bauarbeitern verschwenden. Er trat in die gläserne Duschkabine und drehte das Wasser auf, erst sehr heiß und dann fünf Minuten lang eiskalt, wie jeden Morgen.
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