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Der Tod der neun Monate alten Jacqueline führt Maxim Charkow, den Chefermittler der Mordkommission Zürich, an seine Grenzen. Das entführte Mädchen wurde auf einer Baustelle abgelegt und verdurstete. Während Charkow im Umfeld der Familie nach einem Motiv sucht, findet man in der Altstadt ein zweites Kleinkind zwischen Müllsäcken. Die Identität dieses Kindes ist unbekannt. Als ein weiteres Kind entführt wird, stößt Charkow auf eine neue Spur, die ihn in die Abgründe der menschlichen Psyche führt ...
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Seitenzahl: 455
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Marcus Richmann
Januskinder
Kriminalroman
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Piper & Poppenhusen
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
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Herstellung/E-Book: Benjamin Arnold
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © donatas1205 / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-4640-5
Die einzige Welt, welche jeder wirklich kennt und von der er weiß, trägt er in sich, als seine Vorstellung, und ist daher das Zentrum derselben. Deshalb eben ist jeder sich alles in allem; er findet sich als den Inhaber der Realität und kann ihm nichts wichtiger sein, als er selbst.
Arthur Schopenhauer (1788–1860)
aus »Über die Grundlage der Moral«
Um die höchste Realität zu entdecken, die der Mensch seit Abertausenden von Jahren Gott nennt, musst du frei von Glauben, frei von aller Autorität sein. Nur dann kannst du selbst herausfinden, ob es so etwas wie Gott gibt.
Jiddu Krishnamurti
aus »Freiheit und wahres Glück?«
Welche Wirklichkeit sehen wir?
Traurig betrachtete er die grauen Zweige der Rosenbüsche am Rande des Seeufers. Der letzte Winter war hart gewesen, einer seiner Kumpel in einem Bahnhofszugang erfroren. Paul war älter als ich, kam ihm in den Sinn. So alt, wie diese Rosenbüsche sein mussten, die den Winter ebenfalls nicht überlebt hatten. In seinem früheren Leben hatte er eine Gärtnerei besessen, hatte mit 20 Angestellten ein Feld mit Obstbäumen, Rosensträuchern und Zierbüschen bestellt, so groß wie ein Fußballplatz. Das Geschäft lief gut. Die Leute mochten seine offene Art und schätzten sein Wissen, wenn es um die Pflege von Rosen ging. Er expandierte. Die Bank unterstützte seine Pläne. Die Zukunft sah er positiv. Deshalb belastete er das Haus und seine Firma. Baute mit dem Geld ein Glashaus für die Zucht von seltenen Rosen und angrenzendem Blumenladen. Er konnte neue Kunden gewinnen. Seine Frau half ihm. Ein Jahr später kam die Finanzkrise. Die Zinsen fraßen sein Erspartes. Erst musste er das Land verkaufen. Es schmerzte ihn, als er sah, wie Bagger seine Rosenbüsche aus der Erde rissen und sein fruchtbares Land mit Lastwagen wegtransportiert wurde, damit Häuser darauf gebaut werden konnten. Zwei Jahre später deponierte er die Bilanz. Wenig später holte sich die Bank auch noch sein Haus. Als er eines Tages von der Arbeit als Hilfsgärtner nach Hause kam, stand er in einer leeren Wohnung. Seine Frau hatte ihn verlassen. Die Kinder hatte sie mitgenommen. Auf dem Fußboden in der Diele lag ein Brief an ihn. Sie könne so nicht mehr leben. Erst kam die Wut, dann verlor er den Halt, bis er am Ende alles verlor.
Er fuhr sich mit den aufgequollenen Händen über das Gesicht und versuchte, die düsteren Gedanken aus dem Kopf zu vertreiben. Als er die Brandyflasche ansetzte und einen Schluck nahm, blickte er in den Vollmond, der die Nacht so hell erleuchtete, dass keine Sterne am Himmel zu sehen waren. Ein Schauer durchfuhr seinen müden Körper, als der Alkohol sein Innerstes erreichte. Es war schon Mai, dachte er. Die Eisheiligen gaben sich alle Mühe, ihrem Namen Ehre zu machen. Sein Blick wanderte an dem Ufer entlang zum Rand der Stadt, deren gleißende Lichter sich im See spiegelten. »Ich muss einen warmen Ort zum Schlafen finden«, sagte er zitternd vor Kälte. Drüben standen Gerüste am Kongresshaus. Dort gäbe es sicher Baucontainer, fuhr es ihm durch den Kopf. Er nahm noch einen Schluck und lief den Uferweg entlang hinüber zur Baustelle. Menschen kamen ihm entgegen. Er suchte schon lange nicht mehr ihre Blicke, da sie durch ihn hindurchsahen. Anfangs hatte ihn dieses Verhalten irritiert. Es machte ihn sogar eine Zeitlang wütend. Auch er war ein Mensch. Warum ignorierte man ihn? Nur weil er aus dem System gefallen war? Irgendwann verstand er schließlich. Er war unsichtbar geworden.
Den Bauzaun zu verschieben war einfach gewesen. Niemand beachtete ihn. Ein Vorteil der Unsichtbarkeit. Schnell schlüpfte er durch den Spalt, der sich zwischen den beiden Stahlträgern des Zauns geöffnet hatte. Er hatte Glück. Am anderen Ende des Kongresshauses befand sich ein gelber Wohncontainer, den die Arbeiter für die Pausen nutzten. Jetzt musste er nur noch sichergehen, dass keiner von ihnen selbst dort übernachtete. Langsam näherte er sich dem Fenster des Containers. Im Glas spiegelten sich die Straßenlaternen, sodass er nichts erkennen konnte. Mit beiden Händen schirmte er einen Teil des Fensters ab und presste sein Gesicht an die Scheibe, um besser sehen zu können. Der Container schien leer. Und als er die Klinke der Tür drückte und sie sich gleich öffnete, wusste er, dass in dieser Nacht das Glück auf seiner Seite war. Die Tür war noch nicht ganz geschlossen, da vernahm er ein Geräusch von draußen. Es war nicht das Rauschen der Stadt. Es war menschlich. Doch er konnte es nicht einordnen. Da war es noch einmal. Ein kleiner Aufschrei. Oder ein Seufzen. Vielleicht ein Tier? Plötzlich erkannte er es. Es war ein Wimmern. Das eines kleinen Kindes. Was kümmert es mich, dachte er und schloss die Tür. Er drehte die Elektroheizung auf und legte sich auf die Pritsche in der Ecke des Containers. Die Decke und das Kissen faltete er vorher sorgfältig zusammen und legte beides auf den Tisch. Er wollte sie nicht beschmutzen. Respekt vor den Dingen anderer Menschen war ihm immer wichtig gewesen. Er würde nur diese eine Nacht hier schlafen und am nächsten Morgen alles wieder ordentlich hinterlassen. Niemand sollte merken, dass er hier gewesen war. Die Pritsche war bequem und die warmen Wogen der Heizung erfüllten langsam den Container. Er schloss die Augen. Plötzlich wieder das Wimmern. Ein kleiner Schrei. Was, wenn ein Kind da draußen litt und er der einzige Mensch war, der es mitbekam? Es gab genug andere Menschen in dieser kalten Stadt. Sollten die sich darum kümmern, versuchte er sein aufkommendes Gewissen zu verdrängen. Nach einigen Minuten verstummte das Wimmern. Er atmete auf. Was, wenn dieses Kind sich in derselben Situation befindet wie er?, quälte ihn ein neuer Gedanke. Unsichtbar. Vielleicht konnte ja ausschließlich er es hören? Er wusste, nur wenn er jetzt nachsah, wer oder was in dieser Nacht da draußen weinte, würde er schlafen können. Mit einem Seufzer setzte er sich auf, verließ den Container und versuchte die Richtung auszumachen, aus der das Geräusch kam. Er entdeckte ein Holzlager. Mächtige Stapel mit Verschalungsbrettern bildeten ein kleines Labyrinth, aus dem das Geräusch herzukommen schien und welches ihm in der Dunkelheit die Suche erschwerte. Endlich, als er um einen Stapel bog, sah er es. Ein Knäuel Stoff lag auf einer Palette mit Zementsäcken, die mit einer Plastikfolie zugedeckt waren. Was ist denn das?, fragte er sich. Vielleicht Kätzchen, die jemand ausgesetzt hatte? Er näherte sich, konnte jedoch nichts erkennen. Vorsichtig zog er an den Stoffenden und befreite das Etwas. Lage um Lage. Der Mond versteckte sich hinter einer Wolke. In diesem Moment blickte er in das bleiche Gesicht eines Säuglings. Entsetzen packte ihn. Panisch sah er sich um. So, als ob er mit dem Auftauchen der Eltern dieses Babys rechnete. Aber niemand kam zu Hilfe. Er hob es hoch und merkte, dass es sich nicht rührte. Er legte das kleine Gesicht an seine Wange. Durch die Bartstoppeln spürte er die Kälte. »Oh Gott, lebst du noch?«, fragte er das Kleine. Instinktiv steckte er das kleine Bündel unter seinen Mantel und rannte los.
Maxim Charkow hob das bis zum Rand mit Wodka gefüllte Glas. Vladimir hatte es, wie für Russen üblich, bis kurz vor dem Überlaufen eingeschenkt.
»Ich weiß zwar nicht, warum du bei uns sein willst«, stellte Charkow nachdenklich fest, »aber wir freuen uns, dass du da bist.«
Nun hoben auch Francine Boviard, die Rechtsmedizinerin, Charkows Assistentin Priska Künzler und Vladimir, der Besitzer des russischen Lokals, die Gläser, um Cla Corai zuzuprosten.
»Na sdorowje!«
Cla leerte sein Glas in einem Zug. Seine sonnengegerbte Haut und seine schwarzen Locken ließen keine Zweifel, dass er aus dem Engadin stammte.
»Was sagt Alicia dazu, dass du sie mit ihrer Tochter einfach im Stich lässt?«, wollte Priska wissen.
Cla zuckte mit den Schultern. »Alicia ist nicht in mich, sondern in ihr Hotel verliebt.«
»Aber du hast sie doch geliebt. Sogar Flurina hattest du in dein Herz geschlossen, obwohl sie nicht deine Tochter ist.«
»Im letzten Jahr hat sich viel zwischen uns verändert«, sagte er nachdenklich und schien die trüben Gedanken auch gleich wieder wegzuwischen. »Und wenn ich jetzt nicht aus dem engen Tal und aus diesem kleinen Bergdorf gehe, verlasse ich es nie mehr.«
»Was ist so schlecht daran?«, entgegnete Francine. »Hier in der Stadt herrscht Hektik und Anonymität. Die Menschen rennen ihr ganzes Leben irgendwelchen Dingen hinterher und suchen nur ihren kleinen, eigenen Vorteil.«
Cla lachte. »Meinst du, bei uns in den Bergen wäre das anders?«
»Es ist ähnlich und doch anders«, stellte Charkow fest.
»Maxim und ich sind dort oben aufgewachsen.« Cla nickte zur Bestätigung. »Wir kennen die Wahrheit.«
»Das sind doch nur Ausflüchte.« Priska blickte Cla herausfordernd an. »Bei euch dort oben ist die Welt noch in Ordnung.«
Charkow hörte zu, wie Priska und Francine Cla vom Gegenteil zu überzeugen versuchten. Er blickte in Clas offenes Gesicht und fragte sich, was der wahre Beweggrund für ihn gewesen war, Alicia für die Stelle als Ermittler in seinem Team zu verlassen. Cla war ein guter Polizist. Er war zielstrebig, ausdauernd und hatte ein gewisses Gespür für die Menschen. Als Cla ihn anrief und ihn bat, Nachfolger von Martin Peterson werden zu dürfen, zögerte er. Sicher, er konnte sich keinen besseren Mann in seinem Team wünschen. Auch weil er sah, dass Priska und Cla sich gut verstehen würden. Aber die Erinnerungen an seine Jugendliebe Alicia waren mit Clas Anruf plötzlich wieder da. Vor Charkows innerem Auge tauchten Bilder aus seiner Kindheit auf. Die ersten Jahre nach ihrer Flucht aus Russland hatten ihn geprägt. Er war elf Jahre alt gewesen, als sein Vater vom unüberschaubaren, chaotischen Moskau in das 200-Seelendorf Soglio kam. Sein Vater hatte einen Kontakt, der ihm half, Fuß zu fassen. Soglio lag hoch über dem engen Bergellertal, auf einem Felsvorsprung, gleich an der Grenze zu Italien. Die Berge, die zu beiden Seiten des Dorfs steil aufragten, schienen es ständig zu bedrohen. Dies spiegelte sich in den eng aneinander geschmiegten Steinhäusern und den Seelen der Menschen wider. Man sprach einen eigenen Dialekt, auch Italienisch, doch meistens schwieg man. Arbeitete hart in den Kastanienhainen oder dem Marmorsteinbruch unten im Tal. Jeder kannte jeden. Neid und Fürsorge lagen nah beieinander. Alicias Eltern führten den Palazzo Salis, damals das einzige Hotel im Dorf. Die Freundschaft mit ihr half ihm, sich in dieser neuen Welt zurechtzufinden. Später wurde aus der Freundschaft Liebe. Ein Jahr nach seiner Ankunft starben Anna, seine ältere Schwester, und sein Vater bei einer Bergtour. Das glaubten zumindest alle. Bis er vor zwei Jahren durch die Ermittlungen in Zusammenhang mit der Ermordung seines Freundes Gian, der ebenfalls aus Soglio stammte, herausfand, dass die kriminelle Vergangenheit seines Vaters hinter dem Unglück steckte. Cla half ihm damals, seine eigene Familiengeschichte aufzudecken. Und Alicia stand ihm wieder zur Seite. So, wie sie ihm zuvor bei der Beerdigung zur Seite gestanden hatte, als man die leeren Särge seiner Schwester und seines Vaters in die Gräber senkte und er es einfach nicht zu fassen vermochte.
Dass Cla diese Frau nun verlassen wollte, schmerzte ihn. Er hatte ihn nach dem Grund für diese Entscheidung gefragt und Cla hatte von einer Neuorientierung gesprochen. Von Erfahrungen, die er sammeln wolle, der Decke, die ihm in den engen Bergtälern auf den Kopf falle. Charkow wusste, das waren nur Vorwände. Sie vereinbarten, ihre Zusammenarbeit als eine Art Probezeit zu betrachten. Charkow glaubte nicht, dass Cla tatsächlich bewusst war, was er sich vorgenommen hatte. Aber er wollte ihm nicht im Weg stehen. Und mit welchem Recht hätte er sich in die Beziehung zwischen Alicia und ihm einmischen dürfen? Jetzt war Cla hier. Charkow musste zugeben, dass er sich über seine Anwesenheit freute.
»Du bist ein sturer Bergler«, rief Francine lachend und Cla erwiderte, sie sei die attraktivste Leichenfledderin, die er kenne.
Der Wodka tat seine Wirkung. Endlich kam das Essen. Vladimir servierte diverse Vorspeisen. Allesamt Gerichte aus Georgien. Badridschani, gefüllte Auberginen mit Walnusspaste, Basturma, luftgetrocknetes Rindfleisch und natürlich ein großer Teller mit Chatschapuri, das gebackene Käsebrot, welches nie fehlen durfte.
Obwohl Charkow Russe war, hing sein Herz an Georgien. Seine Großeltern stammten von dort. Die schönsten Erinnerungen seiner Kindheit verknüpfte er bis heute mit den Ferien, die er bei ihnen in Tiflis verbracht hatte. Beim Anblick der Speisen verspürte er plötzlich den Wunsch, wieder einmal in diese Stadt zu reisen, alte Freunde zu treffen und gemeinsam mit ihnen für ein paar Tage an den Strand von Batumi ans Schwarze Meer zu fahren, um einfach nur das Essen und die Sonne zu genießen. Als Russe war man in Georgien nicht gerne gesehen. Zu viel Leid hatte sein Volk diesem Land zugefügt. Ironischerweise zeichnete sich ausgerechnet der Georgier Josef Stalin dafür verantwortlich, der Tausende Georgier verfolgte und hinrichten ließ, um sich an ihnen zu rächen, weil er als Anführer einer Arbeiterdemonstration in Batumi und später wegen eines Bankraubs in Tiflis verbannt worden war. Georgien wies eine unglaubliche Vielfalt von Kulturen und Landschaften auf. Bergpässe, die auf über 3.000 Meter über dem Meeresspiegel führten, Wüsten, fruchtbare Flussebenen, tropische Küstenlandschaften. Er nahm sich ein paar Badridschani, schmeckte den leicht bitteren Geschmack der Aubergine und der Walnussfüllung, welcher von süßen Granatapfelkernen gemildert wurde. Dabei vergaß er für einen Augenblick, dass er in der Schweiz war. Als Vladimir einen leichten georgischen Rotwein einschenkte, erinnerte sich Charkow wieder an seine letzte Reise nach Tiflis. Es war das erste Mal in seinem Leben gewesen, dass ihm an der Passkontrolle ein Zollbeamter eine kleine Flasche Rotwein als Willkommensgeschenk überreicht hatte. Wahre Gastfreundschaft.
Erst hörte er es nicht. Er wollte es nicht hören. Aber nach dem vierten Klingeln war klar, dass es die Zentrale war, die ihn anrief. Nicht jetzt, dachte er. Er nahm ab und was er zu hören bekam, verdarb ihm die Freude und den Appetit. »Ich bin gleich da«, antwortete er knapp und legte auf.
Francine, Priska und Cla blickten ihn fragend an.
»Ihr bleibt hier. Ich rufe euch, wenn ich euch brauche.«
»Was ist denn los?«, hakte Priska nach.
»Irgendetwas mit einem Obdachlosen und einem toten Baby. Lasst mich das machen und genießt das Essen für mich mit.«
*
Joseph Schulers Augen waren die traurigsten, die Charkow je in seinem Leben gesehen hatte. Der Mann wirkte älter, als er in Wirklichkeit war. Mit viel Mühe hatte er versucht, seine schäbigen Kleider in Form zu halten. Sein Auftreten war nicht das eines Obdachlosen gewesen, der sich völlig aufgegeben hatte. Diejenigen, welche in Selbstmitleid und Vorwürfen versunken waren, kannte Charkow zur Genüge. Er sah, dass die Armut in den letzten Jahren hartnäckig Schulers Würde bekämpft hatte und dass dieser Mann sich bis jetzt erfolgreich dagegen zur Wehr setzen konnte. Die beiden Polizisten und die Notärztin standen ratlos an seiner Seite, als Charkow bei der Apotheke am Bahnhofsplatz eintraf, an dem die Bahnhofstraße begann. Der Apotheker kam gleich auf ihn zu und bat, die Situation schnell zu klären. Damit meinte er, dass man Joseph Schuler schnell von seiner Treppe entfernen solle, da dieser so gar nicht ins Bild seiner klinisch beleuchteten Apotheke gegenüber der teuersten Einkaufsstraße des Landes passte. Charkow erwiderte barsch, er solle sich um seine Kundschaft kümmern und ihn seinen Job machen lassen, und setzte sich neben Joseph Schuler.
Charkow betrachtete das Bündel in den Armen des Mannes, welches er anscheinend weder seinen Kollegen noch der Notärztin, die immer noch auf ihn einredete, geben wollte.
Er gab ihnen ein Zeichen, dass sie einige Schritte zurücktreten sollten, sodass er allein mit Joseph Schuler sein konnte. Er war sicher, nur mit Ruhe zu ihm durchzudringen. »Mein Name ist Charkow. Ich bin Polizist und man hat mich gerufen, weil Sie ein Baby gerettet haben.«
Joseph Schuler warf ihm einen erstaunten Blick zu. Er nickte. Plötzlich sprach die Empörung aus seinen Augen. »Das habe ich denen immer wieder gesagt. Ich habe es nicht getötet, sondern wollte es retten!«
»Und man hat Ihnen nicht geglaubt?«
»Ich hatte selbst einmal Kinder. Ich weiß, wie man mit ihnen umgehen muss.« Schuler nickte langsam.
»Wo sind Ihre Kinder jetzt?«, sprach Charkow weiter. Er wollte die Situation nicht eskalieren lassen, obwohl er so schnell wie möglich dieses Baby untersuchen musste.
»Bei meiner Frau.«
»Wie alt sind sie?«
Joseph Schuler griff umständlich in seine Innentasche und zog eine Brieftasche aus fleckigem Leder hervor. Das Baby überließ er dem Ermittler, denn er brauchte beide Hände. Charkow gab das Baby sofort der Notärztin, die dessen Herz abhörte und ihm nach einigen Sekunden mit einem knappen Kopfschütteln signalisierte, dass es nicht mehr am Leben sei.
Joseph Schuler zeigte Charkow zwei Fotos, die an den Rändern speckig waren. »Marisa und Pius. Sie sind jetzt älter. Vielleicht studiert meine Marisa schon.«
»Wo haben Sie das Baby gefunden?«, fragte Charkow.
Joseph Schuler blickte hilflos auf das Bündel in den Armen der Notärztin. »Auf einer Baustelle ganz in der Nähe.«
»Kommen Sie«, forderte er Schuler auf. »Sie müssen mir die Fundstelle zeigen.«
Er nickte den beiden Polizisten zu. Daraufhin begannen sie den Bereich rund um die Apotheke abzusperren.
Auf dem Weg zur Baustelle rief Charkow Francine an, erklärte kurz die Faktenlage und bat sie, sofort mit seinem Team hierher zu kommen. Francine bestätigte, dass sie gleich losfahren würden. In einer Viertelstunde wären sie bei ihm. Charkow legte auf und atmete tief ein. Die Nacht würde lang werden.
Am nächsten Morgen war Charkow hellwach, obwohl er nur drei Stunden geschlafen hatte. Im Büro angelangt, bestätigte ihm Francine die Identität des toten Babys. Es handelte sich um die entführte Jacqueline Schöllhorn aus Meilen. Sie hatten gestern Nacht schon angenommen, dass sie es sein könnte, doch man wollte sichergehen. Nun war Charkow mit Priska auf dem Weg zu den Schöllhorns in Meilen, einer Gemeinde am rechten Zürichseeufer, in der die übertrieben hohen Grundstückspreise bestimmten, wer hier wohnen durfte und wer nicht.
Die gestrige Nacht war ereignisreich gewesen. Während Francine die Leiche des Säuglings in die Rechtsmedizin überführt hatte und die Todesursache bestimmen wollte, befragten Priska und Cla den Apotheker, der sich vor allem über die faktische Schließung seiner Apotheke für die Zeit der Untersuchungen aufregte. Immer wieder drohte er mit einer Schadensersatzklage, die Priska gelassen ignorierte. Nein, er habe weder das Baby noch den Obdachlosen angefasst. Ja, der Obdachlose habe Hilfe bei ihm gesucht. Aber was hätte er schon tun können? Er habe ihn gebeten, draußen zu warten, und dann die Polizei gerufen. Auf Priskas Frage, warum er dem Baby nicht geholfen habe, hatte er nur ausweichende Antworten. Priska verstand nicht, wie ein Mensch einem anderen Menschen seine Hilfe verweigern konnte, und ließ den Apotheker ihre Meinung spüren, woraufhin er sich bei Charkow beschwert hatte.
Die Suche nach weiteren Zeugen war erfolglos geblieben. Niemand hatte Joseph Schuler gesehen, geschweige denn gab es Zeugen, die das Ablegen des Säuglings beobachtet hatten. Charkow hatte sich während der Tatortuntersuchungen durch den Kriminaltechnischen Dienst um Joseph Schuler gekümmert. Sie waren, nachdem sie die Baustelle gesichert hatten, in ein nahe gelegenes Café gegangen. Charkow hatte zwei Kaffee bestellt und für Joseph Schuler ein großes Stück Kuchen. Seine Antworten auf Charkows Fragen bestätigten nur seine Vermutung, dass dieser Mann am Tod des Babys unschuldig war. Anschließend hatte er ihn zu einer Stiftung gefahren, die Obdachlosen kostenlos ein Bett mit Frühstück zur Verfügung stellte. Heute Morgen hatte er einen Beamten dorthin geschickt, um Schulers Aussage zu protokollieren. Sein Versprechen, das Obdachlosenheim bis dahin nicht zu verlassen, hatte er gehalten.
»Hast du den Zeugenaufruf schon starten können?«, fragte er Priska, die gerade in eine Seitenstraße einbog, in der hinter hohen Hecken die Villen der Reichen lagen.
»Cla kümmert sich darum.« Ihr Blick wanderte suchend über die Hausnummern. »Konntest du den Verantwortlichen des Ermittlerteams von Jacquelines Entführung schon informieren?«
Charkow nickte. »Gleich nach Francines Bestätigung. Jürg von Gunten dankt, dass wir die Eltern benachrichtigen. Jacquelines Tod hatte ihn und seine Kollegen sehr betroffen gemacht. Heute Mittag findet eine Sitzung mit uns und seinem Team statt.«
»Übernehmen wir den Fall?«, fragte Priska.
»Wäre sinnvoll. Die haben die letzten fünf Tage vergeblich auf Lösegeldforderungen gewartet. Das waren fünf Tage Schichtdienst, rund um die Uhr. Dazu kamen die Medienberichte, in denen man ihnen Unfähigkeit vorwarf.«
»Ich verstehe.« Priska parkte den Wagen vor einer Einfahrt, die über einen geteerten Weg zu einer modernen Villa führte. »Hier wohnen Pierre und Annette Schöllhorn. Beide arbeiten in der Kinderabteilung des Universitätsspitals. Sie in der Onkologie und er in der Geburtsabteilung. Soll ich das Gespräch übernehmen?«
Charkow überlegte, ob nun der Zeitpunkt gekommen war, dass Priska die Nachricht über den Tod eines Angehörigen der Familie mitteilen konnte. Das war bis anhin immer seine Aufgabe gewesen. Er wollte Priska schützen. Aber die Abgabe dieser Aufgabe an die jüngere Generation bedeutete für ihn auch so etwas wie ein Zurücktreten ins zweite Glied. Priska war jung. Aber nicht mehr unerfahren, musste er sich eingestehen.
»Bist du bereit dafür?«, fragte er sie.
Priska nickte. Es war ein entschiedenes Nicken gepaart mit dem Respekt und einer gesunden Portion Angst vor dieser Situation.
»Ich bin bei dir. Du weißt, was du tun musst. Bewahre Haltung und zeige ihnen keine Angst. Du musst die Starke sein. Okay?«
»Okay.« Priska holte tief Atem, als sie den Knopf der Türglocke drückte.
Es wurde sofort geöffnet. Eine Frau Mitte 30 stand im Türrahmen. Sie war attraktiv, aber ihre verquollenen Augen und die Ringe darunter hatten sie um Jahre altern lassen.
Priska brauchte all ihren Mut. »Frau Schöllhorn?«
Annette Schöllhorn blickte auf Priskas Ausweis. Sie wirkte irritiert, da sie Priska keinem der Gesichter von der Sonderermittlungseinheit zuordnen konnte.
»Ja, die bin ich.«
»Das ist Maxim Charkow, leitender Ermittler. Dürfen wir hereinkommen?«
»Wo ist Herr von Gunten?«, fragte Annette Schöllhorn.
Priska antwortete nicht auf ihre Frage, sondern bat sie, ihren Mann zu holen. In diesem Moment kam Pierre Schöllhorn die Treppe hinunter.
»Was ist los? Haben Sie Neuigkeiten über unsere Tochter?«, fragte er voller Hoffnung.
Priska bat das Ehepaar, sich im Wohnzimmer zu setzen. Die auf sie gerichteten erwartungsvollen Blicke der Schöllhorns machten ihre Aufgabe noch schwerer.
»Gestern Abend wurde Ihre Tochter auf einer Baustelle gefunden.« Sie merkte, dass sie die Schöllhorns mit einer Mischung aus Unverständnis und Hoffnung ansahen. »Leider kam für Jacqueline jede Hilfe zu spät. Der Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Sie haben mein aufrichtigstes Mitgefühl.«
Sie machte eine Pause. Das Gesagte musste erst zu den Schöllhorns durchdringen. Annette begriff als Erste und verfiel in einen Weinkrampf. Ihr Ehemann hingegen weigerte sich zu verstehen, was Priska ihm sagte.
»Was für eine Baustelle? Was hat Jacqueline auf einer Baustelle verloren?«
»Man hat Ihre Tochter sehr wahrscheinlich dort abgelegt«, versuchte sie zu erklären. Pierre Schöllhorn machte einen konsternierten Eindruck. Priska kam es wie eine Ewigkeit vor, bis auch er begriff, dass seine Tochter tot war. Tränen rannen über seine Wangen. Endlich nahm er seine Frau in die Arme. Priska warf Charkow einen Blick der Erleichterung zu. Charkow nickte bestätigend. Sie warteten.
Nach einigen Minuten ergriff Pierre Schöllhorn als Erster das Wort. »Wir dachten uns schon, dass etwas passiert sein musste. Die Entführung dauerte nun schon so lange. Nie kam eine Lösegeldforderung. Wir wussten, dass etwas nicht stimmte.«
»Auch ich möchte Ihnen mein tiefstes Beileid aussprechen«, übernahm Charkow. »Die Ermittlungen sind in vollem Gange. Fühlen Sie sich imstande, uns einige Fragen zu beantworten? Uns ist bewusst, dass Ihre Trauer groß ist. Aber wir dürfen auf der Suche nach den Tätern keine Zeit verlieren.«
»Wie sollen wir Ihnen da helfen können?«, fragte Schöllhorn. Seine Stimme klang hilflos, aber auch gereizt. Er ergriff die Hand seiner Frau.
Charkow machte eine Pause, um sicherzugehen, dass beide zuhörten. »Wir suchen ein Motiv, das uns zum Täter führen kann.«
Die Schöllhorns blickten ihn fragend an.
»In wenigen Minuten trifft eine weitere Kollegin ein. Gabriela Goldsachs. Sie ist unsere Psychologin. Gemeinsam mit Ihnen möchten wir herausfinden, welcher Mensch in Ihrem Umfeld ein Motiv haben könnte.«
Das Ehepaar nickte, verstand aber nicht, warum eine Psychologin hinzugezogen wurde. Charkow verschwieg, dass er erst sicherstellen musste, ob nicht die Schöllhorns selbst für den Tod ihrer Tochter verantwortlich sein konnten. Schon oft waren Eltern mit dem eigenen Kind überfordert gewesen, was statistisch der häufigste Grund für Tötungsdelikte an Kindern im Säuglingsalter war. Die Herkunft oder der Bildungsstand waren in diesem Fall nicht entscheidend. Es war ein zu viel an Überforderung, das zusammenkam. Probleme im Beruf, weniger Zeit für sich selbst, weil plötzlich das Kind die meiste Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Oft kamen im Anschluss daran Probleme in der Beziehung. Wenn der Punkt der Überforderung überschritten war, konnte eine banale Situation zur Katastrophe führen, eine Kurzschlusshandlung auslösen und den eigenen Frust auf das Kind kanalisieren. Oft kam es zu heftigen Reaktionen, in denen man das Kind schüttelte, nur weil es schrie, oder ihm ein Kissen auf das Gesicht drückte, bis es für immer schwieg. Meist wurde den Tätern erst nach dem Tötungsdelikt bewusst, was sie getan hatten. Auf Scham folgte Panik. Sie versuchten die Tat zu vertuschen, indem sie den Notarzt riefen und eine Geschichte erfanden. Oder man täuschte eine Entführung vor. Doch in diesem Fall hätte Joseph Schuler Jacqueline nicht mehr lebend gefunden. Charkow war sicher, dass diese Entführung keiner Vertuschung diente. Die Eltern waren über die Nachricht, die ihnen Priska übermittelt hatte, ehrlich erschüttert gewesen. Was er jetzt brauchte, war ein Hinweis auf ein Motiv im Umfeld der Schöllhorns.
Es läutete an der Tür. Annette Schöllhorn zuckte unmerklich zusammen. Ihr Mann stand auf und öffnete. Charkow hörte, wie Gabriela sich vorstellte. Priska kümmerte sich jetzt um die Frau, während er gemeinsam mit Gabriela ihren Ehemann in der Küche befragen würde. Gabriela begrüßte Charkow als Letzten. Ihre Blicke begegneten sich nur kurz. Seit ihrer Trennung vor ein paar Monaten waren sie sich aus dem Weg gegangen. Charkow spürte, dass sie irgendwann darüber reden mussten. Bis jetzt hatte sich kein passender Moment ergeben. Aber er musste sich auch eingestehen, dass er eigentlich froh war, da er nicht wusste, über was genau er mit ihr hätte reden sollen.
»Wohin gehen wir?«, holte ihn Gabriela aus seinen Gedanken.
Er nickte kurz und wandte sich an Pierre Schöllhorn. »Ich muss Sie bitten, mit mir und Frau Goldsachs ein kurzes Gespräch in der Küche zu führen. Meine Kollegin wird sich so lange um Ihre Frau kümmern.«
Pierre Schöllhorn folgte ihm, während Priska sich neben Annette Schöllhorn aufs Sofa setzte, um ihr Fragen zu ihrer Tochter zu stellen.
In der Küche startete Gabriela Goldsachs einen mitgebrachten Tablet-PC und begann mit ihrer Befragung. Pierre Schöllhorn antwortete, so weit er dazu in der Lage war. Immer wieder zeigte er Fotos von Jacqueline. Immer wieder brach seine Trauer durch. Gabriela hielt sich an den strukturierten Fragebogen, erkundigte sich nach dem Verhalten seiner Tochter. Ob sie ein ruhiges Baby gewesen war oder zum Schreien geneigt hatte. Sie befragte ihn zu seiner Arbeit. Schnell wurde klar, dass er mit Stress umgehen konnte. Die Entbindung von Jacqueline hatte er selbst vorgenommen. Seine Frau und er hatten sich dieses Kind so sehr gewünscht. Langsam tastete sich Gabriela an die möglichen Ursachen für eine Kindstötung heran. Nach einer halben Stunde war klar, dass Pierre Schöllhorn ein liebevoller und fürsorglicher Vater gewesen sein musste. Die Aussagen über seine Frau nahmen das Ergebnis der zweiten Befragung schon vorweg. Auch bei Annette Schöllhorn konnte Gabriela keine Hinweise auf die Vertuschung einer Straftat entdecken.
Charkow verließ mit Gabriela und Priska die Villa der Schöllhorns, ohne konkreten Hinweis, der Klarheit in diesen Fall hätte bringen können. Er verabschiedete sich von Gabriela, die versprach sogleich die Ergebnisse ihrer Befragungen zusammenzufassen und diese ihm noch heute zu senden.
Als Gabriela gegangen war, fuhr er mit Priska zurück ins Büro. Während der Fahrt informierte er sie über die Details aus den beiden Befragungen.
»Wir haben nichts, oder?«, war ihr Resümee, als er geendet hatte.
»Organisierst du bitte für morgen Gespräche mit den Vorgesetzten und den engsten Mitarbeitern der Schöllhorns?«
Priska nickte und bog in die Seestraße ein, die am Ufer des Zürichsees zur Stadt führte.
»Was für ein Mensch entführt ein hilfloses Baby und überlässt es anschließend seinem Schicksal?«, fragte Priska sichtlich erzürnt.
»Unsere Welt hat mehr solcher Menschen, als wir annehmen«, stellte Charkow fest und blickte auf das im Sonnenlicht gleißende Wasser des Sees. »Wir sehen nur die Oberfläche. Darunter befindet sich oft unendliche Dunkelheit.«
»Manchmal bist du ein richtiger Poet«, bemerkte Priska ernst.
Charkow holte tief Luft. »Ich versuche nur die Realität zu beschreiben.«
*
Die Sitzung mit dem Team, das die Ermittlungen in Jacquelines Fall geleitet hatte, war notwendig geworden. Annette Schöllhorn hatte nach einer Nachtschicht einen freien Nachmittag gehabt und beschlossen, mit ihrer Tochter einen Ausflug in den Zürcher Zoo zu unternehmen. In der Masoala-Halle, ein Glashaus von der Größe dreier Fußballplätze, in der sich ein künstlicher Regenwald befand, verbrachte sie die meiste Zeit. An diesem Nachmittag waren auch viele Schulklassen in der Halle, die es einem erschwerten, sich auf den engen Pfaden fortzubewegen. So zog sich Annette Schöllhorn in eine der Erholungsnischen zurück, um die Gruppen vorbeizulassen und ihre E-Mails zu lesen. Jacqueline war kaum einen Meter weit entfernt von ihr im Kinderwagen. Immer wieder liefen Schulklassen an ihnen vorbei. Schreiende Kinder, genervte Aufsichtspersonen, die vergeblich Ordnung ins Chaos zu bringen versuchten. Sie beantwortete eine E-Mail an ihre Kollegin, was weniger als eine Minute in Anspruch nahm. Als sie fertig war und aufblickte, war die Stelle, an der der Kinderwagen stand, verwaist. Erst konnte sie nicht verstehen, was geschehen war. Sie rief nach ihrer Tochter. Das Schreien der Kinder war lauter. Sie vermutete, dass die Bremsen des Kinderwagens sich gelöst hatten und der Wagen ein Stück weit den Pfad hinuntergerollt sei. Sie ging zu einer Stelle, wo der Wagen hätte stehen bleiben müssen. Doch dort war ihre Tochter nicht. Panik überkam sie. Ihr wurde bewusst, dass ihre Tochter tatsächlich verschwunden war. Hatten sich Schüler einen Scherz erlaubt und ihr Baby mitgenommen? Sie rannte hinter den Schulklassen her. Befragte in ihrer Panik Lehrer, die sie nur irritiert ansahen und nichts von einem Kinderwagen wussten. Zooangestellte halfen ihr bei der Suche. Eine Stunde später trafen die ersten Streifenpolizisten ein. Man suchte sicherheitshalber noch einmal das Gebiet in der Regenhalle ab. Ohne Erfolg.
Jürg von Gunten und sein Team traten wenige Stunden danach in Aktion. Dass eine Entführung vorlag, war für sie offensichtlich. Die Schöllhorns waren in der Stadt bekannt. Man wusste, sie waren wohlhabend und somit ein potenzielles Opfer für Entführungen. Von Gunten war davon überzeugt, dass die Entführer sich innerhalb der nächsten 48 Stunden melden würden. Als drei Tage später immer noch keine Nachricht von den Entführern vorlag, wurde er nervös. Nun konnte man ein Gewaltverbrechen nicht mehr ausschließen. Die Untersuchungen am Tatort hatten eine Unmenge von Spuren zutage gefördert. Es war unmöglich gewesen, diese in nützlicher Frist auszuwerten. Die Zeugenbefragungen erwiesen sich als genauso schwierig. Die große Zahl von Schülern, Lehrern und anderen Besuchern nahmen viel zu viel Zeit in Anspruch. Mit einigen Schülern ging die Fantasie durch, die glaubten, den Entführer gesehen zu haben. Einmal war es ein Mann in dunklem Anzug, ein andermal eine alte Frau mit Gehstock, und ein anderer Schüler hatte eine Gang von Rappern gesehen, die den Kinderwagen zu einer Stretchlimousine geschoben haben wollten. Von Gunten und sein Team mussten ihren Frust vor den Schöllhorns verbergen und den Eltern Mut und Hoffnung machen. Immer wieder hatte er Annette Schöllhorn beruhigt – indem er sie belog. Es sei normal, dass gewisse Entführer sich erst spät meldeten. Sicher sei ihre Tochter am Leben, sonst hätte man sie längst gefunden.
Charkow erfuhr auch, dass seine Kollegen im Arbeitsumfeld der Schöllhorns ermittelt hatten. Jürg von Gunten riet ihm aber, dies noch einmal zu tun, weil im Krankenhaus wegen des Schichtbetriebs nie alle Mitarbeiter erreichbar gewesen waren. Auch hätten sie überprüft, ob es ähnliche Entführungen in anderen Kantonen oder dem benachbarten Ausland gegeben hätte. Aber Meldungen über Entführungen von Babys hatte es nicht gegeben. Als Jürg von Gunten seinen Bericht beendete, informierte Cla, dass die Suche nach Zeugen bei der Baustelle, die vielleicht gesehen haben könnten, wer das Baby abgelegt hatte, ohne Ergebnis verlaufen war. Er hatte auf Anweisung Charkows von jedem der Bauarbeiter, die in den letzten zwei Tagen dort arbeiteten, eine DNS-Probe verlangt und sie zur Analyse Francine Boviard gegeben. Charkow wollte die Möglichkeit prüfen, ob einer der Bauarbeiter mit der Entführung in Zusammenhang gebracht werden konnte. Der Zeugenaufruf lief, doch niemand schien sich besonders Hoffnungen zu machen. Eine Meldung aus der Bevölkerung war nicht unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich.
Charkow informierte anschließend über die vorläufigen Ergebnisse von Gabrielas Befragung und versprach von Gunten, ihm Gabrielas Schlussbericht sobald wie möglich zukommen zu lassen. Auch Francines Untersuchungsergebnisse, die in den nächsten 24 Stunden vorliegen sollten, würde er ihm gleich schicken.
Es war kurz vor Mitternacht, als Charkow die Sitzung beendete. Auf seinem Weg nach Hause beobachtete er durch Zufall, wie Cla und Priska gemeinsam in die Tram stiegen. Ihm entging nicht, wie Priska sich bei Cla einhakte, als sie durch die Tram liefen, um einen Sitzplatz zu suchen. Anscheinend waren sich die beiden näher gekommen. Charkow fragte sich, wann das passiert war. Cla war doch erst wenige Wochen in Zürich.
Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr zu seinem Wohnblock am Rand von Zürich in der Nähe der Hardbrücke. Auf der Fahrt rief ihn Francine an. Sie versprach, am nächsten Morgen mit der Untersuchung von Jacquelines Leichnam fertig zu sein. Die Analyse und Auswertung der Spuren an der Decke, der DNS der Bauarbeiter sowie derjenigen rund um den Fundort würde am meisten Zeit in Anspruch nehmen. Trotzdem konnte sie ihm schon mitteilen, dass Jacqueline verdurstet sei. Charkow machte diese Mitteilung betroffen. Er dankte knapp, versprach gleich morgen in der Rechtsmedizin vorbeizuschauen und legte auf. Nachdenklich fuhr er in seine leere Wohnung, wo er sich diese Nacht wieder einmal mehr fremd und einsam fühlen würde.
Francine Boviard analysierte die ersten DNS-Auswertungen vom Fundort auf der Baustelle, als Charkow die Leichenhalle des Rechtsmedizinischen Instituts betrat. Das Institut befand sich auf einem bewaldeten Hügel hoch über der Stadt und war in einen Park eingebettet, der sogar über einen kleinen See verfügte. Francine Boviard sah sofort, was für eine Nacht Charkow hinter sich gehabt haben musste. Seine Haut hatte einen leichten Grauton, er war unrasiert und seine Augen lagen müde und tief in ihren Höhlen.
»Du solltest dir die Dinge nicht so zu Herzen nehmen.« Sie streichelte seine Schulter, während er sie zur Begrüßung auf die Wange küsste. »Komm, wir trinken erst einmal einen Kaffee.«
Charkow folgte ihr wortlos zu ihrem Büro, wo sich eine Kolbenmaschine befand. Als er das Zischen der hervorragenden Maschine hörte und sich das Aroma frisch gebrühten Kaffees im Raum verbreitete, hellte sich seine Stimmung etwas auf. Francine warf zwei Würfel braunen Zucker in seine Tasse und reichte sie ihm.
»Danke. Du bist die Beste.«
»Ich bin immer noch zu haben«, scherzte sie, mit einer Spur kaum wahrnehmbaren Ernstes.
Charkow konnte darauf nichts erwidern. Er kannte Francine sein halbes Leben lang. Sie genoss sein uneingeschränktes Vertrauen. Nur einmal war es zwischen ihnen zu einer Annäherung gekommen. Ein einziger Kuss. Da war er schwach gewesen, hatte die Kontrolle über seine Gefühle verloren. Bis heute fragte er sich, warum er dem einzigen Menschen in seinem Leben, der ihm bedingungslose und offene Zuneigung zeigte, nicht den Platz einräumen konnte, den er verdiente.
»Bist du schon aufnahmefähig?«, fragte Francine und riss ihn aus seinen Überlegungen.
»Ja, sicher.«
»Die Ergebnisse der Abgleiche von der DNS der Bauarbeiter mit denen auf der Decke, in die Jacqueline eingewickelt war, sind noch nicht vollständig. Ich informiere dich, sobald ich sie habe.« Sie drehte ihr Tablet so, dass er das Display erkennen konnte. »Hier sind Bilder und die Auswertungen der inneren Organe von Jacqueline. Diese zeigen, dass man sie während der ganzen Zeit alles andere als babygerecht behandelt hat.« Sie zog mit ihrem Finger ein neues Auswertungsformular über den Bildschirm. »Sie hat ungefähr die letzten zwei Tage keine Nahrung und vor allem keine Flüssigkeit erhalten. Ein Erwachsener stirbt circa nach vier Tagen Flüssigkeitsentzug. Ein Säugling überlebt definitiv nicht so lange.«
Charkow starrte auf die Fotos von Leber und Niere, die so klein waren, dass er den Eindruck hatte, sie stammten nicht von einem Menschen.
»Was ist deiner Meinung nach geschehen?«, fragte Francine.
»Eine gescheiterte Entführung wäre denkbar.«
»Glaubst du daran?«
»Ich glaube gar nichts«, antwortete Charkow und nahm einen großen Schluck Kaffee. Nachdenklich wischte er über die Oberfläche des Bildschirms, wo ein Foto des Grauens dem nächsten folgte. Das letzte Bild zeigte den geöffneten Körper von Jacqueline. Charkow schloss das Programm. »Aber möglich wäre es«, nahm er Francines Gedanken wieder auf. »Wenn sich Entführer zerstreiten, hängt die gesamte Verantwortung an wenigen Personen. Diese können mit einem schreienden Säugling schnell überfordert sein. Denkbar wäre, dass diese Person das Baby deshalb abgelegt hat.«
»Was wirst du nun tun?«
»Priska und Cla kommen gleich vorbei. Wir fahren in die Klinik, in der die Schöllhorns arbeiten, und reden mit ihren Kollegen.«
»Du suchst nach einem Motiv?«
»Wie immer.«
»Ich hoffe, du wirst schnell fündig.«
Charkow trank den letzten Schluck seines Kaffees. »Wir werden sehen.« Müde erhob er sich von seinem Stuhl. Er blickte Francine einen Augenblick lang in die Augen, als ob er dort die Antwort auf viele seiner Fragen finden würde.
Francine stand ebenfalls auf. Strich ihm erneut über die Schulter und drückte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Wange. »Ich wünsche dir Glück.«
Charkow nickte. Ohne ein weiteres Wort verschwand er durch die Glastür nach draußen.
Cla und Priska warteten schon im Wagen auf ihn. Er war mit der Tram ins Institut gefahren und hatte sich mit den beiden hier verabredet.
»Du hast wieder nicht geschlafen«, stellte Priska vorwurfsvoll fest, als er in den Wagen stieg.
Charkow überhörte das Gesagte und fasste für die beiden die Ergebnisse aus dem Gespräch mit Francine zusammen.
»Wer ist zu so einer Tat überhaupt fähig?«, fragte Cla und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Das werden wir schon noch herausfinden«, antwortete Charkow. »Jetzt müssen wir erst einmal versuchen, mit allen Mitarbeitern von den Schöllhorns zu sprechen. Von Gunten hat schon einige von ihnen befragt. Trotzdem will ich noch einmal mit ihnen reden. Lasst euch auch die Namen derer geben, die gerade frei haben oder nicht verfügbar sind. Es darf keiner ausgelassen werden.«
»Was ist mit der Familie der Schöllhorns?«, fragte Priska.
»Die Eltern von ihm sind schon vor Jahren gestorben«, antwortete Cla, der sich um die Recherche gekümmert hatte. »Annette Schöllhorns Mutter lebt noch. Sie ist dement und befindet sich in einem Pflegeheim hier in Zürich. Beide Schöllhorns sind Einzelkinder. Somit gibt es keine erweiterte Familie, die wir befragen könnten.«
»Was ist mit Freunden?«, fragte Priska.
»Das übliche Dilemma eines jungen, aufstrebenden Ärzteehepaars mit Kind«, fuhr Cla fort. »Die haben nur Kontakt zur Krankenhausleitung und ihren Kollegen. Somit werden wir heute wohl das ganze Beziehungsumfeld der Schöllhorns mit unseren Befragungen abdecken.«
Sie waren angekommen. Priska stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz des Universitätsspitals ab. Zwar stand die Sonne schon hoch am morgendlichen Himmel, trotzdem bildete ihr Atem kleine Wölkchen. Der silbrige Raureif auf Rosenbüschen im Blumenbeet vor der Klinik zeugte vom Frost der Nacht, der immer noch in der Luft lag.
»Hoffentlich wird’s bald Frühling«, fluchte Priska leise.
Cla bemerkte die Gänsehaut auf ihren Armen. Sie trug nur ein T-Shirt mit dem Slogan »Der frühe Vogel kann mich mal« und darüber eine modische, aber viel zu dünne Baumwolljacke. Er bot ihr seine Fleecejacke an, die sie mit einem Lächeln entgegennahm, den Reißverschluss bis unter das Kinn ziehend. Charkow bemerkte wieder die Vertrautheit zwischen den beiden.
Claudia Pulver, die Direktorin der Kinderabteilung, empfing sie in einem Sitzungszimmer, in dem sonst die Teambesprechungen stattfanden. »Ihre Kollegen haben uns schon einmal befragt«, erwähnte sie kurz angebunden. »Könnten wir versuchen, die Befragungen meiner Mitarbeiter kurz zu halten? Sie haben schon jetzt zu wenig Zeit für ihre Patienten.«
Charkow überhörte ihre Bemerkung. »Ich danke Ihnen, dass Sie uns diesen Raum für die Befragungen zur Verfügung stellen.« Er ließ sich von Priska ihr Tablet geben, auf dem die Liste mit Namen vermerkt war, die mit den Schöllhorns im Krankenhaus Kontakt hatten.
»Wer wird der Erste sein?«, fragte er die Direktorin.
Claudia Pulver versteckte nicht, dass sie Charkows Übergehen ihrer Bemerkung unmöglich fand, tippte mit dem Finger auf den dritten Namen auf der Liste, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand aus dem Sitzungszimmer.
Charkow bat Cla, sich während der Befragung passiv zu verhalten und nur auf die Mimik und Gestik der Befragten zu achten. Priska sollte die Befragungen leiten. Sie setzten sich so, dass sie den Eingang im Blickfeld hatten. Cla nahm am Kopfende des Tisches Platz, von wo er die Befragungssituation gut im Blick hatte.
Kurz darauf erschien die erste Mitarbeiterin von Annette Schöllhorn. Priska begrüßte sie, stellte Cla und Charkow vor und begann sogleich, den Grund des Gesprächs zu erklären und ihre erste Frage auf der Suche nach einem möglichen Motiv zu stellen.
Die Befragungen nahmen ihren Lauf.
Um 13 Uhr machten sie eine Pause und gingen hinunter in die Krankenhauskantine, die hell und geräumig war. Charkow trank nur einen Kaffee und aß ein Stück Kuchen, während Priska und Cla Salat und einen Teller Tagliatelle vom Büfett nahmen. Eine halbe Stunde später waren sie schon wieder zurück im Sitzungszimmer. Sie fassten die Ergebnisse der bisherigen Gespräche zusammen, mussten sich eingestehen, dass sie bis jetzt keine Hinweise hatten, und glichen ein weiteres Mal die Personallisten mit ihrer Befragungsliste ab, um wirklich niemanden zu vergessen.
Die nächsten zwei Gespräche verliefen ebenso ergebnislos. Erst als die Stationsschwester der Säuglingsabteilung vor ihnen saß, stießen sie auf etwas. Maria Aquino war Mitte 30, rundlich, hatte freundliche Augen und stammte von den Philippinen. Sie lebte schon seit 20 Jahren in der Schweiz und liebte ihre Arbeit auf der Säuglingsstation. Die Schöllhorns seien gute Menschen, sagte sie, aber sie nähmen das Leben immer etwas zu ernst, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
»Frau Aquino, kennen Sie jemanden, der einen Grund gehabt haben könnte, das Baby der Schöllhorns zu entführen?«, war Priskas nächste Frage.
Maria Aquino nickte.
Priska brauchte einen Moment, um die Selbstverständlichkeit dieses Nickens aufzunehmen.
»Wir hatten vor zwei Monaten einen plötzlichen Kindstod auf der Station.« Sie machte eine Pause, um die aufkommenden Gefühle zu beherrschen. »Der Vater war dabei, als Dr. Schöllhorn das Kind entband. Drei Tage später lag es tot in seinem Bett.«
Wieder musste sie unterbrechen. Alle hatten den Eindruck, als spräche sie vom Tod ihres eigenen Kindes.
»Meine Schicht hatte gerade begonnen und meine Kollegin hatte nicht gemerkt, dass das Kind nicht schlief, sondern schon tot war.«
»Es starb also nicht in Ihrer Schicht?«, fragte Priska nach.
Maria Aquino schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe die Mutter vor der Entbindung betreut und war die Hebamme.«
»Warum hat Ihre Kollegin nichts bemerkt?«, wollte Priska wissen.
»Eine Nachtschicht ist anstrengend. Gerade die Schreibabys verlangen viel von einem ab. Da ist man über jedes Baby, das schlafen kann, froh. Ich hätte es vielleicht auch nicht bemerkt.«
»Hat die Obduktion den plötzlichen Kindstod bestätigt?«, fragte Charkow, der diese Frage sicher auch noch dem Rechtsmediziner stellen würde.
Maria Aquino nickte.
»Und wie hat der Vater reagiert?«, fragte Priska weiter.
»Er war am Boden zerstört. Seine Frau lag noch auf der Station und wusste nichts vom Tod ihres Kindes. Er war schon früh morgens mit einem Blumenstrauß für seine Frau auf meine Station gekommen, um sein Kind und seine Frau vor seiner Arbeit noch einmal zu sehen.« Tränen rannen über Maria Aquinos Gesicht. »Sie hatten sich das Kind so sehr gewünscht. Nur mit künstlicher Befruchtung war die Schwangerschaft möglich gewesen. Sie waren so glücklich, dass es gesund war.«
Priska versuchte sich vorzustellen, wie sich der Vater gefühlt haben musste. Sie musste sich eingestehen, dass es ihre Vorstellungskraft überstieg. »Hat der Vater Ihre Kollegin für den Tod verantwortlich gemacht?«
»Nein.«
»Sicher richtete sich die Wut auf Dr. Schöllhorn?«, nahm Charkow an.
Maria Aquino nickte. »Als das Obduktionsergebnis bekannt wurde, schlug die Trauer des Mannes in Wut um. Wut auf Dr. Schöllhorn. Der Vater glaubte nicht, dass sein Kind dem plötzlichen Kindstod erlegen war, den die Rechtsmedizin feststellte. Er glaubte, Dr. Schöllhorn hätte bei der künstlichen Befruchtung einen Fehler gemacht.«
»Seine ganze Wut richtete sich somit allein gegen Dr. Schöllhorn?«, fragte Priska weiter.
»Ja. Der Vater war unendlich verzweifelt, verstehen Sie?«
»Können Sie mir bitte den Namen dieses Mannes nennen?«, bat Priska.
»Martin Freiburg. Seine Frau heißt Nora.«
Priska dankte Maria Aquino für ihre Offenheit und ließ sie zu ihrer Arbeit zurückkehren.
»Endlich haben wir ein starkes Motiv und einen Verdächtigen gefunden«, stellte Priska fest, als sie allein waren. Sie schlug vor, die Befragung zu unterbrechen. Cla schloss sich ihrer Meinung an und hätte am liebsten Martin Freiburg sofort verhört. Charkow hingegen blieb skeptisch und entschied, die Befragungen weiterzuführen. Am späten Abend musste er eingestehen, dass es keine weiteren Verdächtigen mehr gab. Jeder Befragte bestätigte die liebevolle und fürsorgliche Art der Schöllhorns und keiner schien einen ernsthaften Konflikt mit dem Ärztepaar erlebt zu haben.
Als sie sich auf den Heimweg machten, brannte auf der Straße vor dem Universitätsspital schon die Straßenbeleuchtung.
»Kommst du mit uns noch etwas trinken?«, fragte Cla.
»Nein, ich muss mal schlafen«, sagte Charkow. »Lasst uns morgen Nachmittag die Freiburgs befragen.«
Cla schien nicht besonders enttäuscht über Charkows Absage und verschwand, wie am Vorabend, mit Priska in der Tram.
Charkow nahm den Wagen und fuhr nach Hause. Auf der Fahrt rief er Gabriela an. Sie gab vor, wenig Zeit zu haben. Charkow spürte, dass ein Gespräch über ihre Trennung noch nicht möglich war. Er vereinbarte mit ihr einen Termin gleich am nächsten Morgen. Sie sollte ihm helfen, die Situation mit den Verdächtigen richtig einzuschätzen. Als er auflegte, kamen ihm wieder Zweifel. Konnte Martin Freiburg tatsächlich so großen Hass in sich gehegt haben? Um ein Baby zu entführen, ihm tagelang Nahrung zu verweigern und es letztendlich dem sicheren Tod zu überlassen, brauchte es Kaltblütigkeit oder große Verrücktheit. Er war nicht sicher, eines von beidem bei einem Mann zu finden, der gerade sein Kind verloren hatte.
Selten hatte Charkow eine so attraktive Frau gesehen. Sie verließ Gabrielas Behandlungszimmer, gleich nachdem er die Gemeinschaftspraxis betreten hatte. Als ihn Gabriela erblickte, warf sie ihm ein kurzes, unsicheres Lächeln als Begrüßung zu, um sich sogleich ihrer Sprechstundenhilfe zuzuwenden. Er sah Gabrielas Patientin unweigerlich nach, als sie die Praxis verließ. Die Schönheit dieser Frau versetzte ihm einen kleinen Stich.
»Eine interessante Frau.« Gabriela musste seine Gedanken gelesen haben und stand nun vor ihm. »Wollen wir?«, forderte sie ihn auf, ihr ins Sitzungszimmer zu folgen.
Sie gingen zu einem kleinen Tisch, in dessen Mitte eine Kleenex-Schachtel, eine Schale mit frischen Früchten und ein Strauß bunter Dahlien standen. Gabriela setzte sich ihm gegenüber in ihren Sessel, in dem sie auch während der Sitzung Platz nahm, während er sich auf die Couch fallen ließ. Charkow hatte einen Moment lang das Gefühl, in der Patientenrolle zu sein.
»Ich habe die Befragungsergebnisse der Schöllhorns zusammengefasst und dir auch meine Bewertung geschickt. Ich bin sicher, dass sie ihr Kind liebten und auch im Affekt zu keiner Tötung fähig waren.«
»Das sehe ich auch so.«
»Gut. Dann betrachte ich diesen Fall für mich als abgeschlossen?«
»Ja. Danke.«
»Du wolltest mit mir über ein Ehepaar sprechen, das sein Neugeborenes verloren hat.«
Charkow fasste kurz zusammen, was die Befragung im Krankenhaus zutage gefördert hatte. Gabriela machte sich Notizen.
»Wie bewertest du die Drohungen gegen den Arzt?«, fragte Charkow, als er seine Ausführungen beendet hatte.
Sie sah ihm seine Skepsis an. »Da darfst du deinem Gefühl vertrauen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Diese Drohungen geschahen in der ersten Erregung. Sie bedeuten nicht zwingend, dass ihnen auch Taten folgen.«
»Das hatte ich vermutet.«
»Soll ich beim Gespräch mit den Freiburgs dabei sein?«
»Wir sehen sie heute Nachmittag.«
»Dann wirst du ohne mich auskommen müssen. Ich habe heute meinen Privatpatiententag.«
»In diesem Fall werde dich später informieren und hätte gerne deine Meinung über das Gespräch.« Charkow stand auf, blieb aber stehen, weil er sah, dass Gabriela etwas mit ihm bereden wollte und nach Worten zu suchen schien. »Ist noch etwas?«, fragte er. Gabriela zögerte. Er hoffte, sie würde nun nicht über ihre Trennung reden wollen. Während des gesamten Gesprächs hatte er geglaubt, ihre Zuneigung zu spüren, die sie anscheinend nach wie vor für ihn empfand. Es war ihm schwergefallen, sie zu ignorieren. Nicht, weil er sie immer noch liebte, sondern weil er glaubte, sie mit seinem Verhalten zu verletzen. Anscheinend übernahm er auch jetzt noch die Verantwortung für ihre Gefühle, obwohl er genau wusste, dass dies im Grunde genommen nicht möglich war.
»Ich habe eine Patientin, die wegen Schmerzsymptomen bei mir in Behandlung ist«, begann Gabriela langsam. »Ein Neurologe hat sie mir überwiesen, weil er die Ursache der Schmerzen im Seelischen vermutet und ihr deshalb nicht helfen konnte.«
Charkow war froh, dass sie ein anderes Thema anschlug, und setzte sich wieder.
»Ich versuche nun seit mehreren Sitzungen zu ihrer Herkunftsgeschichte vorzudringen, was sie aber nicht zulässt.« Gabriela machte eine Pause und ordnete ihre Gedanken. »Ich kann ihr nicht helfen, wenn sie mich kein Stück weit an sich ranlässt. Sie weigert sich über ihre Kindheit zu sprechen. Verstehst du, was ich meine?«
»Sicher. Es ist ja auch nicht einfach, sich in die dunkelsten Räume seines Lebens vorzuwagen. Dort ist die Angst am größten.«
»Du hast recht. Wir beide wissen das selbst am besten«, stellte sie nachdenklich fest. »Aber ich kann ihr nicht helfen, wenn sie mir jedes Mal eine erfundene Geschichte auftischt oder ausweicht, sobald es um ihre Kindheit geht.«
Charkow wartete darauf, dass sie ihm sagte, wie er ihr helfen konnte. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr. In einer halben Stunde war er mit Francine verabredet. »Warum sagst du ihr nicht genau das, was du jetzt mir gesagt hast?«
»Sie würde sich sehr wahrscheinlich völlig verschließen.«
»Und wenn es so wäre? Das ist ihre Entscheidung. Die kannst du ihr nicht abnehmen. Sie ist erst fähig darüber zu sprechen, wenn sie bereit ist, in diesen dunklen Raum zu gehen.« Ihn irritierte, dass er Sätze aussprach, die er von Gabriela selbst schon gehört hatte, als sie letzte Weihnachten, kurz vor ihrer Trennung, eine Paartherapie begonnen hatten. »Ich habe den Eindruck, du verschweigst mir etwas.«
Gabriela blickte ihn erstaunt an. »Ja, wenn ich ehrlich bin, verschweige ich dir, dass ich mich selbst in dieser Patientin wiedererkenne.«
»Und deshalb kannst du sie nicht aufgeben.«
Gabriela nickte.
»Vermutest du, sie erfuhr ein ähnliches Trauma durch ihren Vater wie du selbst?«, sprach er behutsam den Missbrauch durch ihren Vater an, dem Gabriela in ihrer Kindheit jahrelang schutzlos ausgesetzt war. Er erinnerte sich an die Panik, die sie bei einem gemeinsamen Verhör eines Verdächtigen überfallen hatte. Sie war plötzlich rausgerannt und hatte sich auf der Toilette übergeben müssen. Der Verdächtige hatte dasselbe Aftershave benutzt wie ihr Vater, wenn er sich an ihr vergangen hatte. Charkow wusste von den Bildern, in denen immer wieder Szenen der Vergewaltigung durch ihren Vater aufblitzten und die sie des Nachts nicht schlafen ließen. Gabriela hatte schon viele Therapiestunden darauf verwendet, sich dieser Bilder zu entledigen. Jedoch gelang es ihr bis heute nicht, sie aus ihrer Erinnerung zu löschen.
In ihren Augen standen plötzlich Tränen. Charkow reichte ihr die Kleenex-Schachtel. Einen Moment lang war er versucht, ihre Hand zu nehmen, ließ es aber. »Hör zu, warum machst du nicht dasselbe wie ich?«
Gabriela verstand nicht.
»Warum ermittelst du nicht ihre Vergangenheit?«
»Das wäre nicht richtig«, erwiderte sie empört.
Charkow sah, dass sie seinem Vorschlag nicht gänzlich abgeneigt schien. Aber sie musste über sein Verhalten von damals immer noch verärgert sein. Er hatte den Missbrauch durch ihren Vater nicht von ihr, sondern über eigene Recherchen in der Datenbank der Kantonspolizei erfahren. Noch immer war er nicht sicher, damals das Richtige getan zu haben. »Du musst es ihr ja nicht sagen. Aber vielleicht hilft es dir, sie und«, er zögerte, weil er sich fragte, ob er das Recht hatte, dies zu sagen, »… und vielleicht auch dich selbst besser zu verstehen.«
Gabriela ließ das Gesagte auf sich wirken. »Ich werde es mir überlegen. Vielleicht hast du recht.«
»Ruf mich an, wenn ich dir irgendwie helfen kann.« Erleichtert über ihre Reaktion stand er auf.
Gabriela erhob sich ebenfalls. Einen Augenblick lang standen sie sich nah gegenüber. Charkow hatte den Eindruck, sie wollte ihn zum Abschied küssen. Aber sie reichte ihm lediglich die Hand.
»Danke, Max.«
»Für was?«
»Dass du mir deine Hilfe angeboten hast.«
Charkow nickte und verließ ohne ein weiteres Wort ihre Gemeinschaftspraxis. Im Bauch ein gutes Gefühl. Im Kopf Verwirrtheit.
*
Auf dem Weg zu Francine rief er Cla an. Er sollte ihn zur Befragung zu den Freiburgs begleiten. Sie vereinbarten, sich am Rechtsmedizinischen Institut zu treffen. Priska informierte ihn, dass der Zeugenaufruf immer noch keine Ergebnisse gebracht hatte. Charkow bat sie, ein zweites Mal die Liste mit den Personen, die in nächster Umgebung der Baustelle lebten, mit den tatsächlich Befragten abzugleichen. Vielleicht hatten von Guntens Ermittler, die sie nun bei den Ermittlungen unterstützten, hier jemanden übersehen. Priska versprach, sich sofort darum zu kümmern. Er spürte, dass sie nicht verstand, warum er Cla und nicht sie zur Befragung mitnahm. Dennoch ging er nicht darauf ein. Er hatte seine Gründe.
Francines Büro war hell. Von ihrem Schreibtisch konnte sie in den Park und auf den kleinen See sehen. Sie saß vor ihrem Laptop und verglich DNS-Daten.
»Sind die von unserem Fall?«, fragte Charkow, als er eintrat.
»Oh, Max.« Sie blickte kaum auf. »Lass mich das schnell noch fertig machen, dann bin ich bei dir.«
Charkow ging zur Kaffeemaschine und brühte ihnen beiden eine Tasse. Francine freute sich, als er zum Kaffee auch noch eine kleine Schachtel mit Gebäck auf den Tisch stellte, das er in einer georgischen Bäckerei im Niederdorf gekauft hatte. Sie liebte diese Honig gesüßten Blätterteigcarrées mit ihrer Mandelfüllung.
»Du brauchst mich nicht zu bestechen«, lachte sie und schob die Unterlagen beiseite, um den beiden Tassen und den Süßigkeiten Platz zu machen. »Es ist immer dasselbe. Du kaufst so wunderbare Desserts und isst davon nur ein Stück, während ich den Rest essen muss. Du wünschst dir sicher, dass ich dick und hässlich werde. Damit mich kein anderer Mann mehr will.«
»Auch dann wird dich noch jeder Mann begehren«, sagte Charkow beiläufig und trank einen Schluck Kaffee. »Gibt es Übereinstimmungen bei den DNS?«
Francine blickte ihn noch einen Augenblick lang an. Sie seufzte und drehte den Bildschirm ihres Laptops, sodass sie beide darauf schauen konnten. »Hier sind die DNS-Auswertungen der Bauarbeiter und hier die von der Decke, in die der Säugling gewickelt war. Es gibt zwei Übereinstimmungen. Aber die werden zu nichts führen.«
»Warum bist du dir da so sicher?«
»Priska hat die beiden Männer schon überprüft. Sie sind Gastarbeiter und seit zwei Wochen wieder in ihrer Heimat. Ihre Arbeitsbewilligung war abgelaufen.«
»Also handelt es sich hier nur um eine DNS-Übertragung, die von der Baustelle herrührt?«