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Bei der Aufklärung eines Verbrechens stößt Daniel von Arx auf Szenen, die sich in verschiedenen Jahrhunderten abgespielt haben. Er beginnt, Zusammenhänge zwischen all diesen Episoden zu vermuten und erfährt von Vorgängen in der Vergangenheit, die an seinem Geschichtsbild rütteln. Gleichzeitig erhält er einen Überblick über die Entwicklung der Erde vom Urknall bis heute und er wird mit dem Fortschritt der Physik vertraut gemacht, wobei er sogar auf einfache Weise die Relativitätstheorie und die Quantentheorie zu begreifen lernt. Er erfährt, wie Zeitsprünge in die Zukunft oder in die Vergangenheit physikalisch funktionieren könnten. In Verbindung mit einer Skizze über das Wesen der Religionen und einer Darstellung des Begriffes „Gott“ wird die Kontroverse zwischen der darwinischen Evolutionstheorie und der biblischen Schöpfungsgeschichte erläutert und die provokative Frage gestellt: „Könnten wir Menschen es selbst gewesen sein, die aus der Zukunft den Fortschritt gesteuert haben?“ - Ist die Erzählung nur ein Jux, eine nicht ernst zu nehmende Utopie? Oder hat es sich wirklich so abgespielt?
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Seitenzahl: 402
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Max Meyer
Jenseits dieser Zeit
Eine utopische Begegnung mit Gott
FRANKFURTER LITERATURVERLAG
FRANKFURT A.M. • WEIMAR • LONDON • NEW YORK
Die neue Literatur, die – in Erinnerung an die Zusammenarbeit Heinrich Heines und Annette von Droste-Hülshoffs mit der Herausgeberin Elise von Hohenhausen – ein Wagnis ist, steht im Mittelpunkt der Verlagsarbeit. Das Lektorat nimmt daher Manuskripte an, um deren Einsendung das gebildete Publikum gebeten wird.
©2013 FRANKFURTER LITERATURVERLAG FRANKFURT AM MAIN
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Medien- und Buchverlage
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Lektorat: Katharina Zwing
Umschlagbild: Bernd Koch, Astrofoto
ISBN 978-3-8372-5160-9
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Inhalt
PROLOG
DER EINBRUCH
GESPRÄCHE MIT MEINEM BRUDER MICHAEL
KIRCHE DER WAHREN CHRISTEN
DIE ERSTE DISKETTE
DIE ZWEITE DISKETTE
DER ERSTE VERDACHT
DER ENTWICKLUNGSHELFER
DIE DRITTE DISKETTE
ROM
GESPRÄCHE MIT PROFESSOR BUCHER
DER TRANSFER
JENSEITS DIESER ZEIT
EPILOG
PROLOG
Gott hat mich ermuntert, diesen Bericht zu schreiben. Er hat dabei allerdings mit den Augen gezwinkert und gemeint, ich fände ohnehin niemanden, der ihn verbreiten würde. Welche Weisung hätte er mir gegeben, wenn er gewusst hätte, dass die Publikation tatsächlich erfolgt? Hätte er sie verboten und gesagt, die Menschheit sei noch nicht reif dafür? Oder hätte er es als an der Zeit gesehen, dass sich die Menschen mit der vollen Wahrheit und namentlich auch mit seiner wahren Identität befassen und die Verbreitung dieses Berichts zugelassen? Ich weiss es nicht.
Nicht dass ich gläubig wäre, wie ihr jetzt denkt – im Gegenteil. Trotzdem, es war Gott persönlich. Ihr werdet sehen.
Als alles begann war ich erst 21 Jahre alt. Inzwischen bin ich alt geworden. Wenn ich vor dem Spiegel stehe, so blickt mir ein runzliges Gesicht entgegen, das ich kaum mehr erkenne und das nur entfernt dem jungen, dynamischen Studenten gleicht, der ich damals war. Wenn ich aufstehe, so plagt mich die Gicht, und jeden Abend muss ich drei verschiedene Pillen schlucken, um meine Gesundheit erträglich zu verlängern. Derart blicke ich auf mein Leben zurück und frage mich, was eigentlich meine Pflicht ist, wenn ich diesen Bericht abfasse. Muss ich meine Mitmenschen warnen? Soll ich sie wenigstens aufklären, indem ich ihnen meine Erlebnisse schildere, oder diene ich ihnen besser, wenn ich ganz nüchtern und wissenschaftlich darstelle, was auf der Erde wirklich vorgeht? Die Abwägung meiner Optionen gehe ich heute – im vorgerückten Alter – kühl und nüchtern an. Vor allem aber beschliesse ich, meinen Bericht im Geheimen zu schreiben und niemandem etwas davon zu sagen, bis er publiziert ist. Denn sollten Gründe bestehen, dass er nicht publiziert werden darf, dann könnte es durchaus sein, dass man mich daran hindert, indem man ganz einfach meine Erinnerung aus meinem Gehirn löscht, ähnlich wie der Speicher eines veralteten Computers gelöscht wird. Das aber möchte ich vermeiden.
Die Geschichte, die ich erzählen werde, ist eigentlich nicht abgeschlossen, sondern immer noch in vollem Gang. Trotzdem nimmt sie auch heute noch niemand wahr. Wäre ich nicht durch Zufall darauf gestoßen, könnte ich Euch nicht davon berichten. Es ist, als ob die Menschheit geblendet ist. Als ob wir alle derart gefangen sind in unserem von der Physik – von Galileo, Newton oder Einstein – geprägten Weltbild und uns dabei derart wohl fühlen, dass wir die Wahrheit nicht sehen wollen. Es ist also wie damals, als der Grieche Ptolemäus sein Weltbild zeichnete. Er blickte in den Himmel, stellte fest, dass verschiedene Sterne sich mit einander in derselben Richtung bewegen, also in einer Sphäre verbunden sein müssen, während andere Sterne sich gemeinsam in anderer Richtung bewegen, also in einer anderen Sphäre verbunden sind. So stellte er sieben übereinander liegende Sphären fest, die den Himmel bilden, sich in verschiedener Richtung drehen und damit die Bewegung aller Sterne am Himmel erklären. An diesem ptolemäischen Weltbild mit der Erde im Mittelpunkt und den sieben himmlischen Sphären wurde Jahrhundert festgehalten, und es wurde kaum hinterfragt. Es war einfach das, was man damals am Himmel sah. Die Bewegungen der Sterne konnten in sieben Richtungen gegliedert werden, also musste es sieben Sphären geben; was man sah, war auch wahr. Wieso soll dann unser heutiges Weltbild hinterfragt werden? Wenn doch alle dasselbe sehen, auch wenn es nicht die Wahrheit ist. Die Menschen hängen am Alten und blenden Hinweise auf Neues aus. Sie tun das selbst, wenn solche Hinweise augenfällig sind.
Meine Geschichte ist nicht erfunden. Ich habe sie selbst erlebt. Das macht sie noch erstaunlicher. Ich habe in meinem abenteuerlichen Leben gelernt, nur das zu glauben, was ich selbst wahrgenommen habe, und nur das zu tun, was ich selbst für richtig halte. Ich nehme andere Menschen nicht ernst, wenn sie mir erstaunliche Geschichten erzählen über Geister, über übernatürliche Wahrnehmungen, über „Zufälle“, die keine sind, und über allerlei weiteres Abergläubisches oder Metaphysisches. Ich kann solches einfach nicht glauben – denn nicht der Glaube, sondern nur, was konkret beweisbar ist, zählt in der Wissenschaft. Deshalb verstehe ich auch, wenn Ihr meine Geschichte nicht ernst nehmen solltet. Gebt mir aber trotzdem eine Chance. Geht wenigstens unvoreingenommen an die Lektüre dieses Berichts. Wenn ihr mir dann nicht glaubt, so solltet ihr mindestens prüfen, ob das, was ich berichte, sich so zugetragen haben könnte.
Wenn ich heute über meine Erfahrungen berichte, so weil ich es einfach tun muss. Ich muss mich befreien vom Druck des Schweigens, und ich muss den anderen Menschen die Erkenntnisse aufzeigen, die ich gewonnen habe. Diese Erkenntnisse sind nämlich geradezu revolutionär. Sie werden das Weltbild jedes Menschen verändern, der sich ernsthaft damit befasst. Sie werden ihm zeigen, dass alles, was er bisher glaubte oder für wahr hielt, anders ist und dass die Geschichte der Menschheit neu geschrieben werden muss. Und sie werden ihm seinen bisherigen inneren Halt, seine vertraute Gedankenwelt, ja selbst seinen Glauben und seine Religion nehmen. Das ist der enorme Anspruch dieses Berichts, und deshalb auch lastet ein großer Druck auf mir. Ich darf doch nicht der einzige sein, der das alles weiß! Ich muss mein Wissen teilen und eine Diskussion darüber entfachen.
Soll die öffentliche Diskussion vermieden werden, indem man mir verbietet, über meine Erfahrungen und Erkenntnisse zu berichten? Vielleicht wäre das für uns alle besser. Anderseits sind die Menschen allerhand Umwälzungen gewohnt, und sie haben dank der Forschung recht viele Erkenntnisse bis heute sogar selbst erarbeitet. Mir schiene durchaus an der Zeit, auch über das zu informieren, was ich inzwischen erfahren habe. Das ist keine Ausrede, damit ich das Buch niederschreiben darf. Aber es ist eine mögliche Rechtfertigung dafür, dass ich meine Erkenntnisse weiter gebe, obschon es vielleicht unerwünscht ist.
Ich bin aber vorsichtig. Ich schreibe das Buch heimlich und hoffe, dass man mich nicht entdeckt. An der späteren Diskussion könnte ich da, wo ich heute lebe, ohnehin nicht teilnehmen. Das stört mich ungemein. Denn gerne hätte ich alle noch offenen Fragen beantwortet und namentlich allfällige Zweifler, die es unter den Menschen immer gibt, mit weiteren Argumenten überzeugt. Anderseits weiss ich, dass meine Botschaft auch ohne zusätzliche Unterstützung ankommen und jeden nur denkbaren Wirbel verursachen wird. Manchmal stelle ich mir in Gedanken die Diskussionen vor, die ich herauf beschwören werde. Dabei sehe ich nicht nur die Wissenschaftler, die sich sehr rasch an das neue Fundament gewöhnen werden. Ich sehe vielmehr auch die zahlreichen Politiker – unter ihnen sogar große Staatsmänner – die glauben, in jeder Rede Gott anrufen zu müssen, um ihre Haltung zu rechtfertigen. Und ich sehe die zahlreichen Prediger, die sich als Mittler zu Gott wähnen und ihre eigenartigen Ansichten mit ihrem angeblich besonderen Bezug zur höheren Macht rechtfertigen – also mit einer speziellen Verbindung zu Gott, die nur sie haben, wie sie in ihren wortgewaltigen Predigten behaupten. Und ich sehe schließlich die religiösen Fundamentalisten, deren Weltbild vollständig zusammenbrechen muss. Ihnen allen zu sagen, welches der wahre Hintergrund ihres Handelns war, und sie dabei etwas von ihrem hohen Podest herunter zu holen, hätte mich schon gefreut.
Wie mein Manuskript die Zeit übersprang und zum Verleger kam, verschweige ich; das ist selbst dem Verleger nicht bekannt.
So erstaunlich Ihr meine Geschichte anfänglich empfinden werdet, so schnell werdet Ihr Euch an die neue Erkenntnis gewöhnen. Die Menschheit hat schon oft große wissenschaftliche Umwälzungen verkraftet; sie wird auch meinen Bericht verarbeiten. Im Gegenteil: mit der Zeit werden die Erkenntnisse selbstverständlich und gewöhnlich werden. Sie werden in das allgemeine Schulwissen eindringen, und viele werden sagen, „wie konnten die früher nur so dumm gewesen sein, all das nicht zu sehen“. War es nicht genau gleich, als die Menschheit erfuhr, dass die Erde keine flache Scheibe sondern eine Kugel ist? Waren nicht auch damals die Mächtigen und viele Andere gegen die Verbreitung solcher Ketzerlehre, während man sich heute fragt, wie man damals nur so dumm sein konnte, die Wahrheit nicht zu erkennen? Es gab doch genügend Anzeichen für diese Wahrheit; man denke nur an das Schiff, das am Horizont nach und nach auftaucht, also auf einer runden Erde segelt.
Genau gleich wird man zu meinem Bericht feststellen, dass die Geschichte in jeder Epoche vom Altertum bis heute viele Hinweise auf die Wahrheit gibt. Wie konnte man nur all diese Hinweise nicht sehen und vollkommen missdeuten?
***
Ernsthaft begann ich mich mit der Sache zu befassen nach der Ermordung von Heinz Roos, dem Assistenten von Professor Bucher am Seminar für theoretische Physik der Universität Bern (Schweiz). Mit diesem Mordfall beginnt auch meine Geschichte im Kapitel 1. Ich selbst war damals Assistent an der juristischen Fakultät, die im selben Gebäude einen Stock höher untergebracht ist, und Heinz Roos war ein entfernter Kamerad von mir.
Erste Hinweise, die mir allerdings erst später als solche bewusst wurden, erhielt ich aber schon früher, nämlich während eines Kongresses, der von der Universität Bern organisiert worden war. Er hatte eigentlich nichts mit unserer Fakultät zu tun. Organisatorin war die ethnologische Abteilung. Mich interessierte das Thema, weswegen ich rüber ging und an verschiedenen Veranstaltungen des Kongresses teilnahm.
Zu diesem Kongress war auch Alco Sci gekommen. Er war einzig deswegen angereist, weil er schon damals denselben Verdacht hatte, der später auch in mir aufstieg. Allerdings handelte er leider aus ganz anderen Motiven als ich.
Alco Sci war von bulliger, untersetzter Statur. Er hatte einen runden, dicken Kopf mit orientalischen Gesichtszügen, silbergrauem Haar und gleichfarbigen buschigen Augenbrauen, die sein Gesicht dominierten. Mit seinen etwas zu kurzen Armen, seiner kräftigen Statur und seinem elastischen Gang glich er mehr einem fernöstlichen Ringkämpfer als einem Wissenschaftler. Er trug aber einen dunklen Anzug mit Krawatte. Mir machte er in der kurzen, späteren Begegnung, die ich in diesem Buch noch beschreiben werde, einen unnachgiebigen, harten, ja geradezu engstirnigen Eindruck. Alco Sci kam, wie ich später feststellte, aus Petersburg KY (USA). Er schien dort ursprünglich Physikprofessor gewesen zu sein. Er lehrte aber nicht mehr an der Universität, und ich fand nicht recht heraus, was er eigentlich tat. Er schien in der Administration einer Freikirche tätig zu sein, wobei er zu wortkarg und zu wenig wortgewaltig war, um einen erfolgreichen Prediger abzugeben. Später fragte man sich sogar, wer ihn zu dem Kongress in Bern (Schweiz) eingeladen hatte. Aber er war nun mal da, hatte eine Einladung, und jemand hatte für seine Teilnahme bezahlt.
Er war auf dem Flughafen Zürich gelandet und mit dem Zug nach Bern gekommen. Nun stand er im Bahnhof und blickte auf die Einladung, die er schon im Zug studiert hatte. Sie enthielt einen kleinen Plan mit den wichtigsten Örtlichkeiten. Danach war es vom Bahnhof nicht weit bis zur Universität, wo der Kongress stattfinden sollte. Man konnte die Strecke ohne weiteres zu Fuß gehen. Alco Sci war erstaunlicherweise allein gekommen. Er hatte noch keine Eskorte von jungen Bodyguards, wie sie ihn bei seinen späteren Besuchen begleiteten. Also musste er sich selbst orientieren, und er stellte dabei fest, dass er nur bis ans andere Ende der Bahnhofsunterführung zu gehen hatte, dort den Lift auf die Plattform nehmen musste, um dann auf der rechten Seite das wissenschaftliche Institut der Universität zu finden. Der Bahnhof in Bern war kunstvoll mitten ins Stadtzentrum geführt worden und befand sich sozusagen unter der Universität. Das war äußerst praktisch für die Wissenschaftler aus aller Welt, die sich auf dem Kongress versammeln sollten und von denen kaum einer gerne einen Stadtplan studierte. Zügig durchquerte Alco Sci die Unterführung. Vor dem Lift warteten verschiedene Personen. Er schloss sich ihnen an und betrat die Liftkabine, nachdem sich die Tür automatisch geöffnet hatte. Verwundert betrachtete er während der Fahrt nach oben die Wände. Sie waren voller Schmierereien und Graffiti und bestätigten seine Ansicht, dass in der westlichen Welt eine dekadente Jugend heranwuchs, der ethische Wertmassstäbe fehlten, wie sie namentlich die Religion bietet. „Ora et Labora“ – bete und arbeite – war die Devise mittelalterlicher Klöster, die er zu seiner eigenen gemacht hatte. Die Schweiz, die einst die Wiege der calvinistischen Arbeitsmoral gewesen war, hatte, wie schon Teile seines eigenen Landes an der Ost- und namentlich an der Westküste, den Willen zu Arbeit und Zucht verloren – Werte, die ihm mehr entsprachen, wie schon sein ganzes Auftreten verriet. Oben angekommen, orientierte er sich erneut und schritt dann auf das Gebäude zu, in welchem der Kongress stattfinden sollte.
Den großen Hörsaal fand er auf Anhieb.
Mit ihm waren weitere Teilnehmer des Kongresses vom Flughafen Zürich nach Bern gereist. Da sie einander meist nicht kannten, waren sie in unterschiedliche Bahnwagen eingestiegen und strebten nun individuell der Universität zu. Einige Teilnehmer waren schon in früheren Zügen gekommen, vertrieben sich die Zeit mit einem improvisierten Stadtrundgang und gingen dann zu Fuß zur Universität. Andere kamen von Genf mit dem Zug oder waren schon am Tag vorher angereist und hatten in einem Hotel der Stadt übernachtet.
Insgesamt versammelten sich gegen dreißig Wissenschaftler aus der ganzen Welt für zwei Tage an der Universität Bern. Es handelte sich also nicht um einen großen Anlass mit vielen Teilnehmern; entsprechend machte er auch keine Schlagzeilen in der Presse, und man nahm von ihm in der Öffentlichkeit kaum Notiz. Die meisten Teilnehmer waren noch verhältnismäßig jung. Sie waren Biologen oder Ethnologen, die sich mit der Erdgeschichte befassten, sich also damit beschäftigten, wie das Leben auf der Erde entstand, wie es sich zu den heutigen Lebensformen entwickelte und wie insbesondere ein so kompliziertes Wesen wie der Mensch entstehen konnte. Der Kongress sollte dazu dienen, die neusten Erkentnisse auszutauschen und zu erörtern. Es handelte sich also weder um einen außergewönlichen Kongress noch um ein außergewöhnliches Thema. Von ihm ging keine Ausstrahlung aus, die nachwirken konnte. Für mich aber wurde dieser Kongress zum Ausganspunkt, weil er zwei Menschen für kurze Zeit zusammen brachte, die beide für meine Geschichte von Bedeutung sind: Alco Sci einerseits und Professor Bucher anderseits.
***
Die auf Darwin zurückgehende Evolutionstheorie bildete die Grundlage der Diskussionen auf dem Kongress. Sie war in der Wissenschaft längst anerkannt; denn es gab zu viele klare Hinweise in der Natur, dass sich die Entwicklung nur danach zugetragen haben konnte. Für die anwesenden Wissenschaftler war sie gewissermaßen das Einmaleins, auf das sie ihre weitere Forschung gründeten.
Wie sich aber die Evolution im Detail tatsächlich abgespielt hatte, war noch teilweise umstritten. Es gab zwei ernst zu nehmende Theorien zur Entwicklung des Lebens vom Einzeller bis zum Menschen. Die eine sagt, dass die Urform des Lebens als primitive Einzelzelle gewissermaßen durch Zufall entstanden sei. Seither habe sie sich ebenfalls durch zufällige Mutationen bei der Fortpflanzung verändert, wobei sich nach dem ,Recht des Stärkeren‘ jeweils diejenige Mutation durchgesetzt habe, die in der Umwelt besser zurecht kam als eine andere, konkurrierende Lebensform. Dadurch seien immer kompliziertere Wesen entstanden, wobei am Ende der Entwicklung nach Jahrmillionen der Mensch stehe. Diese Theorie der natürlichen Auswahl hatte unter den Wissenschaftlern viele Anhänger und war weit herum anerkannt.
Die andere Theorie basiert auf der statistischen Berechnung, dass in der Zeit seit der Entstehung des Lebens bis heute nicht genügend Mutationen durch Zufall möglich gewesen sind, um die heutige Lebensvielfalt entstehen zu lassen. Daher sei die Entwicklung durch weitere Auswahlkriterien einseitig begünstigt worden. Solche Auswahlkriterien sind in der Natur vorhandene Mechanismen, welche die Entwicklung in eine bestimmte Richtung steuern, nämlich in diejenige des intelligenten Lebens. Allerdings sind diese Mechanismen nicht alle bekannt, so dass die Wissenschaft hier immer noch eine große Forschungsaufgabe vor sich hat.
Einige Wissenschaftler nahmen die Tatsache, dass wir noch nicht alle Steuermechanismen kennen, welche die Entwicklung der Lebensformen in Richtung des intelligenten Lebens begünstigen, zum Anlass, das Einwirken einer höheren oder göttlichen Macht zu vermuten. Diese Macht – Gott – habe die Entwicklung gesteuert. Solche Wissenschaftler anerkannten zwar die Ergebnisse der Forschung, sahen aber eine göttliche Hand dort, wo die Wissenschaft keine Erklärung fand.
Diejenigen aber, welche die Evolutionstheorie von Darwin ablehnten, wurden von der Wissenschaft nicht mehr ernst genommen. Es waren meist stark religiöse Menschen. Sie glaubten buchstabengetreu an die Schöpfungsgeschichte der Bibel, indem sie behaupteten, das Leben sei vor einige tausend Jahren durch einen göttlichen Akt erschaffen worden. Der Mensch sei als gottähnliches Wesen vollkommen und im heutigen Endzustand geformt worden und habe sich somit seither nicht verändert bzw. sogar entwickelt. Dass der Mensch vom Affen abstamme, lehnen sie als Gotteslästerung ab. Erstaunlicherweise gab es sogar vereinzelt Hochschulabgänger, welche diese Lehre vertraten, obschon sie keiner der bisherigen Untersuchungen und Erkenntnissen stand hielt. Während dem Kongress in Bern stand sie denn auch nicht zur Diskussion.
Dagegen war eine weitere Frage aktuell. Die Teilnehmer diskutierten zusätzlich, ob sich die Entwicklung des Lebens auch in die Zukunft fortsetzt. Sie fragten sich zum Beispiel, ob sich der Mensch weiterhin verändere und den geänderten Lebensbedingungen anpasse. Und in welcher Richtung diese Änderung gehe. Dabei suchten sie nach Anhaltspunkten, die auf eine Weiterentwicklung der Lebensformen, insbesondere auch des Menschen, in den letzten Jahrzehnten oder Jahrhunderten deuteten. Und sie fragten sich in diesem Zusammenhang, was den Fortschritt des Menschen in den letzten Jahrtausenden vom Höhlenbewohner bis zur heutigen Kommunikationsgesellschaft denn eigentlich bewirkt habe. Waren auch hier schleichende Genmutationen im Spiel? Solche Themen, wenn sie unvoreingenommen diskutiert wurden, waren namentlich für religiöse Menschen schwierig; in der Wissenschaft dagegen waren sie von brennender Aktualität.
***
Der Hörsaal nahm weit mehr als dreißig Personen auf. Die Teilnehmer setzten sich mit großen Zwischenräumen in die Bänke. Meist grüßten sie sich nur flüchtig, kamen sie doch aus aller Welt und kannten einander kaum persönlich. Als Alco Sci den Hörsaal betrat, strich er sich leicht verlegen durchs kurzgeschorene silbergraue Haar und blieb zuerst beim Eingang stehen, um einen Überblick zu gewinnen. Dann entschloss er sich, auf der hintersten Bank gleich neben dem Eingang zu sitzen. Die Veranstaltung wurde in deutscher und englischer Sprache mit Simultanübersetzung durchgeführt, wie er dem Programm entnommen hatte. Deutsch konnte er nicht. Englisch dagegen war seine Muttersprache. Seine Absicht war aber nicht, an den Diskussionen teilzunehmen, seine Meinung zu sagen und andere damit herauszufordern. Seine Meinung passte ohnehin nicht in diesen Personenkreis und hätte nur provoziert. Und überhaupt mochte er die moderne Art der formlosen Diskussion nicht, mit der Vorlesungen heute an den Universitäten aufgelockert wurden. Daher bevorzugte er die hinterste Reihe. Dort wartete er regungslos die Viertelstunde bis zum Veranstaltungsbeginn, ohne seine Umgebung zu beachten oder gar mit jemandem zu sprechen.
Wenige Sekunden vor Beginn kam Professor Bucher herein. Obschon das Thema kaum in sein Fach schlug, hatte er sich aus ähnlichen Motiven wie ich zur Teilnahme entschlossen. Auch ihn interessierte das Thema, und auch er musste nicht vom Ausland anreisen, sondern konnte nur von seinem nahe gelegenen Büro herüberkommen. Oder war er gekommen, weil Alco Sci anwesend war? Er nahm jedenfalls wie dieser in der hintersten Reihe Platz, da er sich verspätet hatte.
Professor Bucher und Alco Sci saßen während mehreren Vorträgen nebeneinander, ohne ein Wort zu wechseln. Bucher war großgewachsen, modern angezogen und wirkte dynamisch und sympathisch. Seine Erscheinung stand in starkem Kontrast zu derjenigen von Alco Sci. Es war denn auch nicht verwunderlich, wenn er die Initiative ergriff und den Versuch machte, seinen etwas eigenartigen Nachbarn anzusprechen. Er erhielt jedoch keine Antwort und stellte deshalb sein Bemühen um ein Gespräch ein.
Das änderte sich schlagartig, als ein Redner sagte: „Die Mutationen von einer Lebensform zu einer anderen vollziehen sich in sehr kleinen zufälligen Schritten. Diese Zufälle können wir über einen größeren Zeitraum zählen. Wir wissen aufgrund der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wie viele Zufälle es für eine ,bessere‘ Mutation braucht, und wir wissen daher auch, dass die Zeit für die Entwicklung des Lebens vom einzelligen Tier bis zum Menschen nicht reichen konnte.“ Der Redner war offensichtlich ein Anhänger der zweiten Theorie, wonach die Entwicklung des Lebens durch in der Natur vorhandene Faktoren gesteuert worden ist. Er ging folgerichtig auf einige Faktoren ein, welche die Entwicklung des Lebens über den Zufall hinaus in einer bestimmten Richtung beeinflusst hätten. Diese Faktoren interessierten Alco Sci. Er hörte aufmerksam zu und schüttelte ab und zu den Kopf, womit er zu erkennen gab, dass er nicht zustimmte. Nach den Ausführungen des Referenten wandte er sich überraschend an Professor Bucher und erklärte ihm spontan seine Bedenken. Darauf begannen die beiden zu diskutieren. Wie ich später leider feststellen musste, hörte niemand diese Diskussion mit; ich konnte sie nicht rekonstruieren, obschon sie für meine Recherchen von großer Bedeutung gewesen wäre. Einzig erfuhr ich von Teilnehmern, dass die Diskussion zwischen Professor Bucher und Alco Sci immer intensiver wurde und schließlich bis in die Pause dauerte. Professor Bucher scheint dabei versucht zu haben, Alco Sci auszuhorchen, um herauszufinden, was er wirklich wusste. Deshalb hielt er mit seinen Gedanken scheinbar nicht zurück, obschon er ansonsten meist sehr zurückhaltend war. Seine Gestik zog dann doch für eine kurze Zeit die Aufmerksamkeit eines anderen Teilnehmers auf sich. Dieser erzählte mir, dass er gehört hatte, wie Alco Sci sagte: „Könnte es wirklich der Mensch selbst gewesen sein, der seine Entwicklung gesteuert hat, indem er aus der Zukunft Einfluss nahm? Ein unheimlicher Gedanke! Eine geradezu phantastische Erklärung des Fortschritts!“ Alco Sci habe gezögert und dann fortgefahren „Immerhin, die physikalischen Kenntnisse dazu wären heute schon vorhanden. Theoretisch wäre also eine solche Erklärung durchaus möglich. Wissen Sie mehr darüber? Erläutern Sie mir Ihre Theorie im Detail.“ Das war alles, was mir von dem Gespräch berichtet wurde.
Professor Bucher gab, so wurde mir weiter zugetragen, keine näheren Erklärungen mehr ab. Als ob er schon zuviel gesagt hätte, habe er die Diskussion unversehens abgebrochen, sich brüsk weggedreht und sei in die Pause verschwunden. Alco Sci habe ihm fast feindselig nachgeblickt und dann noch gemurmelt: „Ich weiß nun genau, wer Sie sind, Bucher. Und ich weiß, dass Sie mehr über unser Thema wissen, als alle anderen hier im Saal. Wir sprechen uns noch.“ Der letzte Satz habe wie eine Drohung geklungen. Dann habe auch er den Saal verlassen und sei nicht mehr zu den weiteren Vorträgen erschienen.
Niemand schien der Szene große Beachtung geschenkt zu haben. Dabei hat aber damals offenbar Alco Sci genau das erkannt, was ich in diesem Buch beschreiben will. Der Mensch hat seine Evolution selbst gemacht! Wenn Alco Sci nur kein einzig auf seinen Vorteil erpichter Einzelgänger, sondern ein kommunikationsfreudiger Wissenschaftler gewesen wäre.
***
Meine späteren Erkundigungen ergaben, dass Alco Sci ein Anhänger der Schöpfungstheorie war – ein „Creationist“, wie die Amerikaner sagen. Er vertrat die biblische Schöpfungslehre, wonach alles – auch der Mensch – in der heutigen vollendeten Form vor einigen Jahrtausenden von Gott geschaffen wurde. Mindestens in der Öffentlichkeit gab er sich als Vertreter dieser Lehre aus. Ob er im Innersten an diese Theorie glaubte, wage ich heute zu bezweifeln. Er hatte immerhin eine fundierte wissenschaftliche Ausbildung, und es ist durchaus denkbar, dass er „seine Religion“ missbrauchte, um seine Interessen zu verfolgen. Er kam aus Petersburg, einem Zentrum der Anhänger der biblischen Schöpfungstheorie, wo sich auch das ‚Creation Museum‘ befindet. Obschon die Wissenschaft eine Interpretation der Schöpfung ablehnt, die allein auf der Bibel beruht, gibt es dennoch erstaunlich viele Leute, die daran glauben. In Europa zwar hält der überwiegende Teil der Bevölkerung und in Kanada und Australien eine große Mehrheit die Evolutionstheorie von Darwin für richtig. In den USA ist das krass anders. Hier glaubt laut verschiedenen Umfragen eine Mehrheit (!), dass Gott den Menschen in seiner heutigen Gestalt vor ca. 10.000 Jahren geschaffen hat. Jede andere Auffassung ist Gotteslästerung. Im Land, wo Freikirchen zu einem riesigen Business mit teuren baulichen Zentren und eigenen Fernsehkanälen geworden sind, profitieren viele vom Geschäft mit der Religion. Ihre Führer halten die religiösen Überzeugungen in der Bevölkerung wach – als Basis für ihr Geschäft. Alco Sci war Teil einer solchen religiösen Unternehmung; er profitierte davon. Er hat wohl nur deshalb die Schöpfungstheorie verteidigt.
DER EINBRUCH
1
Er lag einfach da, bewegungslos – tot – auf dem Boden meines Büros. Es war Heinz Roos, der Assistent von Professor Bucher. Sein Büro lag einen Stock weiter unten, und er hatte eigentlich nichts in meinem Büro zu suchen. Wieso lag er tot ausgerechnet in meinem Büro? fragte ich mich bange. Im Hintergrund beim Fenster hantierten zwei Männer in elastisch anliegenden schwarzen Anzügen. Ihre Köpfe waren mit einem ebenso schwarzen Strumpf überzogen. Sie rollten ein Seil ein. Aus dem Fenster stieg ein dritter, gleich angezogener Mann in den Raum. Woher kommt denn der? fragte ich mich. Das Fenster liegt doch im dritten Stock, da kann man doch nicht einfach von draußen einsteigen. Instinktiv und behutsam zog ich mich aus dem Raum zurück in den Gang. Ich wollte mich zuerst fassen, Zeit gewinnen, überlegen, was ich tun sollte. Gerade als ich hinter dem Türrahmen verschwinden wollte, wurde ich aber entdeckt.
2
Der damalige Morgen hatte wie immer begonnen. Vor Monaten hatte ich mir eine kleine Zweizimmerwohnung im Universitätsquartier gemietet, wo ich als Junggeselle allein lebte. Da ich nicht mehr Student war, sondern als Assistent nun etwas Geld verdiente, konnte ich mir die Wohnung leisten, und sie bedeutete für mich einen enormen Luxus nach der langen Zeit des Studiums in einer Wohngemeinschaft, wo ich ein einziges Zimmer belegte. Aus meiner neuen Wohnung sprang ich um ca. halb sieben die Treppe runter. Wie immer nahm ich zwei Treppentritte auf einmal, wobei ich aus wochenlanger Gewohnheit nie einen Tritt verfehlte, obschon ich mir noch den Schlaf aus den Augen reiben musste. Ich war damals durchtrainiert und trittsicher.
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