Jenseits von Gut und Böse - Friedrich Nietzsche - E-Book

Jenseits von Gut und Böse E-Book

Friedrich Nietzsche

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Beschreibung

Jenseits von Gut und Böse bildet den Übergang von Nietzsches mittlerer, eher dichterisch, positiv geprägten Schaffensperiode zu seinem von philosophischem Denken dominierten späteren Werk. Dies kommt auch im Untertitel des Werks "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" zum Ausdruck. Jenseits von Gut und Böse war das Denken in der prähistorischen Zeit, in der Handlungen nach ihrer Wirkung beurteilt wurden. Friedrich Nietzsche (1844-1900) war ein deutscher klassischer Philologe. Den jungen Nietzsche beeindruckte besonders die Philosophie Schopenhauers. Später wandte er sich von dessen Pessimismus ab und stellte eine radikale Lebensbejahung in den Mittelpunkt seiner Philosophie. Sein Werk enthält scharfe Kritiken an Moral, Religion, Philosophie, Wissenschaft und Formen der Kunst. Die zeitgenössische Kultur war in seinen Augen lebensschwächer als die des antiken Griechenlands. Wiederkehrendes Ziel von Nietzsches Angriffen ist vor allem die christliche Moral sowie die christliche und platonistische Metaphysik. Er stellte den Wert der Wahrheit überhaupt in Frage und wurde damit Wegbereiter postmoderner philosophischer Ansätze. Auch Nietzsches Konzepte des "Übermenschen", des "Willens zur Macht" oder der "ewigen Wiederkunft" geben bis heute Anlass zu Deutungen und Diskussionen.

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Friedrich Nietzsche

Jenseits von Gut und Böse

Vorspiel einer Philosophie der Zukunft: Der freie Geist, Das religiöse Wesen, Sprüche und Zwischenspiele, Zur Naturgeschichte der Moral, Wir Gelehrten, Unsere Tugenden, Völker und Vaterländer
e-artnow, 2018 Kontakt: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Vorrede.
Erstes Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen.
Drittes Hauptstück: das religiöse Wesen.
Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele.
Fünftes Hauptstück: zur Naturgeschichte der Moral.
Sechstes Hauptstück: wir Gelehrten.
Siebentes Hauptstück: unsere Tugenden.
Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer.
Aus hohen Bergen. Nachgesang

Vorrede.

Inhaltsverzeichnis

Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist —, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen? Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen: — und jede Art Dogmatik steht heute mit betrübter und muthloser Haltung da. Wenn sie überhaupt noch steht! Denn es giebt Spötter, welche behaupten, sie sei gefallen, alle Dogmatik liege zu Boden, mehr noch, alle Dogmatik liege in den letzten Zügen. Ernstlich geredet, es giebt gute Gründe zu der Hoffnung, dass alles Dogmatisiren in der Philosophie, so feierlich, so end- und letztgültig es sich auch gebärdet hat, doch nur eine edle Kinderei und Anfängerei gewesen sein möge; und die Zeit ist vielleicht sehr nahe, wo man wieder und wieder begreifen wird, was eigentlich schon ausgereicht hat, um den Grundstein zu solchen erhabenen und unbedingten Philosophen-Bauwerken abzugeben, welche die Dogmatiker bisher aufbauten, — irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher Zeit (wie der Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften), irgend ein Wortspiel vielleicht, eine Verführung von Seiten der Grammatik her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen. Die Philosophie der Dogmatiker war hoffentlich nur ein Versprechen über Jahrtausende hinweg: wie es in noch früherer Zeit die Astrologie war, für deren Dienst vielleicht mehr Arbeit, Geld, Scharfsinn, Geduld aufgewendet worden ist, als bisher für irgend eine wirkliche Wissenschaft: — man verdankt ihr und ihren „überirdischen“ Ansprüchen in Asien und Ägypten den grossen Stil der Baukunst. Es scheint, dass alle grossen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflössende Fratzen über die Erde hinwandeln müssen: eine solche Fratze war die dogmatische Philosophie, zum Beispiel die Vedanta-Lehre in Asien, der Platonismus in Europa. Seien wir nicht undankbar gegen sie, so gewiss es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum gewesen ist, nämlich Plato’s Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich. Aber nunmehr, wo er überwunden ist, wo Europa von diesem Alpdrucke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen — Schlafs geniessen darf, sind wir, deren Aufgabe das Wachsein selbst ist, die Erben von all der Kraft, welche der Kampf gegen diesen Irrthum grossgezüchtet hat. Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf stellen und das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato gethan hat; ja man darf, als Arzt, fragen: „woher eine solche Krankheit am schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch der böse Sokrates verdorben? wäre Sokrates doch der Verderber der Jugend gewesen? und hätte seinen Schierling verdient?“ — Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s „Volk“ zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden — denn Christenthum ist Platonismus für’s „Volk“ — hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europäische Mensch empfindet diese Spannung als Nothstand; und es ist schon zwei Mal im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch den Jesuitismus, zum zweiten Mal durch die demokratische Aufklärung: — als welche mit Hülfe der Pressfreiheit und des Zeitunglesens es in der That erreichen dürfte, dass der Geist sich selbst nicht mehr so leicht als „Noth“ empfindet! (Die Deutschen haben das Pulver erfunden — alle Achtung! aber sie haben es wieder quitt gemacht — sie erfanden die Presse.) Aber wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir guten Europäer und freien, sehr freien Geister — wir haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel.....

Sils-Maria, Oberengadin

im Juni 1885.

Erstes Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen.

Inhaltsverzeichnis
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1.

Inhaltsverzeichnis

Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt! Welche wunderlichen schlimmen fragwürdigen Fragen! Das ist bereits eine lange Geschichte, — und doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat? Was Wunder, wenn wir endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das Fragen lernen? Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich „zur Wahrheit“? — In der That, wir machten lange Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, — bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warumnicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit? — Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin, — oder waren wir’s, die vor das Problem hin traten? Wer von uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen. — Und sollte man’s glauben, dass es uns schliesslich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt, — als sei es von uns zum ersten Male gesehn, in’s Auge gefasst, gewagt? Denn es ist ein Wagnis dabei, und vielleicht giebt es kein grösseres.

2.

Inhaltsverzeichnis

„Wie könnte Etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die Wahrheit aus dem Irrthume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen zur Täuschung? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze? Oder das reine sonnenhafte Schauen des Weisen aus der Begehrlichkeit? Solcherlei Entstehung ist unmöglich; wer davon träumt, ein Narr, ja Schlimmeres; die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, eigenen Ursprung haben, — aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie unableitbar! Vielmehr im Schoosse des Sein’s, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im „Ding an sich“ — da muss ihr Grund liegen, und sonst nirgendswo!“ — Diese Art zu urtheilen macht das typische Vorurtheil aus, an dem sich die Metaphysiker aller Zeiten wieder erkennen lassen; diese Art von Werthschätzungen steht im Hintergrunde aller ihrer logischen Prozeduren; aus diesem ihrem „Glauben“ heraus bemühn sie sich um ihr „Wissen“, um Etwas, das feierlich am Ende als „die Wahrheit“ getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werthe. Es ist auch den Vorsichtigsten unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu zweifeln, wo es doch am nöthigsten war: selbst wenn sie sich gelobt hatten „de omnibus dubitandum“. Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorlaufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht! — Aber wer ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern! Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben als die bisherigen, — Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande. — Und allen Ernstes gesprochen: ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen.

3.

Inhaltsverzeichnis

Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn habe, sage ich mir: man muss noch den grössten Theil des bewussten Denkens unter die Instinkt-Thätigkeiten rechnen, und sogar im Falle des philosophischen Denkens; man muss hier umlernen, wie man in Betreff der Vererbung und des „Angeborenen“ umgelernt hat. So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vor- und Fortgange der Vererbung in Betracht kommt: ebenso wenig ist „Bewusstsein“ in irgend einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt, — das meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. Zum Beispiel, dass das Bestimmte mehr werth sei als das Unbestimmte, der Schein weniger werth als die „Wahrheit“: dergleichen Schätzungen könnten, bei aller ihrer regulativen Wichtigkeit für uns, doch nur Vordergrunds-Schätzungen sein, eine bestimmte Art von niaiserie, wie sie gerade zur Erhaltung von Wesen, wie wir sind, noth thun mag. Gesetzt nämlich, dass nicht gerade der Mensch das „Maass der Dinge“ ist.....

4.

Inhaltsverzeichnis

Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen Urtheile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, — dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.

5.

Inhaltsverzeichnis

Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb spöttisch zu blicken, ist nicht, dass man wieder und wieder dahinter kommt, wie unschuldig sie sind — wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit — sondern dass es bei ihnen nicht redlich genug zugeht: während sie allesammt einen grossen und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird. Sie stellen sich sämmtlich, als ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik entdeckt und erreicht hätten (zum Unterschiede von den Mystikern jeden Rangs, die ehrlicher als sie und tölpelhafter sind — diese reden von „Inspiration“ — ): während im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine „Eingebung“, zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt wird: — sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen, und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurtheile, die sie „Wahrheiten“ taufen — und sehr ferne von der Tapferkeit des Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt, sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Uebermuth und um ihrer selbst zu spotten. Die ebenso steife als sittsame Tartüfferie des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege lockt, welche zu seinem „kategorischen Imperativ“ führen, richtiger verführen — dies Schauspiel macht uns Verwöhnte lächeln, die wir keine kleine Belustigung darin finden, den feinen Tücken alter Moralisten und Moralprediger auf die Finger zu sehn. Oder gar jener Hocuspocus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie — „die Liebe zu seiner Weisheit“ zuletzt, das Wort richtig und billig ausgelegt — wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von vornherein den Muth des Angreifenden einzuschüchtern, der auf diese unüberwindliche Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen würde: — wie viel eigne Schüchternheit und Angreifbarkeit verräth diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken!

6.

Inhaltsverzeichnis

Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires; insgleichen, dass die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist. In der That, man thut gut (und klug), zur Erklärung davon, wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral will es (will er —) hinaus? Ich glaube demgemäss nicht, dass ein „Trieb zur Erkenntniss“ der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss (und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade hier als inspirirende Genien (oder Dämonen und Kobolde — ) ihr Spiel getrieben haben mögen, wird finden, dass sie Alle schon einmal Philosophie getrieben haben, — und dass jeder Einzelne von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu philosophiren. — Freilich: bei den Gelehrten, den eigentlich wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn — „besser“, wenn man will —, da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben, irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, ohne dass die gesammten übrigen Triebe des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen „Interessen“ des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders, etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik; ja es ist beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der „hoffnungsvolle“ junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner oder Chemiker macht: — es bezeichnet ihn nicht, dass er dies oder jenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugniss dafür ab, wer er ist — das heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind.

7.

Inhaltsverzeichnis

Wie boshaft Philosophen sein können! Ich kenne nichts Giftigeres als den Scherz, den sich Epicur gegen Plato und die Platoniker erlaubte: er nannte sie Dionysiokolakes. Das bedeutet dem Wortlaute nach und im Vordergrunde „Schmeichler des Dionysios“, also Tyrannen-Zubehör und Speichellecker; zu alledem will es aber noch sagen „das sind Alles Schauspieler, daran ist nichts Ächtes“ (denn Dionysokolax war eine populäre Bezeichnung des Schauspielers). Und das Letztere ist eigentlich die Bosheit, welche Epicur gegen Plato abschoss: ihn verdross die grossartige Manier, das Sich-in-Scene-Setzen, worauf sich Plato sammt seinen Schülern verstand, — worauf sich Epicur nicht verstand! er, der alte Schulmeister von Samos, der in seinem Gärtchen zu Athen versteckt sass und dreihundert Bücher schrieb, wer weiss? vielleicht aus Wuth und Ehrgeiz gegen Plato? — Es brauchte hundert Jahre, bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur gewesen war. — Kam es dahinter? —

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Inhaltsverzeichnis

In jeder Philosophie giebt es einen Punkt, wo die „Überzeugung“ des Philosophen auf die Bühne tritt: oder, um es in der Sprache eines alten Mysteriums zu sagen:

adventavit asinus pulcher et fortissimus.

9.

Inhaltsverzeichnis

„Gemäss der Natur“ wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht — wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz leben? Leben — ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ „gemäss der Natur leben“ bedeute im Grunde soviel als „gemäss dem Leben leben“ — wie könntet ihr’s denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müsst? — In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass sie „der Stoa gemäss“ Natur sei und möchtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen — als eine ungeheure ewige Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus! Mit aller eurer Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so hypnotisch-starr, die Natur falsch, nämlich stoisch zu sehn, bis ihr sie nicht mehr anders zu sehen vermögt, — und irgend ein abgründlicher Hochmuth giebt euch zuletzt noch die Tollhäusler-Hoffnung ein, dass, weil ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht — Stoicismus ist Selbst-Tyrannei —, auch die Natur sich tyrannisiren lässt: ist denn der Stoiker nicht ein Stück Natur?..... Aber dies ist eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur „Schaffung der Welt“, zur causa prima.

10.

Inhaltsverzeichnis

Der Eifer und die Feinheit, ich möchte sogar sagen: Schlauheit, mit denen man heute überall in Europa dem Probleme „von der wirklichen und der scheinbaren Welt“ auf den Leib rückt, giebt zu denken und zu horchen; und wer hier im Hintergrunde nur einen „Willen zur Wahrheit“ und nichts weiter hört, erfreut sich gewiss nicht der schärfsten Ohren. In einzelnen und seltenen Fällen mag wirklich ein solcher Wille zur Wahrheit, irgend ein ausschweifender und abenteuernder Muth, ein Metaphysiker-Ehrgeiz des verlornen Postens dabei betheiligt sein, der zuletzt eine Handvoll „Gewissheit“ immer noch einem ganzen Wagen voll schöner Möglichkeiten vorzieht; es mag sogar puritanische Fanatiker des Gewissens geben, welche lieber noch sich auf ein sicheres Nichts als auf ein ungewisses Etwas sterben legen. Aber dies ist Nihilismus und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele: wie tapfer auch die Gebärden einer solchen Tugend sich ausnehmen mögen. Bei den stärkeren, lebensvolleren, nach Leben noch durstigen Denkern scheint es aber anders zu stehen: indem sie Partei gegen den Schein nehmen und das Wort „perspektivisch“ bereits mit Hochmuth aussprechen, indem sie die Glaubwürdigkeit ihres eigenen Leibes ungefähr so gering anschlagen wie die Glaubwürdigkeit des Augenscheins, welcher sagt „die Erde steht still“, und dermaassen anscheinend gut gelaunt den sichersten Besitz aus den Händen lassen (denn was glaubt man jetzt sicherer als seinen Leib?) wer weiss, ob sie nicht im Grunde Etwas zurückerobern wollen, das man ehemals noch sicherer besessen hat, irgend Etwas vom alten Grundbesitz des Glaubens von Ehedem, vielleicht „die unsterbliche Seele“, vielleicht „den alten Gott“, kurz, Ideen, auf welchen sich besser, nämlich kräftiger und heiterer leben liess als auf den „modernen Ideen“? Es ist Misstrauen gegen diese modernen Ideen darin, es ist Unglauben an alles Das, was gestern und heute gebaut worden ist; es ist vielleicht ein leichter Überdruss und Hohn eingemischt, der das bric-à-brac von Begriffen verschiedenster Abkunft nicht mehr aushält, als welches sich heute der sogenannte Positivismus auf den Markt bringt, ein Ekel des verwöhnteren Geschmacks vor der Jahrmarkts-Buntheit und Lappenhaftigkeit aller dieser Wirklichkeits-Philosophaster, an denen nichts neu und ächt ist als diese Buntheit. Man soll darin, wie mich dünkt, diesen skeptischen Anti-Wirklichen und Erkenntniss-Mikroskopikern von heute Recht geben: ihr Instinkt, welcher sie aus der modernen Wirklichkeit hinwegtreibt, ist unwiderlegt, — was gehen uns ihre rückläufigen Schleichwege an! Das Wesentliche an ihnen ist nicht, dass sie „zurück“ wollen: sondern, dass sie — weg wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft mehr: und sie würden hinaus wollen, — und nicht zurück! —

11.

Inhaltsverzeichnis

Es scheint mir, dass man jetzt überall bemüht ist, von dem eigentlichen Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie ausgeübt hat, den Blick abzulenken und namentlich über den Werth, den er sich selbst zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und zuerst stolz auf seine Kategorientafel, er sagte mit dieser Tafel in den Händen: „das ist das Schwerste, was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte“. — Man verstehe doch dies „werden konnte“! er war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen, das Vermögen zu synthetischen Urteilen a priori, entdeckt zu haben. Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog: aber die Entwicklung und rasche Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze und an dem Wetteifer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres zu entdecken — und jedenfalls „neue Vermögen“! — Aber besinnen wir uns: es ist an der Zeit. Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? fragte sich Kant, — und was antwortete er eigentlich? Vermöge eines Vermögens: leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne, dass man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche in einer solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über dieses neue Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant auch noch ein moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte: — denn damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht „real-politisch“. — Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie; alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen alsbald in die Büsche, — alle suchten nach „Vermögen“. Und was fand man nicht Alles — in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies, hineinsang, damals, als man „finden“ und „erfinden“ noch nicht auseinander zu halten wusste! Vor Allem ein Vermögen für’s „Übersinnliche“: Schelling taufte es die intellektuale Anschauung und kam damit den herzlichsten Gelüsten seiner im Grunde frommgelüsteten Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen übermüthigen und schwärmerischen Bewegung, welche Jugend war, so kühn sie sich auch in graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht thun, als wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer Entrüstung behandelt; genug, man wurde älter, — der Traum verflog. Es kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb: man reibt sie sich heute noch. Man hatte geträumt: voran und zuerst — der alte Kant. „Vermöge eines Vermögens“ — hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn das — eine Antwort? Eine Erklärung? Oder nicht vielmehr nur eine Wiederholung der Frage? Wie macht doch das Opium schlafen? „Vermöge eines Vermögens“, nämlich der virtus dormitiva — antwortet jener Arzt bei Molière,

quia est in eo virtus dormitiva, cujus est natura sensus assoupire.

Aber dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage „wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“ durch eine andre Frage zu ersetzen „warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?“ — nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen; weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile sein könnten! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich: synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht „möglich sein“: wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens gehört. — Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu gedenken, welche „die deutsche Philosophie“ — man versteht, wie ich hoffe, ihr Anrecht auf Gänsefüsschen? — in ganz Europa ausgeübt hat, so zweifle man nicht, dass eine gewisse virtus dormitiva dabei betheiligt war: man war entzückt, unter edlen Müssiggängern, Tugendhaften, Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und politischen Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen Philosophie, ein Gegengift gegen den noch übermächtigen Sensualismus zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses hinüberströmte, kurz — „sensus assoupire“.....

12.

Inhaltsverzeichnis

Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu den bestwiderlegten Dingen, die es giebt; und vielleicht ist heute in Europa Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum bequemen Hand- und Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der Ausdrucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen — Dank vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde nicht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde „feststand“, abschwören, dem Glauben an den „Stoff“, an die „Materie“, an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom: es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist. — Man muss aber noch weiter gehn und auch dem „atomistischen Bedürfnisse“, das immer noch ein gefährliches Nachleben führt, auf Gebieten, wo es Niemand ahnt, gleich jenem berühmteren „metaphysischen Bedürfnisse“ — den Krieg erklären, einen schonungslosen Krieg auf’s Messer: — man muss zunächst auch jener anderen und verhängnissvolleren Atomistik den Garaus machen, welche das Christenthum am besten und längsten gelehrt hat, der Seelen-Atomistik. Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen Glauben zu bezeichnen, der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt: diesen Glauben soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen! Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nöthig, „die Seele“ selbst dabei los zu werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten: wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, welche, kaum dass sie an „die Seele“ rühren, sie auch verlieren. Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen: und Begriffe wie „sterbliche Seele“ und „Seele als Subjekts-Vielheit“ und „Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben. Indem der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der bisher um die Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen Üppigkeit wucherte, hat er sich freilich selbst gleichsam in eine neue Oede und ein neues Misstrauen hinaus gestossen — es mag sein, dass die älteren Psychologen es bequemer und lustiger hatten —: zuletzt aber weiss er sich eben damit auch zum Erfinden verurtheilt — und, wer weiss? vielleicht zum Finden. —

13.

Inhaltsverzeichnis

Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen — Leben selbst ist Wille zur Macht —: die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. — Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Principien! — wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza’s — ). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich Principien-Sparsamkeit sein muss.

14.

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Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns! mit Verlaub gesagt) und nicht eine Welt-Erklärung ist: aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und Finger für sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack bezaubernd, überredend, überzeugend, — es folgt ja instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus. Was ist klar, was „erklärt“? Erst Das, was sich sehen und tasten lässt, — bis so weit muss man jedes Problem treiben. Umgekehrt: genau im Widerstreben gegen die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen Denkweise, welche eine vornehme Denkweise war, — vielleicht unter Menschen, die sich sogar stärkerer und anspruchsvollerer Sinne erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen höheren Triumph darin zu finden wussten, über diese Sinne Herr zu bleiben: und dies mittels blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie über den bunten Sinnen-Wirbel — den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte — warfen. Es war eine andre Art Genuss in dieser Welt-Überwältigung und Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und Antiteleologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip der „kleinstmöglichen Kraft“ und der grösstmöglichen Dummheit. „Wo der Mensch nichts mehr zu sehen und zu greifen hat, da hat er auch nichts mehr zu suchen“ — das ist freilich ein anderer Imperativ als der Platonische, welcher aber doch für ein derbes arbeitsames Geschlecht von Maschinisten und Brückenbauern der Zukunft, die lauter grobe Arbeit abzuthun haben, gerade der rechte Imperativ sein mag.

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Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man darauf halten, dass die Sinnesorgane nicht Erscheinungen sind im Sinne der idealistischen Philosophie: als solche könnten sie ja keine Ursachen sein! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht zu sagen als heuristisches Princip. — Wie? und Andere sagen gar, die Aussenwelt wäre das Werk unsrer Organe? Aber dann wäre ja unser Leib, als ein Stück dieser Aussenwelt, das Werk unsrer Organe! Aber dann wären ja unsre Organe selbst — das Werk unsrer Organe! Dies ist, wie mir scheint, eine gründliche reductio ad absurdum: gesetzt, dass der Begriff causa sui etwas gründlich Absurdes ist. Folglich ist die Aussenwelt nicht das Werk unsrer Organe —?

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Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es „unmittelbare Gewissheiten“ gebe, zum Beispiel „ich denke“, oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer’s war, „ich will“: gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als „Ding an sich“, und weder von Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Dass aber „unmittelbare Gewissheit“, ebenso wie „absolute Erkenntniss“ und „Ding an sich“, eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal wiederholen: man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte losmachen! Mag das Volk glauben, dass Erkennen ein zu Ende-Kennen sei, der Philosoph muss sich sagen: „wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz „ich denke“ ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, — zum Beispiel, dass ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es ein „Ich“ giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, — dass ich weiss, was Denken ist. Denn wenn ich nicht darüber mich schon bei mir entschieden hätte, wonach sollte ich abmessen, dass, was eben geschieht, nicht vielleicht „Wollen“ oder „Fühlen“ sei? Genug, jenes „ich denke“ setzt voraus, dass ich meinen augenblicklichen Zustand mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne, vergleiche, um so festzusetzen, was er ist: wegen dieser Rückbeziehung auf anderweitiges „Wissen“ hat er für mich jedenfalls keine unmittelbare „Gewissheit“. — An Stelle jener „unmittelbaren Gewissheit“, an welche das Volk im gegebenen Falle glauben mag, bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts, welche heissen: „Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an Ursache und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als Gedanken-Ursache zu reden?“ Wer sich mit der Berufung auf eine Art Intuition der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt: „ich denke, und weiss, dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist“ — der wird bei einem Philosophen heute ein Lächeln und zwei Fragezeichen bereit finden. „Mein Herr, wird der Philosoph vielleicht ihm zu verstehen geben, es ist unwahrscheinlich, dass Sie sich nicht irren: aber warum auch durchaus Wahrheit?“ —

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Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, — nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn „er“ will, und nicht wenn „ich“ will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt „ich“ ist die Bedingung des Prädikats „denke“. Es denkt: aber dass dies „es“ gerade jenes alte berühmte „Ich“ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine „unmittelbare Gewissheit“. Zuletzt ist schon mit diesem „es denkt“ zu viel gethan: schon dies „es“ enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen Gewohnheit „Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist, folglich —“. Ungefähr nach dem gleichen Schema suchte die ältere Atomistik zu der „Kraft“, die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das Atom; strengere Köpfe lernten endlich ohne diesen „Erdenrest“ auskommen, und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine „es“ (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtigt hat) auszukommen.

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An einer Theorie ist wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie widerlegbar ist: gerade damit zieht sie feinere Köpfe an. Es scheint, dass die hundertfach widerlegte Theorie vom „freien Willen“ ihre Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt —: immer wieder kommt Jemand und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen.

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Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen, der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt, ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen eben zu thun pflegen: dass er ein Volks-Vorurtheil übernommen und übertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, — und eben im Einen Worte steckt das Volks-Vorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht der Philosophen Herr geworden ist. Seien wir also einmal vorsichtiger, seien wir „unphilosophisch“ —, sagen wir: in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem „weg“ und „hin“ selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir „Arme und Beine“ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir „wollen“, sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken; — und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem „Wollen“ abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando’s. Das, was „Freiheit des Willens“ genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss: „ich bin frei, „er“ muss gehorchen“ — dies Bewusstsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte Werthschätzung „jetzt thut dies und nichts Anderes Noth“, jene innere Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der will —, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am Willen ist, — an diesem so vielfachen Dinge, für welches das Volk nur Ein Wort hat: insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind, und als Gehorchende die Gefühle des Zwingens, Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche sofort nach dem Akte des Willens zu beginnen pflegen; insofern wir andererseits die Gewohnheit haben, uns über diese Zweiheit vermöge des synthetischen Begriffs „ich“ hinwegzusetzen, hinwegzutäuschen, hat sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selbst angehängt, — dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt, Wollen genüge zur Aktion. Weil in den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion erwartet werden durfte, so hat sich der Anschein in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine Nothwendigkeit von Wirkung