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Mut, Mord, Manipulation – das nächste Drehbuch wird perfekt Vikki Victoria ahnt nichts Gutes, als Ex-Freund und Biker-Anführer Wolf Wolf ihr gesteht, während einer Tierschutz-Intervention ordentlich Mist gebaut, genauer einen Mord begangen zu haben. Daraufhin ist nicht nur er, sondern seine gesamte Switch Blades Crew untergetaucht, quasi spurlos verschwunden. Biker, Gewalt und Tierschutz – das ist auch der perfekte Stoff für Bestsellerautor Lars Kessler. Für seine neue Streaming-Doku engagiert er den 22-jährigen Mario, undercover bestimmte Leute zu filmen. Darunter auch Vikki samt (Ex-)Verflossenen, Freunden, Feinden und Dalmatiner. Die Sache wird brisant und zur Gefahr für alle Beteiligten: Wer wird am Ende wen in einem gut ausgeleuchteten Spektakel vernichten – und warum?
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Seitenzahl: 451
Vikki Victoria schwankt zwischen Sorge und Entrüstung: Ist es wirklich möglich, dass ihr Ex-Freund, Biker-Anführer Wolf Wolff, im Rahmen einer Tierschutz-Intervention nicht nur einen Mord begangen hat, sondern auch noch ein Verhältnis mit der undurchsichtigen Madame Marougé hatte, die so alt wie Vikkis Mutter (!) ist? Blöd, dass sie ihn gerade nicht selbst befragen kann. Denn Wolf ist mitsamt seiner Biker- Crew untergetaucht …
… allerdings nicht komplett von der Bildfläche verschwunden: Denn Bestsellerautor Lars Kessler wittert eine knackige Storyline für seine neue Streaming-Doku. Gemeinsam mit seinem Assistenten Mario, sammelt er undercover fleißig Material von den Bikern und zieht dabei auch Vikki Victoria in einen Strudel von skrupellosen Tierversuchen und mörderischen Machenschaften.
Gloria Gray
Ein Zwischenfall für Vikki Victoria
Krimi
»Ein ewig Rätsel will ich bleiben mir und anderen.«
Ludwig II.
»Sie wären überrascht, wie viel es kostet, so billig auszusehen.«
Dolly Parton
Der alte Trottel steigt zu Mario in den Wagen, lässt sich schnaufend auf den Beifahrersitz plumpsen und knallt die Tür zu. Hoffentlich verschüttet er nichts aus seinem mistigen Starbucks-Kaffeebecher, denkt Mario.
»Hat sich irgendwas getan?«, fragt der Alte und justiert seine potthässliche Armbanduhr. Mario schüttelt den Kopf. Was soll sich auch schon getan haben? Mit kaum merklich hochgezogener Oberlippe starrt er wieder nach vorn durch die Windschutzscheibe. Ehrlich, höflicher geht’s nun wirklich nicht.
Wozu sind wir überhaupt hier?, möchte er den nach kaltem Rauch miefenden Kessler anblaffen. Und das nicht zum ersten Mal an diesem Abend. Seit Stunden parken sie schräg gegenüber von diesem Einzelhaus im Siebzigerjahre-Stil in Trudering, observieren, warten, und nichts rührt sich. Gar nichts. Kein Wunder, in einer todelnden Nebenstraße im Münchner Osten, in der grünstichigen Dunkelheit, spätabends um halb elf. Da dürfte auch die nächsten hundert Jahre kaum Relevantes zu erwarten sein, was für eine Streamflexx-Doku von Belang sein könnte!
Mehr und mehr zweifelt Mario an Kesslers Geschichte, dass der mit dem Streaming-Anbieter einen Vertrag über eine achtteilige Dokumentation abgeschlossen hat. Ist wahrscheinlich einfach schamlos gelogen, um Marios Motivation zu steigern.
Oder Kessler hat schlicht und ergreifend den Verstand verloren.
Wovon genau diese ominöse Doku handeln soll, verschweigt er Mario nämlich. Es sei sicherer, wenn er »vorerst nur den tagesaktuellen Anweisungen« Kesslers folge, »noch ohne das große Ganze zu kennen«. Ach wirklich? Wie geheimnisvoll! Wird am Ende schon so ein enttäuschender Quark sein.
Als Kessler vorhin mit seinem eigenen Wagen zum Kaffeeholen und Pinkeln gefahren ist, hat der auf dem Posten gebliebene Mario mal eben kurz sein Auto verlassen, um einen Blick auf das Klingelschild am Gartenzaun des Hauses zu werfen, vor dem sie jetzt bereits seit Stunden ausharren. Aus reinem Interesse, vielleicht ließe sich daraus was rückschließen. Dort steht lediglich der Name Maruschka. Sagt ihm nichts. Kann er sich auch nicht merken. Schade. Was hatte er erwartet?
Der Kaffeegeruch im Wageninneren wird an nervtötender Intensität nur noch von Kesslers Schlürfgeräuschen überboten. Scheint heiß zu sein, die schwarze Brühe! Alte Männer klingen einfach anders als junge. Schon das Schlucken, das Atmen, das Hüsteln. Die ganze anstrengende Aura des Verfalls schwingt mit. Geht Mario fürchterlich auf die Nerven. Eigenartig, dass er so eine Art Grundverachtung nicht unterdrücken kann.
Beide Männer, der junge wie der alte, warten weiter schweigend in dem japanischen Zweitürer. Monotonie in Zeitlupe. Vorerst haben sie sich leergelabert. Und das, obwohl Kessler ohne Punkt und Komma reden kann. Er ist einer von denen, die immer genau wissen, wie der Hase läuft. Es will also was heißen, wenn er mal die Pappen hält. Das Radio ist auch aus.
»Wenn sich was rührt, sofort draufhalten«, erinnert Kessler Mario etwa zwanzig Minuten später, wohl vor allem, um die Stille zu durchbrechen. Stunden nebeneinander im Auto zu verbringen, schlaucht. Da verliert jeder dem anderen gegenüber an Würde, was immer an Würde noch vorhanden gewesen sein mag.
Apropos Würde: Ob Kessler vorhin Marios Popelrollerei bemerkt hat? Und wie er das feste Klümpchen diskret in den Fußraum des Wagens geschnipst hat?
»Yo«, entgegnet Mario tonlos. Letztlich ist Kessler ein nicer Dude, menschlich okay. Guter Geselle, gute Ansichten. Ein bisschen abgerissen und verkommen vielleicht, so ein sechzigjähriger, drahtiger Berufsjugendlicher, der mit seinen Strubbelhaaren und der rauen Qualmerstimme auf intellektuell macht, dabei aber fast eher wie ein Obdachloser wirkt. Seine gerötete Haut sieht aus, als würde er sie sich permanent mit Peelingsalz einreiben, und seine dünnen Streichholzbeine belegen, dass er keinen Drink verschmäht. Ist halt eine Typfrage. Stoppelige Wichtigtuer, irgendwo zwischen Macho und Hippie, Oldschool-Sofarebellen, denen man ihre vierzigjährige Raucherkarriere ansieht und die Sitzpinkeln noch für entmannend halten, für so was wird’s schon auch Frauen geben – oder Männer, die das mögen.
Mario hatte nicht lange überlegt, als Kessler ihn vor zehn, elf, keine Ahnung, vierzehn Tagen anrief, um ihm den Vorschlag für eine Zusammenarbeit zu unterbreiten. Er war verwundert, nach längerer Zeit wieder von Kessler zu hören, und dann auch noch in solch einer Angelegenheit, aber nachdem er sich erkundigt hatte, was an Kohle drin sei (’n Fuffi pro Stunde, nicht schlecht) und ob es nicht hinderlich sei, dass er mit Filmarbeiten bislang doch nix am Hut gehabt habe (»Überhaupt kein Problem«), schlug er ein.
Ihm blieb, offen gesagt, auch nicht recht viel anderes übrig.
Seine gerade mal seit einem halben Jahr existierende Privatdetektei lief nicht einfach nur beschissen, was immerhin geheißen hätte, dass sich ab und an mal ein kleiner Auftrag in seine Zwanzig-Quadratmeter-Kanzlei verirrt hätte. Nein. Sein Laden lief mehr als beschissen. Seit Eröffnung hatte er sage und schreibe einen mageren Auftrag an Land gezogen und bei der Abrechnung jener mühsamen Ermittlung (der Fahndung nach der abtrünnigen Schwester eines fragwürdigen Geschäftsmanns, den Mario eher für einen gewieften Pädo als für einen besorgten Bruder hielt) sogar noch Zahlungsprobleme mit dem Kunden gehabt, was bedeutete, dass er auf einem Drittel des in Rechnung gestellten Betrags sitzen blieb.
Natürlich hätte Mario mit seinen fünfundzwanzig Jahren noch ausreichend Zeit, sein im vergangenen Jahr abgebrochenes Bachelorstudium wiederaufzunehmen, auch wenn er dank expliziter Nichtvorbereitung gleich mal mit Pauken und Trompeten durch die erste Vorprüfung gefallen war. Schriftzeug ist halt null sein Ding, also fuck it.
Sehr wenig ist Marios Ding, muss man dazusagen, und er ist nicht so dumm, sich darüber nicht im Klaren zu sein.
Die Gründung der Privatdetektei Sulfak Investigationen war Marios einzige Berufsidee, die er irgendwie mit sich in Einklang bringen konnte. Hat nicht geklappt, sei’s drum, fuck it zum Zweiten.
Dann war auch schon vor zwei Wochen Kesslers Anruf gekommen. Definitiv nicht ungelegen.
»Ich würde gern im Zweierteam mit dir eine große Doku über ein besonders heißes Eisen drehen«, hatte Kessler angedeutet und hinzugefügt, das sei alles top secret und von der Brisanz her nicht ganz ohne. »Eine Vertrauenssache.« Sie würden mit ihren Handys filmen, qualitativ überhaupt kein Problem. »Mittlerweile werden ganze Spielfilme mit iPhones gedreht.« Schon klar. »Ich brauche einen Kompagnon. Hättest du Lust?« Kessler hatte wohl vermutet, dass Mario, nun, da er zum frischgebackenen Neueröffnungsdetektei-Loser aufgestiegen war, der verzagt in seiner floppenden Privatermittlerbude sitzt, jedes noch so dubiose Handlanger-Jobangebot annehmen würde und notfalls auch dazu bereit wäre, ein paar Einstellungen mit der Handlampe auszuleuchten oder sonst welche Hiwi-Tätigkeiten durchzuführen. Da hatte er sich aber geschnitten, der dreiste Kessler … Nein, doch nicht. Mario sagte zu. Natürlich. Er hatte Lars Kessler ja schon damals, nach ihrer ersten Begegnung vor ein paar Jahren, gegoogelt. Und das Ergebnis dieses Onlinechecks war echt überraschend gewesen. Lars Kessler hatte sich als ehemaliger Journalist und mehrfacher Bestsellerautor herausgestellt, der sich legendäre Kriminalfälle vornahm, daraus kommerzielle Thriller strickte, indem er sich auf seinerzeitige Ungereimtheiten und Ermittlungsfehler im jeweiligen Fall konzentrierte und diese mit Originaldokumenten belegte. Von den Verwicklungen des Geheimdienstes in das Wiesn-Attentat von 1980 über das NSU-Debakel und den polizeiinternen Drogenskandal um die Dreckige Siebzehn bis hin zur Wirecard-Affäre, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Kessler hatte Dutzende solcher Reality-Aufdeckungsromane veröffentlicht.
Macht man mit so was eigentlich ein Vermögen, oder ist das letztlich auch nur ziemlich überschaubar?
Mario hatte sich eines der vielen Bücher Kesslers online gratis gerippt, musste aber nach dreißig Seiten abbrechen. Zu öde. Er kennt sich mit Büchern zwar nicht die Bohne aus, hat, ehrlich gesagt, noch nie einen Roman zu Ende gelesen (er bevorzugt TikTok), aber Kesslers Schreibe fand er irgendwie auffällig kacke.
Dennoch: Mit seinem Konzept schien dieser Typ ziemlich erfolgreich zu fahren. Von daher konnte sich das mit dem angeblichen Streamflexx-Deal, den er erwähnt hatte, durchaus im Bereich des Möglichen bewegen. Was Mario ausreichend beruhigte und den Ausschlag gab zuzusagen. Die Kohle stimmt. Und der Rest kann Mario doch schlussendlich egal sein. Besser, als auch nur einen einzigen Tag länger in seiner Detektei auf der Schwanthalerhöhe rumzusitzen und die eigene Firmenpleite abzuwarten.
Und da wären wir nun. Trudering bei Nacht.
Jetzt hätte Mario Bock auf einen Kaugummi. Er öffnet das Fahrerfenster einen Spalt. Herbstluft, eher brrr-kalt draußen. Mario hört Kessler auf dem Beifahrersitz atmen. Wieso kann Atmen bei manchen zu einem Dauergeräusch ausarten? Hat der Alte im Golfkrieg eine Lunge verloren?
Nichts tut sich. Nicht mal ein Radfahrer verirrt sich in diese Gegend. In dem Haus, auf das sie wie die Blöden starren, brennt kein Licht. Wie lange es wohl noch dauern wird, bis Kessler aufgibt und sie’s für heute gut sein lassen und nach Hause fahren können?
Bei ihrem ersten gemeinsamen Undercover-Dreh vor neun, zehn, keine Ahnung, zwölf Tagen, mussten sie nicht so lange warten wie heute. Da war Mario wie vereinbart nachmittags um halb zwei im Olympiapark erschienen, und dann haben er und Kessler aus sicherer Entfernung heimlich so ein kurioses Paar aufgenommen, das sich dort zum Essen traf. Er ein Rockertyp und sie eine auffällige Langbeinige mit extravagantem Hut und dicken Tüten, so eine transidente Trulla, die er schon mal irgendwo gesehen hatte, im Fernsehen oder so. Mehrere Stunden dauerte dieses Treffen im Restaurant des Olympiaturms. Er saß vier Tische entfernt, das Handy, so gut es ging, aufrecht an ein Glas gelehnt und auf Record gedrückt. Nur Laberei zwischen den beiden, also dem Rocker und der Tusse. Noch dazu ohne Ton. Völlig sinnlos, fand Mario. Der Kessler, der währenddessen unten vor dem Turm wartete, bis die beiden Zielpersonen wieder rauskamen, hatte zuvor seine pseudomotivierende Leier abgespult, auf die bloß die ganz Einfältigen einsteigen: »Warte nur, das alles wird einen Sinn ergeben, später, im Schnitt.« Rhabarber, Rhabarber. Mario hätte ihn ungespitzt in den Boden rammen können.
Ob Mario nicht doch aus diesem faden Projekt aussteigen sollte? Ganz höflich, natürlich! Eventuell unter einem Vorwand? Gesundheitliche Gründe vorschützen oder persönliche … »Ich möchte nun doch wieder studieren«, so die Tour?
Genau das überlegt Mario, als etwa eine Viertelstunde vor Mitternacht ein dunkler Kombi vorfährt und direkt vor der Einfahrt des Hauses stehen bleibt. Mario und Kessler sitzen immer noch in Marios geparktem Toyota, keine fünfzehn Meter entfernt, greifen gleichzeitig nach ihren iPhones, halten filmend drauf und werden Zeuge, wie drei große Männer in Anoraks aussteigen und, ohne sich auch nur einmal umzusehen, direkt auf das Gartentor zumarschieren, es routiniert mit einem Griff über die obere Kante am Innenknauf öffnen, völlig ungeniert auf die Haustür zugehen und sofort am Schloss herumzumanipulieren beginnen, wobei sie sich zunächst ein bisschen schwertun, bis die Tür schließlich doch nach innen aufschwenkt.
»Das … scheiße, das sind Einbrecher … ganz offensichtlich, oder?«, stammelt Mario, und sein Herz rast plötzlich dermaßen, dass er befürchtet, Kessler könne es hören. Der wiederum murmelt übercool, beinah selbstbeschwichtigend: »Einfach draufhalten. Sieh zu, dass du’s richtig belichtet kriegst. Wir machen sonst nichts, nur bestmöglich filmen, alles klar?« Kessler klingt, als würde er meditieren. Als wäre das alles genau nach seinem Geschmack. Mittlerweile hört Mario ihn nicht mehr atmen, sondern nur noch seinen eigenen Herzschlag.
»Sollten wir nicht die Polizei rufen? Oder wenigstens …« Mario setzt das Handy ab, kratzt sich am Kopf, macht Anstalten, irgendwie aktionistisch zu werden, woraufhin der sein Handy unverändert stoisch vors Gesicht haltende Kessler ihn mit einem gebieterischen »Nicht. Nicht!« zur Räson bringt. »Film weiter. Wir machen nichts. Wir rufen niemanden an, wir steigen nicht aus, und wir gehen auch nicht rein … nicht rein. Das ist wirklich gefährlich, hörst du? Wir warten ab.«
Mario findet Kesslers Anweisung so ungeheuer demütigend, dass sie schon fast wieder annehmbar ist. Belehrungen sind so gar nicht sein Ding, aber er will mal nicht so sein. Entsprechend wird er sich fügen, einfach das Maul halten und weiterfilmen. Guter Junge.
Durch Marios spaltbreit geöffnetes Fenster dringt nach circa zwei Minuten ein erstickter Schrei, der bei Gott nichts Gutes verheißt, im Grunde aber so leise ist, dass man ihn sich auch bloß eingebildet haben könnte. Eskaliert da gerade was? Es wird ungemütlich, egal, ob mit oder ohne Schrei.
Nur wenig später bewegen sich die drei bemützten Eindringlinge in gemäßigtem Galopp wieder zur Haustür heraus, immer noch erstaunlich entspannt, passieren in Schattengestaltmanier das offene Gartentor, steigen in ihren Kombi und fahren zügig davon.
»Wir rufen die Polizei, sobald wir wieder draußen sind«, kündigt Kessler an, bleibt mit seiner iPhone-Kamera am Ball, steigt aus, stolpert, wankt auf seinen Fußballen kurzzeitig wie ein sehr alter Bernhardiner und nähert sich vorsichtig dem Haus, dessen Tür, genau wie das Gartentor, sperrangelweit offen gelassen wurde.
Wir rufen die Bullen, sobald wir wieder draußen sind, hat er gesagt? Heißt das, wir gehen da rein? Mario verfolgt den schleichenden Kessler genau. Hat der überhaupt eine Vorstellung davon, was er da gerade vorhat?
Mario ist sich noch unsicher, ob es ihm wohl gelingen wird, alles auszublenden, doch wie von Zauberhand gelenkt tut er es Kessler gleich, wenn auch widerwillig und zaghaft, verlässt filmend den Wagen, und gemeinsam betreten sie das Haus wie auf Samtpfoten. Mit eingeschalteter Handy-Taschenlampe bewegen sich beide übervorsichtig voran, schleichen Schritt für Schritt durch den Flur, als gelte es, ebenso wenig Spuren zu verwischen wie zu hinterlassen, was jedoch, das ist beiden klar, ernsthaft nur dann gelänge, wenn sie ihre Ärsche gar nicht erst ins Haus bewegt hätten. Aber sie sind nun mal Dokufilmer – das ist natürlich was anderes.
Ganz schön biedere Einrichtung, analysiert Mario und fragt sich, ob die Bewohner seine Einschätzung wohl als Kompliment auffassen würden.
Sie teilen sich auf, Kessler gibt zackige Anweisungen, und folglich ist es Mario, der sich das obere Stockwerk vornimmt. Weshalb auch er es ist, der durch die Linse seines Smartphones den blutüberströmten Oberkörper eines erbarmungswürdig röchelnden Greises entdeckt, der auf einem rot durchnässten Bett zuckend um sein Leben kämpft.
Eine verendende Gestalt, die mit letzter Kraft nach Luft ringt. Es ist das Schrecklichste, was Mario je gesehen hat.
Und mit beinah erleichternder Vehemenz schießt ihm ein Gedanke durch den Kopf: Womöglich wird aus dieser windigen Streamflexx-Doku ja tatsächlich was mit Hand und Fuß.
Es hat geblitzt. Instinktiv schließe ich die Augen und spüre förmlich das gleißend helle Rot auf meiner Netzhaut. Purpur. Wie schön. Radarkontrolle. Sofort öffne ich die Augen wieder und prüfe den Tacho. Fünfunddreißig Stundenkilometer bin ich drüber. Gibt’s ja gar nicht. Mit knappen hundert statt sechzig Sachen donnere ich übern Ring, Höhe Olympiagelände, vierspurig, bei herrlichem Münchner Herbstwetter. Großer Gott, das Beweisfoto wird unanfechtbar sein. Gestochen scharf, perfekt belichtet, unverkennbar ich. Im Mini Cooper, mit blonder Plastikmähne unter blauem Sommerhut samt extrabreiter Krempe. Ganz in Gedanken. Da schaut man immer am vorteilhaftesten.
Rechts schließt ein Porsche zu mir auf, und dieser Grattler hinterm Steuer grinst mich mit seinem Heiratsschwindlergesicht höhnisch durch die Seitenscheibe an. Ja doch! Ob er Lippen lesen kann? Schon braust er davon, auf Nimmerwiedersehen. Eine jener Begegnungen ohne richtiges Ende.
Blick wieder geradeaus.
Ziemlich aufgewühlt überlege ich, wie ich die nächste Zeit ohne Auto leben soll. Eines ist nämlich klar, diesmal gibt’s nicht bloß Geldstrafe und Punkte. Diesmal heißt’s: Führerschein weg.
Ich überleg und überleg im Wunschdenkenmodus. Vielleicht war kein Film im Kasterl? Rettet mich der Toleranzabzug? Oder ein Topanwalt? Blödsinn. Ich bin fällig. Zum ersten Mal in meinem Leben ohne Fahrerlaubnis! Das wird was werden.
Der ganze Tag ist im Eimer.
Vor lauter Tragödie verpass ich beinah, rechts abzufahren, schaff’s aber gerade noch, einzuscheren, in einem Manöver, das bereits einen weiteren Entzug meines Lappens rechtfertigen würde (diesmal lebenslänglich). Weg da, lieber Audi, und Entschuldigung. Echt sorry. Mei, brems halt dann. Aufzublenden brauchst jetzt deshalb auch nicht gleich wie ein Wilder. Das schmälert mein Bedauern doch nur.
Es ist nur ein winziger Schritt von Scham zu Groll.
Geschafft, richtige Spur, alle unversehrt.
Es besänftigt mich fast, dass man mich endlich erwischt hat. Wenn ich überlege, wie oft ich schon gegen Verkehrsregeln verstoßen habe und ungeschoren davongekommen bin … wirklich höchste Zeit, dass man mir das Handwerk legt.
Und wenn ich dann noch an all die sonstigen Sünden denke, die ich in meinem Leben begangen habe, du liebes bisschen, ich käm aus dem Kerker nie mehr raus, simmas uns ehrlich.
Jetzt wirst du sagen: »Vikki, du brauchst Hilfe!«
Ah geh! Wer braucht die nicht.
So. Bremsen. (Siehste, kann ich auch.) Jetzt stehe ich als Erste vor der roten Ampel Ecke Lerchenauer Straße, und der vorhin geschnittene Audi lauert direkt hinter mir. Des a no’! Ich vermeide jeglichen Blick in den Rückspiegel. Wird auch vorbeigehen.
Tut’s auch. Die Sonnenstrahlen, die gegen die Scheiben prallen, erschweren die Sicht, als ich in kurzen Abständen noch zweimal rechts abbiege und dann links eine Rampe hochfahre, zum Parkdeck am Olympiaturm. Für Besucher des Olympiageländes. Olympiasee, Olympiahalle, Olympiastadion, Olympiaschwimmhalle, Eissportzentrum, Biergarten, Minigolf, Theatron, einfach nicht meine Gegend. Ich fremdel hier immer ein bisschen.
Das Parkdeck ist mitteldicht belegt, ich stelle mich in eine Lücke zwischen zwei silbernen Sportwagen. Die Leute müssen ein Geld haben! Nach der Handtasche greifen, aussteigen, absperren. Schnurstracks stöckel ich auf meinen Pumps den Teerweg Richtung Olympiaturm entlang, ist nicht weit, aber weit genug, um auf halber Strecke rechter Hand an einer Süßigkeitenbude vorbeizukommen, so einem Anhänger mit Verkaufsklappe. Den Typen dahinter, den Zuckerwatte- und Schokoapfelverkäufer, würde ich normalerweise gar nicht wahrnehmen, doch er ruft mir zu: »Hey, ich kenn dich! Du hast mir vor zwanzig Jahren die Haare geschnitten! Da warst noch ’n Kerl!«
Aha. Haare, Kerl, früher. Hochinteressant.
Das mag schon sein, mit dem Haareschneiden, weil damals hab ich eine Zeit lang als Friseur gearbeitet, in der Innenstadt. Noch bevor ich mich vollends Friseurin nennen konnte. Zweifelsfrei als Frau verortet hab ich mich aber natürlich bereits in jener Phase. Wie auch in jeder anderen …
Wie gesagt, mag schon sein, dass ich diesem Grobklotz in dem fahrbaren Naschwarenverschlag vor Urzeiten, lange bevor ich Künstlerin und Bühnenperson wurde, mal einen Schnitt verpasst hab. Aber, na ja, also, sein Tonfall verrät mir, dass es sich bei seinem Hinweis weniger um eine nostalgische Rückbesinnung handelt als vielmehr um kaum verhohlene Herablassung. Ich weiß, wo du herkommst, Fräulein.
Das weiß ich selbst. Als ob ich akratt von ihm einen Dämpfer bräuchte, ein Flügelstutzen, weil ich ja so meterweit über dem Boden schwebe … Pff, gerade ich! Die Erfinderin von 3G: geächtet, gerupft, geerdet.
»Schön. Deine Frisur sitzt immer noch perfekt. Alles Gute«, lasse ich vom Stapel, weil ich ein fest vernietetes Pokerface irgendwann zur höchsten Maxime erhoben habe. Aber schon auch, weil mir ausgefeilte Schlagfertigkeiten immer erst in den angekratzten Minuten danach einfallen.
Ich winke dem Knallkopf noch freundlich zu, ohne meinen strammen Marsch auch nur einen Moment zu unterbrechen. Du mich auch.
Mit der Zeit regt man sich nicht mehr über die Worte auf, die einem um die Ohren gehauen werden, sondern nur noch über die niederen Beweggründe der Leute.
Heititeiti. So furchtbar war’s nun auch wieder nicht.
Ich komme am Fuß des Olympiaturms an, bin etwa zehn Schritte von der Betoneinfassung des Fundaments entfernt, von wo aus der Riese über zweihundertneunzig Meter in die Höhe schießt.
Ich bleibe stehen, Kopf in den Nacken gelegt, und luge andächtig nach oben. Mein Blick folgt der zylinderförmigen Wandfläche, die sich da himmelwärts verjüngt. Ins malerische Blau hinein. Mit dem Wahrzeichen auf Du und Du. So gigantisch, so hoch, letztlich irre. Und hätte ich das Empfindungspotenzial eines Kindes, wäre der Anblick auch phänomenal.
Da ich aber die dreiundvierzigjährige Abgeklärtheit in Person bin, weiß ich um die Aussichtslosigkeit, diese Dimensionen zu erfassen, und lasse den Versuch lieber gleich bleiben. Nicht zuletzt auch deshalb, weil mitten auf dem Grasfleckerl direkt vor mir ein Mädel posiert, das eifrig von seinem Freund fotografiert wird. Möchtegernschnitte vor Funkturm. Dagegen stinkt jeder Monolith ab.
Ihr Jäckchen achtlos auf die Wiese geschmissen, steht sie sexy verrenkt im Ärmellosen da, in dem Versuch, verführerisch rüberzukommen. Ein aussichtsloses Unterfangen. Aber man weiß ja nie. Vielleicht folgen dieser ungelenken Maus ja ein paar Millionen Spanner auf ihrem Instagram-Kanal. Könnte sein, denn sie hat einen riesigen Busen. Besonders links.
Mensch, hängt die sich rein. Sie imitiert den Sonnengruß, Yoga-Pose, gespielte Gelassenheit auf Biegen und Brechen, instruiert dabei aber herrisch ihren total auswechselbaren Freund: »Mach mal mehr in dem Winkel, versuch, misch weiter von der Seite draufzukriejen.«
Gerade will ich weitergehen, als sich eine Hand auf meine linke Schulter legt – so was hab ich gern –, und die dazugehörige Stimme sagt: »Das hab ich davon, dass ich pünktlich bin!«
»Äh! Wieso, bin ich doch auch. Genau zwei«, haspel ich hölzern, nachdem ich mich reflexhaft umgedreht und den Wolf registriert habe. Ich stutze, weil er irgendwie … irgendwie ramponiert wirkt, derangiert. Ungewöhnlich. So ungewöhnlich wie auch seine Einladung zum Lunch ins Restaurant im Olympiaturm. (Restaurant181, benannt nach der Höhe in Metern, auf der es sich befindet, what else.) Das hat er noch nie getan, also mich ohne Angabe von Gründen in ein gehobenes Lokal bestellt, zu dem wir beide eigentlich keinen näheren Bezug haben. Zumindest nicht, dass ich wüsste.
Wenn wir uns sonst zum Essengehen treffen, tun wir das meistens kurzfristig, auf Zuruf, irgendwo ganz zwanglos in der Stadt.
»Und? Bist du heute Nacht pünktlich um drei aufgestanden, um die Uhr eine Stunde zurückzudrehen?«, dröhnt der Wolf übertrieben lebhaft und greift auf seltsame Weise ans Revers seiner Lederjacke mit dem Switch-Blades-Logo. Mit beiden Händen. Wie er das macht, zeigt mir endgültig, dass er gerade nicht er selbst ist. Die Unruhe in Person. So was fällt einem doch sofort auf, wenn man einem Menschen gegenübersteht, mit dem man mal zusammen war. Egal, wie lang das schon her sein mag.
Ich nicke Wolfs Standardwitz ab, jedes Jahr derselbe, indem ich sage: »Na klar, wie üblich. Komm, auf geht’s, ich hab Hunger.« Jetzt red ich selber schon ganz beklommen daher. Komisch, alles komisch. Und Wolfs grauer werdender Bart ist heute auch so kurz geschnitten wie seit Ewigkeiten nicht mehr.
»Hunger? Sehr gut. Ist ja eigentlich auch schon drei«, rechnet er vor, und übrigens: Wegen mir könnte man die Zeitumstellung ruhig abschaffen. Genau wie Sommerreifenwechsel und Sonntage. Tage wie heute.
»Alles okay?«, frage ich ratlos, und er antwortet spitzbübisch und flüssig: »Alles bestens!« Seine Lieblingslüge, vor allem seit ihn die Midlife-Crisis voll im Griff hat.
»Entschulljung?«, ertönt es hinter meinem Rücken. Der Wolf schaut über meine Schulter, und auch ich wende mich der Rufenden zu. Ach du Scheiße.
»Könnten Sie vielleicht ein Video von uns beiden machen?« Es ist die Tussi im ärmellosen Kleid, die uns in Kölschem Singsang bittet, sie und ihren Freund »so schräg von unten« abzulichten, »damit man den janzen Turm halt auch mit auf dem Bild hat. Ginge das?«. Sie erteilt einfach gern Anweisungen.
Ob das ginge? Klaro. Der Wolf gibt sich einen Ruck, fährt mit einer Hand über seine zu einem strengen Zopf zusammengezurrten Haare, macht ein paar Schritte über den Rasen, greift nach dem Handy des Typen (bäh) und nimmt aus der Hocke heraus schon mal Maß. Du, seit einiger Zeit hat beim Wolf (47) die Altersweitsichtigkeit eingesetzt, weswegen er das Handy auch ganz weit von sich weghält, damit er auf dem Bildschirm überhaupt noch einigermaßen sieht, was er da so Pi mal Daumen abfilmt. Pfusch lass nach. Wenn ich die Wahl hätte zwischen dem Wolf und einem Selfie-Stick: Selfie-Stick.
Der Wolf und vielleicht mal eine Brille aufsetzen? Haha, guter Gag. Muss ich mir merken.
Da haben sie sich den Richtigen ausgesucht, unsere beiden Touris aus dem Rheinischen, die inzwischen eng aneinandergeschmiegt gemeinsam ein paar Posen durchexerzieren. Sie winkelt ein Bein an und schiebt es vor die Hüfte ihres Freundes, der wiederum verträumt in die Ferne schaut, dabei aber mit dem kleinen Finger Richtung Turmspitze zeigt. Fast schon Performance Art. Und der Wolf macht klick. Dann folgt eine Kombination aus breakdanceartigen Moves von ihr, die ihr Freund mit stoischem Armeverschränken und hochgezogenen Augenbrauen konterkariert. Auch nicht schlecht. Alles in allem wirklich behindert. Aber halt normal.
Selbstverständlich wirst du jetzt gleich aufschreien: »Hallo? Behindert sagt man doch nicht mehr, Vikki!« Aber da hast du dich geschnitten. Und zwar sauber. Behindert sagt man nämlich nur dann nicht mehr, wenn man Behinderte damit meint. Behindert im Sinne von restlos bescheuert hingegen, das geht natürlich schon noch.
Schwul verwendet man ja auch kaum mehr in Zusammenhang mit Homosexualität, sondern meint damit eher etwas, das irgendwie lahm ist. Ja mei, nichts bedeutet mehr das, was es eigentlich bedeutet.
Also cool down.
Nicht meine Schuld.
Die schamfreie (restlos behinderte) Show von Bernhard und Bianca unterm Olympiaturm scheint beendet. Überschwänglich wie nur was danken die zwei dem Wolf für die Fotosession und mir fürs Nichtstun. Winken, Kopfwedeln, Kindergärtnerinnengrinsen, ein bisschen viel des Guten. Sie sind derart obsessiv lieb, dass ich gleich gar nicht weiß, ob sie den Wolf und mich eventuell nur angesprochen haben, weil der Wolf, als rauer eins neunzig großer Biker-Rocker, und ich, als offensichtliche Transperson, so ein exotisches Paar abgeben, über das sich die beiden ihrer eigenen Weltoffenheit rückversichern wollen. Naive Eiferei, weißt schon. Brauchst nicht meinen, dass das so weit hergeholt wäre.
Hach, ich fühle mich benutzt. Und geschändet … Schnief!
Geht schon wieder.
»Tschüssli«, ruft uns die Tussi mit den unterschiedlich großen Brüsten allen Ernstes zu, aber das ist im Rheinland vielleicht Usus und klingt dort nicht ganz so geistesgestört wie für unsere Ohren. Aber du, ich kann mich nie entscheiden, ob ich solche superfreundlichen Leute niedlich finden oder fürchten soll. Sind es nicht genau diese plakativ Herzensguten, die letzten Endes Rezensionen im Netz verfassen, wie: »Das Hotel war total super, leider hat es während unseres gesamten Aufenthalts geregnet. Daher 0 von 5 Punkten.«
Ich kann mich auch täuschen.
Tschüssli.
Als wir drei Minuten später in den Lift des Olympiaturms steigen, hat sich an Wolfs Unausgeglichenheit wenig geändert. Ich sehe, wie angespannt er ist. Die geräumige Kabine wuppt uns mit Ohrendruck auslösenden sieben Metern pro Sekunde nach oben, wie uns eine Lautsprecherstimme mitteilt. Leider bin ich zu blöd, auf die Schnelle umzurechnen, ob das in etwa dem Tempo entspricht, mit dem ich vorhin in die verdammte Radarfalle gerast bin.
Apropos.
»Mich ham’s vorhin geblitzt«, kredenze ich so nebenbei.
»Ei! Wie viel drüber?«
Der Lift katapultiert uns weiter nach oben, ich sage: »Mindestens gute dreißig.«
»Puh«, leidet der Wolf mit. Er selbst hat circa viertausend Punkte in Flensburg, kennt die Angestellten dort persönlich. Wenn also einer Ahnung hat, dann er. Trotzdem entschärft er erst mal: »Keine Ahnung, ob der Lappen da fällig ist. Beim Bußgeldkatalog hat doch noch nie jemand durchgeblickt. Und dann diese ständigen Verschärfungen …«
»Und wie ich fällig bin!«
»Drei Monate Entzug und Depperltest«, haut der Wolf raus. Hat er’s also doch sofort einzuordnen gewusst.
»Jetzt, wo ich’s weiß, wär’s mir fast lieber gewesen, wenn’s d’es mir ned gsagt hätt’st«, maule ich. »Aber danke.«
»Sehr gern!«
Auf der Ebene des Restaurants steigen wir aus, wie erwähnt in hunderteinundachtzig Metern Höhe, und ich muss schon sagen, man merkt, dass sich der Raum innerhalb einer Dreiviertelstunde einmal komplett um die eigene Achse dreht. Ist nicht ohne. Über die geschmackvoll eingedeckten Tische hinweg sehe ich das südöstliche München von oben, bis hin zur Alpenkette. Maßstabsgetreu. Der Himmel darüber wirkt wie eine blaue Kuppel. Einfach bestmögliches Wetter. Wir haben Föhn, aber ich hab trotzdem keine Kopfschmerzen.
Eine barsche Bedienung mit leichtem Ausschlag im Gesicht nimmt uns in Empfang, der Wolf bejaht die Frage nach der Reservierung, wir werden wie unter Zeitdruck an unseren Platz geführt und passieren dabei mehrere große Topfpflanzen und einen Tisch, an dem vier voll ausstaffierte Starnberg-oder-Tegernsee-Luder in ihren späten Dreißigern mit frischen Aufspritzgesichtern sitzen, optisch wie aus einem Guss. Teures Make-up, teure Stoffe, dementsprechendes Getue. Klassische Mit-den-Händen-ein-Herz-Formerinnen und Vaginal-Bleacherinnen. Ihnen könnten unter anderem die beiden Sportwägen gehören, zwischen denen ich geparkt habe. Nur geraten. Im Vorbeigehen vernehme ich die Begriffe Thermomix und Tibet. Kenn ich. Beides.
Der Wolf überlässt mir den cremefarbenen Sessel mit der Aussicht auf die Fensterwand. Ich nehme Platz, er ebenso. Wir greifen nach den gereichten Speisekarten, ich rücke sinnloserweise eines der beiden Messer zurecht (das äußere), von gerade auf sehr gerade, und kucke durch die Scheiben. Die Stadt aus der Vogelperspektive, das ist schon auch ein bisschen reizüberflutend. Erst versucht man, sich zu orientieren, und dann merkt man, es ist völlig unerheblich. »Ah, da ist der Marienplatz!« Schön! Na und?
Heijeijei, auch wenn ich mich wiederhole, die Plattform dreht sich echt ganz schön zügig. Natürlich nicht wie ein Karussell, aber zu konzentrieren brauchst du dich auch nicht unbedingt drauf.
»Ich bin wirklich gespannt, wieso du diese Location gewählt hast«, sage ich, während ich meine Aufmerksamkeit längst dem Innenraum widme. Dunkle Holztische, bräunlicher Holzboden, warme Wandtöne, nett.
Der Wolf sieht von der Karte auf, schnauft und sagt einfach: »Lass uns erst bestellen.«
Was wir auch tun, bei einem neu aufgetauchten Kellner, so einem ganz Smarten, mit Löwenbändigermentalität, die Kathi würde Fuckboy dazu sagen. Unsere Order geht schnell: Menü 2, die Dreigänge-Version. Plus Wein des Hauses, der Soundso, ja, passt, großes Wasser dazu, Wasser mit, nee, doch mit ohne, wunderbar.
»Sooo«, ziehe ich das Wort in die Länge und signalisiere – die Ellenbogenspitzen auf der Tischfläche abgestützt und mit gefalteten Händen –, dass ich zum Gesprächsbeginn bereit bin. Meinen gebieterischen Augenkontakt nicht zu vergessen.
»Hast du heute von dem Prozess über den Vergewaltigungsfall in Düsseldorf gelesen?«, lenkt der Wolf ab. Ich kenn ihn doch. Er macht noch ein bisschen auf unverfängliches Geplauder, bevor er zum Eigentlichen kommt. Luftholen. Noch schnell eine Prise Gossip aus den Medien zur Vorspeise.
Ich sage, nein, von dem Fall hätte ich nichts gelesen, und schalte mehr oder weniger auf Durchzug, weil ich mich kaum konzentrieren kann, so sehr brenne ich darauf, zu erfahren, weshalb wir hier sind. Zuvor geht es in Wolfs Schilderung aber noch um einen brutalen Vergewaltiger, der gerade sein Opfer verklagt, weil es ihn während des Vorgangs mit Corona angesteckt hat, was aufgrund der Details wirklich witzig ist, und ich muss mehrmals laut auflachen, wohingegen der Wolf typischerweise nicht auch mal nur andeutungsweise schmunzelt, weil das nicht sein Style ist. Seine Spaßetterln performt er immer mit versteinertem Gesicht. Ist angeboren, wie eine charmante Masche eben angeboren sein kann.
Doch trotz ewig ernster Mimik hat der Wolf Humor bis zum Abwinken, genauso übrigens wie auch Jähzorn und geschäftlichen Ehrgeiz. Und kulturellen Feinsinn. Der Mann frisst sich quasi selbst von innen auf. Unter anderem wegen dieses energetischen Spannungsfelds hab ich mich seinerzeit – vor über fünfzehn Jahren – auch ganz schön heftig in ihn verguckt. Zum einen deshalb und zum anderen, weil er kein Mensch ist, der seinem Gegenüber nur aus dem Grund in die Augen sieht, um sich selbst darin zu spiegeln. Er verwechselt Liebe nicht mit Eitelkeit.
Eine seltene Eigenschaft. Er ist in sich geschlossen.
Aber brauchst nicht zu meinen, Geigenmelodien und Honigfluss in Bächen, so von wegen: Schau an, die sentimentalisierende Frau Victoria. Unsere Liaison war nach ein paar intensiven Monaten nämlich auch flott wieder vorbei, so ist es nicht. Vielleicht weil heftige Feuer gar nicht anders können, als vorzeitig auszubrennen. Geblieben ist unsere Verbundenheit. Und wie beschreibt man die am besten? Jeder hat den Wohnungsschlüssel des anderen, falls sich einer von uns mal aussperrt – und für nichts sonst. Du verstehst.
Und jetzt sitzt mir ein augenzuckender Wolf gegenüber, und ich erkenne an seiner Körperhaltung – und nicht nur daran –, dass etwas passiert sein muss.
Pünktlich zum Ende der knackigen Vergewaltigungssaga serviert uns der Löwenbändiger bereits die Vorspeise, Jakobsmuschel-Cassolette mit Pilzen und Hummer-Bisque. Das ging ja fix.
Den ersten Bissen vertilgend, mampfle ich: »Was ist denn nun der Anlass, aus dem du mich hierher einlädst? Hast du Krebs? Hab ich Krebs, und die Diagnose wurde versehentlich dir zugestellt? Bist du bankrott? Explodiert München, aber hier oben sind wir sicher? Klär mich bitte auf.«
Das Restaurant hat sich weitergedreht, ich kann mittlerweile Solln und weiter hinten Garmisch erkennen. Wolfratshausen, Bad Tölz, Bad Seltsham. Die Sonne blendet.
»Aber natürlich, entschuldige.« Der Wolf greift in seine Lederjacke, die er angeblich schon bei seiner Geburt getragen hat, und zieht ein blaues Notizhefterl von der Größe eines Taschenkalenders heraus.
»Pass auf«, sagt er seufzend, wedelt mit dem Notizheft, wirft es neben den Vorspeisenteller. Für meine Begriffe dauert das hier alles etwas zu lang. Mir schwant nichts Gutes, jetzt sag schon!
»Ich muss für unbestimmte Zeit verschwinden. Mich unsichtbar machen. Komplett. Es gab ein Problem.« Er stöhnt leise in sich hinein und schaut auswegsuchend an mir vorbei, gegen die runde Turm-Innenwand, als wäre er am liebsten schon längst nicht mehr hier. Geht mir langsam ähnlich. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Der Wolf muss abtauchen? Das liegt jenseits meiner Vorstellungskraft.
»Was ist passiert?«, stelle ich die einzig folgerichtige Frage. Sie scheint ihn völlig durcheinanderzubringen. Sein Gesicht wird rot, fast violett. Kenn ich gar nicht an ihm.
»Ich hab mir da was eingebrockt.« Er presst seine Lippen zusammen. Und es ist das deprimierteste Lippenzusammenpressen, das ich je gesehen habe.
»Also?«, dränge ich weiter.
Der mir völlig neue Wolf räuspert sich und sagt weich: »Die Jungs und ich, wir hatten vor ein paar Tagen wieder eine Intervention.«
Oh nein!
Ich ahne Schlimmes. Und damit meine ich nicht die Intervention an sich. So was machen die öfter, die Switch Blades, einer der härtesten Motorradclubs in diesem unseren Land, dessen erster Vorsitzender der Wolf ist. Aber wenn der Wolf meint, sich im Anschluss an eine solche Aktion aus dem Staub machen zu müssen, dann haben die Jungs und er sicher nicht nur eine Vase umgestoßen. Fieberhaft denke ich nach. Es war klar, dass früher oder später was Drastisches passieren würde. Ich mal mir bereits diffus einige katastrophale Szenarien aus, alles wahrscheinlich grundfalsch. Ich frage, die Augen weit aufgerissen: »Es gab wieder eine Intervention, alles klar! Und weiter?«
Der Wolf schaut, als würde er sich selbst in Erklärungsnot bringen, sein schwarzes T-Shirt spannt über der breiten Brustmuskulatur: »Es gab Komplikationen …«
Pause. Ich will etwas sagen, unterlasse es aber.
»Schau mal«, der Wolf blättert die erste Seite des Notizhefterls auf, »hier steht alles drin, was du während meiner Abwesenheit, oder danach, bitte erledigen oder generell wissen müsstest.«
»Was heißt denn bitte danach?«, hake ich ein. »Springst du jetzt gleich vom Turm, oder wie oder wer? Sind wir deshalb hier?«
»Ich bitte dich! Wer seinen Selbstmord andeutet, meint’s nicht ernst. Das ist Koketterie. So was Halbherziges würde ich nie tun«, besänftigt er mich mit einem freudlosen Lächeln. »Man ist nicht suizidal, bis man es nicht wirklich durchgezogen hat.« Gute Antwort. Klar, bei so was Morbidem taut der Wolf kurzfristig auf, da kann die Kacke noch so am Dampfen sein! Den kannst du nachts um halb vier wecken und irgendeinen Unfug verzapfen, der steigt sofort ein. Er wischt sich über den Mund: »Also noch mal, hier drinnen sind …«
»Verschon mich mit den Details aus deinem Bücherl, Wolf. Ich krieg deine Blumen schon gegossen und den Briefkasten geleert. Erzähl mir endlich, was los ist, Kruzifix!«
»Es gab Komplikationen!«
»Jahaaa. Jetzt rück endlich raus damit, heiliger Bimbam. Wieso musst du untertauchen?«, frage ich nachdrücklich. Ich habe keine Geduld mehr und keine Ahnung, worauf wir hier zusteuern.
Der Wolf raunt: »Ich hab jemanden umgebracht.«
Ah. Prima. Mein Magen krampft sich zusammen. Mir entgleisen die Gesichtszüge.
Mord?
Verdammter Mist.
Deshalb das feierliche Ambiente?
Auf die Idee muss man erst mal kommen.
Ich sage: »Schieß los.« Völlig erledigt ziehe ich meine Ellenbogen vom Tisch, lasse mich gegen die Stuhllehne sinken, die Gabel fällt mir dabei laut auf den Tellerrand, und ich tue so, als sei das Absicht gewesen. Mir gegenüber sitzt ein Mörder? So muss man das doch deuten, wenn dir dein Gegenüber vor zehn Sekunden anvertraut hat, dass es jemanden umgebracht hat.
Es entsteht ein kurzes Schweigen.
»Wo soll ich anfangen.« Der Wolf nagt an seiner Unterlippe. Hinter ihm, hinter den Panoramafenstern in den luftigen Höhen des Olympiaturm-Restaurants, zieht gerade ein Ausschnitt Münchens vorbei, dessen Skyline zu jeder x-beliebigen Stadt passen würde.
»Vor vier Tagen waren wir, wie gesagt, wieder mal unterwegs zu einer Intervention …«, fängt er an.
Dazu musst du wissen, er spricht von sich und seiner Biker-Gang, den Switch Blades. Mittlerweile über hundert Mitglieder. Switch Blades heißt übersetzt Springmesser, weißt ja eh, Entschuldigung, ich wollt jetzt nicht belehrend sein, eventuell bist du ja ein Sprachengenie, fünf Sprachen locker (na klar, und keine gscheid), jedenfalls, wo war ich … Switch Blades, genau … also dem Gefahrenpotenzial eines Springmessers entspricht auch in etwa das Temperament der impulsiven Switch-Blades-Jungs, die in ihren bürgerlichen Leben übrigens durch die Bank solide Existenzen führen. Die meisten von ihnen sogar höchst erfolgreich. Viele Selbstständige, Umtriebige, Unruhige, auch Privatiers, auch Akademiker, halt keine Asis, keine emotional verwahrlosten Kneipenschläger, die auf ihren schweren Maschinen permanent auf aggro machen, weil sie sonst nichts auf die Reihe kriegen, außer mehrfarbigen Halstattoos, holpriger Grammatik und ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit Risikogruppen.
Das nicht.
Gleichzeitig muss ich natürlich auch relativieren, nicht, dass du glaubst, die Switch Blades seien Engel auf zwei Rädern. Freilich sind sie von der Sorte Karacho, das schon, klar. Aufmischer. Kurze Lunte. Schnappatmung. Hast du was gsagt?, Was schaust’n so bläd?, so in etwa. Aber wohlgemerkt nur, wenn es angebracht ist. Nur, wenn die Situation es unbedingt erfordert. Nur, wenn der mentale Druck nach einem Ventil verlangt und dieses Ventil gerade zufällig in persona direkt an einem vorbeigondelt und halt grad eine Stirnlocke versehentlich von links nach rechts gekämmt hat anstatt umgekehrt. Du kannst mir folgen? Falls also ein solches willkürliches Aufeinandertreffen ausgerechnet die fragile Balance eines Switch Bladeslers temporär ungünstig durcheinanderwirbelt, Schwingungen auslöst sozusagen, tja dann, und auch nur dann, kommt es gelegentlich e-ven-tu-ell zu verheerenden Verwerfungen im zwischenmenschlichen Bereich. Bis hin zum Medizinischen. Fresse polieren, randalieren, generell einfach gewissenhaft aufräumen.
Überschrift: Ordnung muss sein.
Überschrift: Im Anschluss unglücklicherweise teilinvalide.
Überschrift: Nichts wie weg.
Eine giftige Eigendynamik, um’s mal grob auszudrücken.
Klar klingt das nach brutalem Dachschaden.
Wenn du aber nun mal diese Neigung zum Rabiaten in dir trägst, wie nun mal zum Beispiel die Bladesler, was sollst du denn bitte machen? Leicht ist das ja auch für einen selbst nicht.
Oder glaubst du, einer, dem ständig die Hutschnur zu platzen droht vor lauter Aufbrauseritis und Krawallbedürfnis, dass der mit sich selbst glücklich ist, am Ende des Tages? Dass der nicht auch manchmal nachts im Bettchen liegt und sich fragt, hat das jetzt wirklich wieder sein müssen?
Ja, kann schon sein, wenn er ein rechter Trottel ist, dem jegliche Neigung zur Selbstreflexion abgeht, dass der sich sagt, Ja, passt, so, wie ich bin. Passt genau. Vielleicht sogar: begeistert ist von sich selbst. Mag sein. Will ich jetzt gar nicht widersprechen.
Anders die Switchler! Das sind wirklich okaye, schlaue Burschen. Höflich, gebildet, geistreich, auf Zack. Aber sie gehören eben gleichzeitig auch zu jenem Menschentypus, der gerade aufgrund seiner Energie und seines Charmes manchmal dem Drang nach körperlicher Abreaktion regelrecht frönen muss, weil sonst zerreißt’s den.
Das nennt man Mehrdimensionalität.
Und das heißt nicht, dass ich damit jedes Wirbelsäulentrauma und lebenslange Hinken, das die Switch Blades je verursacht haben, rechtfertigen will. Mitnichten. Versteh mich da bitte nicht falsch. Mir geht jeder neue Exzess dieser Hitzköpferl auch derart auf den Zeiger, dass ich regelmäßig schreien möchte: Sag amoi, wer hat’n euch jetz scho wieder ins Hirn gschiss’n?
Logisch. Ich könnt mich manchmal aufregen …
Aber so ist das halt.
Man wird unausweichlich zu dem, was man in sich trägt. Du. Ich. Und halt auch der Haufen Biker-Schlawiner aus Sendling.
Wie auch immer. So viel jedenfalls zu den Switch Blades.
Du, übrigens, wenn du das Gefühl hast, ich hätte das schon mal erzählt, dann liegt das vermutlich nicht bloß an dir. Dann kennen wir uns wohl einfach schon länger, und ich hab das wirklich bereits …
Besser, ich hab’s trotzdem noch mal schnell erklärt. Weil es ist doch gerade akut, wegen dem Wolf.
So.
Und bevor jetzt genau dieser Wolf Wolff mir am Restauranttisch im Olympiaturm schildert, was vorgefallen ist, nur noch schnell das hier zu deiner Aufklärung, weil der Wolf doch von Intervention gesprochen hat.
Nämlich: Vor ein paar Jahren kamen die Switch Blades auf die kluge Idee, ihre Tendenz zur Gewaltausübung mit einer moralischen Legitimation zu untermauern, und zwar, indem sie beim Gewaltausüben gleichzeitig Gutes tun.
Zwei Wohltaten in einem Aufwasch, sozusagen. Ausflippen (für sich selbst) und dabei karitativ handeln (für andere).
Zu diesem Zweck haben sich der Wolf und seine cholerische Rasselbande entschieden, ihre Aufmerksamkeit ab und an dem Wohl misshandelter und verwahrloster Tiere zu widmen. Allerdings leicht abgewandelt, verglichen mit der Vorgehensweise organisierter Tierschutzvereine oder lobbywarmer Behörden.
Anfangs haben die Switch Blades potenzielle Tier-Missbrauchsfälle noch eigenmächtig aufgespürt und, sagen wir mal, abgearbeitet. Schnell allerdings hat sich ihre Affinität für die Befreiung von Tieren, die nicht artgerecht gehalten werden, rumgesprochen (ging wirklich zügig), und mittlerweile erhalten sie regelmäßig Hinweise von eifrigen Mitbürgern, wo und bei wem mal wieder so ein erbarmungswürdiges Wesen gesichtet wurde. Ein Kettenhund zum Beispiel (gibt’s immer noch!) oder die versklavten Gebärmaschinen eines Züchters (Züchter geht gar nicht! Ab in Haft! Tiere immer nur adoptieren, nicht neu kaufen, hörst du?) oder eine Ansammlung von zusammengepferchten, völlig verkoteten, halb verhungerten Kleintieren. Die Schiene eben. Die Kategorie, wo der Besitzer den Behörden eine lange Nase dreht, weil er sie von Gesetzes wegen nicht reinlassen muss und auch keiner sonstigen Auskunftspflicht unterliegt und dergleichen. Fälle, bei denen sich selbst die militantesten Tierschützer die Zähne ausbeißen, weil ihnen die Handhabe fehlt.
Und da kommen nun die Blades ins Spiel.
Denen fehlt vielleicht rein rechtlich auch jegliche Handhabe, aber nicht die Kreativität, Gesetz auch mal Gesetz sein zu lassen und einfach ganz entspannt unangekündigt an der Tür des betreffenden Tierhalters zu klingeln und zu sagen: »Griaß di, Kollege, wir ham gehört, dass bei dir ned alles so rundlafft, wias laffa könnt. Dürften wir mal kurz bei dir reinschaun?«
Ja, und wenn der Hausherr dann aus Versehen »Nein, dürft ihr nicht« sagt, ändert das im Großen und Ganzen auch nix mehr. Weil, dann haben sie den Weg ja bereits auf sich genommen, die Switchler. All the way from Munich City. Und seien wir ehrlich: Wenn jemand nichts zu verbergen hat, dann lässt er den Wolf und den Rudi und den Maurice und die anderen Lederjacken doch auch kurz nach dem Rechten sehen und gut is’.
Wie dem auch sei: Sofern sich bei Prüfung der Lokalitäten herausstellt, dass da wirklich ein paar arme Kreaturen vor sich hin röcheln, geschunden, vernachlässigt, zur reinen Nachwuchszeugung verdammt oder noch Schlimmeres – dann Tschingderassabum! Dann kommt nämlich umgehend die ursächliche Motivation unserer Motorradler zum Tragen (so ehrlich muss man sein). Weil nämlich: Dann gnade dir Gott.
Und so weiter.
Jetzt weißt du Bescheid. Das ist also das tiefenpsychologische Fundament, auf dem das geniale Motto der Switch Blades und ihrer Selbstanalyse basiert: In dir kocht’s, weshalb du dir jemanden zum Abreagieren suchst, der erwiesenermaßen ein Riesenarschloch ist – und dabei rettest du auch noch ein hilfsbedürftiges Lebewesen.
Einfach praktisch. Wo ist da der Haken? Eindeutig, es gibt keinen.
Nobelpreisverdächtig, wenn du mich fragst.
Und weißt du, was der Wolf immer sagt?
Egal, wie viele Tiere sie retten, es sind nie genug.
Mei, jetzt bin ich ganz schön ins Plaudern gekommen.
Aber ich bringe es nicht über mich, dich nur halbgar zu informieren. Hurtig geht’s da weiter, wo ich abgeschweift bin.
Während sich also das Restaurant im Olympiaturm um seine eigene Achse dreht, schwirrt mir die ganze Zeit Wolfs Satz Ich hab jemanden umgebracht im Kopf rum, was mich fürchterlich mitnimmt. Aber ich kann eben nicht anders.
Der Wolf also: »Wie gesagt, wir waren vor vier Tagen wieder mal unterwegs zu einer Intervention. Die A9 hoch. Egal. Wir hatten einen Hinweis erhalten …«
»Von wem?«, frage ich, weil, wenn er mir schon nicht sagen will, wo es war, was ich verstehen kann, dann wüsste ich doch zumindest gern, wer die Switch Blades darauf aufmerksam gemacht hat. Denn Hinweisgeber können auch mal unlautere Absichten haben und die Bladesler für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren versuchen. Manche schwärzen nämlich einfach nur einen unliebsamen Nachbarn an, damit der mächtig Ärger bekommt wegen eines popeligen Gartenzaunstreits, obwohl er gar kein Tierquäler ist.
Wirklich wahr, die Menschen sind unter anderem schon auch das Letzte. Wem sag ich das! Deshalb prüfen die Bladesler die Angaben ihrer Hinweisgeber auch immer supergenau.
Der Wolf spricht leiser als zuvor: »Ich kann dir leider nicht verraten, von wem wir auf die Location aufmerksam gemacht worden sind.«
Na, das geht ja schon gut los. Den Ort kann er mir nicht verraten, den Hinweisgeber nicht. Aber was soll’s!
»Wir haben alles sorgfältig gecheckt und konnten zunächst davon ausgehen, dass es durchaus berechtigt war, dem Hinweis nachzugehen und zu schauen, was dort los ist«, sagt der Wolf.
Ich starre ihn unentwegt an. Eine Herausforderung, nicht zu zwinkern, obwohl man müsste. Aber ich will nicht. Ich will nichts verpassen.
»Wir kamen bei dem alten Haus an …«
»Wann? Also, um wie viel Uhr?«, werfe ich gschwind ein.
»So gegen fünfzehn Uhr.«
Ich nicke. Erzähl weiter.
»Wir waren dreißig Leute. Wir haben Aufstellung genommen, das riesige Grundstück an einem Waldrand komplett eingekreist. Alles war runtergekommen. Der Zaun halb verrottet, das Gras meterhoch, umgeknickte Bäume mittendrin, ein paar abbruchreife Schuppen hier und da, Wildwuchs, aber sonst nichts weiter zu erkennen … und dann die marode Bude selbst, die das Haupthaus darstellt«, beschreibt mir der Wolf die Lage in einem niedergeschlagenen Ton, der mir unvergesslich bleiben wird.
»Wir haben unsere Maschinen abgestellt, abfahrbereit, wie üblich. Wir haben die Gruppen zur Überwachung, zur Erstürmung und für alle sonstigen Eventualitäten eingeteilt, alles wie immer eigentlich, aber ich kann es nicht genau beschreiben … es war von Anfang an der Wurm drin. Die Lage, das Gelände, der Zustand. Irgendwas hat nicht gestimmt«, fährt er fort. Auch wenn alles noch ziemlich nebulös ist, spüre ich schon jetzt die Dramatik in der Magengrube, als wäre ich live dabei, und mir wird schlecht. Puls in den Zähnen.
»Der Rudi und ich, wir steigen über das Einfahrtstor, stellen uns vor die Tür der Bruchbude, klingeln, mit Rückendeckung von vier weiteren Mann. Da öffnet eine Frau Mitte fünfzig in einem weißen Kittel die Tür, total überrascht. Aber so überrascht nun auch wieder nicht, schwierig zu erklären. Es war, als hätte man uns erwartet. Oder anders: Es war, als hätte man damit gerechnet, dass so etwas irgendwann mal passieren würde. Als wären die grundsätzlich auf alles vorbereitet gewesen.«
»Die?«, frage ich. »Waren noch andere Personen da?«
»Das kann man wohl sagen«, antwortet der Wolf, ohne es weiter auszuführen, und blickt angestrengt auf die Tischplatte – etwas zu angestrengt für meinen Geschmack. Als würde er schon wieder abwägen, was er mir verraten darf und was nicht. Er sagt: »Die Frau hat sofort Alarm geschlagen, hat auf einen Pieper an der Wand gedrückt, und gleich ging so ein ätzender Signalton los, so raumschiffmäßig, den wir aber nur dumpf von irgendwo aus dem Hausinneren haben kommen hören. Das alles war schon seltsam genug, wenn man bedenkt, was für eine runtergerockte Butze das Haus war.«
»Wieso, was hattet ihr denn erwartet?« Ich durchbohre den Wolf mit einem prüfenden Blick. »Was hat euch euer Informant denn angekündigt, das ihr vorfinden würdet? Wegen welchen mutmaßlichen Vergehens seid ihr denn überhaupt hingefahren?«
»Das ist ja das Nächste. Unser … Informant … meinte, es gebe in dem Haus eine Vielzahl von vernachlässigten Haustieren, alles Mögliche …«, druckst der Wolf rum. Das passt gar nicht zu ihm. A bisserl arg kauzig, sein Verhalten, fast a bisserl zum Kotzen. So weit simma scho’.
»Hattet ihr das Haus und das Drumherum nicht im Vorfeld gecheckt? Hast du nicht erst mal ein paar Späher geschickt, die die Gegebenheiten auskundschaften, wie sonst auch?«, will ich wissen.
»Das war diesmal nicht nötig. Die … Der Informant war vertrauenswürdig … dachte ich zumindest.«
»Wurdet ihr also verarscht?«
»So kann man das nicht …«
Ich glaub’s ja nicht! »Wolf, ich fall echt gleich vom Stuhl. Ich halt dein Gestammel nicht mehr aus. Wenn du mir nicht umfassend sagen willst, was Sache ist, kein Problem. Aber mach nicht auf Stotterdistotter. Komm, erzähl weiter. Und zwar ab dem Teil, bei dem du nicht darüber nachdenken musst, was du mir lieber vorenthältst«, schenk ich ihm ein, ohne mit der Wimper zu zucken, als wäre ich so abgebrüht, wie ich tue. Fulminanter Einwurf. Dabei bin ich völlig geschafft.
Hinter dem Wolf, weit draußen, sehe ich einen Kondensstreifen am Himmel, aber kein Flugzeug. Ich schaue dem Wolf wieder in die Augen, was mich enorm verwirrt, und helfe ihm auf die Sprünge: »Ihr steht also an dieser Tür, die Olle im Kittel euch gegenüber, der Alarm geht los, und dann?«
Der Wolf versucht zu lächeln, kriegt es aber nicht hin. »Es war sofort klar, dass da was nicht stimmt. Ohne lange zu fackeln, haben wir uns Zutritt verschafft und sind einfach ins Haus gestürmt.«
»Wow, interessant. Noch keinen einzigen kranken Hund gesehen oder ein verendetes Lamm oder irgendwas, das einen Einmarsch rechtfertigen würde, nicht mal ein Wort gewechselt, aber ihr seid gleich mal in die Bude gestürmt? Echt durchdacht. Respekt!«, mach ich auf sarkastisch, was mir einige Anstrengung abverlangt. Aber du, bei so merkwürdigen Schauergeschichten wird ja genau dieses Vorgehen weltweit von führenden Sarkasmusexperten empfohlen.
Den Wolf reißt’s, meine Vorhaltung verschlägt ihm die Sprache, er windet sich, setzt sich ganz gerade hin, dann verhärten sich seine Gesichtszüge, und er sagt: »Jaja, hast ja recht. Es war wohl zum einen dieser Alarm, den die Frau ausgelöst hat, weswegen wir schlagartig verunsichert waren, zum anderen sind wir einfach … davon ausgegangen, unsere Informationen seien verlässlich. Und in gewisser Hinsicht waren sie das auch.«
In Wolfs Blick sehe ich nacktes Entsetzen. Ich sage nichts. Einmal mehr.
»Wir rennen also durch den Flur ins Wohnzimmer, und es war alles ein bisschen chaotisch, unaufgeräumt und so, aber ansonsten erst mal ganz gewöhnlich, nichts Verdächtiges. Uns fiel aber sofort ein grell beleuchteter Kellerabgang auf, links, eine ziemlich breite Öffnung, von der aus eine Treppe runterführte …«, der Wolf massiert sich die Schläfen, etwas, das ich bei ihm noch nie gesehen habe, »… und wir sind einfach da runtergerannt, als würde uns die Zeit davonlaufen, weil doch der Alarm immer noch getütet hat.«
Ich erlebe Wolfs Schilderung so bildhaft, als wäre ich in einem Stephen-King-Szenario gelandet. Ehre, wem Ehre gebührt.
»Wenn Sie erlauben, da wären wir, bitte schön!«, unterbricht uns jemand aus dem Hintergrund, und da kommt auch schon der Hauptgang, den unser Löwenbändiger Fuckboy voller Elan serviert, was ich derart gleichgültig quittiere, dass ich mich meiner Ignoranz ihm gegenüber schämen würde, ginge es hier nicht um – ja –, um Leben und Tod. Ist doch so, oder? Ich weiß nicht mal, was da gerade vor mir auf dem Teller liegt. Filet? Vegane Filetkopie? Filet von veganem Rind?
Dann sind wir wieder allein, und der Wolf spricht nahtlos weiter: »Als der Rudi und ich unten im Keller ankommen, bietet sich uns … ein Bild des Grauens. Vor uns ein schachtartiger Gang, vielleicht vier Meter breit und relativ niedrig, ich konnt gerade so aufrecht stehen, alles neonhell erleuchtet, und endlos, mindestens dreißig Meter lang … Die müssen den Garten komplett unterkellert haben. Unglaublich. Und gesäumt wurde dieser Gang von zwei stählernen Käfigreihen. Die Käfige wiederum waren dreistöckig an den Wänden angebracht. Es hat nach Stall gerochen, und man konnte Dutzende Tiere kreischen, jaulen, fiepen hören, sie haben gescharrt und gewinselt, wohl auch wegen unseres Radaus, ach, Dutzende Tiere, es waren so viele. Es klang wie in einem Dschungel. Pervers war halt außerdem, dass es so gleißend hell in diesem verfluchten Verlies war, so irre grell … ich weiß nicht, warum. Sofort, als der Rudi und ich die letzte Stufe der Treppe genommen und den Betonboden betreten haben, vertritt uns ein so ein winziges Manschgerl den Weg, ein kleiner, weiß gekleideter … Inder, würde ich sagen, Pakistani, Nepalese, was weiß ich, mit einer lächerlichen eisernen Miene und einem Taser in der Hand, so einer Drecks-Elektroschockpistole. Er zielt sofort auf den Rudi und drückt ab, der Rudi liegt innerhalb von Sekunden auf dem Boden. Von oben hör ich einen Mörderkrach, Gekreische, als würde die Frau von der Tür Ärger machen oder sich halt massiv was von unseren Leuten einfangen. Schwer zu sagen. Jedenfalls kommt mir unten im Kerker ein zweiter Typ entgegen, der von irgendwo seitlich aufgetaucht ist, aus der Tiefe des Korridors, als gäb es weiter hinten noch einen Nebengang oder mehrere Verzweigungen. Er hat so was wie eine Pumpgun in der Hand, genau kann ich es auf die Entfernung nicht ausmachen, ich bin auch zu beschäftigt, den Inder, der auf den Rudi geschossen hat, aus dem Weg zu räumen, also ihm seinen verdammten Schädel zu polieren, und das hab ich auch zügig erledigt. Der kleine Inder kippt um wie eine Pappmachéfigur, damit war der dann schon mal ausgeschaltet. Hinter mir kommt endlich der Arnold ebenfalls die Treppe runtergelaufen, zu meiner Verstärkung, und der Arnold hat doch die Bodycam an seiner Schulter befestigt, mit der wir immer unsere Einsätze dokumentieren. Ich bin echt erleichtert, auch weil wir jetzt wieder zu zweit sind, um den Wichser mit der Pumpgun, der auf uns zurast, ausschalten zu können. Frag mich nicht, wieso, aber dem Pumpgun-Spezialisten wird die Sache offenbar zu brenzlig, und er dreht ab, macht auf halbem Weg kehrt, als er den Arni und mich da stehen sieht, und natürlich sieht er auch seinen Zwergerlkollegen sowie den Rudi beide bewusstlos am Boden liegen. Wir vier befinden uns also am Zugang zum Verlies, ja, und der Typ läuft wieder dahin zurück, von wo er gekommen ist. Verschwindet einfach ums Eck, links weg. Puff, wie vom Erdboden verschluckt.
Endlich kommen noch zwei Weitere von uns runter in den Keller. Der Maurice und der Edenkofler Herbert. Der Maurice schnappt sich den Rudi und trägt ihn hoch zur medizinischen Versorgung. Dem bewusstlosen Scheißinder mit seinem Scheißtaser schlagen wir noch mal zur Sicherheit die Visage zu Brei. Chicken-tikka-masala-mäßig. Waffen gehen gar nicht, weißt ja, da sind wir heikel.
Und dann, dann … also, wir haben umgehend begonnen, die Lage zu sondieren. Vikki … Von da an ging es nur noch bergab. Keine Ahnung, ob du das wirklich hören solltest … es war …« Der Wolf macht eine Pause, niedergeschmettert.
Ich sage: »Kein Problem. Erzähl mir, was war, ich komm klar damit«, und ich beschließe, auch zu glauben, was ich da von mir gebe.
Er hält noch einen Moment inne und sagt dann unvermittelt: »Es war das Schlimmste, was ich in meinem Leben je erlebt habe.«