Johann Dill (1927-2019) - "Eingeladen" nach Rußland - Wieder daheim -  - E-Book

Johann Dill (1927-2019) - "Eingeladen" nach Rußland - Wieder daheim E-Book

0,0

Beschreibung

Johann Dills Lebensweg war nicht geradlinig: Nach Kriegsende wurde sein Vater, ehemals Chefkonstrukteur bei Telefunken, wie eine Anzahl anderer deutscher Experten, in die Sowjetunion "eingeladen", wo er mit seiner Familie die meiste Zeit in vergleichsweise angenehmen Umständen lebte, vorwiegend in Oranienbaum, das später in Lomonosov umbenannt wurde. Johann war bestrebt, sein Abitur zu machen und zu studieren, schon "um seinem alten Herrn nicht zu lange auf der Tasche liegen" zu müssen. Dazu mußte er zunächst Russisch lernen, was er mit seltener Hartnäckigkeit (und mit Erfolg) unternahm und sogar anderen Internierten sowie seiner jüngeren Schwester Unterricht geben konnte. Auch gelang es ihm, die behördliche Erlaubnis zum Studium zu erlangen und die Aufnahmeprüfung für das Fach Sinologie an der Leningrader Universität zu bestehen. Das Russische und die russische Literatur wurden ihm eine Lieblingsbe-schäftigung, die zeitlebens anhielt. 1952 durfte die Familie Dill aus der Sowjetunion ausreisen, und Johann wurde an die Humboldt-Universität zum weiteren Studium überwiesen. Dort wurde er Schüler des aus Tiflis gebürtigen Professors Paul Ratchnevsky (1899-1991), eines Sinologen traditioneller Ausrichtung. Das erwies sich als Hindernis bei der Promotion von Johann Dill: Gegner Ratchnevskys scheuten sich nicht, dessen Schüler mit ideologisch verbrämten Argumenten den Weg zu verbauen, und erst den Bemühungen des aufrechten Ernst Wirkner (1927-2020) war es zu verdanken, daß die Promotion doch noch zustande kam. Da nunmehr keine Aussicht bestand, eine Stelle an der Humboldt-Universität zu bekommen, war Dill froh, eine Position als Fachreferent in der Asien-Afrika-Abteilung der Deutschen Staatsbibliothek in Berlin (Ost) zu erhalten. Mit Anmerkungen und Register. Der Herausgeber forscht zur Geschichte der Ostasienwissenschaften. Er war als Bibliothekar an der Staatsbibliothek zu Berlin und als Privatdozent an der Freien Universität Berlin tätig.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 206

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Helga Keller mit ihrem Mann Rolf im Urlaub bei Kalmar (2005)

Dieses Büchlein ist Helga Keller in Erinnerung an viele Anregungen freundschaftlichst zugeeignet

H. W.

Johann Dill (1927–2019)

Christa Dill, geb. Umbreit (1926–2004)

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Aus den Briefen an Christa Umbreit

Erinnerungen: wieder daheim

Anhang: Dokumentation

1. Vortrag anläßlich der Verteidigung am 17.12.1965

2. Aktennotiz von Ernst Wirkner, 10.2.1966

3. Aktennotiz betr. Promotionsverfahren, 21.6.1966

4. Aktennotiz, Telefongespräch mit Gen. Klien, 29.8.1966

5. Aktennotiz, Telefongespräch mit Gen. Dr. Müller, 29.8.1966

6. Aktennotiz, Telefongespräch mit Gen. Behrsing, 5.10.1966

7. Einladung, 21.10.1966, zur Fortsetzung der Verteidigung

8. Vortrag, 2.11.1966

9. Brief von Dill an Ratchnevsky mit Promotionsbescheinigung

10. Brief Rachnevskys an Dill, 31.1.1967

11. Brief von Dill an Alfred Hoffmann

12. Udo Barkmann: Erinnerungen an den Nestor, S. 606–607

13. Promotionsurkunde

14. Brief von Eiichi YASUI an Dill, 21.2.2002

15. IM-Bericht von Andreas Leverkühn / Peter Keller

16. Brief von Akira TONE an Ralf-Dietrich Jung

17. Brief von H. Gittig an den Verlag Nauka, 29.11.1979

18. Brief von Friedhilde Krause an. E. M. Primakov, 17.12.1979

19. Notiz von Friedhilde Krause für Dill

20. S. E. Jachontov, Rezension von Dills Dissertation

21. S. R. Kuczera: Rezension von Dills Rezension

22. Mitteilung des Verlags Nauka an Dill, 28.10.1982

23. Fachliche Beurteilung Dills durch Ratchnevsky, 20.12.1960

24. Ergänzung zum Gutachten Ratchnevskys), 3.1.1961

25. Beurteilung Dills, 1966–1970, von Ernst Wirkner

26. Glückwunsch zum Dienstjubiläum, von Frau Krause, 1.4.1985

27. Glückwunsch zum 20jährigen Diensteintritt, von Dieter Schmidmaier, 2.4.1990

28. Karl Schubarth: Abschied für Johann Dill, 6.9.1992

29. Brief von Jörg Thomas Engelbert, 7.1.2005

Namenregister

Vorwort

So lautete die Anzeige, die Kunde von Johann Dills Abschied für immer gab. Seine Frau war bereits 2004 verstorben, und so schloß er seine autobiographischen Notizen anläßlich seines 80. Geburtstags mit den elegischen Worten: «nun wartet der Verfasser der Briefstellen erneut auf die Abreise, möge sie ihm bald zuteil werden.»

Johann Dills Lebensweg war nicht geradlinig: Nach Kriegsende wurde sein Vater, ehemals Chefkonstrukteur bei Telefunken, wie eine Anzahl anderer deutscher Experten, in die Sowjetunion «eingeladen», wo er mit seiner Familie die meiste Zeit in vergleichsweise angenehmen Umständen lebte, vorwiegend in Oranienbaum, das später in Lomonosov umbenannt wurde. Johann war bestrebt, sein Abitur zu machen und zu studieren, schon «um seinem alten Herrn nicht zu lange auf der Tasche liegen» zu müssen. Dazu mußte er zunächst Russisch lernen, was er mit seltener Hartnäckigkeit (und mit Erfolg) unternahm und sogar anderen Internierten sowie seiner jüngeren Schwester Unterricht geben konnte. Auch gelang es ihm, die behördliche Erlaubnis zum Studium zu erlangen und die Aufnahmeprüfung für das Fach Sinologie an der Leningrader Universität zu bestehen. Das Russische und die russische Literatur wurden ihm eine Lieblingsbeschäftigung, die zeitlebens anhielt.

1952 durfte die Familie Dill aus der Sowjetunion ausreisen, und Johann wurde an die Humboldt-Universität zum weiteren Studium überwiesen. Dort wurde er Schüler des aus Tiflis gebürtigen Professors Paul Ratchnevsky (1899–1991), eines Sinologen traditioneller Ausrichtung. Das erwies sich als Hindernis bei der Promotion von Johann Dill: Gegner Ratchnevskys scheuten sich nicht, dessen Schüler mit ideologisch verbrämten Argumenten den Weg zu verbauen, und erst den Bemühungen des aufrechten Ernst Wirkner (1927–2020) war es zu verdanken, daß die Promotion doch noch zustande kam. Da nunmehr keine Aussicht bestand, eine Stelle an der Humboldt-Universität zu bekommen, war Dill froh, eine Position als Fachreferent in der Asien-Afrika-Abteilung der Deutschen Staatsbibliothek zu erhalten. Dort machte er sich neben seiner laufenden Arbeit insbesondere durch seinen Sprachunterricht für Mitarbeiter des Hauses, aber auch anderer Institutionen nützlich. Veröffentlicht hat er wenig. Die Dissertation:

Johann Dill: Untersuchungen zu Charakter und Struktur gegen die «Öffentliche Ordnung» verstoßenden Bewegungen des Zeitraums 1– 33 u.Z. in China.Berlin 1966. CXVII, 240 S. Diss. Humboldt-Universität

wurde zwar für eine Publikation in der Sowjetunion (in russischer Übersetzung) vorgeschlagen, und zwei positive Gutachten liegen dafür vor, doch kam die Veröffentlichung (im Verlag Nauka) aus unbekannten Gründen nicht zustande.

Aus der Assistentenzeit bei Ratchnevsky stammt:

Paul Ratchnevsky: Historisches-terminologisches Wörterbuch der Yüan-Zeit: Medizinwesen. Unter Mitarbeit von Johann Dill und Doris Heyde.1

Berlin: Akademie Verlag 1967. XIX, 118 S.

(Veröffentlichung. Institut für Orientforschung 66.)

Der Aufsatz:

Johann Dill: Die Typographia Sinica in der Asien-Afrika-Abteilung der Deutschen Staatsbibliothek. Marginalien 100.1985, 85–96

erschien in den Blättern der Pirckheimer-Gesellschaft und stellt die erste ausführlichere Beschreibung der in der Staatsbibliothek erhaltenen chinesischen Typographie des Bernauer Propstes und Chinesischen Bibliothekars des Großen Kurfürsten, Andreas Müller (?1630–1694) dar.

Trotz des nicht ganz gewöhnlichen Lebensweges würden sich Historiker Johann Dill nicht als Gegenstand einer Biographie wählen: besonders hervorstechende sinologische oder bibliothekarische Leistungen oder Veröffentlichungen sind nicht zu vermelden. Aber Dills eigene autobiographische Skizzen und die sorgsam ausgewählten Auszüge aus seinen Briefen an die Jugendfreundin (und spätere Frau) Christa Umbreit über das Leben in der Expertengruppe in Oranienbaum – das Unternehmen wurde lange als Verschlußsache in der DDR behandelt – atmen Frische und Offenheit und vermitteln die Erlebnisse eines Heranwachsenden; als Leser fühlt man sich wie ein Augenzeuge.

Helga Keller

Daß das Manuskript zur Kenntnis des Herausgebers kam, verdankt er, wie viele andere Anregungen und Informationen, Helga Keller, seiner ehemaligen Kollegin in der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, wo sie seit dem 1.8.1961 (damals noch: Deutsche Staatsbibliothek) und bis zum 31.12.2000 in der Asien-Afrika-Abteilung (später Ostasienabteilung) tätig war. Sie war ungemein rührig, kannte die Bestände genau und freute sich, ihr Wissen und ihre Funde weiterzugeben. Der Herausgeber erinnert sich, wie sie ihm des öfteren mit strahlendem Gesicht ein Buch oder eine Xerokopie zeigte mit den Worten: «Kennen Sie das?» oder «Wußten Sie schon ...» «Ist das nicht interessant?»

Sie erzählte gelegentlich auch von Personen, Kollegen, mit denen sie noch Kontakt hatte, so von Rainer Schwarz (1940–2020), einem hervorragenden Übersetzer, der fünf Jahre auf die erste vollständige deutsche Übersetzung des vielleicht bedeutendsten chinesischen Romans, des Shitouji石頭記 (Geschichte vom Stein, auch unter dem Titel Hongloumeng, Traum der Roten Kammer) verwendet hatte, aber das Ergebnis seiner Arbeit nicht veröffentlichen konnte, da die deutsche Vereinigung den Buchmarkt völlig verändert hatte. Der Kontakt war schnell hergestellt und mehrere Manuskripte von Rainer Schwarz wurden publiziert:

[Hrsg.] YÜE Jun: Geschichten vom Hörensagen. Novellen der Qing-Zeit.

Aus dem Chinesischen übersetzt von Rainer Schwarz.

Wiesbaden: Harrassowitz 2003. 202 S.

(Asien- und Afrika-Studien der Humboldt-Universität zu Berlin 14.)

H. Walravens: Shitouji. Die Geschichte vom Stein, auch bekannt unter Franz Kuhns Paraphrase Der Traum der Roten Kammer. Zu einer vollständigen deutschen Übersetzung des Shitouji (Hongloumeng) – Geschichte vom Stein [Zum Vorabdruck von Kapitel 18 in der Übersetzung von Rainer Schwarz].

DCG Mitteilungsblatt 47 (1/2004), 42–43

[Hrsg.] Hebengge: Nachschriften von Nachtgesprächen. (Auswahl, Übersetzung aus dem Chinesischen, Einleitung, Anmerkungen und Register von Rainer Schwarz.)

Berlin: Staatsbibliothek 2006. 313 S.

(Neuerwerbungen der Ostasienabteilung. Sonderheft 11.)

H. Walravens [Nachbemerkung zu:] Hebengge: Bibi und Birnblüte. Zwei Erzählungen aus der Sammlung Nachschriften von Nachtgesprächen (Aus dem Chinesischen von Rainer Schwarz).

Hefte für Ostasiatische Literatur 39. (Nov.) 2005, 21–34 (33–34)

[Hrsg.] SCHEN Tji-feng [SHEN Qifeng 沈起鳳]: Die Scherzglocke. [諧鐸] Einleitung, Auswahl und Übersetzung aus dem Chinesischen, Anmerkungen und Register von Rainer Schwarz.

Berlin: Staatsbibliothek 2006. 133 S.

(Staatsbibliothek zu Berlin. Neuerwerbungen der Ostasienabteilung. Sonderheft 14.)

H. Walravens: [Nachwort] Zur ersten vollständigen deutschen Übersetzung des Shitouji (Hongloumeng) – Geschichte vom Stein.

TSAU Hsüe-tjin [CAO Xueqin]: Der Traum der Roten Kammer oder Die Geschichte vom Stein. Übers. Rainer Schwarz. Bochum: EVS 2007. Bd 2, S. I–XVII

Vladimir Sergeevič Starikov: Die materielle Kultur der Chinesen in den Nordostprovinzen der VR China. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Schwarz. Herausgegeben von Mareile Flitsch und Hartmut Walravens.

Wiesbaden: Harrassowitz 2008. 317 S.

(Opera Sinologica. Dokumente 2.)

Aufzeichnungen über die Meere (Hai-lu海錄). Niedergeschrieben von YANG Bingnan 楊炳南 nach dem mündlichen Bericht von XIE Qinggao 謝清高. Deutsch von Rainer Schwarz. Mit Nachwort und Register herausgegeben von H. Walravens.

Staatsbibliothek zu Berlin 2011. 97 S.

(Neuerwerbungen der Ostasienabteilung. Sonderheft 25.)

H. Walravens: Vorwort.

Aufzeichnungen über die Meere (Hailu海錄). Niedergeschrieben von Yang

Bingnan, nach dem mündlichen Bericht von XIE Qinggao. Übersetzt und mit einer Einführung von Rainer Schwarz. Herausgegeben von Martin Hanke.

Gossenberg: Ostasien-Verlag 2020, XIII–XIX

Autobiographische Skizzen / Rainer Schwarz (1940–2020). Herausgegeben von H. Walravens.

Norderstedt: BoD 2022. 98 S. ISBN 978-3-7568-2743-5

H. Walravens: Rainer Schwarz (1940–2020) zum Gedenken.

Orientierungen 33.2021–22, 1–17

[Hrsg.] Rainer Schwarz: Von Heinrich Heine zu Sai Jinhua und Baron Ketteler (1900). Chinesisches aus der deutschen Geschichte.

Norderstedt: BoD 2023. 128 S. ISBN 978-3-7347-5593-4

Diese stattliche Reihe von Veröffentlichungen wäre ohne Helga Kellers Anregungen und Bemühungen unmöglich gewesen!2

Auch die autobiographischen Skizzen und Dokumente Johann Dills verdanken ihre Veröffentlichung Helga Keller. Sie kannte ihren Kollegen gut und setzte sich dafür ein, daß seine Erinnerungen bekanntgemacht würden. Sie hat außerdem an einem kritischen Punkt seines Lebens die richtigen Ratschläge gegeben, die zu einer positiven Wendung führten, wie Dill selbst berichtet.

Helga Keller hatte wenig Zeit und Gelegenheit zu publizieren. Sie war als Fachreferentin für Ostasien mit ihrer bibliothekarischen Arbeit voll ausgelastet. Dem Herausgeber bekannt geworden sind:

Helga Keller: Die chinesischen Bücher der Bibliothek des Großen Kurfürsten.

In: Der Große Kurfürst, Sammler, Bauherr, Mäzen. Potsdam: Generaldirektion der Staatlichen Schlösser und Gärten 1988, 58–60

Helga Keller: Libri sinici.

In: Herbert Bräutigam: Schätze Chinas in Museen der DDR. Kunsthandwerk und Kunst aus vier Jahrtausenden. Leipzig: VEB E. A. Seemann (1990), 90–96

Die Sammlung Franke in der Preußischen Staatsbibliothek. Bearbeitet von Helga Keller. Herausgegeben und mit Registern versehen von H. W.

Wiesbaden: Harrassowitz 2001. 180 S. ISBN 3-447-04495-0

(Orientalistik Bibliographien und Dokumentationen 15.)

H. Walravens: Libri sinici, Neue Sammlung 1913–1945. Ein Bestandskatalog der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz.

Stuttgart: Steiner 2009. 501 S. ISBN 978-3-515-09314-9

(Chinesische und manjurische Handschriften und seltene Drucke. Teil 6.) (VOHD XII,6)

[Helga Keller hat die Besitznachweise überprüft – keine geringe Arbeit!]

Diese Mitteilungen und Hinweise dürften erklären, warum es dem Herausgeber ein Anliegen ist, Helga Keller für ihre vielfachen Anregungen zu danken und dies in die Form der Widmung dieses Büchleins zu kleiden!

Zum Text von Johann Dills Erinnerungen

Der Originaltext ist ohne Änderungen oder Kürzungen wiedergegeben; lediglich offensichtliche Schreibfehler wurden korrigiert; Seitenverweisungen wurden ausgelassen, da diese Funktion durch ein Register ausgefüllt wird. Die Anmerkungen und Übersetzungen russischer Wörter stammen meist vom Herausgeber.

Ein ganzes Kapitel der Erinnerungen, nämlich die von Christa Dill verfaßte Geschichte des Hausbaus in Erkner mit Hilfe einer «Rentner-Brigade», ist fortgelassen worden, da es zwar lokalgeschichtlich interessant ist, aber nicht orientalistisch. Ebenso sind aus dem Dokumententeil Belege für Werkverträge zum Sprachunterricht nicht abgedruckt. Für freundliche Informationen sei Dr. Oliver Corff und Frau Dr. Cordula Gumbrecht herzlich gedankt. Frau Susanne Keller übermittelte Nachrichten von und zu ihrer Mutter.

1 Doris Heyde (13.6.1931–1993), Sinologin, ebenfalls Assistentin von Paul Ratchnevsky.

2 Hier sei auch der Unterstützung des Abteilungsleiters gedacht, Dr. Rainer Krempien (1942–2022), der liebenswürdig die Schriftenreihe der Abteilung für einige Titel öffnete.

Einleitung

Diese meine Erinnerungen schreibe ich in meinem achtzigsten Lebensjahr auf. Wer ich bin? Mein Name ist Johann Dill, geboren wurde ich am 6. Oktober 1927 in Berlin und bin nun seit 1932 wohnhaft in Erkner, einem Vorort von Berlin, der 30 Kilometer im Osten von Berlin Mitte gelegen ist. Was mich veranlasst hat, meine Erinnerungen an die Zeit meines Aufenthaltes in Lomonosov schriftlich niederzulegen? Das war der Besuch von Frau Dr. Rietschel-Kluge3 im April dieses Jahres. Ich hatte ihr die Photoalben und den Briefwechsel gezeigt, die ich zu diesem Thema habe, und nachdem ich ihr erzählt habe, woran ich mich so aus dieser Zeit erinnere, da fragte sie mich, ob ich das nicht aufschreiben könne, es würde bestimmt den einen oder anderen interessieren. Das habe ich ihr versprochen.

Mein Vater war Chefkonstrukteur für Funk- und Fernmeldewesen bei Telefunken, und da es nach Kriegsende recht umständlich war, nach Berlin rein zu kommen, hat ihm der Personalchef von Telefunken geraten, doch erst einmal im Osten, in Berlin-Schöneweide unter zu kommen, bis der Bahnbetrieb wieder regelmäßig aufgenommen sein würde. Gesagt, getan, Vater übernahm ein Konstruktionsbüro in Schöneweide, das unter russischer Aufsicht stand. Eines Tages, im Sommer 1946, besuchte uns ein russischer Offizier, um, wie er sagte, festzustellen, welche Kriegsschäden unser Haus aufzuweisen hat, damit diese dann behoben werden können. Er hat sich die Wohnung angesehen und einige Notizen gemacht und sich freundlich verabschiedet. Wie wir nun wissen, hat er uns er nicht der Kriegsschäden wegen besucht, sondern um festzustellen, wie viel Laderaum pro Eisenbahnwagon beim Verladen unseres Hausstandes bereit gestellt werden muß. In der Nacht zum 23. Oktober 1946 klopfte es dann an unserer Haustür (das Gartentor hatten wir nie abgeschlossen) und mein Vater klopfte, bevor er aufschloß, an meine Tür und bat mich aufzustehen, da draußen könnten Russen sein. So war es. Ein russischer Offizier bat, meinen Vater zu sprechen. Wir ließen ihn eintreten, ich blieb im Flur zurück und Vater führte ihn ins Wohnzimmer. Vater hat mir dann erzählt, der Offizier hätte ihm gesagt, daß Stalin ihn zur Arbeit in der Sowjetunion einlädt, worauf Vater geantwortet hat, er danke sehr für die Einladung, aber er hätte hier reichlich Arbeit und möchte doch lieber hier bleiben. Na und dann wurde ihm klar gemacht, dass die Einladung nicht abgelehnt werden kann. Draußen auf der Straße standen Lastkraftwagen und russische Soldaten bereit, und wir wurden «eingeladen» in direktem und übertragenem Sinne. Wir konnten alles mitnehmen, was wir wollten. Ab ging es zum Güterbahnhof in Erkner, dort stand ein langer Güterzug und entsprechende Personenwagen bereit; ununterbrochen rollten auch aus Berlin die Lastwagen mit eingeladenen Spezialisten plus Hausrat heran, ich durfte das Bahngelände verlassen (die Spezialisten natürlich nicht) und eilte zu meinem Schulfreund, um ihm die Neuigkeit zu vermelden. Ich bekam noch eine schöne Ausgabe französischer Schriftsteller als Geschenk mit, eilte zurück, und als der Tag anbrach setzte sich unser Sonderzug gen Osten in Bewegung. Wir bekamen Lebensmittel zugeteilt und fuhren nun einer doch recht ungewissen Zukunft entgegen, nach Leningrad hieß es, sollte es gehen. Wie lange die Bahnfahrt gedauert hat, erinnere ich mich nicht mehr, doch mindestens eine Woche, wenn nicht gar 14 Tage. In Brest-Litowsk wurde alles umgeladen auf russische Spurbreite und russische Personenwagen mit Samowar und Zugpersonal für jeden Wagen mit breiten Liegemöglichkeiten pro Person, es war sehr gemütlich und für mich sehr spannend. Nun wurde mir klar, dass ich jetzt Russisch zu lernen hatte. In der Schule in Erkner hatte ich mich geweigert, Russisch zu lernen, keine Lehrbücher, letzte Klasse vor dem Abitur, keine ordentlichen Kenntnisse in den Schulfremdsprachen Englisch, Französisch, Latein und nun noch Russisch! Nein und abermals nein! Aber nun? Unser Russischlehrer, Herr Stauf, der lange Jahre in Sankt Petersburg an einer Bank gearbeitet hat, hat immer zu mir gesagt, «wenn Sie wüßten, wie schön es ist, Puschkin zu lesen in dieser Sprache». Wie recht er gehabt hat. Ich habe ihm das nach unserer Rückkehr bestätigt. Die ersten Bekanntschaften wurden im Zug gemacht, die dann über Jahre hinaus beibehalten wurden. Das uns «Reisenden» unbekannte Ziel war Sestrorezk. Baedekers Russland, Leipzig 1912, S. 188 macht folgende Angaben: Von Nowaja Derewnja nach Ssestrorezk: 26 Werst Ssestrorezk, mit einer von Peter dem Großen gegründeten kaiserlichen Gewehrfabrik, nach 29 Werst Kurort-Ssestrorezk, ein 1900 am Finnischen Meerbusen inmitten Nadelwaldes angelegter Badeort (Kurhaus, mit großem Konzertsaal, 64 Zimmer ...), mit einem Bronzestandbild Peters des Großen als Zimmermann, Sanatorium, Strandpromenade (abends elektrisch beleuchtet), geschützter Wandelhalle, Badekarren usw. Dort wurden die Spezialisten und ihre Familienangehörigen an zwei Standorten untergebracht, die zum einen aus zwei großen Villen und zum anderen aus einem etwa 10 Minuten Fußweg von diesen entfernt gelegenem größeren Gebäudekomplex, dessen amtliche Bezeichnung 15 Дом отдыха [Ferienhaus] war, bestanden. Unsere Familie (die Eltern, meine kleine Schwester (12 Jahre alt) und ich (19 Jahre alt) wurden in der einen Villa untergebracht, in der auch Herr Abermeth und Frau, und Herr und Frau von Löwis mit ihren vier Söhnen Herrmann, Andreas, Richard und Michael wohnten. Die andere Villa nebenan bezogen Chemiker aus Leuna, Herr Dr. Wyszomirsky und Frau mit ihren drei Kindern Rosemarie, Ernst und Helmut, Herr Dr. Kaufmann mit Frau und Sohn Gerhard, Herr Lorenz mit Frau und Sohn, dann (keine Chemiker) Professor Lübke, Herr Dr. Gutsche mit Frau und noch weitere Forscher, an die ich mich aber nicht erinnern kann. Viele weitere Spezialisten bezogen dann ihre Quartiere im besagten Дом отдыха. Wir Villenbewohner marschierten jeweils zu den Mahlzeiten dorthin in eine gemeinschaftliche Stolovaja [Kantine]. Unsere Familie hat sich dann aber bald selbständig gemacht, wir bekamen die uns zustehenden Lebensmittel ausgehändigt und Mutter bekochte uns wie gewohnt in bester Weise. Und nun harrten wir der Dinge, die da kommen sollten. Man hoffte auf einen Sprachkursus, der aber nie zustande kam, ich glaube, man war nicht daran interessiert, und so kam es, daß nach einigen Wochen unseres Daseins in Sestrorezk eines Tages Herr Abermeth die Frage an mich richtete, ob ich ihm nicht Russisch beibringen möchte. Auf meine erstaunte Erwiderung, daß ich ja selbst nicht Russisch kann, sagte er, doch, ich sehe Sie immer mit Vokabelheft zum Essen gehen, sie müssen also mehr wissen als ich. Das war die Grundsteinlegung für meine Russischkenntnisse (verbunden mit einem königlichen Honorar von 20 Rubeln pro Stunde), denn wer lehrt, der lernt. Für mich selbst hatte mein Vater gesorgt. In dem nahegelegenen Wohnort war er einer jungen russischen Frau begegnet, die im Kriege in Deutschland arbeiten mußte und also etwas Deutsch sprach. Sie hieß Nina. Vater engagierte sie, und sie machte Russisch mit mir: was heißt Fenster, Zimmer, Stuhl, Tisch usw., ich lernte die Aussprache und war erst einmal untergebracht und beschäftigt, während meine kleine Schwester sich noch der Freiheit erfreute. Für uns Jugendliche fortgeschrittenen Alters organisierten die Forscher einen kleinen Schulbetrieb, so machte z. B. Herr Hildebrandt deutsche Literatur mit uns. In Sestrorezk habe ich auch erfahren, in welch schlechtem Ruf wir Berliner standen. Wir Jugendlichen wollten einmal nach Leningrad fahren, aber ein Mädchen durfte nicht mit, weil da ein Berliner (das war ich) dabei war.

Hauptgebäude des Menschikov-Schlosses Wikipedia (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d4/Menshikovsky_Palace_in_Oranienbaum_01.jpg)

Als wir in Sestrorezk ankamen, es war Anfang November, lag bereits Schnee und es war kalt. Von deutschen kriegsgefangenen Schneidern konnten wir uns nun saisongemäß einkleiden lassen, Wintermäntel, Anzüge, wir machten die erste Bekanntschaft mit den russischen Filzstiefeln (валенки), ich kaufte mein erstes russisches Buch: Gorki: Das Nachtasyl (На дне), was natürlich für einen Anfänger viel zu schwer war, und als ich eines Tages mit dem dicken Wörterbuch von Pavlowski aus Leningrad kam, hat man mir einreden wollen, ich hätte mich bekauft, was natürlich nicht stimmte, in der DDR ist dieses Wörterbuch im Nachdruck für 90 Mark auf dem Büchermarkt erschienen.

Im Frühsommer des nächsten Jahres (1947) sind dann die Spezialisten aus Eckernförde und einige, die woanders her kamen, nach Oranienbaum umgezogen, das 1948 zu Lomonosov umbenannt wurde. Untergebracht wurden wir im Schloß Menschikov (дворец Меншикова), die meisten im Schloßflügel an der Straßenseite, einige im Mittelteil des Schlosses, aus dem sie dann aber nach einiger Zeit in den anderen Schloßflügel umziehen mußten, wo dann die Familie von Löwis, Herr Scholz mit Frau und Tochter Helga, Herr Dr. Gutsche mit Frau, Herr Professor Lübke, Herr Bachmann wohnten. In unserem Flügel wohnten Frau Dühring mit zwei erwachsenen Töchtern, Herr Ewald, Herr Böse, Herr Gräfe, Herr Sedler mit Frau und Tochter Ingrid, Herr Martin mit Frau, Herr Graf mit Frau, Fräulein Jäschke, Herr Glöde, Herr Promnitz mit Frau und Tochter, Herr Kroll mit Frau und zwei Töchtern, Herr Hildebrand mit Frau, Herr Dr. Klemke mit seiner Mutter, Herr Macbach, Herr Dr. Heinzerling mit Frau, Herr Magerstädt mit Frau, Herr Gramüller mit Frau und Sohn, Herr Abermeth mit Frau, Herr Dill mit Frau, Tochter und Sohn, Herr Simmel mit Frau und Tochter Anita, Herr Lawitschka mit Frau, Tochter und Sohn und Herr Mysliwetschek mit Frau und zwei Töchtern.4

Ich wage zu behaupten, daß wir es von allen Rußlandfahrern des Leningrader Raumes am besten getroffen hatten, der herrliche Park mit seiner schöner Umgebung, die bequeme Verbindung nach Leningrad per elektrischer Bahn, die unmittelbare Nähe von Peterhof mit seinem leider zerstörten Schloß aber den großartigen Wasserspielen. Und noch eines ist als bemerkenswert an dieser Stelle zu erwähnen. Wir sind 1 Jahr nach dem furchtbaren Krieg nach Rußland gekommen. Alle großen Schlösser um Leningrad durch den Krieg zerstört, die Hungerblockade in Leningrad, und trotz all dieser Greuel und Schrecknisse ist man uns Deutschen immer und überall, auf den Straßen, auf dem Markt, in der Schule, in der Universität freundlich und ohne Haß begegnet!

Was die Forscher in ihrer Freizeit getrieben haben, wie Russisch gelernt wurde, das alles geht auch aus den Briefstellen hervor und braucht hier nicht wiederholt zu werden. Ein kleines Problem hatten wir aber immer mit dem Weihnachtsbaum zum 24. Dezember, da gab es noch keine zu kaufen und wir stibitzten sie aus dem Wald. So auch Dr. Klemke5. Die Kollegen hatten gesprächsweise gehört, daß er sich einen besorgen wollte, da und da und zu der und der Zeit. Da haben sich nun einige Kollegen an bezeichneter Stelle versteckt, und als sich der Delinquent mit seinem Bäumchen auf und davon machte, ließen sie ihn ein Stück des Weges ziehen, brachen dann aus ihrem Versteck hervor und verfolgten ihn in gehöriger Entfernung und mit lautem Rufen «СТОЙ, СТОЙ!» [HALT, HALT!], bis der zu Tode Erschrockene und Geängstigte im Schloßeingang verschwand. Während meines Schulbesuches in Lomonosov wurde nun eines Tages im Literaturunterricht Fadeevs Werk «Молодая гвардия»6 besprochen, wo auch die Greueltaten der deutschen Soldaten zur Sprache kommen. Ich saß während dieser Zeit recht unglücklich auf meiner Schulbank, und als die Stunde zu Ende war, hat mich unsere Russischlehrerin, Валентина Никoлаевна Лошёнева7, zu sich gerufen und gesagt: Jogan, wenn Sie so dasitzen, kann ich den Unterricht nicht weiterführen. Es gibt das russische Sprichwort «Нет семи без урода8» (Keine Familie ohne Mißgeburt), und als in der Physikstunde unserem Lehrer die Kreide zerbrach und ich, der vorn saß, aufstand und sie ihm aufhob, hat er sich an die Klasse gewandt und irgendetwas gesagt, ich weiß aber nicht mehr genau, was er gesagt hat. Wie ich meinen Klassenkameraden im Deutschen nicht mehr helfen durfte, da die Lehrerin festgestellt hatte, ich würde ein falsches Deutsch sprechen, habe ich in den Briefstellen erzählt. 1950, als ich dann nach der Schulzeit zur Aufnahmeprüfung zur Universität nach Leningrad mußte, wurden mein Vater und ich am Vorabend zu unserem Kommandanten beordert. Dieser Kommandant hatte in der Kolonie den Spitznamen «Sekundenzeiger» erhalten, es war irgendwie ein verklemmter, ein wenig kleinlicher Charakter, der uns nun eröffnete, ich dürfte an der Universität mit keinem Mädchen sprechen, dürfte mich nur im Universitätsgebäude aufhalten und hätte nach dem Unterricht schnurstracks auf geradem Wege ins Schloß zurückzukehren (ich war nun der einzige in der Kolonie, der im Falle bestandener Aufnahmeprüfung ohne Begleitung eines Dolmetschers in Zukunft umherflattern konnte). Na, Vater und ich haben ihm beteuert und versichert, daß wir getreulich und gewissenhaft nach seinem Gebote handeln würden. Der Dolmetscher, der mich an der Universität abliefern sollte, wurde benannt, die Uhrzeit festgelegt. Und wer am nächsten Morgen nicht da war, war der Dolmetscher. Da habe ich mir die Zug- und Wagonnummer aufgeschrieben, bin zum Wagenbegleiter (вагоновашатый9) gegangen, und habe ihn gebeten, mich in Leningrad beim Bahnhofskommandanten abzuliefern. Trotz seinem völligen Unverständnis hat er es schließlich getan. Das gleiche Unverständnis und Verwunderung legte auch der Bahnhofskommandant an den Tag, als ich ihm meine Geschichte erzählte und ihn bat, mich in der Universität abzuliefern und wieder abzuholen. Er machte sich ein paar Notizen, wünschte mir «HИ nyxa HИ nepa» (Hals- und Beinbruch) und entließ mich offensichtlich erheitert ohne seine Begleitung.

Die Aufnahmeprüfung bestand ich bei so guten Wünschen des Bahnhofskommandanten, ich kehrte allein zurück und nach kurzer Zeit erhielten wir einen Oberst a. D., einen sehr, sehr netten neuen Kommandanten für die verbleibenden Jahre unseres Aufenthaltes in Lomonosov, und ich habe an der Universität mit meinen Kommilitoninnen gesprochen und bin nicht immer nach der Vorlesung schnurstracks ins Schloß zurückgekehrt. Mit meinem Freund Juri Veledin mußte ich den Kontakt aufgeben, da er nach dem Abitur die Offiziersschule besuchte und keinen Kontakt zu Ausländern haben durfte. An der Universität war ich dann mit Sascha Menschikov eng befreundet. Er hat mir erzählt, daß sein Vater im Krieg umgekommen sei, und daß ich ihm dennoch so sehr symphatisch sei, und ich habe ihm erzählt, daß russische Soldaten meinen Onkel Rudolf erschossen haben, als er sich vor seine älteste Tochter gestellt hat, und wir haben uns beim Abschied versprochen, immer am 1. Mai aneinander zu denken. Ob er wohl noch am Leben ist?