Johannes Hasselhorn 1924 - 2022 -  - E-Book

Johannes Hasselhorn 1924 - 2022 E-Book

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Beschreibung

Das Buch enthält Lebensläufe, Briefe, Vorträge und Predigten von Johannes Hasselhorn (1924-2022). Stationen seines Berufslebens waren das Pfarramt in Buttenhausen (Münsingen), die Landjugendakademie in Altenkirchen, die Heimvolkshochschule Hermannnsburg, das Landeskirchenamt Hannover als Dezernent für Erwachsenenbildung und Mission sowie das Amt für Missionarische Dienste in Stuttgart. In all diesen Berufsfeldern hat er soziologische Fragestellungen aufgegriffen und diese theologisch beleuchtet. In seinem Referat "Glaubenshilfe gestern und heute - was geben wir weiter?" auf der Altschülertagung 2014 hat er sein theologisches Testament in drei Punkten zusammengefasst: 1. dem Verständnis der Juden als Volk Gottes und dessen bleibender Erwählung 2. der Verwantwortung von Christen als Staatsbürger im demokratischen Rechtsstaat und 3. der biblischen Begründung der Frauenordination.

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Inhaltsverzeichnis

1 Johannes Hasselhorn, 1924-2022

1.1 Johannes Hasselhorn, Lebenslauf, 2010

1.2 Johannes Hasselhorn, 92. Geburtstag, 11.08.2016

1.3 Johannes Hasselhorn, Ein Arbeitstag meines Vaters

1.4 Johannes Hasselhorn, Aus meinem Leben

1.5 Johannes Hasselhorn, 45 Bilder aus 90 Jahren, Präsentation zum 90. Geburtstag, Teil 1

2 Lisa Pfitzer, 1925-2010

2.1 Geschichten von Dorle und Margret über ihre Schwester Lisa

2.2 Zeugnisse für Lisa Pfitzer

2.3 Landwirtschaftsschule Reutlingen, 23.10.1950

2.4 Lisa Pfitzer, Tagebuch 1951

2.5 Landwirtschaftsministerium, 27.11.1951

2.6 Lisa Pfitzer, I. Lagebericht von der Gemeinde Pfalzgrafenweiler, Dezember 1951

2.7 Johannes Hasselhorn, Zum 80. Geburtstag von Elisabeth Hasselhorn, geb. Pfitzer, am 26.10.2005

2.8 Lisa Hasselhorn, Die Dorfhelferin im Familieneinsatz

3 Pfarramt Buttenhausen

3.1 Johannes Hasselhorn, 45 Bilder aus 90 Jahren, Teil 2

3.2 Johannes Hasselhorn, Wie die Juden nach Buttenhausen kamen

3.3 Johannes Hasselhorn, Die Lage der evangelischen Jugend auf dem Lande

4 Landjugendakademie Altenkirchen

4.1 Johannes Hasselhorn, 45 Bilder aus 90 Jahren, Teil 3

4.2 Johannes Hasselhorn, Wortverkündigung und Gesellschaftsdiakonie auf dem Lande

4.3 Johannes Hasselhorn, Rede zum 80. Geburtstag von Elisabeth Hasselhorn, geb. Pfitzer, am 26. Oktober 2005

5 Heimvolkshochschule Hermannsburg

5.1 Johannes Hasselhorn, Ortsgemeinde in soziologischer Sicht

5.2 Johannes Hasselhorn, 45 Bilder aus 90 Jahren, Teil 4

5.3 Johannes Hasselhorn, Konzeption einer Erwachsenenbildungsarbeit der evangelischen Kirchen in Niedersachsen

5.4 Johannes Hasselhorn, Das wandernde Gottesvolk

5.5 Albrecht Schack, Johannes Hasselhorn zum 90. Geburtstag

5.6 Fritz Hasselhorn, Erinnerungen an das Missionsseminar

5.7 Johannes Hasselhorn, 20 Jahre vertiefte Gespräche - ein Altschülerkreis

5.8 Gustav Isernhagen, Nachruf, 2022

6 Landeskirchenamt Hannover

6.1 Johannes Hasselhorn, 45 Bilder aus 90 Jahren, Teil 5

6.2 Johannes Hasselhorn, Auf dem Weg zu einem niedersächsischen Missionszentrum

6.3 Zum Theologischen Standort der Missionsanstalt Hermannsburg

6.4 Fritz Hasselhorn, Erinnerungen an die Zeit in Hannover

6.5 Johannes Hasselhorn, Partnerschaft zwischen alten und jungen Kirchen

6.6 Johannes Hasselhorn, 20 Jahre ELM: Träume - Realisierung - Handlungsbedarf

6.7 Johannes Hasselhorn, Thesen zur Evangelischen Erwachsenenbildung

7 Missionarische Dienste Stuttgart

7.1 Johannes Hasselhorn, 45 Bilder aus 90 Jahren, Teil 6

7.2 Johannes Hasselhorn, Abschiedswort

7.3 Johannes Hasselhorn über Pietisten und Evangelikale

8 Ruhestand Hermannsburg

8.1 Johannes Hasselhorn, 45 Bilder aus 90 Jahren, Teil 7

8.2 Johannes Hasselhorn, Priestertum aller Getauften

8.3 Johannes Hasselhorn, Predigt zu 50 Jahren Kriegsende

8.4 Johannes Hasselhorn, Glaubenshilfe gestern und heute - was geben wir weiter?

8.5 Johannes Hasselhorn zum 80. Jahrestag seiner Konfirmation, 16. Juni 2019

1 Johannes Hasselhorn, 1924-2022

1.1 Johannes Hasselhorn, Lebenslauf, 2010

Anlässlich der Beerdigung unserer Mutter übergab mein Vater mir, Fritz Hasselhorn, seinen Lebenslauf mit der Bitte, ihn auf seiner Beerdigung vorzulesen. Meine Ergänzungen sind kursiv gedruckt.

Zum Begräbnis

Von Johannes Hasselhorn

Geboren am 11. August 1924 in Westerstede in Oldenburg. Mein Vater war damals arbeitslos, meine Mutter Handwerkerstochter aus Heilbronn.

Mit 12 Jahren Umzug nach Heilbronn

Mit 14 Jahren dort konfirmiert mit dem Gedenkspruch Matthäus 10, 32f.: ”Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“

Dieses Wort Jesu war oft richtungsweisend in meinem Leben.

Mit 18 Jahren wurde ich Matrose.

Mit 21 Jahren begann ich nach zwei Schiffsuntergängen und mit unausgeheilten Kriegsverwundungen das Studium der Theologie in Tübingen. In Göttingen lernte ich den Lehrer kennen, dessen theologisches Denken mich ein Leben lang befruchtet hat, in Professor Hans Joachim Iwand.

Mit 27 Jahren wurde ich Pfarrer in Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb.

Mit 28 Jahren bekam ich das größte Geschenk des Lebens und heiratete die Dorfhelferin Lisa Pfitzer aus Kohlstetten. Uns wurden sechs Kinder geschenkt, die mit ihren Ehepartnern und Kindern die Freude und der Reichtum unseres Lebens waren.

Ich darf hier ergänzen: Besonders bereichert haben ihn seine Enkel und Urenkel, von denen viele heute anwesend sein können. Bis in seine letzten Tage freute er sich an ihren Bildern, Besuchen und Briefen und ließ sich in die Missionshandlung fahren, um Geschenke für sie auszusuchen.

Mit 34 Jahren wurde ich Studienleiter an der Evangelischen Landjugendakademie in Altenkirchen im Westerwald,

mit 36 Jahren Leiter der Heimvolkshochschule in Hermannsburg,

mit 47 Jahren Oberlandeskirchenrat in Hannover

mit 55 übernahm ich nebenamtlich den Geschäftsführenden Vorsitz der deutschlandweiten Aktion ”Missionarisches Jahr 1980“,

Mit 58 Jahren die Leitung der Missionarischen Dienste der Württembergischen Landeskirche.

Als ich mit 65 Jahren pensioniert wurde, zogen wir gerne wieder nach Hermannsburg.

Im Rahmen seiner Kräfte blieb er auch nach der Pensionierung tätig. Zum 50jährigen Kurstreffen bat ihn sein erster Kurs an der Heimvolkshochschule um einen Blick auf ”Glaubenshilfe gestern und heute – was geben wir weiter?“1 In seinem Referat nannte er drei wichtige Themen:

die Erkenntnis von der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes,

den Einsatz der Christen für den demokratischen Rechtsstaat und den Widerstand gegen den Missbrauch von Macht,

die Erkenntnis von der biblischen Begründung der Frauenordination.

Er war überzeugt, dass die Kirche der Gesellschaft ein klares Wort schuldet. Zur Landwirtschaftsdenkschrift der EKD gab er den Anlass und hat sie zu großen Teilen selbst verfasst. Als Mitglied der Kammer der EKD für soziale Ordnung hat er auch an weiteren Denkschriften mitgearbeitet, bis der Dienst hier in der Heimvolkshochschule ihm nicht mehr die Zeit für diese Tätigkeit ließ.

Er blieb zeitlebens ein Lesender und ein Lernender. Sein Lebenslauf schließt mit den Sätzen:

Es war ein reiches Leben, erfüllt mit vielen Bewahrungen und Wundern. Mein Herz ist voll Dank gegen Gott, in Seine Hände lege ich es zurück.

1.2 Johannes Hasselhorn, 92. Geburtstag, 11.08.2016

Vor einiger Zeit schickte mir mein Vetter mütterlicherseits eine Kopie der Tageszeitung der Stadt Heilbronn vom Juli 1925. Dort wurde gemeldet, dass die älteste Bewohnerin der Heilbronner Südstadt, ja, wohl ganz Heilbronns, gestorben sei. Im Alter von 92 Jahren sei unsere Urgroßmutter Marie Hartmann, geb. Kottler im Hause ihres jüngsten Sohnes verstorben. Diese, aus einem Dorf in der Nähe von Tübingen stammende Frau, hatte in jungen Jahren den 7 Jahre älteren Schmiedemeister Ernst Hartmann in Heilbronn geheiratet. Der Betrieb scheint um 1870 bereits 12 Gesellen beschäftigt zu haben. Ihr Mann ist 46 Jahre alt, als ihn ein tödlicher Unfall aus dem Leben reißt. Sie heiratet keinen Gesellen, wie es damals noch Handwerksbrauch war, und versucht, den Betrieb zu halten, aber sie verlor alles – wahrscheinlich durch Betrug. Die sechs älteren Kinder reisten nach Amerika aus. Heute haben sich ihre Spuren für uns verloren. Der jüngste Sohn, mein Großvater, bleibt bei der Mutter und kann nur noch Schuhmacher werden, was damals als sozialer Abstieg galt.

Sie lebte Jahrzehnte in der Fischergasse, eine uralte Innenstadtstraße, die wachsende Sozialprobleme hatte. In Heilbronn nannte man sie die Prozeß-Marie. Sie, die gradlinig rechtlich dachte, fand wohl viele Gründe, die Polizei zu holen. Mein Großvater hatte auf ärztliches Anraten den Beruf als Schuhmacher aufgeben müssen und sich außerhalb der Stadt, mitten in Weinbergen, angesiedelt. Da stand die alte Mutter, mit einem kleinen Bündel eines Tages kurz nach dem 1. Weltkrieg vor dem Haus, setzte sich auf eine Bank und erklärte ihrem Sohn, dass sie hier nicht mehr weg gehe. Bei vier erwachsenen Enkeltöchtern, von denen noch zwei im Haus waren, wurde sie auch wohl gut versorgt: sie wurde ’getröstet‘ und konnte ’genesen‘. Sie durfte es erleben, sonst hätte sie die 92 wohl nicht erreicht.

Auch meine Mutter starb mit 92 Jahren in Heilbronn. Aber das kam nicht mehr als Sondermeldung in der Zeitung. Mit 14 Jahren kam sie nach Stuttgart zu einer ’Frau Finanzrätin‘, den Namen hat sie uns großen Kindern nie gesagt. Jeden Pfennig, den sie verdiente, musste sie dem Vater geben. Mit etwa 20 Jahren wechselte sie zu Verwandten in die Schweiz, die ein Hotel aufgemacht hatten und jemanden für die Küche brauchten. Die letzte Mahnung des Vaters: ”Keinen Mann angucken, bevor Du 25 bist“. Wie musste sie ihr Herz oft festhalten, hat sie uns später erzählt. Mit Ausbruch des 1. Weltkrieges ging es zurück nach Deutschland. Zum 25. Geburtstag 1915 kam der ’Traummann‘: Er war Finanzbeamter und im Krieg Zahlmeister. Es waren die glücklichsten Jahre ihres Lebens. Sie sah sich schon als Frau ’Finanzrätin‘ an der Seite dieses Mannes.

Zwei Jahre später ist alles vorbereitet zur Hochzeit und für den Ehestand. Der Wohnzimmerschrank ziert heute noch das Wohnzimmer eines meiner Söhne: 100 Jahre alt. Sie eilt zum Bahnhof, um den Bräutigam abzuholen, in der Zwischenzeit bringt der Postbote ein Telegramm nach Hause mit der Nachricht seines Soldatentodes. ”HERR Gott Zebaoth tröste uns“.

Der Krieg ist vorüber, mein Vater Friedrich Hasselhorn hat als Soldat weiter zu dienen. Auch er hatte sich im Krieg verlobt mit einem Mädchen aus dem Elsass. Mit Kriegsende zwingt der Vater dieses Mädchens sie die Verlobung aufzulösen. Als sie dem Vater endlich gehorcht, wird sie umgehend Diakonissin. Zwei, die auch nur noch schreien können: ”HERR Gott Zebaoth, tröste uns wieder.“

Nicht nur meine Mutter, die zwar nicht ”Frau Finanzrätin“ wurde, sondern mit meinem Vater einen Freund ihres Verlobten ehelichte.

Auch das Mädchen aus dem Elsass erfuhr spät das Leuchten des Antlitzes Gottes. Mein älterer Bruder lag als verwundeter Soldat in Strassbourg im Lazarett. Mein Vater nahm mit der ehemaligen Verlobten Kontakt auf. Sie war inzwischen Oberin im Diakonissenhaus in Strassbourg und kümmerte sich um meinen Bruder, als ob es ihr eigener Sohn wäre. Zwischen den beiden gab es auch weiterhin einen herzlichen Briefwechsel bis zu seinem Soldatentod Anfang 1945. So erfuhr auch die Oberin ein spätes Leuchten des Antlitzes Gottes. Es muss für sie eine Heilung der Seele gewesen sein.

”HERR Gott Zebaoth, tröste uns wieder; lass leuchten dein Antlitz, so genesen wir“.

Das gehört zu den Lebenserfahrungen, die wir machen dürfen und mit denen Menschen selbst 92 Jahre alt werden können.

1.3 Johannes Hasselhorn, Ein Arbeitstag meines Vaters

Schöntal, 5.10.1938, 4. Deutschaufsatz im Schuljahr 1939/1940

Norddeutsche Landschaft. Ein Kanal, eine holprige Straße. Rechts und links der Landstraße stehen Eichenbäume. Auf den Wiesen weiden schwarz-weiße Kühe. Ein kühler Wind streicht über das Land. Hin und wieder sieht man ein Bauerngehöft, das von stämmigen Bäumen eingerahmt ist.

Auf der Landstraße rattert ein Motorrad daher. Der Fahrer ist ganz in Leder gehüllt. Das Rad wirbelt große Staubwolken auf.

Endlich hält das Motorrad vor einem der großen Höfe, die abseits vom Wege liegen. Ein Hund springt kläffend dem Fahrer entgegen, ist aber sofort ruhig, da er eine bekannte Stimme vernimmt. Der Mann tritt durch die große Dielentür ins Haus ein. Im Haus gibt es ein frohes Begrüßen. Der Fahrer muss erzählen, wo er heute schon war. Er hat in Weymoor schon eine Stunde gehalten, und hat in Oldersum einen Besuch gemacht. Er freut sich, dass er so glücklich angekommen ist, und sein Tagesziel erreicht hat. Endlich steht eine dampfende Schüssel vor ihm. Herzhaft greift er zu, und die Bäuerin freut sich, dass ihm ihr Buttermilchbrei so gut schmeckt.

Nach und nach füllt sich die große Küche mit Männern und Frauen. Stühle und Bänke werden herangebracht. Die Leute setzen sich. Es sind alles Bauern, hohes, hartes Friesengewächs. Merkwürdig ist, wie ihre Gesichter leuchten. Sie geben dem Mann alle die Hand und er hat für jeden ein Wort. Die Leute fangen an, ein Lied zu singen, Strophe um Strophe. Der Mann im einfachen Anzug betet mit ihnen. Er steht auf. Er spricht zu ihnen. Die Leute hören gespannt zu. Er spricht über eine Bibelstelle. Er steht und redet fast eine Stunde lang. Dann singen die Leute wieder, der Redner spricht ein Gebet und dann gehen die Zuhörer, still, wie sie gekommen sind, wieder auseinander. Nachdem alle Leute fort sind, rückt die Familie wieder zusammen. Der Hausherr bespricht noch mancherlei mit dem Mann. Die Hausherrin schenkt Tee ein, und das Hausgesinde hört still zu. Spät in der Nacht geht man dann ins Bett. Auch der Mann legt sich müde auf sein Lager, um für einige Stunden zu ruhen.

Dieser Mann ist mein Vater, und das Land seine und meine Heimat.

1.4 Johannes Hasselhorn, Aus meinem Leben

Schöntal, 24.4.1939, 1. Deutschaufsatz im Schuljahr 1939/1940

Der 12. und letzte Geburtstag in meiner norddeutschen Heimat war gefeiert.

Unsere Familie sollte nach Süddeutschland übersiedeln. Alle waren voll großer Erwartungen.

Wohl standen mir Freunde, ja sogar Blutsfreunde, zu Seite; aber ich sah nur das Neue, das Schöne und das Begeisternde vor mir.

Die Freunde mussten versichert werden, dass ich ihnen oft, sehr oft schreibe und dass ich sie im Sommer besuchen wolle.

Der Abschiedstag kam. Er kam sehr ungelegen. Wir hatten vorher gefeiert und jetzt galt es, für Jahre Abschied zu nehmen. Es war mir etwas merkwürdig und bang, aber ich zeigte es nach außen hin nicht.

Die letzten Abschiedsworte waren verhallt, und der Zug auf großer Fahrt. Ich war im Abteil der lustigste, denn es erwartete mich etwas Großes, Unbekanntes und Schönes. Ich wollte Berge sehen, wollte mich mit Kameraden tummeln und wollte fröhlich sein.

Ich wusste nicht, dass ein großes ”Aber“ vor mir stand.

Bis zum Schulanfang klappte alles. Der erste Schultag rückte an.

Ich war übermütig wie selten. Schon um fünf Uhr war ich aufgestanden. Was mein Vater mir sagte, weiß ich nicht mehr, alles das war mir im Augenblick Nebensache, ich sah bloß die pfundige Kameradschaft.

In der ersten Stunde wollte ich mit den Jungen reden. Ich brachte es fertig, aber, jetzt kam das erste Aber, ich wurde ausgelacht, weil, ja weil ich nicht schwäbeln konnte.

Ich merkte bald, dass sich ein Fremdkörper in der Klasse war. Ich versuchte auf alle Weise den Schulkameraden nah zu kommen. Es gelang nicht. Ich war und blieb verstoßen.

Als ich merkte, dass alles aus war beschlich mich eines Tages das Heimweh. Ich schrieb Briefe, gewaltige Briefe, und wartete von Post zu Post auf Antwort. Sie kam, aber mir viel zu langsam. Ich wollte zurück, aber wie? Ich sehnte mich nach Kameradschaft, aber wo fand ich sie?

Die Stunden, Tage, Wochen und Monate schlichen vorbei, und in mir fraß das Heimweh.

Der Winter kam, matschig und nasskalt. Ich dachte immer, jetzt werden sie Schlittschuh laufen,jetzt Schneeballschlachten schlagen, werden Weihnachtsfeiern halten, und ich, ich bin nicht dabei, bin fort, und ein Fremdling, mich versteht ja niemand, kein Mensch.

Ich kam in die Jungschar. Ich fand Kameraden, aber ich fand keine Freunde. Irgendetwas war fremd, war lächerlich an mir, und das war die Sprache.

Im vergangenen Sommer besucht ich meine Heimat wieder, und ich fand, dass sie mir treu geblieben war, ich fand, dass mir Freunde noch wie damals zusammenhielten. Ich sah meine Heimat, ich sah sie, und ich wusste, dass sie mir treu geblieben war. Ich weiß jetzt, dass man mich niemals von der Heimat trennen kann, und ich weiß, dass ich ihr gehöre, und sie gehört mir.

1.5 Johannes Hasselhorn, 45 Bilder aus 90 Jahren, Präsentation zum 90. Geburtstag, Teil 1

Alles Leben ist von Anfang bis Ende unendlich kostbar. Menschen sind aber auch ein fehlsames Stückwerk, unvollkommen und kritisierbar. Meine 90 Jahre waren nicht anders. Mit tiefer Dankbarkeit sehe ich aber auch, dass diese Jahre von Wundern begleitet waren. Einige sollen diese Bilder sichtbar machen.

Familie Hartmann 1917

Menschliches Leben beginnt unter dem Herzen einer Mutter. Meine Mutter ist die Jüngste im Kreise von vier Schwestern. Ihr jüngerer Bruder ist als Leutnant auf Fronturlaub. Der Vater ist Schuhmachermeister und Stadtarmenpfleger, die Mutter stammt aus der Schweiz.

Fritz Hasselhorn sen. 1915

Mein Vater, Ammerländer Bauernsohn. Als Feldwebel ist er ”Zwölfender“2 und preußischer Ausbilder beim württembergischen Heer, Königin-Olga-Dragoner-Regiment in Stuttgart.

Taufe Johannes Hasselhorn, 31.8.1924

Als Täufling gehalten von meiner Großmutter in Ammerländer Tracht. Neben mir mein älterer Bruder. Taufe bedeutet hineingezogen sein in den Prozess von Tod und Auferstehung Jesu. Meine Mutter pflegte nach der Taufe eines Kindes zu sagen: ”Es sieht schon viel heller aus“. Sie verstand diesen Prozess ganz handgreiflich.

Fritz und Johannes ca. 1928

Immer wusste sich mein älterer Bruder für mich verantwortlich. Er war immer für mich da, ohne mich zu gängeln.

Spielen vor dem Haus in Westerstede

Spielen mit Nachbarskindern auf der Straße, in den Wiesen, im Klöterbusch war unser Leben. Es waren wunderschöne und behütete Kinderjahre.

Pfimpfenführer mit Karl Wilkens 1936

Bereits 1932 wurde das Land Oldenburg von den Nazis regiert. Wir Kinder wurden sofort Pimpfe und es begann das ständige Marschieren und Gröhlen von Liedern. Hier mit meinem lebenslänglichen Freund Karl Wilkens vor unserer Wohnung in Westerstede.

Familie Hasselhorn in Westerstede 1933

Deutlich erkennbar sind die beiden Großen und die zwei Kleinen. Zum 1. September 1936 zog die Familie in die Heimat meiner Mutter nach Heilbronn. Wenige Wochen später verunglückte mein Vater mit dem Motorrad und verlor das linke Bein. In der Schule wurde ich von Schülern und Lehrern gehänselt, bedrängt und verprügelt, weil mein Hochdeutsch sie ärgerte und ich nicht schwäbisch schwätzen konnte.

Ein Erlebnis hat in dieser Schulzeit sich mit tief eingeprägt. Das war der Brand der Heilbronner Synagoge am 10. November 1938. Weinend kam ich nach Hause und berichtete, was ich gesehen hatte. Da zitierte mein Vater das Gotteswort: ”Wer euch“ – gemeint sind die Juden – ”antastet, der tastet meinen Augapfel an.“ Mein Vater fügte hinzu: ”Heute brennen die Synagogen, als nächstes brennen die Kirchen.“

Konfirmation 27.3.1939

Die einzige Bezugsperson in dieser Zeit war unser Vikar und mein Konfirmator. Er war Mitglieder der Bekennenden Kirche und der wildeste Motorradfahrer der Stadt. Eines Tages sagte er mir: ”Du musst Pfarrer werden.“ Das schien mir unmöglich. Als Konfirmationsspruch erhielt ich das Wort Jesu: ”Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischem Vater.“ (Mt. 10, Vers 32). Ich bestand das Landexamen zur Aufnahme in ein kirchliches Seminar. Nach Ostern 1939 zogen 36 von den 100 Bewerbern ins Seminar Kloster Schöntal ein.

Familie Hasselhorn 1940

Der Vater, wenn auch schwer behindert, war wieder unter uns. Alle 14 Tage kam ich mit dem Fahrrad und Freunden von Schöntal nach Heilbronn.3 Meine Mutter war als ausgezeichnete Köchin von meinen Klassenkameraden geschätzt.

Schöntal 1939-1941

Man stelle sich vor; 36 Schüler und fünf hauptamtliche Lehrer! Da wurde der Kopf ausgeputzt und Nachdenken geübt. Hier habe ich geistig arbeiten gelernt in harten Training und viel Freizeit. Zum 1. Juli 1941 beschlagnahmten die Nazis alle kirchlichen Seminare. Man warf uns raus.

Johannes Hassselhorn 1942

Des geistlosen Exerzierens und Marschierens müde, bewarb ich mich um den Posten eines Gefolgschaftsführers der Marine-HJ. Mit Erfolg als Reichssieger eines Schülerwettbewerbs unter dem Titel: ”Seefahrt tut not“. Die weitere Mitgliedschaft in der evangelischen Jugendarbeit brachte mir einen Einberufungsbescheid zur Waffen-SS! Schlimmeres konnte mir nicht passieren. Meine Stellung in der Marine-HJ und als Reichssieger brachte mir eine zurückdatierte sofortige Einberufung zur Marine.

Matrose 1942/43