John Sinclair 2106 - Oliver Fröhlich - E-Book

John Sinclair 2106 E-Book

Oliver Fröhlich

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ich wollte mich gerade dem Papierkram widmen, der sich mal wieder auf meinem Schreibtisch stapelte, als das Telefon klingelte. "Sinclair", meldete ich mich knapp.

"Tanner hier. John, ich habe hier etwas, das du dir mal ansehen solltest ..."
"Was genau?"
"Eine Tote."
"Fällt das nicht eher in deinen Bereich?"
"Normalerweise schon, aber es gibt da eine Sache, die ich dir zeigen möchte - ziemlich eindeutige Bissspuren am Hals."
"Ich komme sofort ..."

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 162

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Impressum

Der Weg ins entrückte Land

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati/BLITZ-Verlag

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-7348-6

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Der Weg ins entrückte Land

von Oliver Müller und Oliver Fröhlich

Der Beraubte riss sich die Brille von der Nase und warf sie auf den Tisch. Sekundenlang starrte er die kreuz und quer liegenden Blätter an, auf denen sie gelandet war. Kopien aus Büchern und Ausdrucke von Internetseiten, die von halbwegs seriös bis absoluter Mumpitz reichten. Aber er durfte nicht wählerisch sein – und nicht zimperlich. Das war derjenige, der ihn bestohlen hatte, auch nicht gewesen.

Er kämpfte gegen die Wut an, die bei dem Gedanken in ihm aufflammte. Als er jedoch die Brille da liegen sah – eine Lesebrille, du liebe Güte, mit nicht mal dreißig! – brachen alle Dämme, und er wischte die Papiere samt dem Sehgestell von der Tischplatte.

Schluss damit! Er würde sich zurückholen, was man ihm genommen hatte. Koste es, was es wolle …

»Bitte schön, die Herren.« Caroline Silvers stellte zwei volle Biergläser auf den Tisch und räumte die leeren ab. Die beiden Gäste beachteten sie kaum, so angeregt diskutierten – na gut, stritten! – sie über den Brexit, den amerikanischen Präsidenten, die Weltmeisterschaft des vergangenen Sommers und das Wetter. Und das innerhalb weniger Sätze. Das musste man auch erst mal fertigbringen.

Da es außer Politik und Fußball nur eines gab, was Caroline kein bisschen interessierte, nämlich zankende Männer, kehrte sie hinter die Theke zurück.

Ein Mann mit Vollbart und fleckiger Schürze trat neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Lass gut sein, Mädchen. Den Rest schaff ich alleine.«

»Sicher, Hank?«

»Klar. Sind ja kaum noch Leute da. Und wenn ich keine Lust mehr habe, dann schmeiß ich sie raus.«

»Das wäre das erste Mal.«

»Die verschwinden schon, wenn sie genug haben. Also los, mach, dass du nach Hause kommst. Du siehst müde aus.«

»Danke, Hank.«

»Da nich für«, sagte er, wie er es immer tat, und steckte ihr den Lohn zu.

Sie verließ den Pub und trat hinaus in die Nacht. Für einen Moment fühlte es sich an, als wechselte sie in eine andere Welt über. Die stickige Luft der Kneipe, trotz des geltenden Rauchverbots von Zigarettenqualm geschwängert, ließ sie ebenso hinter sich zurück wie die leise Musik aus den alten, kratzigen Boxen und das Gemurmel der letzten Gäste.

Tief atmete die junge Frau ein. Die frische Luft dieser milden Nacht tat ihr gut. Trotzdem zog sie die leichte Strickjacke über und knöpfte sie zu. Der Temperaturunterschied zu drinnen war doch zu groß.

Jetzt spürte sie die Müdigkeit, die ihr Hank unterstellt hatte. Er war eben einfach ein hervorragender Beobachter. Vielleicht musste man das als Wirt sein.

Caroline wollte nur noch nach Hause und ins Bett. Selbst die Dusche würde sie auf morgen verschieben.

Sie lebte alleine in einer kleinen Wohnung. Es störte also niemanden, wenn sie nicht so frisch wie die vergangenen Herbstwochen roch, die noch einmal mit herrlichem Wetter aufgewartet hatten.

Sie tastete nach der Handtasche, in der sie den Lohn für die heutige Schicht aufbewahrte. Nicht gerade üppig, aber besser als nichts. Als Studentin konnte sie jedes Pfund gebrauchen. Außerdem hatte sie heute sogar ein wenig Trinkgeld bekommen, was in Andrew’s Pub nicht so häufig vorkam.

Der Laden war winzig und lag nicht besonders günstig, sodass sich selten Laufkundschaft hinein verirrte. Die meisten, die hier ihr Feierabendbier tranken, kamen bereits seit etlichen Jahren und gehörten fast schon zum Inventar. Vor allem betagtere Männer zählten zu den Besuchern. Sie gönnten sich ihre zwei bis drei Pints, spielten Karten und erzählten von der guten alten Zeit. Würde Hank den Laden nicht gelegentlich abschließen, säßen sie sich wahrscheinlich wochenlang die Allerwertesten platt, ohne zwischendurch einmal nach Hause zu gehen.

Caroline lächelte bei dem Gedanken.

Klar, Andrew’s Pub schaffte es nicht annähernd unter die Top Hundred der angesagtesten Etablissements, und bestimmt hätte sie genauso gut woanders eine Stelle als Kellnerin finden können. Bedienungen wurden in einer Stadt wie London an fast jeder Ecke gesucht. Aber es gefiel ihr bei Hank einfach zu gut. Er war ein herzensguter Mensch. Stets hatte er ein offenes Ohr für sie und gab ihr mit seiner Erfahrung aus bald siebzig Lebensjahren auch hin und wieder einen Ratschlag.

Außerdem mochte sie den Pub deutlich lieber als die Läden irgendeiner modernen Kette, die immer und überall gleich aussahen und ihrer Meinung nach keine Seele hatten.

Die Wände in Andrew’s Pub hatten viele Geschichten gehört. Manchmal fragte sie sich, was sie erzählen würden, wenn sie reden könnten.

Hinzu kam, dass sie sich hier sicher fühlte. Bevor sie angefangen hatte, für Hank zu kellnern, war sie schon in anderen Bars beschäftigt gewesen. Dort war es häufiger vorgekommen, dass irgendwelche Kerle mit mehr Testosteron als Verstand und reichlich Alkohol im Blut sie angegrapscht hatten, weil sie glaubten, dass der Getränkepreis das Anfassen ihrer Oberweite einschloss.

Erfahrene Kolleginnen hatten ihr geraten, sie sollte sich nicht so anstellen und gute Mine zum bösen Spiel machen. Ein Lachen da, ein Augenzwinkern dort, das würde das Trinkgeld enorm erhöhen.

Aber das war nichts für Caroline. Da verzichtete sie lieber auf das Geld und erteilte den Männern eine spürbare Lektion.

Leider war eine klatschende Ohrfeige in das Gesicht eines zahlenden Kunden gleichzusetzen mit einer Kündigung. Zumindest in den Läden von Gastronomieketten. Zweimal war es ihr so ergangen.

Von den älteren Herren, die bei Hank den Großteil der Kundschaft ausmachten, hatte sie da weniger zu befürchten. Die hatten sich die Hörner schon abgestoßen. Und wenn jemand auch nur im Ansatz aufdringlich wurde, tauchte Hank in Sekundenschnelle neben ihr auf und rief den Gast zur Ordnung.

Nein, den spontanen Entschluss, an der Theke nach einem Job zu fragen, hatte sie nie bereut.

Außerdem brauchte sie zu Fuß bis zu ihrer Wohnung nicht einmal eine Viertelstunde. Daher hatte sie keine Angst, zu nachtschlafender Zeit alleine durch die dunklen Straßen zu gehen. Was sollte ihr auf dem kurzen Weg schon passieren?

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Gleich halb drei. Eigentlich hätte ihre Schicht bis drei gedauert. Die dreißig Minuten hatte Hank ihr trotzdem bezahlt.

Vor sich sah sie die Ecke mit der kleinen Bäckerei. Die Hälfte des Nachhausewegs lag also hinter ihr. Caroline gähnte herzhaft, sie konnte ihr Bett beinahe rufen hören.

»Bin ja schon unterwegs«, sagte sie und kicherte.

Sie passierte die Bäckerei und bog um die Ecke. Die erste Straßenlaterne dahinter war wie immer kaputt. Hatte sie jemals geleuchtet? Caroline erinnerte sich nicht.

Egal. Sie hätte den Weg mit geschlossenen Augen gefunden. Da störten auch die paar Meter in fast völliger Dunkelheit bis zur nächsten Lichtinsel einer Laterne nicht.

Trotzdem beschleunigte sie die Schritte unwillkürlich ein wenig.

Ihre Schuhe hinterließen ein Klacken auf dem harten Boden.

Sie stutzte. Moment mal … sie trug, wie immer, wenn sie arbeitete, ihre bequemen Turnschuhe. Und die gaben für gewöhnlich keinen Laut von sich.

Sie blieb stehen und lauschte. Für einen Augenblick glaubte sie, etwas zu hören, doch dann war es still. So still es in einer Stadt wie London eben wurde.

Von irgendwoher erreichte das Geräusch fahrender Autos ihre Ohren. Sie hörte eine Frau schimpfen. Ein Mann lachte auf. In der Ferne bellte ein Hund.

All diese Laute hatte sie vorher in ihrer Erschöpfung nicht wahrgenommen. Erst jetzt, als sie darauf achtete, drangen sie in ihr Bewusstsein. Das Klacken von Schuhen jedoch vernahm sie nicht mehr.

Du musst dich getäuscht haben, sagte sie sich. Es ist nur die Müdigkeit.

So ganz wollte sie sich nicht glauben. Dabei wäre es so einfach gewesen, Gewissheit zu bekommen. Sie brauchte sich nur umzudrehen, um sicher zu gehen, dass niemand hinter ihr war. Aber etwas hielt sie davon ab. Ein Gefühl, das sie aus ihrer Kindheit kannte.

Damals war es der dunkle Keller im Haus ihrer Großeltern gewesen. Stets war sie die Treppe hinunter und raus in den Garten gerannt. Erst dort hatte sie sich umgewandt und zurückgesehen. Klar, so etwas wie Gespenster gab es nicht, aber wer wollte ein Risiko eingehen, richtig?

Und wenn man sich nicht umdrehte, bemerkte einen das Böse auch nicht. Sicherheit durch Ignoranz.

Mach dich nicht verrückt. Da ist nichts!, sagte sie sich erneut und versuchte, gegen die Angst anzukämpfen, die nach ihr griff.

Sie war Caroline Silvers, die Frau, die aufdringlichen Gästen eine scheuerte! Und sie fürchtete sich plötzlich vor alltäglichen Geräuschen, die sie sich vielleicht sogar nur eingebildet hatte? Geh einfach weiter!

All die Versuche, sich selbst zu beschwichtigen, halfen nichts. Vorsichtig, mit sorgfältigen Schritten, als wäre der Boden uneben und gefährlich, setzte sie ihren Weg fort. In Wirklichkeit wollte sie nur so leise wie möglich auftreten, um andere, fremde Laute nicht zu übertönen.

Nur noch ein paar Minuten, dann war sie zu Hause. In Sicherheit. Wahrscheinlich würde sie in der kuscheligen Wärme des Betts über ihre eigene Dummheit lachen.

Da! Erklang da nicht wieder das Schuhklackern hinter ihr? Sie blieb erneut stehen, lauschte, aber ihr Atem ging so hektisch, als wäre sie den bisherigen Weg gerannt.

Sie hielt die Luft an, um besser hören zu können. Ja, da war etwas! Schritte, die schnell näher kamen.

Hatte sie sich bisher davor gefürchtet, sich umzudrehen, so wirbelte sie nun auf der Stelle herum. Das heißt, sie versuchte es. Mitten in der Bewegung erwischte sie der Schlag.

Als hätte ein Auto sie erfasst, wurde sie zur Seite geschleudert. Hart prallte sie gegen eine Hauswand, die ihr aber keinen Halt bot. Sterne blitzten vor ihren Augen auf, als sie an ihr hinabrutschte. Ihr Hinterkopf schrammte über die raue Oberfläche. Haare verfingen sich in der Wand. Mit einem Ratschen zerriss ihre Jacke.

Nur einen Augenblick später packte sie jemand und zerrte sie in die Höhe.

Die blitzenden Punkte vor ihren Augen lösten sich nur langsam auf. Caroline blinzelte und sah schemenhaft ein Gesicht, nahe an ihrem eigenen. Einzelheiten erkannte sie nicht.

Instinktiv versuchte sie, die Arme zu heben, sich zu wehren, doch ihr Körper gehorchte nicht. Der Schock lähmte sie.

»Bitte«, krächzte sie, »nehmen Sie … das Geld … Tasche …«

Das Sprechen fiel ihr schwer, denn der Angreifer – sie war sich jetzt sicher, dass es sich um einen Mann handelte – hatte ihr eine Hand um den Hals gelegt und drückte zu. Die tanzenden Blitze vermehrten sich wieder. Trotz ihrer Lage intensivierten sich plötzlich ihre Empfindungen.

Sie fühlte die trockene Haut des Fremden. Sie roch eine Mischung aus Aftershave und Schweiß. Sie hörte seinen Atem und das Rauschen ihres Bluts in den Ohren. Und sie sah hinter all den aufflammenden Sternen sein Gesicht. Das ganz normale, freundliche Gesicht eines Mittfünfzigers. Seine Miene wirkte … traurig. Bedauernd.

Präg es dir ein, damit du es später der Polizei beschreiben kannst!

Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie sich einer Illusion hingab. Für sie würde es kein Später geben.

Der Griff lockerte sich, aber nur für einen Augenblick. Die Hoffnung, dass sich der Mann das Geld schnappen und sie dann in Ruhe ließ, zerplatzte wie eine Seifenblase.

Stattdessen schubste er sie zur Seite. Gierig sog sie Luft in die malträtierten Lungen, als der Würgegriff verschwand. Nur eine Sekunde danach stieß der Mann sie weiter. In Richtung der Gasse, die zwischen der Bäckerei und dem nächsten Haus verlief. Vermutlich ging es dort in einen Hinterhof.

In einen finsteren, einsamen Hinterhof.

Caroline ahnte, was ihr bevorstand.

»Bitte … bitte nicht«, flehte sie.

Vergebens. Mit Schlägen und Stößen trieb sie der Fremde voran. Und immer noch sah er dabei aus, als verabscheute er zutiefst, was er tat.

Unter den Hieben wich sie in den kleinen Hof zurück. Hier war es noch dunkler als auf der Straße, denn keine Laterne erhellte den schmalen Weg, und die Häuser standen so dicht, dass das Mondlicht den Boden nicht erreichte.

Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg. Sie fand keinen. Der Hinterhof war von hohen Mauern umschlossen. Es gab Fenster, aber die waren verschlossen und dunkel, so weit sie sehen konnte.

Sie drehte sich um. Vielleicht kam sie irgendwie an dem Mann vorbei. Nur eine schnelle Bewegung, ein geschicktes Antäuschen in die eine Richtung, ein Vorstoß in die andere und dann …

Nein, keine Chance. Die Gasse war zu schmal. Der Fremde versperrte ihr den einzigen Ausweg. Leicht gekrümmt stand er vor ihr, in gerade einmal zwei Meter Entfernung.

»Bitte, ich …«, versuchte sie es erneut, doch sein trauriges Kopfschütteln ließ sie verstummen.

Ruf um Hilfe!, schoss ihr endlich das Naheliegendste durch den Kopf.

Sie holte tief Luft, aber ihre Kehle kratzte, und sie musste husten.

Der Mann kam auf sie zu. Wie aus dem Nichts traf sie ein Schlag an der Schläfe. Sie hatte ihn nicht mal kommen sehen. Caroline ging zu Boden. Für einen Moment verlor sie das Bewusstsein.

Als sie wieder zu sich kam, lag der Mann auf ihr.

Sie wusste, was als Nächstes geschehen würde, und presste instinktiv die Beine zusammen.

Doch sie irrte sich.

Der Mann war nicht auf Vergewaltigung aus, sondern auf etwas noch Schlimmeres.

Sein Kopf ruckte vor. Nur einen Augenblick später spürte Caroline einen fürchterlichen Schmerz an der Kehle. Ein Reißen, ein Knirschen wie von zerbissenem Knorpel, und plötzlich sprudelte Blut aus der Schlagader. Jeder Herzschlag pumpte einen neuen Schwall heraus.

Sie riss die Augen auf, doch nur kurz. Mit einem Mal überkam sie eine unwiderstehliche Müdigkeit, die sogar den Schmerz dämpfte. Schleier wallten auf sie zu, hüllten sie ein, sorgten für unendliche Dunkelheit.

Die Welt hörte auf zu existieren.

Gut gelaunt öffnete ich die Tür zum Büro. Glenda sah von ihrem Schreibtisch auf, warf einen Blick auf die Uhr und nickte anerkennend. »Alle Achtung, John. Solltest du auf deine alten Tage etwa ein vorbildlicher Beamter werden?«

»Das, liebste Glenda, wird mir nur gelingen, wenn die Straßen weiter so frei bleiben, wie es heute der Fall war. Und das kommt in London leider allzu selten vor. Du kannst das Datum also rot im Kalender markieren. Ach ja, und das mit den alten Tagen will ich überhört haben.«

Meine Sekretärin lächelte. »Ich glaube, es liegt eher daran, dass du aus dem Bett gefallen bist. Was war los? Senile Bettflucht? Du bist doch sonst nicht der Frühaufsteher vor dem Herrn.«

»Das werde ich dir sofort verraten, wenn du mir sagst, ob Suko schon da ist.«

»Seid ihr nicht gemeinsam gefahren?«

»Würde ich sonst fragen?«

»Guter Punkt.« Glenda lächelte erneut und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Bisher hat er sich noch nicht blicken lassen.«

Ich ballte die Hand zur Faust und streckte sie empor. »Yes!«

Glendas Augenbrauen bewegten sich in die gleiche Richtung. »Du gibst mir Rätsel auf, John.«

»Keine Angst, ich werde sie lösen.« Ich zog die Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. »Ich habe gestern eine kleine Wette mit Suko abgeschlossen.«

»Wie sah die aus?«

»Ich habe gewettet, dass ich heute eher im Büro sein werde als er. Was ja auch geklappt hat«, sagte ich triumphierend.

»Was hat euch denn auf diese Idee gebracht?«

»Mein sogenannter Partner hat behauptet, dass wir nur an den Tagen zu spät kommen, an denen ich fahre. Also habe ich beschlossen, ihm das Gegenteil zu beweisen. Mit Erfolg.«

»Und wie hast du das angestellt?«

»Ich hab einfach den Wecker eine halbe Stunde vorgestellt.«

»Das, John, erklärt auch, warum die Straßen noch freier waren.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ursache und Wirkung sind oft schwer auseinanderzuhalten, meine Liebe. Ich persönlich ziehe allerdings vor, zu glauben, dass das Schicksal mich als Sieger sehen wollte.«

Glenda setzte gerade zu einer Antwort an, als die Bürotür aufgerissen wurde. Suko stand in der Tür. Als er mich sah, ließ er die Schultern sinken. »Unglaublich«, sagte er mit einem Kopfschütteln.

»Glaub es ruhig, Alter«, begrüßte ich ihn. »Wer John Sinclair schlagen will, der muss früher aufstehen.«

»Da hast du ja Glück, dass unsere Gegner häufig nachtaktiv sind.« Suko schloss die Tür.

»Vielleicht hättest du deinen Wecker auch früher stellen sollen«, verriet Glenda mein Erfolgsrezept.

»Hatte ich ja.«

»Aber?«

»Ich hab auf die U-Bahn gesetzt. Und die hatte Verspätung.«

»Einen Nachteil hat euer frühes Erscheinen allerdings.«

Ich legte den Kopf leicht schief. »Der da wäre?«

»Ich hatte noch keine Zeit, mich um Tee und Kaffee zu kümmern.«

Ich verzog das Gesicht. »Da ist er, der bittere Tropfen, der mir den Sieg vergällt.«

Glenda lachte auf. »Keine Sorge. Ich mache mich gleich an die Arbeit. Das könntet ihr auch tun, wenn ihr schon beide so früh da seid.«

»Warum?«, wollte Suko wissen. »Liegt etwas an?«

»In der Tat.«

Ich spitzte die Ohren. »Erzähl«, bat ich.

»Der Fall, oder besser die Fälle, türmen sich auf eurem Schreibtisch. Erledigte allerdings. Sir James hat angerufen und nach den Berichten gefragt.«

Ich lachte auf, während Suko ein gequältes Stöhnen von sich gab. Glenda sah uns abwechselnd an. »Unser Wetteinsatz«, klärte ich sie auf. »Suko ist heute für den Papierkram zuständig.«

Mein Partner raufte sich die Haare. »Diese verdammte U-Bahn«, fluchte er.

»Auf, auf, frisch ans Werk. Fleißig voran ist alles bald getan, denn der frühe Vogel …«

»… kann mich mal«, vollendete Suko meinen Satz.

»Ich will kein Unmensch sein und dir trotzdem helfen.« Ich setzte mich an den Schreibtisch.

»Sehr großzügig von dir, John.«

»So bin ich halt.«

Ich wollte mir gerade die oberste Akte vom Stapel nehmen, als das Telefon klingelte. »Sinclair«, meldete ich mich knapp.

»Du bist ja schon da. Ich hätte gedacht, dass Suko rangeht«, sagte eine Stimme, die mir sehr bekannt vorkam.

Ich musste nicht lange überlegen. »Tanner!«

Bei der Erwähnung des Namens des Chief Inspectors, sah mich Suko fragend an. Da ich noch nicht wusste, was unser Freund wollte, zuckte ich mit den Schultern. Suko gab mir mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich auf Lautsprecher stellen sollte, damit er mithören konnte. Ich tat ihm den Gefallen.

»Genau der«, sagte Tanner. »John, ich habe hier etwas, das du dir mal ansehen solltest.«

»Was genau?«

»Eine Tote.«

»Fällt das nicht eher in deinen Bereich?«

»Normalerweise schon, aber es gibt da eine Sache, die ich dir zeigen möchte.«

»Und was?«

»Ziemlich eindeutige Bissspuren am Hals.«

Das Wort Vampir brauchte Tanner gar nicht auszusprechen. »Ich komme sofort. Wo muss ich hin?«

Der Chief Inspector nannte mir eine Adresse.

»Soll ich dich begleiten?«, fragte Suko.

Ich schüttelte den Kopf. »Bisher klingt es nicht nach einem spektakulären Fall. Ich glaube, das kriege ich alleine hin.«

»Okay, aber wenn etwas ist, dann melde dich sofort.«

Ich zeigte auf den Aktenstapel. »Du willst dich nur vor der Arbeit drücken«, sagte ich, um ihn zu ärgern.

Suko verzog das Gesicht. »Was du einem alten Freund zutraust.«

»Ich kenne dich eben gut genug.«

Glenda kam herüber, in der einen Hand eine Kanne mit Kaffee für mich, in der anderen eine mit Tee für Suko.

»Dafür habe ich leider keine Zeit mehr«, sagte ich mit aufrichtigem Bedauern.

»Mir hingegen wird der Tee super schmecken.« Suko grinste.

»Du verstehst es wirklich, mir noch Salz in die Wunde zu reiben.«

»Lass Tanner nicht zu lange warten. Du weißt doch, dass er das nicht mag.«

Leider musste mein Kollege länger auf mich warten, als ich gedacht hatte. Die freien Straßen, die mir vor einer Stunde den Sieg über Suko geschenkt hatten, gehörten inzwischen der Vergangenheit an. Ich quälte mich durch den typischen Verkehr der Großstadt und kam nur schleichend voran.