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Nebel erfüllte die Welt. Dicke, wabernde Schwaden verbargen, was weiter als Armlänge von Toby Lewis entfernt lag. Nicht einmal seine Knie sah er, wenn er an sich hinabblickte. Von den Füßen ganz zu schweigen. Woher das Licht kam, das die Umgebung als weißlich graue Wand erscheinen ließ, wusste er nicht. Toby versuchte, sich zu erinnern. Wo war er? Seit wann? Wie war er hergekommen?
Nichts. Fehlanzeige. Seine Erinnerung lag ... ja, auch die lag in dichtem Nebel.
Die Erkenntnis hätte sein Herz schneller schlagen lassen müssen. Das geschah nicht. Schlug es überhaupt? Oder war Toby Lewis ... tot?
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Seitenzahl: 143
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Sinayra – Göttin des Vergessens
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Impressum
Sinayra – Göttin des Vergessens
von Oliver Fröhlich
Nebel erfüllte die Welt. Dicke, wabernde Schwaden verbargen, was weiter als eine Armlänge von Toby Lewis entfernt lag. Nicht einmal seine Knie sah er, wenn er an sich hinabblickte. Von den Füßen ganz zu schweigen. Woher das Licht kam, das die Umgebung als weißlich graue Wand erscheinen ließ, wusste er nicht. Toby versuchte, sich zu erinnern. Wo war er? Seit wann? Wie war er hergekommen?
Nichts. Fehlanzeige. Seine Erinnerung lag ... ja, auch die lag in dichtem Nebel.
Die Erkenntnis hätte sein Herz schneller schlagen lassen müssen. Das geschah nicht. Schlug es überhaupt? Oder war Toby Lewis ... tot?
»Sei beruhigt«, erklang eine Stimme von überallher. »Du lebst. Auf eine gewisse Weise.«
Toby fuhr herum, kniff die Augen zusammen, versuchte, die Schwaden mit Blicken zu durchdringen. Es gelang ihm nicht.
»Wer bist du?«, rief er.
»Das wirst du früh genug erfahren.« Eine Frauenstimme. Oder? Ein leicht rauchiges Timbre hatte in ihr mitgeschwungen, das Toby unter anderen Umständen als erotisch empfunden hätte. »Sobald wir uns begegnen.«
Auch wenn in diesem Augenblick von Erotik nichts zu spüren war, lag eine unwiderstehliche Verlockung in dieser Stimme. Er wollte ihr folgen, musste ihr folgen, bis er die Sprecherin gefunden hatte. Und falls es das Letzte wäre, was er in seinem Leben tat.
»Das ist die richtige Einstellung«, raunte es aus den Schwaden. »Wenn du sie dir erhältst, kann ich dir versprechen, dass es nicht das Letzte in deinem Leben sein wird.«
»Du kannst meine Gedanken lesen?«
»Was sind Gedanken mehr als der Nebel unseres Geistes, den der Wind zerfasert, bis nichts davon übrig ist? Was sind Erinnerungen anderes als die zeitweise Konzentration solcher Gedanken? Flüchtig wie die Leben der Menschen, mit denen sie verbunden sind.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich weiß.«
Toby ging zwei Schritte. Drei. Dann vier. Zögerlich erst, weil er nicht wusste, in welche Richtung er sich wenden musste, um die Sprecherin im Nebel zu finden. Aber dann kam ihm der Verdacht – nein, es war Gewissheit –, dass es keine Rolle spielte, und er ging schneller. Zuversichtlicher.
Egal, wohin er sich wandte, er würde die Fremde finden.
Sobald sie bereit war, sich von ihm finden zu lassen.
Helen Wheelers Tag entwickelte sich in raschem Tempo von ›ausbaufähig‹ zu ›totale Katastrophe‹.
Es ging damit los, dass sie morgens mit Kopfschmerzen erwachte, einem dumpfen, gleichmäßigen Hämmern, als säße jemand in ihrem Hirn, den sie versehentlich dort eingeschlossen hatte und der sich nun durch Pochen an die Tür bemerkbar machte. Nicht so schlimm wie an den Tagen zuvor, aber immer noch lästig.
Sie schaltete den Vibrationswecker ihrer Smartwatch ab, quälte sich aus dem Bett, betrachtete für einige Sekunden mit einem Lächeln das unrasierte, schnarchende Gesicht auf der anderen Seite des Ehebetts, schlich im Dunkeln aus dem Schlafzimmer – und stieß dabei mit der Zehe gegen den Stuhl, auf dem sie am Abend zuvor ihre Kleidung zurechtgelegt hatte. Der Schmerz hätte sie beinahe aufschreien lassen.
Dann stellte sie fest, dass die Heizung wieder einmal ausgefallen war und sie die Wahl hatte zwischen kalt oder gar nicht duschen. Helen entschied sich für ›gar nicht‹.
Als sie eine Stunde später durch die Glastür der Anwaltskanzlei trat, meldeten sich erst die Kopfschmerzen zurück, dann sah sie auf der anderen Seite der Lobby Josh Sanders, das Geschenk an alle Frauen Englands, ach was, der ganzen Welt. Zumindest hielt er sich dafür.
Er lächelte ihr aus dem Fahrstuhl zu und winkte, bis sich die Tür vor ihm schloss. Auf die Idee, sie aufzuhalten, damit Helen zu ihm in die Kabine treten konnte, kam er nicht. War aber vermutlich besser so. Der Gedanke, mit ihm auf drei oder vier Quadratmetern eingesperrt zu sein – und sei es nur für die wenigen Sekunden, die der Aufzug bis in den fünften Stock brauchte –, verursachte ihr Übelkeit.
Dieses Lächeln, hatte es nicht hämisch gewirkt? Oder vorfreudig, weil Sanders, wie Helen wusste, heute nur bis Mittag arbeitete und danach in einen mehrwöchigen Urlaub verschwand?
Eine Wendung zum Schlechten nahm der Tag, als kurz vor der Mittagspause ebenjener Josh Sanders in ihrem Büro erschien, ihr drei Stapel Altakten auf den Tisch knallte und mit gut gelauntem Grinsen sagte: »Die müssen heute noch digitalisiert werden.«
Eine rasche Sichtung der jeweils mindestens vier Finger breiten Wälzer ließ Helen die Stirn runzeln. »Und?«
Sanders, der sich bereits abgewendet hatte und auf dem Weg zur Bürotür war, verharrte und drehte sich zu ihr um. »Was, und?«
Das Zahnpastagrinsen in dem sonnengebräunten Gesicht geriet für keinen Moment ins Rutschen. Der Kerl wusste genau, was sie meinte. Und innerlich lachte er sie dafür aus, da war sie sicher.
»Das sind Akten von deinen Fällen, nicht von meinen«, antwortete sie, um Gelassenheit ringend.
»Das weiß ich. Aber unsere Chefetage will sie bis morgen zu Dienstbeginn in digitalisierter Form vorliegen haben. Und wie du weißt, beginnt mein Urlaub in ...« Er sah auf die Armbanduhr, ein protziges goldenes Ding, das die Mandanten von Heffleitner, Stafford & Partners beeindrucken mochte, nicht jedoch Helen Wheeler. »... in fünf Minuten. Ich muss mich sputen.«
»Wieso hast du es nicht längst selbst gemacht?« Sie schlug die oberste Akte auf und warf einen Blick auf das erste Blatt. »Die Anforderung stammt von vor über zwei Monaten!«
»Ach, Helen-Schätzchen, du weißt doch, wie das ist.«
»Nenn mich nicht Schätzchen. Ich bin eine dreiundfünfzigjährige verheiratete Frau und keine deiner dämlichen ...«
Er hob abwehrend, beinahe drohend die Hand. Und noch immer wirkte sein Lächeln wie zementiert. »Pass auf, was du sagst. Du willst gewiss nicht, dass ich mich bei meinem Golfkumpel Heff über dich beschwere, weil du dich in der Wortwahl vergriffen hast.«
Nein, das wollte sie tatsächlich nicht. George Heffleitner – für die Mitglieder in seinem Golfclub nur ›der Heff‹ – war ein humorloser alter Fatzke und leider nicht nur Seniorpartner der Anwaltskanzlei, sondern vor allem dafür bekannt, dass ihm trotz seiner juristischen Fachkenntnisse das Konzept der Gleichstellung nicht vertraut war. Vielleicht war es ihm auch nur egal.
An der Konsequenz änderte das nichts.
Wenn der selbsterklärte Traum der Frauenwelt Mr Josh »Solariumsbräune und Hautkrebskandidat« Sanders zu dem Heff ins Büro stapfte und sich darüber beschwerte, dass ihn die verknöcherte alte Kuh Helen Wheeler als sexistisches Arschloch beschimpft hatte, bekam sie die Probleme, nicht er.
Seit Langem hoffte sie, dass Heffleitner endlich in den Ruhestand ging – alternativ wahlweise einem plötzlichen Herztod erlag oder an seiner eigenen Bosheit erstickte –, doch obwohl er im vergangenen Jahr die achtzig überschritten hatte, tat er ihr den Gefallen nicht.
Vielleicht hätte sie nie in dieser Kanzlei anfangen sollen. Eine wirkliche Auswahl hatte sie nach ihrer jahrelangen Berufspause allerdings nicht gehabt. Von den vier Anwaltsbüros, die sie zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen hatten, waren zwei nicht bereit gewesen, sie auf Teilzeitbasis zu beschäftigen, und die dritte lag auf der anderen Seite von London, fast schon außerhalb der Stadt, sodass allein die Hin- und Rückfahrt den Vorteil der Teilzeit hinfällig gemacht hätten.
So waren nur Heffleitner, Stafford & Partners geblieben ...
Ihr Blick und ihre Gedanken kehrten zu Josh Sanders zurück. Was für ein selbstverliebter Widerling. Wie konnte er bei den Frauen nur so einen Erfolg haben? Aber hatte er den überhaupt? Schließlich brüstete er sich immer nur mit seinen Eroberungen. Ob die sich allerdings in der Realität oder nur in seinem Kopf abspielten, wusste niemand.
Donald war da ein ganz anderer Typ. Rücksichtsvoll, zuvorkommend, einfühlsam.
Helen rieb sich die Schläfen, als sich der Kopfschmerz verstärkte.
Donald? Wie kam sie auf Donald? Er hieß Douglas!
Wie peinlich war das denn? Wie konnte sie den Namen der größten Liebe ihres Lebens vergessen, und sei es nur für einen Augenblick?
Sie hatten sich kennengelernt in dieser Bar im West End. Im ... im ... Sie kam nicht mehr drauf.
Wieder dieses Ziehen hinter der Stirn und den Augen. Helen blinzelte den Schmerz weg.
»Ist noch was?«, schob sich Joshs zuckersüße Giftstimme in ihr Bewusstsein. »Oder willst du mich weiter nur anstarren und mir zuzwinkern.«
»Ich bin nicht deine Sekretärin«, brachte sie hervor.
»Ach, Helen, das weiß ich doch.«
Am liebsten hätte sie ihm sein aufgesetztes, gut gelauntes Lachen zurück in den Hals gestopft. Wenn nur diese verdammten Kopfschmerzen nicht gewesen wären, vielleicht hätte sie ihre Interessen dann besser vertreten können. So wie damals, als sie mit Donald ... mit Douglas, um Himmels willen! Mit Douglas! So wie damals, als sie mit Douglas diskutiert hatte, ob sie das kleine Häuschen in ... Wieder stieß sie nur auf eine Lücke im Gedächtnis.
»Meine Sekretärin würde ich auch nicht mit derlei niederen Aufgaben behelligen.«
Sie hörte Joshs Stimme, aber seine Worte drangen nicht mehr in ihr Bewusstsein. Vielmehr verwandelte sie sich zunehmend in eine nervige Geräuschkulisse, die sie am liebsten abgeschaltet hätte. Das menschliche Pendant einer Kreissäge oder eines Zahnarztbohrers.
»Schönen Urlaub«, quetschte sie zwischen den Zähnen hervor.
»Was?«
»Ich sagte: Schönen Urlaub. Und jetzt verschwinde aus meinem Büro.« Ehe ich dir den Locher an den Kopf werfe. »Ich muss deine verdammten Akten digitalisieren.«
»Ich wusste es doch! Du bist die Beste, Helen-Schätzchen.«
Was auch immer. Solange er sie nur endlich in Ruhe ließ.
Ihr Blick ging sehnsuchtsvoll zu der mittleren Schublade ihres Schreibtischs.
Nachdem Josh das Büro verlassen hatte, starrte sie auf die Tür – natürlich hatte er sie nicht hinter sich geschlossen – und zählte langsam bis zehn. Sie zwang sich zur Ruhe und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen.
Dann öffnete sie die Schublade, schnappte sich mit zittrigen Händen die Blisterverpackung und drückte eine der hoch dosierten Schmerztabletten heraus, die Dr. Roberts ihr verschrieben hatte.
Anstatt sie mit Wasser zu schlucken, zerkaute Helen sie trocken. Der bittere Geschmack widerte sie an, aber nach ihrer Erfahrung wirkte die Tablette auf diese Weise schneller.
Seit fünf Tagen plagten sie die Kopfschmerzen. Vorher hatte sie nie zu Migräne geneigt und war auch sonst nicht der kränkliche Typ. In ihren vier Jahren bei Heffleitner, Stafford & Partners hatte sie nicht einen Tag krankheitsbedingt gefehlt. Dass sie nun Schmerztabletten wie Bonbons einwarf, machte ihr Angst.
Immerhin hatte ihr Dr. Roberts, ihr Hausarzt, auf die Schnelle einen MRT-Termin besorgen können. Übermorgen würde man sie in die Röhre schieben, und dann wüsste sie mehr.
Bis dorthin, so Dr. Roberts, solle sie sich keine Sorgen machen, weil das erstens nichts ändere und er zweitens ohnehin vermute, dass es sich um stressbedingten Spannungskopfschmerz handle. »Was kein Wunder wäre, so wie Sie mir Ihren Kollegen und Ihren Chef schildern.«
Helen schloss die Augen, schmeckte der Bitterkeit auf der Zunge nach und glaubte bereits festzustellen, dass der Druck hinter der Stirn und den Schläfen allmählich nachließ.
Die Bar im West End, in der sie Douglas kennengelernt hatte, hieß Roxy. Und die Diskussion mit ihm war darum gegangen, ob sie sich das kleine Häuschen in Mayfair kaufen sollten oder doch lieber die große Wohnung in Claygate.
Warum schienen ihr die Kopfschmerzen ausgerechnet die Erinnerungen an Erlebnisse mit Douglas zu rauben?
Helen blieb noch ein paar Minuten mit geschlossenen Augen sitzen, bis sie sicher sein konnte, dass die Tablette wirkte. Es hätte sie nicht gewundert, wenn ausgerechnet jetzt der Heff hereingekommen wäre und sie angepflaumt hätte: »Dies ist eine Anwaltskanzlei, Mrs Wheeler, und kein Schlaflabor.«
Doch immerhin das ersparte ihr das Schicksal. Wahrscheinlich stand Heffleitner mit Sanders – Urlaub hin oder her – in der Teeküche oder oben auf der Dachterrasse des Firmenhochhauses und philosophierte mit ihm darüber, wie sie ihren Aufschlag verbessern konnten. Oder ihren Abschlag. Wie immer das beim Golf auch heißen mochte.
Helen atmete tief durch, ließ ihren eigenen Schriftsatz liegen, stemmte sich aus dem Schreibtischstuhl und holte aus dem Materialraum neben ihrem Büro einen Aktenwagen. Gewiss würde sie die drei Stapel mit Joshs Altfällen nicht einzeln in den Keller zum Scanner tragen.
Leise Loungemusik waberte ihr entgegen, als sie den Aktenwagen in den Gang schob. Sie bewunderte die junge Sarah vorne am Empfang dafür, wie sie es schaffte, das Geklimper den ganzen Tag auszuhalten, ohne den Verstand zu verlieren. Andererseits stellte das in der Kanzlei nicht die einzige Gesundheitsgefährdung dar.
Neben Kollegen wie Josh Sanders zählte dazu vor allem, einen schweren Aktenwagen über den Teppich bis zum Aufzug zu schieben. Immer wieder schienen die Rollen ein Eigenleben zu entwickeln und in unterschiedliche Richtungen abbiegen zu wollen.
Die unerträgliche Loungemusik setzte sich im Fahrstuhl fort und begleitete sie bis in den Keller. Hatten sie die eigentlich sanften Klänge früher auch so genervt? Oder waren es die Kopfschmerzen, die Helen so empfindlich machten? Sogar das Pling, als die Kabine das Untergeschoss erreichte, bohrte sich ihr ins Gehirn wie eine Glasscherbe.
Sie schob den Aktenwagen den Korridor entlang. Erneut machte eine der Rollen, was sie wollte, und schlackerte mit nervigem Iieek-iieek-iieek über den Linoleumboden. Die nackten Betonwände warfen das Geräusch zurück und verstärkten es.
Seit wann flackerten eigentlich die Leuchtstoffröhren so? Gewiss, das künstliche kalte Licht hatte Helen schon immer verabscheut, aber dieses ständige An und Aus war wie Gift für ihren pochenden Schädel.
Wieso pochte er überhaupt? Hatte die Wirkung der Tablette doch noch nicht eingesetzt? Oder ließ sie bereits wieder nach?
Schritte erklangen hinter ihr.
Beinahe synchron mit ihren eigenen, aber dennoch leicht versetzt, sodass Helen sie hören konnte.
Sie blieb stehen und drehte sich um, doch der Gang lag leer vor ihr. Die Türen, die zu Archiven, den Serverräumen oder Papierlagern führten, waren geschlossen.
Niemand hätte so schnell in einem der Räume verschwinden können. Das bedeutete, dass sie sich geirrt hatte, geirrt haben musste.
Helen ging weiter bis zu dem Raum, in dem der Scanner stand.
Erneut erklangen die Schritte hinter ihr, doch diesmal drehte sie sich nicht um. Bestimmt handelte es sich nur um ein Echo. Der Linoleumboden, die kahlen Wände, von denen Geräusche zurückhallten.
Eine völlig plausible Erklärung.
Nur warum war es ihr dann nie zuvor aufgefallen?
Im Scannerraum begann sie ihre triste Arbeit: Blätter aus den Akten nehmen, sie von viel zu vielen Büro- und Heftklammern befreien, in den betagten Scanner legen, gelegentliche Papierstaus beseitigen, die Akten zusammenfügen ...
Obwohl sie sich bemühte, es zu vermeiden, schaute sie immer wieder zur Tür. Sie zuckte zusammen, wenn ab und an ein Kollege vorbeilief und sie freundlich grüßte.
Je länger sie in der Eintönigkeit ihres Tuns gefangen war, desto überzeugter war sie, dass dort draußen im Korridor jemand lauerte. Vielleicht direkt neben dem Türstock. Doch jedes Mal, wenn sie es nicht mehr aushielt und nachsah, schaute sie in einen leeren Gang.
Was war nur los mit ihr? Konnten ihre Kopfschmerzen schuld sein? Führten sie zu Verfolgungswahn?
Zweieinhalb Stunden verbrachte sie in dem Kellerraum. Als sie um drei Uhr nachmittags Feierabend machte – zwei Stunden später, als es in ihrem Teilzeitvertrag vereinbart war –, fühlte sich ihr Schädel schwer an, als bestünde er aus einer hundert Meter durchmessenden Eisenkugel. Nicht einmal ein paar weitere Tabletten hatten geholfen.
Zu Hause angekommen, hängte sie ihre Kostümjacke auf einen Bügel in der Garderobe. Dabei fiel ihr Blick auf das Foto auf der Kommode. Sie und Douglas im gemeinsamen Urlaub in den Alpen vor zwölf Jahren, hinter ihnen der Watzmann, der ...
Augenblick mal!
Sie musste sich eingestehen, dass sie das Bild in den letzten Jahren nur unbewusst wahrgenommen hatte, wie einen Einrichtungsgegenstand, an den man sich so gewöhnt hatte, dass man ihn nicht mehr sah. Seit Langem nahm sie es wieder einmal zu einem anderen Zweck in die Hand, als es abzustauben.
Helen runzelte die Stirn. Damals hatten sie sich aneinandergeschmiegt, ihr Arm um Douglas' Schulter, während ein Passant die Aufnahme gemacht hatte. Vom Watzmann war nur die Spitze über ihren Köpfen zu erkennen gewesen.
Nun jedoch sah sie mehr von dem Berg im Hintergrund, denn Douglas stand auf dem Foto einen guten Meter von ihr entfernt!
Aber das war unmöglich!
Oder ... hatte sie das Foto nach all den Jahren falsch im Gedächtnis? Vorhin hatte sie sich ja sogar falsch an Douglas' Namen erinnert. Und die Bar im West End war ihr auch erst nach langem Überlegen wieder eingefallen.
Merkwürdig.
Sie stellte das Bild zurück auf die Kommode, schlüpfte aus den Schuhen, verstaute sie im Schuhschrank – und als sie danach erneut zu dem Foto schaute, war der Abstand zwischen Douglas und ihr noch größer geworden!
Helen schüttelte den Kopf, was der mit einem heftigen Stich quittierte. Sie schloss die Augen und rieb sich die Schläfen.
Als sie die Augen wieder öffnete, war Douglas bis an den Bildrand gerutscht.
Wie zum ...
Sie wandte sich zur Küche um.
»Darling, bist du zu Hause?«
Sie bekam keine Antwort.
Natürlich, ihr Mann war noch arbeiten. Wie kam sie auf die Idee, er könnte ...
Wieder wandte sie sich dem Bild zu.
Jetzt war Douglas gar nicht mehr darauf zu sehen!
In diesem Augenblick klopfte es an der Wohnungstür.
Helen zuckte zusammen. Ihr Herz raste und kam nur langsam wieder zur Ruhe.
Sie schimpfte sich eine hysterische Pute, atmete einmal tief durch, ging zur Tür und öffnete.
Draußen stand Douglas.
Aber das war unmöglich! Unmöglicher noch als das, was mit dem Bild geschehen war. Das konnte nicht ...
»Hallo, Helen«, sagte er.
Dann stürzte er sich auf sie.
Das Haus, zu dem uns die Kollegen gerufen hatten, lag in Claygate.
»Hier ist es!«, rief Suko vom Beifahrersitz des Audis. »Hare Lane Ecke Torrington Close.«