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Die Besatzung des Raumschiffes GAMMA, das sich auf einer 800 Jahre dauernden Forschungsreise befindet, wird für eine neue Mission aus dem Tiefschlaf geweckt: Die Erkundung eines unbekannten Planeten steht bevor. Die anfängliche Begeisterung für das neue Forschungsobjekt währt jedoch nicht lange. Gerüchte über das Schiff machen die Runde, Misstrauen spaltet die Mannschaft in verschiedene Lager. Ein Kampf um die Macht an Bord entbrennt. Dabei werden Geheimnisse offenbart, die in den Tiefen des gewaltigen Schiffes hätten verborgen bleiben sollen. Das neue Wissen stellt nicht nur die weitere Mission der GAMMA in Frage, sondern hinterfragt auch die Existenz der Besatzung. Es wird der Auftakt zu einer schier endlosen Reise zurück durch Raum und Zeit.
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Seitenzahl: 428
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Arnold Cohen
Joseph - Das fremde Ich
Roman
© 2020 Arnold Cohen
© Covergestaltung: Laura Newman – design.lauranewman.de
Lektorat: Lisa Reim-Benke
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN Taschenbuch: 978-3-347-18773-3
ISBN Hardcover: 978-3-347-18774-0
ISBN e-Book: 978-3-347-18775-7
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhalt
Kapitel 1
Aufwachen
Kapitel 2
Versammlung
Kapitel 3
Merkwürdiges
Kapitel 4
Fragen
Kapitel 5
Theorien
Kapitel 6
Linda
Kapitel 7
Gottfried
Kapitel 8
Craig
Kapitel 9
Nachrichten
Kapitel 10
Claire
Kapitel 11
Deck 5
Kapitel 12
Im Versorgungsgang
Kapitel 13
Unerwarteter Besuch
Kapitel 14
Varden
Kapitel 15
Jeremy
Kapitel 16
Joseph
Kapitel 17
Laurie
Kapitel 18
Der Durchgang
Kapitel 19
Laurie II
Kapitel 20
Clive
Kapitel 21
Fred
Kapitel 22
Aaron
Kapitel 23
Schwerelos
Kapitel 24
David
Kapitel 25
Im Schacht
Kapitel 26
Abschied
Kapitel 27
Aufwachen
1 Aufwachen
Ein tiefes Raunen, wiederkehrend. Kein Wort, nur ein einzelner Ton. Dann allmählich verschiedene Töne, erste Worte. Ihm wurde bewusst, dass er aufgewacht war.
„Joseph, bitte wachen Sie auf“, sagte eine Stimme, die er wiedererkannte. Unruhe erfüllte ihn, ohne dass er wusste, warum.
„Joseph, bitte wachen Sie auf.“
Es lag an der Stimme: Sie klang männlich, sollte aber weiblich sein. Das hatte er doch vorgegeben, oder? Zweifel überkamen ihn.
„Joseph, bitte wachen Sie auf.“
„Halt endlich deine Klappe“, wollte er sagen, als er bemerkte, dass seine Lippen aufeinander klebten. Vorsichtig befeuchtete er sie von innen mit der Zunge, um sie dann millimeterweise voneinander zu trennen.
„Schön, dass Sie aufgewacht sind. Ich freue mich auf unsere erneute Zusammenarbeit. Sie können unbesorgt die Augen öffnen. Ich habe ein angenehmes, dunkelblaues Dämmerlicht für Sie vorbereitet, das Ihnen keinerlei Unbehagen bereiten wird.“
Er war versucht, dem Vorschlag zu folgen, ließ dann aber die Augenlider geschlossen. Er fuhr sich einige Male mit der Zunge über die Lippen und vergewisserte sich mit einem Räuspern seiner Stimmbänder. „Dunkle bitte das Licht um zwei Stufen nach“, krächzte er.
„Das ist zwar nicht notwendig, Joseph, ich habe Ihren Wunsch jedoch soeben erfüllt. Sie können die Augen jetzt unbesorgt öffnen.“
Von wegen unbesorgt. Es wäre nicht das erste Mal, dass er nach dem Aufwachen in gleißende Helligkeit starrte. So langsam wie möglich lockerte er eines der fest zugekniffenen Augenlider und öffnete es einen Spalt weit. Was er sah, war eine sich bewegende dunkelblaue Masse. Sofort schloss er das Auge wieder. Er glaubte, nicht richtig gesehen zu haben. Vorsichtig öffnete er beide Lider und hatte dieselbe dunkle Masse vor sich.
„Eine Überraschung für Sie. Sie können die Augen vollends öffnen. Es wird Ihnen nichts geschehen.“
Was er dann sah, verschlug ihm die Sprache: Es war das Meer in der Abenddämmerung. Wenn er den Blick nach oben richtete, konnte er den Horizont sehen. Sah er nach unten, hatte er einen Sandstrand vor sich. Die ganze Szenerie war in ein vergehendes Licht getaucht.
„Wie ist das möglich?“
„Gefällt Ihnen der Ausblick, den ich für Sie gewählt habe?“
„O ja, das ist wirklich schön.“ Er konnte seine Begeisterung nicht verbergen. „Wie machst du das?“
„Das ist die neueste Version des Aufwachprogrammes. Es gibt ab jetzt nicht mehr nur Formen und Farben, sondern ganze Szenen, etwa den Blick auf den Sternenhimmel, auf eine Waldlichtung und vieles andere. Ich habe den Blick aufs Meer ausgewählt, da ich Ihre Vorliebe dafür kenne.“
Während er schweigend den Ausblick genoss, nahm er ein leises Anbranden von Wellen war.
„Hören Sie die Brandung?“
„Ich höre sie. Du hast wirklich gut gewählt. Ich danke dir.“
Die letzte Bemerkung kam ihm dumm vor. Es war unsinnig, dem Medizinischen-Überwachungs-Programm zu danken, da es nur seiner Programmierung folgte.
„Darf ich Ihnen einen Sonnenaufgang vorführen, um Ihr Aufwachen positiv zu begleiten?“
„Kannst du diese Szenerie beliebig verändern?“
„Im vorgegebenen Rahmen. Haben Sie bestimmte Wünsche? Möchten Sie einen belebten Strand sehen?“
„Nein, aber … ein kleines Segelboot, das gerade ablegt, mit zwei oder drei Leuten an Bord, ginge das?“
Noch bevor er den Satz beendet hatte, sah er das Boot bereits. Es war sechs bis sieben Meter lang, weiß, mit einem Mast, an dem sich ein einzelnes weißes Segel blähte. An Bord erkannte er drei junge Männer. Einen, der das Ruder innehatte, einen, der sich am Mast festhielt, und den dritten, der zusammen mit einer jungen Frau auf dem Dach der Kajüte lag und sich sonnte. Insgesamt also vier Personen. Eine kleine künstlerische Freiheit, die sich das MÜP da herausgenommen hatte, dachte er belustigt. Er konnte am Horizont die ersten Sonnenstrahlen erkennen und die Szenerie hellte sich langsam, aber stetig auf.
„Du brauchst dich mit dem Sonnenaufgang nicht zu beeilen, MÜP. Lass dir ruhig Zeit.“
„Das würde ich gerne tun, Joseph. Leider muss ich darauf hinweisen, dass Sie nur 72 Minuten Zeit haben bis zur ersten Versammlung. Damit Sie pünktlich erscheinen, müssen wir uns leider beeilen.“
„Schade.“ Joseph wünschte, er könnte den herrlichen Anblick an der Decke seiner Tiefschlafkammer ein wenig länger genießen. Seufzend bewegte er langsam und vorsichtig die Finger, anschließend Arme und Beine.
„Na gut. Zieh bitte die Magensonde langsam aus meiner Nase. Aber vorsichtig. Und den Katheter kannst du auch entfernen, noch vorsichtiger. Sind die Mediziner schon da?“
„Nein. In die aktuelle Version des Aufwachprogrammes ist die medizinische Abteilung nicht mehr integriert.“
Einerseits bemüht, das Würgen zu unterdrücken, das der Schlauch der Magensonde hervorrief, versuchte er gleichzeitig die abscheuliche Mischung aus Kitzeln und Kratzen zu ignorieren, die der andere Schlauch, der entfernt wurde, verursachte. So dauerte es einige Augenblicke, bis er die letzte Bemerkung des MÜP begriff.
„Wie meinst du das, die Mediziner sind nicht mehr in das Aufwachprogramm integriert? Wer überwacht das Ganze?“
„Ich allein. Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen. Durch die neueste Version des Aufwachprogrammes ist die Überwachung des Prozesses auf das Medizinische-Überwachungs-Programm übergegangen. Analysen haben ergeben, dass sich dadurch die Wahrscheinlichkeit eines pathologisch bedingten Ausfalles während des Aufwachens um mehr als neunzig Prozent verringert.“
„Wie beruhigend“, meinte er zweifelnd. „Wenn du jetzt den Aufwachvorgang überwachst, was machen dann die Mediziner?“
„Das medizinische Personal durchläuft zur gleichen Zeit wie Sie selbst diesen Prozess.“
Eine kurze Pause trat ein.
„Soll das heißen, dass momentan kein einziges Mitglied der Mannschaft aktiv ist? Sind alle noch in den Schlafkammern?“
„So ist es. Aber wie ich schon sagte, Sie brauchen sich deswegen keinerlei Sorgen zu machen. Jedes Medizinische-Überwachungs-Programm ist in der Lage, diese Aufgabe zuverlässig auszuführen und die zugewiesene Person vollständig wiederherzustellen. Wie fühlen Sie sich, Joseph?“
„Äh … ganz gut“, log er.
Die Änderungen, die sich während seines Schlafes an Bord ereignet hatten, machten ihn sprachlos. Selten waren in der Vergangenheit überhaupt Änderungen während der Schlafphase vorgenommen worden, und falls doch, dann stets im Beisein mehrerer Besatzungsmitglieder, die erst nach Abschluss der Arbeiten in die Schlafkammern gingen. Und in keinem Fall waren Änderungen vorgenommen worden, ohne sie der Mannschaft vorher anzukündigen. Er war verärgert, wollte sich das aber nicht anmerken lassen.
„Meine Sensoren zeigen an, dass Sie verärgert sind. Das war nicht meine Absicht. Selbstverständlich werden Sie im Verlaufe der Versammlung, die in 68 Minuten beginnen wird, über die Hintergründe dieser Programmänderung informiert werden.“
„Wie schön. Öffne bitte die Kammer. Ich möchte mich anziehen und mir die Beine vertreten, bevor die Versammlung beginnt.“ Während er sich räkelte und dehnte, beschloss er, sich über diese Angelegenheit zu beschweren.
„Das kann ich leider noch nicht tun, Joseph. Wir müssen noch die psychologische Überprüfung durchführen.“
„Psychologische Überprüfung? Was soll denn das?“
„Beruhigen Sie sich bitte. Es besteht keinerlei Grund zur Aufregung. Auch das ist Teil des optimierten Aufwachprogrammes. Der Grund für diese neu eingeführte Untersuchungsmethode ist, dass ich zwar in der Lage bin, Ihre gesamten Körperfunktionen zu überwachen und zu bewerten, Ihre Gehirnfunktionen jedoch nur mit gewissen Einschränkungen. Um festzustellen, ob während Ihrer Schlafphase Veränderungen Ihrer Gehirnstruktur erfolgt sind, die zu einer Veränderung Ihres Persönlichkeitsbildes geführt haben, wurde ein Testprogramm entwickelt, das derartige Veränderungen aufzuzeigen vermag. Darf ich mit dem Test beginnen?“
„Veränderungen meines Persönlichkeitsbildes?“
„Ja. Darf ich mit dem Test beginnen?“
„Nein. Den Test machen wir ein andermal. Ich möchte mir zuerst die Beine vertreten. Also mach die Kammer auf, damit ich rauskann.“
„Es tut mir leid, Joseph, ich bin nicht befugt, Sie aus der Tiefschlafkammer zu entlassen, bevor Sie nicht die psychologische Überprüfung abgeschlossen haben.“
Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Programm sich weigerte, einen Befehl auszuführen. Das hatte dann stets gute Gründe, meist Sicherheitsbelange. Dass das MÜP es ablehnte, eine Tiefschlafkammer zu öffnen, war neu. Er versuchte erst gar nicht, seine Wut zu verbergen. „Sperr mal deine Ohren auf, MÜP. Ich befehle dir, sofort diese Kammer zu öffnen! Und ich möchte zu diesem Thema keine weitere Diskussion führen oder Belehrungen von dir hören.“
„Es tut mir leid, aber ich bin nicht befugt, diesen Befehl auszuführen. Die Gründe hierfür erläutere ich Ihnen gerne ausführlich.“
„Steck dir deine Erläuterungen sonst wohin und mach endlich diese Kiste auf … Autsch!“ Er hatte mit dem rechten Fuß an die Decke der knapp achtzig Zentimeter hohen Kammer getreten und sich dabei einige Zehen gestaucht.
„Bitte beruhigen Sie sich. Ich verstehe Ihren Unmut über diese ungewohnte Behandlung durchaus. Gleichzeitig muss ich darauf hinweisen, dass es nicht meine freie Entscheidung ist, Sie aus der Tiefschlafkammer zu entlassen. Dies ist Teil der neuen Version des Aufwachprogrammes. Sicherheitsprobleme an Bord eines anderen Schiffes haben zu dieser Änderung geführt. Näheres werden Sie in Kürze auf der Versammlung erfahren, die in 66 Minuten beginnt. Erst wenn Sie den psychologischen Test erfolgreich absolviert haben, kann ich Sie aus der Tiefschlafkammer entlassen. Darf ich mit dem Test beginnen?“
Er schwieg. Ärgerlich an der ganzen Sache war, dass es keinen Schuldigen hier auf dem Schiff geben würde. Also niemanden, dem man die Meinung sagen konnte. Irgendein Sicherheitsfanatiker in der HEIMAT war der Wahnsinnsidee verfallen, sich über alle geltenden Regeln hinwegzusetzen und ohne Ankündigung einfach ein neues Programm zu installieren.
„Joseph?“
Vermutlich war die Idee zu dieser Änderung einem Computer entsprungen. Ein Sicherheitsproblem auf irgendeinem Schiff, ein Computer, der die Situation analysiert und eine entsprechende Lösung vorgeschlagen hatte. Dann hatte es nur noch eines ignoranten, dämlichen Theoretikers bedurft, der seinen Hintern nicht einen einzigen Tag lang während seiner Karriere aus dem Kontrollzentrum wegbewegt hatte, um dieses Programm freizugeben.
„Joseph?“
„Was?!“
„Schön, dass Sie wieder mit mir sprechen. Ich muss darauf hinweisen, dass die Versammlung, an der Sie teilnehmen sollten, in weniger als 64 Minuten beginnen wird. Da der psychologische Test einige Zeit in Anspruch nimmt, verbleibt Ihnen nur noch wenig Zeit, um sich anzukleiden und zu bewegen, wenn wir jetzt nicht anfangen. Darf ich mit dem Test beginnen?“
„Eine Frage noch, MÜP.“
„Selbstverständlich. Was möchten Sie wissen?“
„Was passiert, wenn ich diesen Test nicht mit einem befriedigenden Ergebnis abschließe?“
„Die Wahrscheinlichkeit, bei diesem Test kein befriedigendes Ergebnis zu erreichen, ist äußerst gering. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“
„Nehmen wir aber mal diesen unwahrscheinlichen Fall an. Was dann?“
„Dann würde ich die Situation analysieren, und einen entsprechenden Bericht an die medizinische Abteilung senden. Diese würde dann Ihre weitere Betreuung übernehmen.“
Er schämte sich der Erleichterung, die ihn bei den letzten Worten wie eine Welle durchflutete. Die Mediziner aus Fleisch und Blut würden sich notfalls um ihn kümmern!
„Darf ich jetzt mit dem Test beginnen?“
Er wollte gerade bejahen, als ihn ein weiterer Gedanke beunruhigte. „Eine Frage noch. Nehmen wir einmal den unwahrscheinlichen Fall an, dass keines der … 328 Besatzungsmitglieder, auch niemand aus der medizinischen Abteilung, diesen Test bestände, also kein einziger aus seiner Kammer herauskäme, was würde dann passieren? Wer würde dann die weitere Behandlung übernehmen?“
„Diese Frage kann ich nicht beantworten. Meine Programmierung enthält keine weiteren Anweisungen außer denen, die ich Ihnen schon mitgeteilt habe. Was für den von Ihnen gedanklich konstruierten Fall weiter vorgesehen wäre, ist mir leider nicht bekannt. Darf ich jetzt mit dem Test beginnen?“
„Fang an.“
„Nennen Sie mir bitte Ihre Dienstnummer.“
„D-2453-7.“
„Sie gehören welchem Schiff und welcher Abteilung an?
„Dokumentationsabteilung der GAMMA.“
„Was sind Ihre Aufgaben hier an Bord der GAMMA?“
„Sag mal, sollen diese Fragen klären, ob mein Gedächtnis noch funktioniert?“
„Bitte beantworten Sie nur die Fragen. Näheres zur Auswertung wird mein Bericht enthalten, den ich nach Abschluss der Befragung an die medizinische Abteilung weiterleite. Soll ich die letzte Frage wiederholen?“
„Nicht nötig. Ich dokumentiere in Wort und Bild, was unsere Forscher an Wissens- und Sehenswertem auf den Forschungsobjekten zu Tage fördern.“
„Ihr wievielter Einsatz im Rahmen unserer Forschungsreise wird dies sein?“
Eine Pause trat ein.
„Joseph?“
Der wievielte Einsatz? Welcher war überhaupt der letzte gewesen?
„Joseph?“
„Einen Augenblick noch, ich rechne gerade nach.“ Der Mond mit den vielen Einschlagskratern? Der Planet mit der gewaltigen Eisschicht?
„Joseph, ich darf Ihnen sagen, dass es nicht ungewöhnlich ist, wenn Sie kurz nach dem Wiederaufwachen noch keine genaue Erinnerung an Ihre zahlreichen Einsätze haben. Sie dürfen dies durchaus so mitteilen.“
„Ich fürchte, ich kann mich tatsächlich im Moment nicht an jeden Einsatz erinnern.“
„Dann schätzen Sie bitte die Anzahl.“
Schätzen? Verfluchtes Miststück, dachte er empört. Erst wiegt es einen in Sicherheit und dann bohrt es weiter in der Wunde herum. Ihm fiel ein, dass der Eisplanet die Nummer 51 bekommen hatte. Er sah die Überschrift, die er in sein Logbuch eingefügt hatte, vor sich.
„Joseph?“
„Ja, schon gut. Ich denke, es wird jetzt mein … 52. Einsatz werden. Hab’ ich recht?“
„Beinahe, Joseph. Lassen Sie uns fortfahren. Wer ist noch Mitglied Ihrer Abteilung?“
Das Wort „beinahe“ klang in seinen Ohren nach. Er hatte daneben gelegen mit seiner Schätzung. Aber wie weit daneben?
„Leiter der Dokumentationsabteilung ist Dr. Varden. Dann sind da noch Lloyd und Albert. Wir sind zu viert“, antwortete er geistesabwesend. Seine Schätzung, es seien bis jetzt 51 Einsätze gewesen, konnte nicht sehr weit neben der Realität liegen. Das MÜP hätte es kaum als „beinahe“ korrekt bezeichnet, wenn er sich um etliche Male vertan hatte.
„Sind Sie sicher?“
„Womit?“, fragte er ein wenig verwirrt.
„Hinsichtlich der Mitglieder Ihrer Abteilung.“
„Selbstverständlich. Wir sind zu …“ Das „viert“ blieb ihm im Halse stecken. Tatsächlich waren sie nur noch zu dritt. Albert war tot. Wie hatte er das vergessen können?
„Joseph?“
„Äh … tut mir leid, ich muss mich korrigieren. Wir sind nur noch zu dritt. Albert ist … nicht mehr … er ist tot.“
„Wie ist ihr Kamerad Albert gestorben?“
„Er war dabei, einen Kometen zu filmen, als sein Gleiter von Gestein getroffen und zerstört wurde. Wir konnten weder seine Leiche noch irgendwelche Trümmer bergen.“ Er war mit Albert nicht gerade befreundet gewesen, aber wie hatte er dessen Tod vergessen können?
„War das der einzige Todesfall während der Mission der GAMMA?“
„Nein. Gleich zu Anfang, beim dritten oder vierten Einsatz, sind zwei Geologen plötzlich verschwunden. Obwohl wir tagelang gesucht haben, fanden wir keine Spur von ihnen. Das Ganze war … sehr seltsam. Sie wurden für tot erklärt.“
„Vor einigen Minuten haben Sie die Anzahl der Besatzungsmitglieder mit 328 angegeben. Denken Sie bitte nochmals nach. Wie viele Personen befinden sich derzeit an Bord dieses Schiffes?“
Er spürte, wie seine Gedanken allmählich in Unordnung gerieten. Albert war tot, daran konnte er sich jetzt deutlich erinnern. Wieso hatte er das vergessen? Und wenn er selbst Alberts Tod vergessen hatte, was hatte er sonst noch alles vergessen? Hatte es weitere Verluste gegeben? Wie war er auf die Zahl 328 gekommen?
„Joseph?“
„Äh...“, fing er an zu stottern, „...soweit ich weiß, bestand die Besatzung zu Beginn der Mission aus ... 330 Personen. Durch den Tod der beiden Geologen und Alberts Tod liegt die Mannschaftsstärke jetzt bei ...327. Oder?“
„Ich spiele Ihnen jetzt eine Sequenz aus Ihren eigenen Aufnahmen vor. Sagen Sie mir bitte, welchen Planeten Sie sehen.“ Direkt vor seinen Augen entstanden Bilder, die er vor langer Zeit aufgenommen hatte, während des Flugs über einen vulkanisch aktiven Planeten. Die riesigen Lavaströme und die enormen Säulen aus Asche, die in die Höhe wuchsen, boten ein fantastisches Schauspiel. Er hatte sich damals tiefer als vorgesehen hinab gewagt. Das Risiko, das er einging, als der Gleiter von empor geschleudertem Gestein beinahe getroffen wurde, war erheblich gewesen. Dr. Varden hatte ihn dafür heftig kritisiert. Die Aufnahmen, die er von diesem Flug zurückgebrachte, waren die spektakulärsten, die er jemals gemacht hatte.
„Das war bei Objekt „P 12“. Tolle Aufnahmen, nicht wahr?“
„Sehr schön. Hat der damalige Flug über den Planeten nachträglich zu einer Kontroverse geführt?“
„Eine Kontroverse? Nun, äh ... Dr. Varden war der Meinung, ich sei ein wenig unvorsichtig gewesen, als ich die Aufnahmen machte.“
„Dr. Varden warf Ihnen vor, sie hätten die Sicherheitsvorkehrungen missachtet, nicht wahr?“
„Das ist übertrieben. Ich war vielleicht ein wenig unvorsichtig. Die Aufnahmen sprechen für sich selbst. Man kann unschwer erkennen, dass wir dem Eruptivgestein, das da herumfliegt, ziemlich nahe gekommen sind.“
„Es gab einen bestimmten Grund, der Dr. Varden bewog, Ihnen einen Verweis zu erteilen, nicht wahr?“
Den hatte es gegeben. Das Sicherheitsprogramm des Gleiters hatte später berichtet, wie es den Piloten mehrfach und nachdrücklich darauf hingewiesen habe, dass er durch die Unterschreitung der vorgeschriebenen Mindesthöhe gegen bestehende Sicherheitsvorkehrungen verstoße und dadurch sein eigenes Leben wie auch die Unversehrtheit des ihm anvertrauten Raumgleiters gefährde.
„Du meinst den Bericht des Sicherheitsprogramms?“
„Richtig.“
War das nun eine Überprüfung des Gedächtnisses oder ein Appell an die Disziplin?
„Joseph, arbeiten Sie gerne mit Robotern, Drohnen und installierten Programmen zusammen?“
Er dachte nach und schluckte die erste Antwort, die ihm in den Sinn kam, hinunter. „Sie sind zuverlässige Begleiter und für die Erfüllung meiner Aufgaben unersetzliche Helfer“, zitierte er stattdessen frei aus dem „Handbuch über den Umgang mit Robotern, Drohnen und elektronisch gesteuertem Hilfspersonal“.
„Sie haben sehr schön zitiert, aber leider meine Frage nicht beantwortet.“
„Selbstverständlich arbeite ich stets gerne mit den Robotern, Drohnen und Programmen zusammen.“ Das war nicht die volle Wahrheit und er wusste, dass das MÜP dies registrierte. Er hatte jedoch im Laufe der Zeit gelernt, dass es auch im Umgang mit Computern manchmal klüger war, höflich anstatt ehrlich zu sein.
2 Versammlung
„Meine Güte, wo bleiben Sie denn?“ Dr. Varden begrüßte ihn ungeduldig, kurz nachdem Joseph den großen Besprechungsraum betreten hatte. Der lichtdurchflutete, ovale Raum war gut gefüllt, die meisten hatten bereits die Plätze in ihren Abteilungen eingenommen.
„Entschuldigen Sie. Das war nicht meine Schuld“, stammelte er ein wenig außer Atem, da er die letzten Korridore entlanggerannt war, was so kurz nach dem Aufwachen eigentlich verboten war.
„Schon gut. Kommen Sie, setzen wir uns. Es geht gleich los.“ Dr. Varden schien erleichtert, dass seine Abteilung doch noch vollzählig anwesend war, wenn auch seit dem Tode Alberts dezimiert. Lloyd saß bereits an seinem Platz und sah betont gelangweilt in die Runde. Joseph murmelte einen Gruß, den Lloyd lässig zurückgab.
„Hat das MÜP dich aufgehalten?“ Lloyd, spöttisch wie immer.
„Ein wenig“, meinte Joseph möglichst gelassen. Er hatte mit Lloyd von Anfang an nichts anfangen können und das hatte sich seither nicht geändert. Meist gingen die beiden einander aus dem Weg.
„Wir hatten schon befürchtet, der Computer hätte dich auf Eis gelegt“, bohrte Lloyd genüsslich weiter.
„Sie wären übrigens nicht der Einzige gewesen. Ich sehe noch mindestens 30 freie Plätze hier im Raum“, mischte Dr. Varden sich ein und Joseph ließ den Blick ebenfalls durch den Raum wandern. Hier und da war ein einzelner Platz freigeblieben. In jeder größeren Abteilung fehlte jemand. Die Plätze der Mediziner blieben unbesetzt, was üblich war an einem solchen Tag. Joseph stellte erleichtert fest, dass ihm zu den meisten Gesichtern im Raum auch der Name einfiel. Auf einem Gesicht in den Reihen der Geologen blieb sein Blick hängen, nur für einige Sekunden. Dann wurden seine Gedanken von Captain Horace B. unterbrochen, dessen lange, schmale Gestalt das Podest in der Mitte des Raumes erklommen hatte und der nun um Aufmerksamkeit bat. Das Gemurmel verstummte. Joseph lehnte sich in seinen Sitz zurück, während Lloyd gelangweilt seufzte.
„Meine sehr geschätzten Mitglieder der Mannschaft“, begann der Captain wie gewohnt, „ich darf Sie herzlich zur Auftaktveranstaltung unserer vierundfünfzigsten Mission begrüßen.“
„Vierundfünfzig?“ Kurzes Gemurmel entstand. Joseph hoffte, von irgendwo käme eine Stimme, die den Captain korrigierte, was manchmal bereits geschehen war. Heute nicht.
Horace B. fuhr fort: „Sicherlich warten Sie bereits mit der gleichen Neugier wie ich selbst auf die Informationen, die unsere Sonden gesammelt haben und die zur Auswahl des neuen Forschungsobjekts geführt haben. Heute muss ich aus gegebenem Anlass zunächst eine Vorbemerkung machen. Wie Sie alle war auch ich vor gut einer Stunde in der merkwürdigen Situation, dem Medizinprogramm glaubhaft machen zu müssen, dass mein Geisteszustand befriedigend sei. Aus der Tatsache, dass ich hier vor Ihnen stehe, können Sie schließen, dass mir das gelungen ist...“
Gelächter erfüllte den Raum und der Captain zwinkerte gutgelaunt über seinen eigenen Witz. Dass einige seiner Zuhörer kurz vor seinem Eintreffen im Saal Wetten darauf abgeschlossen hatten, dass der Captain seine Tiefschlafkammer niemals wieder verlassen würde, blieb ihm glücklicherweise unbekannt.
„... Einigen unserer Kollegen ist dies leider nicht gelungen, wie mir berichtet wurde. Grund zur Beunruhigung besteht jedoch nicht. Die medizinische Abteilung hat sich ihrer bereits angenommen, und es ist zu erwarten, dass auch die übrigen Kollegen in den nächsten Stunden einsatzbereit zu uns stoßen werden.“
Wenig freundliches Gemurmel.
„Mir ist selbstverständlich klar, dass diese – und ich betone dies ausdrücklich – für uns alle überraschende Reorganisation des Aufwachprogrammes nicht ohne weiteres akzeptabel ist. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich an dieser Stelle klarstellen, dass weder ich selbst noch sonst ein Mitglied der Schiffsleitung über diese Neuerung vorab informiert wurde.“
Empörtes Gemurmel.
„Der Befehl zur Änderung des Aufwachprogrammes wurde während der Schlafphase der Besatzung direkt aus der HEIMAT an den Z-Com übermittelt und von dort an die medizinischen Überwachungsprogramme weitergeleitet.“
Empörte Zwischenrufe.
Horace B. fuhr nach kurzer Pause fort: „Es handelt sich um einen bisher einmaligen Vorgang, den ich im Namen der gesamten Schiffsleitung aus tiefer Überzeugung verurteile und ablehne.“
Zustimmender Beifall kam auf. Lloyd, flüsternd: “Wenn dieses neue Aufwachprogramm etwas taugte, dann hätte es den Alten sofort wieder schlafen legen müssen.“
„Deswegen …“, fuhr Horace B. mit vor Erregung bebender Stimme fort, „hat sich die Schiffsleitung entschlossen, in scharfer Form gegen dieses unkluge und gefährliche Vorgehen der Kommandozentrale in der HEIMAT zu protestieren.“
Erneut gab es zustimmenden Beifall, aber auch hämisches Kopfschütteln bei Lloyd und anderen.
„Ich gehe davon aus ...“, fuhr der Captain mit theatralischer Geste fort, „… dass ich diese Protestnote im Namen der gesamten Besatzung vorbringen kann.“
Die Mehrzahl der Anwesenden applaudierte, auch Dr. Varden. Lloyd ließ ein resigniertes Seufzen hören, während Joseph nur mühsam seine Wut verbergen konnte. Eine Protestnote war soviel wert wie ein Insektenschiss. Niemand in der HEIMAT interessierte sich dafür. Das Schlimmste war, dass es keine wirkliche Alternative gab. Währenddessen sonnte sich der Captain im Lichte seiner gelungenen Eröffnung und lächelte den Anwesenden verschmitzt zu.
„Bravo“, ließ Lloyd hören, „die Computer übernehmen hier an Bord das Kommando, und wir schicken eine Protestnote in die HEIMAT. Die wird einschlagen wie ne Bombe.“
Dr. Varden warf Lloyd einen tadelnden Blick zu. Was Joseph fast noch mehr bewegte, waren die fehlenden zwei Einsätze, die ihm trotz angestrengten Nachdenkens nicht einfallen wollten. Er musste dringend sein persönliches Logbuch überprüfen.
„Nun ...“ fuhr der Captain fort, als das allgemeine Raunen verstummte, „nachdem dieser Punkt geklärt ist, gebe ich das Wort an den Z-Com, der uns für das neue Forschungsobjekt mit den notwendigen Informationen versorgen wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“ Horace B. deutete eine kurze Verbeugung an und schritt zu seinem Platz in den Reihen der Schiffsleitung.
Noch bevor eine Pause eintreten und erneut Gemurmel aufkommen konnte, verdunkelte sich der Raum und über dem Podest erschien die Projektion eines Änderungsbefehls aus der HEIMAT. In die eintretende Stille meldete sich dann die sonore Stimme des Zentralcomputers:
„Meine Damen und Herren der Besatzung, auch ich darf Sie herzlich zur Auftaktveranstaltung unserer neuen Mission begrüßen. Aus gegebenem Anlass werde ich Sie zunächst über die Hintergründe der eingetretenen Änderung des Medizinischen-Überwachungs-Programms informieren. Vor genau 146 Tagen erreichte uns der Änderungsbefehl Z-MÜP-241/03, den Sie als Projektion nunmehr vor sich sehen. Nach der Verifikation durch mein Sicherheitsprogramm, das die Echtheit und inhaltliche Vollständigkeit des Befehls bestätigte, war ich gezwungen, ohne vorherige Einschaltung der Schiffsleitung die Neuprogrammierung der medizinischen Überwachungsprogramme vorzunehmen. Wie Sie alle aus der entsprechenden Passage des Änderungsbefehls ersehen können, lag diese Vorgehensweise nicht in meinem Ermessen, sondern war zwingend vorgegeben. Da dieser ungewöhnliche Vorgang auf Missbilligung der Mannschaft stoßen könnte, weist der Änderungsbefehl aus, dass Ihnen allen die Gründe hierfür zu erläutern sind …“
Während der Rede des Z-Com ließ Joseph sich tief in seinen Sitz sinken und überflog mit wenig Interesse das Dokument, das in Riesengröße in die Mitte des Raumes projiziert war. Verfasst von einem Schreibtischhelden in der HEIMAT und ausgeführt durch der Z-Com als willfährigem Helfer, dachte er angewidert.
„… Anlass für die Programmänderung ist ein Unglücksfall, der sich auf dem Expeditionsraumschiff DELTA ereignet hat. Wie Sie vielleicht wissen, handelt es sich bei der Forschungsreise der DELTA um eine der unseren ähnliche Mission, die 138 Jahre nach uns gestartet wurde. Die Forschungsziele der DELTA liegen in anderen Bereichen der Galaxie. Die Aufarbeitung der bedauerlichen Vorgänge auf der DELTA ergab, dass beim Besatzungsmitglied, das ich nachfolgend mit X bezeichne, während des Tiefschlafes oder während des Aufwachens eine verhängnisvolle neurologische Störung eingetreten ist. Der Grund für diese Störung konnte nicht ermittelt werden. Fest steht, dass das Verhalten des X zunächst unauffällig war. Etwa 43 Stunden nach dem Aufwachen hat X, der mit der Oberflächenkartographie des zu erforschenden Objektes beauftragt war, seinen bereits gestarteten Raumgleiter, ohne Ankündigung und ohne Reaktion auf Anfragen, bei hoher Geschwindigkeit gewendet, ist in die Startebene der DELTA zurückgekehrt und dort mit einer Geschwindigkeit von mehr als siebentausend Metern pro Sekunde mit anderen zum Abflug bereiten Raumgleitern kollidiert.“
Während der letzten Worte verschwand die Projektion des Änderungsbefehls, es wurde dunkler im Saal und die Aufzeichnung einer Überwachungskamera, offenbar aus dem Flugdeck der DELTA, wurde eingespielt. Das fünfzig Meter breite und zweihundert Meter lange Deck war voll von Gleitern, Piloten und Technik-Robotern. Die ganze Szenerie gab die übliche Hektik wieder, die stets auf einem Flugdeck herrschte, wenn dicht aufeinander folgend ein Gleiter nach dem anderen startete. Joseph hatte das auf der GAMMA selbst oft miterlebt und konnte in dem Treiben nichts Ungewöhnliches erkennen. Das scheinbare Durcheinander hatte seine Ordnung, diese war aber nur durch ständige Überwachung und Koordinierung durch den Z-Com aufrecht zu erhalten. Plötzlich schienen die Bewegungen der Piloten und Roboter deutlich langsamer zu werden, die Aufzeichnung lief in Zeitlupe ab. Die Überwachungskamera schwenkte nach links auf das geöffnete Abflugtor zu, das in diesem Moment begann, sich langsam zu schließen. Die beiden Torhälften bewegten sich aufeinander zu, ebenfalls sehr langsam.
Dann schien die Aufzeichnung einzufrieren, während das Bild sich rot färbte. Auf dem Abflugdeck der DELTA musste in diesem Moment Alarm ausgelöst worden sein. Joseph überschlug, wie lange der anfliegende Gleiter benötigte, um das etwa zweihundert Meter lange Deck zu durchfliegen, und fragte sich, ob der Gleiter bei seiner hohen Geschwindigkeit überhaupt zu erkennen sein werde. In diesem Augenblick tauchte das Objekt bereits im Bereich der Überwachungskamera auf und näherte sich unaufhaltsam von außen dem Abflugtor. Es war ein Raumgleiter, der grob denen der GAMMA entsprach. Er schien in Form und Größe kaum verändert, die Unschärfe der Aufzeichnung ließ keine näheren Details erkennen. Der Gleiter durchquerte das Abflugtor und strebte im Tiefflug, zwei Meter über dem Boden, seinem Ziel entgegen. Dabei bewegte er sich vom linken Rand der Aufzeichnung zur rechten und verschwand dann langsam aus dem Blickfeld der Kamera, die wegen der hohen Geschwindigkeit des Gleiters nicht in der Lage gewesen war, rechtzeitig mitzuschwenken.
Es dauerte einige Augenblicke, bis die Kamera sich nach rechts bewegte und der Bildausschnitt sich dem mutmaßlichen Aufprallort des Gleiters zuwandte. Für einige Augenblicke wackelte das Bild und schien außer Kontrolle. Die Erschütterung durch den Einschlag des Gleiters musste gewaltig gewesen sein, auch wenn sein Gewicht im Vergleich zu dem des Schiffes minimal war. Durch die hohe Aufprallgeschwindigkeit hatte der Gleiter eine ungeheure Energie freigesetzt. Ein Trümmerstück kam von rechts ins Bild, prallte an der Wand neben dem Abflugtor ab und trieb dann in Zeitlupe direkt auf die Kamera zu, die noch immer dabei war, nach rechts zu schwenken. Das sich nähernde Trümmerstück war vermutlich Teil der Tragfläche eines Gleiters gewesen. Während es im Bildausschnitt größer wurde, ertappte Joseph sich dabei, wie er noch tiefer in seinen Sitz glitt und schützend eine Hand vor das Gesicht halten wollte.
In diesem Augenblick verschwand die Aufzeichnung, im Saal wurde es wieder heller, und der Z-Com fuhr fort:
„Siebenundzwanzig Todesopfer waren unter der Besatzung der DELTA zu beklagen, neben einer großen Zahl von Verletzten. Achtzehn Raumgleiter sowie fünfundzwanzig Technik-Roboter wurden zerstört oder beschädigt. Dies und die umfangreichen Schäden an der Struktur des Flugdecks führten dazu, dass die Mission der DELTA abgebrochen wurde. Sie befindet sich auf dem Weg zurück in die HEIMAT.“
Es herrschte Schweigen im Saal. Der Computer machte eine Pause und ließ der Besatzung Zeit um durchzuatmen. Joseph richtete sich auf und bemerkte, wie verkrampft er war. Die unerwarteten Bilder hatten ihm zugesetzt. Und nicht nur ihm. Ratlosigkeit, Erstaunen und Entsetzen waren um ihn herum. Selbst Lloyd war sprachlos. Jeder im Raum hatte eine Erklärung für das neue Aufwachprogramm erwartet, aber niemand hatte mit einer solchen Katastrophe gerechnet. Es war nicht das erste Mal in der Geschichte der interstellaren Expeditionen, dass ein Schiff beschädigt wurde und es Opfer unter der Besatzung gab. Neu war allerdings, dass kein äußeres Ereignis die Ursache dafür war, sondern ein Mitglied der Besatzung.
„Von X, der durch sein Fehlverhalten die beschriebenen Schäden verursacht hat und der beim Aufprall seines Gleiters getötet wurde, blieben keine Hirnstrukturen erhalten, die es der medizinischen Abteilung ermöglicht hätten, Rückschlüsse auf sein Verhalten zu ziehen“, fuhr der Z-Com fort.
„Was bedeutet, dass es diesen X ziemlich zerbröselt hat“, kommentierte Lloyd leise.
„Auch die Schilderungen und Beobachtungen der übrigen Besatzung sowie die Analyse seines persönlichen Logbuchs gaben in dieser Hinsicht keinen Aufschluss. Letztendlich entzieht sich das Verhalten von X auch nach eingehender Untersuchung durch eine eigens einberufene Kommission einer Erklärung. Dieses unbefriedigende Ergebnis hat die Leitung des Raumforschungsprogramms bewogen, eine Neukonzeption des Aufwachprogrammes zu erarbeiten und diese sofort und ohne Rücksprache mit den Betroffenen auf sämtlichen Expeditionsraumschiffen zu implementieren. Die Kommandozentrale war sich bewusst, dass sie gegen gewachsene Grundsätze der interstellaren Forschungsreisen verstieß, wenn sie eine derart wichtige Neuerung ohne vorherige Rücksprache mit den betroffenen Besatzungen vornahm. Die Dringlichkeit, die sich aus den Geschehnissen auf der DELTA ergab, ließ jedoch keine Verzögerung zu.“
„Blabla … “, kommentierte Lloyd genervt und handelte sich einen tadelnden Blick Dr. Vardens ein.
Josephs Gedanken kreisten noch immer um die Bilder der DELTA. Er bedauerte, dass dem Bericht keine umfangreichere Aufzeichnung beigefügt war. Ohne sie je gezählt zu haben, wusste er, dass auf den Start- und Landedecks der GAMMA etwa vierzig automatische Kameras installiert waren, die sämtliche Vorgänge lückenlos festhielten. Es gab keinen einzigen Winkel auf den Decks, der nicht ständig überwacht wurde. Wenn dies hier so war, dann sicherlich auch auf der DELTA. Warum enthielt der Bericht durch die Zentrale dann nur diese eine, wenig aussagekräftige Aufzeichnung? Aus Gründen der Pietät? Wollte man keine zerfetzten Besatzungsmitglieder zeigen, deren Gliedmaßen über das Deck schleuderten? Vermutlich. Dennoch war er unsicher. Etwas an den Bildern schien nicht zu stimmen. Ihm war kein bestimmtes Detail aufgefallen, und doch hatte er Zweifel. Er war selbst nicht unerfahren im „korrigierenden Überarbeiten von Bildaufzeichnungen“, wie Dr. Varden dies nannte. Es gab strenge Vorschriften darüber, welche Inhalte an die HEIMAT übermittelt werden durften. Die Berichte wurden dort natürlich nochmals überprüft, bevor sie veröffentlicht wurden. Dennoch bestand immer die Gefahr, dass ein außenstehender Dritter die Fernübertragung abfing und es verstand, die kodierten Daten zu entschlüsseln. Deshalb mussten alle Berichte vor der Übertragung in die HEIMAT auf unzulässige Informationen überprüft und wenn nötig korrigiert werden. Das war mit Hilfe der Programme zur Bildbearbeitung kein Problem und eine Korrektur war nach allgemeiner Einschätzung nicht erkennbar. Joseph wusste es besser. Die Bilder hatten nicht unecht gewirkt, schienen aber überarbeitet worden zu sein.
Eine Raunen ging durch den Saal und riss Joseph aus seinen Gedanken. Das neue Forschungsobjekt war als Projektion im Raum erschienen und der Z-Com war dabei, das Objekt vorzustellen. Es war ein Planet, aber kein gewöhnlicher. Die Versammlung bebte vor Entzücken. Joseph ging es ähnlich, aber nicht wegen der Aussicht auf Vegetation, wie der Z-Com soeben erläuterte. Auch nicht wegen der tektonischen Vielfalt an Ebenen und Gebirgen, selbst die Hinweise auf einfache Lebensformen ließen ihn kalt. Es war einzig das blaue Schimmern der Projektion, das ihn so bewegte: Ein großer Teil der Oberfläche des Planeten war mit Wasser bedeckt!
Eine Stunde später wurde er durch die Eingangskontrolle seiner Kabine überprüft und identifiziert. Nach einigen Augenblicken glitt die Tür lautlos zur Seite und ließ ihn eintreten.
„Guten Tag, Joseph“, begrüßte ihn seine Kabinensteuerung.
„Hallo, Diana“, antwortete er wie gewöhnlich und ging zum Waschbecken, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu klatschen. Anschließend betrachtete er missmutig den kahlen Schädel, mit dem man stets aus der Tiefschlafkammer kam. Dann ließ er sich auf sein Bett fallen.
„Wie geht es Ihnen, Joseph?“
„Ich bin ein wenig müde. Wie lange war ich diesmal weg?“
„672 Tage sind vergangen, seit Sie zuletzt diese Kabine verlassen haben.“
„672 Tage“, wiederholte er gedankenverloren. Er war in bester Stimmung. Die Erwartung einer fantastischen Mission ließ ihn vor Freude beben. Ein Planet mit Wasser!Küstenlinien, Felsenküsten, Inseln, womöglich Flüsse. Es war lange her, dass er in der HEIMAT am Wasser gelegen hatte, schwimmen gehen oder am Strand spazieren konnte. Während der Expedition der GAMMA waren sie bislang nur dreimal auf Wasser gestoßen, und das auch nur in gefrorener Form. Auf einem Mond, einem Asteroiden und einem unwirtlichen Eisplaneten.
„Joseph?“, unterbrach Diana seine Gedanken.
„Ja?“
„Darf ich Ihnen den Zeitplan für die neue Mission vorstellen?“
„Bitte.“
„In wenigen Minuten wird Ihnen die erste Mahlzeit überbracht werden. Anschließend sollten Sie mindestens vier Stunden ruhen, bevor sie sich - so die Empfehlung des MÜP - zu einer kurzen Trainingseinheit im Fitnessbereich einfinden. Ein konkreter Trainingsplan ist bereits für Sie erstellt worden. Danach sollten Sie wiederum mindestens vier Stunden ruhen, bevor sie sich zu einem medizinischen Check einfinden müssen. Haben Sie noch Fragen, Joseph?“
„Nein. Du wirst mich bitte wecken, wenn die Gefahr besteht, dass ich einen Termin verschlafe.“
„Selbstverständlich.“ Der wunderbar sanfte Ton ihrer Stimme fiel ihm wieder auf. Er lächelte, wenn er an die vielen Stunden zurückdachte, die er damit verbracht hatte, die Stimme seiner Kabinensteuerung zu modulieren, und welche Verwicklungen sich daraus ergeben hatten. Anfangs hatte er, wie die meisten anderen auch, eine Standardeinstellung übernommen. Männliche oder weibliche Stimme standen zur Auswahl und er hatte sich für „weiblich“ entschieden. Bald jedoch langweilte ihn die Standardstimme und er fand heraus, dass die Sprachsteuerung seiner Kabine eine Unmenge an Variationen bereit hielt. So erschuf er allmählich zwar nicht seine Traumfrau, aber immerhin deren Stimme. Für eine Frauenstimme war sie eher tief, bei manchen Silben schien sie ein wenig rau, fast brechend. Manchmal klang sie gleichmütig, gar ein wenig arrogant, wie mancher Besucher überrascht bemerkte. Und nachdem er diese Stimme erschaffen hatte, erschien ihm die Anrede „Kabinensteuerung“ zu profan, also gab er ihr einen passenden Namen und nannte sie „Diana“.
Eines Abends suchte der Biologe Thomas H. ihn in seiner Kabine auf, um sich über die Dokumentation einer von ihm entdeckten Bakterienart zu unterhalten. Sie konnten sich nicht auf ein gemeinsames Projekt einigen, da Joseph sowohl Thomas H. wie auch die Bakterien für langweilig hielt. Der Biologe hatte jedoch Gefallen an Dianas Stimme gefunden. Nachdem er in den folgenden Tagen vergeblich versucht hatte, sie auch in seiner Kabine zum Leben zu erwecken, wandte er sich nochmals an Joseph und bat ihn um die notwendigen Spracheinstellungen. Joseph hatte damals kurz überlegt und dem überraschten Biologen dann mitgeteilt, dass er diese Einstellungen für sich behalten werde. Der Biologe war mit dieser Auskunft überhaupt nicht zufrieden gewesen und beschwerte sich über Josephs unkollegiales Verhalten zunächst bei Dr. Varden, und wandte sich, nachdem auch dessen Intervention erfolglos geblieben war, schließlich an den Captain. So war Joseph zu seinem ersten Vier-Augen-Gespräch mit Horace B. gekommen.
Horace B. empfing ihn aufgeräumt, fast heiter und führte ihm nicht ohne Stolz seine ziemlich große „Suite“ vor. Der Captain wohnte nicht auf zwanzig Quadratmetern wie die meisten an Bord, er residierte auf mehr als einhundert. Er führte ihm voller Stolz sein riesiges Panoramafenster vor. Sie standen einige Zeit davor und der Captain erläuterte die Sternkonstellation. Schließlich saßen sie sich gegenüber und der Captain begann augenzwinkernd, aber ohne Umschweife.
„Sie und Ihre Kabinensteuerung, genauer gesagt, deren Stimme, sorgen für Aufsehen. Wissen Sie das?“
„Aufsehen?“ Möglichst arglos.
„Und wie! Ein völlig aufgelöster Biologe saß mir vor einigen Stunden gegenüber. Mir scheint, er hat sich in die Stimme Ihres Computers verliebt. Was sagen Sie dazu?“
„Captain … äh … bei allem nötigen Respekt, wenn dieser Biologe tatsächlich der Meinung ist, er sei in die Stimme meines Computers verliebt, dann hat ihm womöglich der letzte Tiefschlaf nicht gutgetan.“
„Der Gedanke ist mir auch schon gekommen.“ Der Captain lächelte milde. „Aber nach Auskunft der medizinischen Abteilung erfreut sich der Betreffende bester Gesundheit und ist auch sonst im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, wie man so schön sagt. Ich habe auch nicht den Eindruck, sein Leben hinge davon ab, dass Sie ihm diese Stimme zur Verfügung stellen. Vielmehr schien mir der Mann gekränkt, dass Sie ihm wegen einer solchen Lappalie die Zusammenarbeit verweigern.“
Das war ein schwerer Vorwurf. Eines der obersten Prinzipien an Bord eines interstellaren Raumschiffes war der unbedingte Zusammenhalt der Besatzung. Teamfähigkeit und Sozialverhalten waren wichtige Kriterien bei der Auswahl der Kandidaten für eine solche Expedition. Joseph war verärgert über den Vorwurf des Biologen, ließ sich aber nichts anmerken.
„Dieser Vorwurf ist mir unverständlich. Ebenso das ganze Verhalten meines Kollegen. Wenn das Ganze für ihn eine solche Lappalie ist, wie er sich ausdrückt, dann ist mir nicht klar, wieso er damit zu Ihnen kommt. Er muss doch wissen, dass Sie zu beschäftigt sind, um sich derartiger Nichtigkeiten anzunehmen. Und wenn es so unwichtig ist, wieso braucht er dann unbedingt die Stimme meines Computers? Er soll sich seine eigene zusammenstellen.“
„Vielleicht ist es doch wichtiger als er zugeben will“, meinte der Captain nachdenklich. „Wir alle sind auf unabsehbare Zeit auf diesem Schiff, als Teil einer Gemeinschaft. Wir leben und arbeiten zusammen. Und jeder von uns hat seinen kleinen privaten Bereich, den er oder sie individuell gestalten kann. Wir haben einige Dinge aus der HEIMAT mitgenommen, an denen wir hängen. Und manchmal werden wir uns das eine oder andere Souvenir von einem Forschungsobjekt aneignen können, um damit unsere private Höhle zu verschönern. Und der gute Thomas H. hat nun etwas gefunden, mit dem er sich seine Höhle ein wenig wohnlicher einrichten möchte, und zwar die Stimme Ihres Computers. Meinen Sie nicht, Sie könnten ihm in dieser Angelegenheit entgegenkommen, Joseph?“ Dabei hatte er seinem Gegenüber wohlwollend zugeblinzelt.
Joseph erinnerte sich, wie ihm in jenem Moment klar wurde, dass die Mannschaft ihren Captain unterschätzte. Die meisten Besatzungsmitglieder waren überrascht davon, dass ein Mann vom fortgeschrittenen Alter eines Horace B. zum Chef der Expedition ernannt worden war. Er war kein Tattergreis, aber doch bereits in der zweiten Lebenshälfte angelangt. Wie allgemein üblich waren die anderen Mitglieder der Schiffsleitung deutlich jünger, ebenso der Rest der Crew, der sich hauptsächlich aus allen Sparten der Wissenschaft rekrutierte. „Der alte Zausel“ war schnell zum gängigen Synonym für den Captain geworden. Seine Eigenart, im Rahmen einer Ansprache manchmal sehr umfassend über Dinge zu informieren, die gar nicht zur Debatte standen, oder umständlich auf Fragen zu antworten, die gar nicht gestellt waren, hatte sein Ansehen bei der Besatzung nicht eben erhöht. Erste Anzeichen von Senilität wollten manche bei ihm entdeckt haben und im Laufe der Zeit machten immer mehr Geschichten über den alten Zausel die Runde. Joseph selbst war sich in der Einschätzung des „Alten“, wie er ihn nannte, unschlüssig. Jene erste Unterredung mit dem Captain, der im Laufe der Zeit noch andere folgten, hatte angedeutet, dass mehr hinter Horace B. stecken mochte, als gemeinhin vermutet wurde. Man ging davon aus, dass gute Beziehungen zur Leitung des Konzerns ihm das Kommando über die GAMMA verschafft hatten. Joseph mutmaßte, dass seine Fähigkeit, Streitigkeiten zu schlichten, ein wesentlicher Punkt für seine Auswahl gewesen war. Dieser Gedanke war ihm während jener ersten Unterredung gekommen, bei der ihn der Alte ins Schwitzen gebracht hatte. Joseph war mit dem festen Vorsatz hineingegangen, auf keinen Fall Informationen über Dianas Stimme preiszugeben. Als der Captain allerdings an sein Mitgefühl appellierte, war die Situation unangenehm geworden. Joseph hatte fieberhaft nach einem Ausweg gesucht. Er hatte nichts verraten, aber auch nicht übertrieben egoistisch erscheinen wollen.
„Selbstverständlich bin ich bereit, einem Kollegen bei der Einrichtung seiner ... Höhle behilflich zu sein, wenn mir dies möglich ist. Aber das ist der Punkt: Ich kann einfach nicht. Genauer gesagt, ich könnte es nicht ertragen … “, stotterte er und sah ein Stirnrunzeln bei Horace B., „… der Gedanke daran, dass jemand anders, ganz egal wer, die Stimme meines Computers ebenfalls verwendet, ist mir unangenehm.“ Er wunderte sich selbst über das, was er da faselte, kaum dass es heraus war.
„Der Gedanke ist Ihnen unangenehm? Warum denn?“
„Das ist schwer zu erklären“, hatte Joseph zögernd geantwortet, vor allem weil er selbst noch auf der Suche nach einer Begründung war. „Vielleicht … weil mir diese Stimme, die ich mühsam erschaffen habe, … sehr wichtig ist. Sie ist ein Detail das mir gehört und es wäre nicht mehr dasselbe, wenn ich wüsste, dass ein anderer – oder mehrere andere – die gleiche Stimme ebenfalls verwenden. Es ist eben die Stimme MEINER Kabinensteuerung.“
Was für ein Schwachsinn, hatte er sich selbst gescholten, wenn du so weiter faselst, landest du bei einer psychiatrischen Untersuchung!
„Der Gedanke, diese Stimme mit anderen teilen zu müssen, ist Ihnen unangenehm, weil Sie sie … als Ihr Eigentum ansehen?“
Das Gesicht des Captains hatte sich bei diesen Worten plötzlich aufgehellt. Denn in diesem Moment hatte er eine elegante Lösung für den unangenehmen Fall gefunden. „Und wenn ich kurz darüber nachdenke, muss ich Ihnen recht geben.“
„Sie geben mir recht?“ Joseph war ehrlich verblüfft.
„Ja, Joseph. Denn Sie haben diese Stimme aus den unzähligen Möglichkeiten, die das Sprachprogramm bietet, zusammengestellt, sie haben sie komponiert, müsste man fast sagen. Und so wie eine klangliche Komposition geistiges Eigentum ihres Schöpfers ist, so ist diese Stimme Ihr geistiges Eigentum. Daran dürfte nicht zu rütteln sein. Wie Sie wissen, gelten die rechtlichen Regeln der HEIMAT auch auf allen Expeditionsraumschiffen, soweit nicht die Sicherheit des Schiffes entgegensteht, was hier aber nicht von Belang ist. Und daher bleibt es Ihnen überlassen, was Sie mit dieser Stimme anfangen. Sie können sie für sich behalten oder an andere weitergeben, ganz wie es Ihnen beliebt.“ Mit diesen Worten hatte der Captain sich damals erhoben und den erstaunten Joseph gutgelaunt entlassen.
„Joseph, eine Versorgungseinheit bittet um Einlass“, unterbrach Diana seine Erinnerungen.
„Lass sie rein.“ Der Gedanke an die erste Mahlzeit nach dem Aufwachen führte zum üblichen Unwohlsein und einem leichten Würgereiz. Die Kabinentür öffnete sich, die Drohne glitt lautlos herein, stellte eine verschlossene Metalldose auf dem Tisch ab und verschwand wieder. Joseph beobachtete die Dose angewidert, ohne sich zu erheben. „Weißt du, was da drin ist?“, fragte er hilfesuchend.
„Der Inhalt besteht aus 42 % Kohlenhydraten, 28 % Eiweiß, 19 % Fett, Wasser sowie Vitaminen und Spurenelementen. Der Nährwert beträgt …“
„Ich wollte wissen, wie es aussieht und wonach es schmeckt.“
„Diese Information ist mir leider nicht übermittelt worden“, hauchte Diana in gespielter Demut zurück.
Er stand auf und ging zum Tisch, betrachtete das metallene Etwas einige Sekunden lang und setzte sich dann. Er legte die Hand auf die Dose und ließ sich identifizieren. Die Dose öffnete sich, ihr Inhalt war enttäuschend, wie immer. Ein Becher mit einer hellgrauen Flüssigkeit, dazu drei Häufchen Püree in unterschiedlichen Farben. Er schnupperte zuerst am Becher, stellte fest, dass sein Inhalt geruchlos war und trank ihn in einem Zug. Sofort spülte er mit etwas Wasser nach. Dann nahm er eine Löffelspitze grünen Pürees auf, beäugte es misstrauisch und roch daran. Süsslich, gemüseartig, möglicherweise essbar, urteilte er. Er nahm vorsichtig den ersten Löffel in den Mund und wartete auf die Reaktion seiner Geschmacksnerven. Tatsächlich Gemüse stellte er fest, und gar nicht übel. Er aß das grüne Zeug auf, spülte mit einem Schluck Wasser nach und legte den Löffel beiseite. Mit einem neuen Löffel untersuchte er das zweite, gelbliche Püree. Es roch fruchtig, bemerkte er erfreut. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass etwas fruchtig aussah und roch, dann aber widerlich synthetisch schmeckte. Er probierte vorsichtig die gelbe Masse, war zufrieden und schlang sie komplett hinunter. Mit einem dritten Löffel stocherte er dann in einem braunen Brei herum, der widerlich aussah und seltsam roch. Angewidert zog er eine Grimasse, während er das Gefühl hatte, sein Magen rolle sich entsetzt in sich selbst zusammen. Ungenießbar, entschied er und ließ den Löffel in der Dose liegen. Die benutzten Löffel legte er dazu, verschloss die Dose und stellte sie in den Entsorgungsschacht, in dem sie sofort verschwand.
„Hat es Ihnen geschmeckt, Joseph?“
„Ja, danke. Drei genießbare Sachen auf einmal. Gar nicht so übel.“ Zufrieden goss er sich ein Glas Wasser ein und leerte es in einem Zug. „Hast du bereits die Informationen für unsere neue Mission erhalten?“
„Ja. Umfangreiche Informationen über Objekt P 17 liegen mir vor. Soll ich sie abspielen?“
„Bitte.“ Gutgelaunt warf er sich aufs Bett. Es konnte nicht schaden, wenn er nachholte, was er im Saal verpasst hatte, weil er die Bilder von der DELTA nicht aus dem Kopf bekommen hatte. Dr. Varden schätzte es nicht, wenn man unvorbereitet zur Besprechung erschien. Über dem Tisch erschien die Projektion die er schon kannte, diesmal kleiner dimensioniert, und der Z-Com begann wieder mit seinen Bericht. Fasziniert betrachtete Joseph den blau schimmernden Planeten.
3 Merkwürdiges
In der HEIMAT war das Wasser seine Leidenschaft gewesen. Er hatte es immer bedauert, auf die großen Freizeittempel angewiesen zu sein und wirkliche Flüsse, Seen oder gar Ozeane nur aus Erzählungen und Simulationen zu kennen. Die künstlichen Wasserlandschaften der HEIMAT waren von enormer Größe. Man konnte Wochen dort verbringen ohne auch nur annähernd alle Gewässer kennen zu lernen. Besonders schätzte er Küstenlandschaften, die den Eindruck erweckten, als läge man an einem unendlich langen Sandstrand und sehe aufs Meer hinaus. Der Wellengang, der simuliert wurde, war enorm. Schwamm man aber weit genug hinaus, so wie Joseph manches Mal, gelangte man irgendwann an einen abgesperrten Bereich, der verboten war. Von dort aus konnte man das Ende der gigantischen Halle erahnen, wenn sich die Wellen am scheinbar unendlichen Horizont plötzlich brachen.
Was er in der HEIMAT aufgegeben hatte, als er sich für die GAMMA entschied, war ihm erst an Bord klar geworden. Denn trotz ihrer Größe konnte die GAMMA nur zwei identische, 30 Meter lange und 10 Meter breite Becken anbieten. Wenn auch mit schönem, ständig wechselndem Ambiente gestaltet, blieb das Ganze für Joseph eine Enttäuschung. Die Becken waren Teil des Sport- und Freizeitbereichs, der sich über mehrere Ebenen erstreckte. Wie immer zu Beginn einer neuen Mission waren sie überfüllt mit Leuten, als Joseph dort eintraf. Selbst notorische Nichtschwimmer waren in den ersten Tagen nach dem Verlassen der Schlafkammer kaum aus dem Wasser zu bekommen. Ein Phänomen, das seit Beginn der Expedition zu beobachten war. Joseph hatte sich mit der Situation bald abgefunden und sich angewöhnt, erst nach drei oder vier Tagen schwimmen zu gehen. Dann hatte sich der anfängliche Trubel gelegt und die echten Wasserratten waren unter sich. Da nur etwa vierzig Personen regelmäßig schwammen, der Schwimmbereich aber rund um die Uhr zur Verfügung stand, teilten sich meist zwei oder drei Schwimmer ein ganzes Becken. Heute ging Joseph mit säuerlichem Blick an den Becken vorbei in die Haupthalle des Freizeitbereichs, in der sich die Laufbahn befand. Auch hier herrschte reger Betrieb. Die Empfehlung, Sport zu treiben, war nicht allein an ihn ergangen. Er zog die Laufschuhe über und trabte gemächlich los. Sofort meldete sich sein persönliches Trainingsprogramm, das er am rechten Handgelenk trug.
„Guten Tag, Joseph. Wie ich feststelle, haben Sie sich heute für eine Laufeinheit entschieden. Das ist eine gute Wahl. Nach einer Tiefschlafphase ist es wichtig, den Körper durch leichtes Ausdauertraining wieder an sein normales Leistungsvermögen heranzuführen. Ich werde wie gewohnt Ihren Puls, Ihre Atemfrequenz und Ihren Blutdruck überwachen und nach Ende dieser Trainingseinheit eine Analyse an Ihr persönliches MÜP weiterleiten. Wünschen Sie, dass ich Sie während der Trainingseinheit über die aktuellen Werte unterrichte?“
Wie üblich lehnte er dankend ab. Es war vorgeschrieben, während der ersten 5 Tage nach dem Aufwachen bei allen sportlichen Aktivitäten das Trainingsprogramm bei sich zu tragen, um die Gefahr eines Kollapses zu verringern. Diese Vorschrift wurde streng überwacht. Wer den Fitnessbereich betrat, wurde registriert und darauf hingewiesen, dass er das Trainingsprogramm mitzuführen habe. Ein Verstoß wurde binnen Sekunden an die Schiffsleitung gemeldet. So hatte sich jeder zu fügen und das geschwätzige Programm am Handgelenk zu tragen. Es war auch nicht erlaubt, das Programm stumm zu schalten. So versorgte es einen ungefragt mit Hinweisen auf zu hohen Puls, zu hohen Blutdruck und Ähnlichem. „Darf ich Ihnen eine optimale Route für Ihre heutige Laufeinheit vorschlagen, Joseph?“
„Nein, danke. Ich werde ein wenig über die untere Ebene traben und dann ein paar Abstecher nach oben machen.“
„Bitte beachten Sie, dass Sie ein ruhiges und gleichmäßiges Tempo anschlagen und insbesondere bergan keine zu hohe Belastung eingehen.“
„Werd’s mir merken“, knurrte er wenig freundlich zurück, während er auf der unteren Ebene der Bahn über einen welligen Abschnitt lief. Im Gegensatz zur einfallslosen Konstruktion des Schwimmbeckens war die Laufbahn auf der GAMMA ein Meisterwerk. In der 200 Meter langen und 80 Meter breiten Halle hatten die Konstrukteure die zur Verfügung stehende Höhe von 18 Metern dazu genutzt, einen Parcours auf insgesamt neun Ebenen mit einer Gesamtlänge von fast fünf Kilometern zu schaffen. Die zwei Meter breite, frei schwebende und sich selbst tragende Laufbahn schuf dabei eine abwechslungsreiche Strecke, die je nach Laune der Läufer eher flach dahinging oder auch steil nach oben führte. Das genialste aber war, dass die Laufbahn sich ständig veränderte. So war es möglich, eine zunächst flache und als „leicht“ ausgewiesene Ebene 5 zu durchlaufen, sich durch die „schwierigen“ Ebenen 6 und 7 nach oben zu arbeiten, um anschließend durch eine „leichte“ Ebene 6 und eine „schwierige“ Ebene 5 wieder nach unten zu laufen.
Wie immer waren die ersten Meter nach dem Aufwachen schwierig. An das Gehen gewöhnte man sich schnell wieder, beim Laufen war das anders. Die Gelenke in den Beinen waren eingerostet, die Muskulatur hatte sich zurückgebildet und die Lunge musste sich wieder an schnelles Atmen gewöhnen. Joseph war kaum hundert Meter weit gelaufen, als er bereits außer Atem war.
„Joseph, ich muss Sie darauf hinweisen, dass Ihr Puls soeben auf 150 Schläge pro Minute gestiegen ist“, meldete sich das Trainingsprogramm. „Sie sollten es ruhiger angehen lassen und darauf achten, dass Ihr Puls sich im Bereich zwischen 120 und 140 Schlägen einpendelt.“
„Danke für den Hinweis“, antwortete er schlecht gelaunt und nach Luft schnappend. Er verlangsamte seine Schritte soweit, dass er beinahe auf der Stelle zu treten glaubte. Es würde einige Minuten dauern, bis sein Körper sich daran erinnerte, dass er diese Art von Bewegung gewohnt war und die Atmung sich normalisierte. Bis dahin galt es, jede Abzweigung nach oben zu meiden und auf der flachen unteren Ebene zu