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Stefan Zweig zeichnet in einem seiner bekanntesten Werke ein unvergleichliches Leben nach: das Joseph Fouchés, der es vom armen Priesterschüler bis zum späteren Herzog von Otranto bringt, einem der reichsten Menschen Frankreichs; eines Mannes, der es versteht, nach der Macht zu greifen und sie festzuhalten, dabei stets handelnd als gnadenloser Opportunist, der keine Loyalität kennt - außer der zu sich selbst, sowohl in den blutigsten Tagen der Französischen Revolution als gefürchteter Jakobiner und "Mitrailleur de Lyon", der zehntausende Menschen erschießen lässt, wie bald darauf als tödlicher Gegner Robespierres und später dann höchst reaktionärer Polizeiminister Napoleon Bonapartes; und selbst nach dessen Sturz ist eine der erstaunlichsten Karrieren der Weltgeschichte noch längst nicht zu Ende...
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Seitenzahl: 329
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Arthur Schnitzler
in liebender Verehrung
Vorwort
Joseph Fouché, einer der mächtigsten Männer seiner Zeit, einer der merkwürdigsten aller Zeiten, hat wenig Liebe gefunden bei seiner Mitwelt und noch weniger Gerechtigkeit bei der Nachwelt. Napoleon auf St. Helena, Robespierre bei den Jakobinern, Carnot, Barras, Talleyrand in ihren Memoiren, allen französischen Geschichtsschreibern, ob royalistisch, republikanisch oder bonapartistisch, läuft sofort Galle in die Feder, sobald sie nur seinen Namen hinschreiben. Geborener Verräter, armseliger Intrigant, glatte Reptiliennatur, gewerbsmäßiger Überläufer, niedrige Polizeiseele, erbärmlicher Immoralist – kein verächtliches Schimpfwort wird an ihm gespart, und weder Lamartine noch Michelet noch Louis Blanc versuchen ernstlich, seinem Charakter oder vielmehr seiner bewundernswert beharrlichen Charakterlosigkeit nachzuspüren. Zum ersten Mal erscheint seine Gestalt in wirklichem Lebensumriss in jener monumentalen Biographie Louis Madelins (der diese wie jede andere Studie den Großteil ihres Tatsachenmaterials verdankt); sonst hat die Geschichte einen Mann, der innerhalb einer Weltwende alle Parteien geführt und als einziger sie überdauert, der im psychologischen Zweikampf einen Napoleon und einen Robespierre besiegte, ganz still in die rückwärtige Reihe der unbeträchtlichen Figuranten abgeschoben. Ab und zu geistert seine Gestalt noch durch ein Napoleonstück oder eine Napoleonoperette, aber dann meist in der abgegriffenen schematischen Charge des gerissenen Polizeiministers, eines vorausgeahnten Sherlock Holmes; flache Darstellung verwechselt ja immer eine Rolle des Hintergrunds mit einer Nebenrolle.
Ein einziger hat diese einzigartige Figur groß gesehen aus seiner eigenen Größe, und zwar nicht der Geringste: Balzac. Dieser hohe und gleichzeitig durchdringende Geist, der nicht nur auf die Schaufläche der Zeit, sondern immer auch hinter die Kulissen blickte, hat rückhaltlos Fouché als den psychologisch interessantesten Charakter seines Jahrhunderts erkannt. Gewöhnt, alle Leidenschaften, die sogenannten heroischen ebenso wie die sogenannten niedrigen, in seiner Chemie der Gefühle als vollkommen gleichwertige Elemente zu betrachten, einen vollendeten Verbrecher, einen Vautrin, ebenso zu bewundern wie ein moralisches Genie, einen Louis Lambert, niemals unterscheidend zwischen sittlich und unsittlich, sondern immer nur den Willenswert eines Menschen messend und die Intensität seiner Leidenschaft, hat Balzac sich gerade diesen einen verachtetsten, geschmähtesten Menschen der Revolution und der Kaiserzeit aus seiner beabsichtigten Verschattung geholt. „Den einzigen Minister, den Napoleon jemals besessen“ nennt er dieses „singulier génie“, dann wieder „la plus forte tête que je connaisse“, und andern Ortes „eine derjenigen Gestalten, die so viel Tiefe unter jeder Oberfläche haben, dass sie im Augenblick ihres Handelns undurchdringlich bleiben und erst nachher verstanden werden können.“ – Das klingt bedeutend anders als jene moralistischen Verächtlichkeiten! Und mitten in seinem Roman „Une ténébreuse affaire“ widmet er diesem „düstern, tiefen und ungewöhnlichen Geist, der wenig bekannt ist“, ein besonderes Blatt: „Sein eigenartiges Genie,“ schreibt er, „das Napoleon eine Art von Furcht einjagte, offenbarte sich nicht auf einmal. Dieses unbekannte Konventsmitglied, einer der außerordentlichsten und zugleich der am falschesten beurteilten Männer seiner Zeit, wurde erst in den Krisen zu dem, was er nachher war. Er erhob sich unter dem Direktorium zu jener Höhe, von der aus tiefe Männer die Zukunft zu erkennen wissen, indem sie die Vergangenheit richtig beurteilen; dann gab er mit einmal, wie manche mittelmäßige Schauspieler, durch eine plötzliche Erleuchtung aufgeklärt, ausgezeichnete Darsteller werden, während des Staatsstreiches am 18. Brumaire Beweise seiner Geschicklichkeit. Dieser Mann mit dem blassen Gesicht, unter klösterlicher Zucht aufgewachsen, welcher alle Geheimnisse der Bergpartei kannte, der er anfangs angehörte, und ebenso die der Royalisten, zu denen er schließlich überging, dieser Mann hatte die Menschen, die Dinge und die Praktiken des politischen Schauplatzes langsam und schweigsam studiert; er durchschaute Bonapartes Geheimnisse, gab ihm nützliche Ratschläge und kostbare Auskünfte; ... weder seine neuen noch seine ehemaligen Kollegen ahnten in diesem Augenblick den Umfang seines Genies, das im Wesentlichen ein Regierungsgenie war: treffend in allen seinen Prophezeiungen und von unglaublichem Scharfblick.“ So Balzac. Seine Huldigung hatte mich zuerst auf Fouché aufmerksam gemacht, und seit Jahren blickte ich nun gelegentlich dem Manne nach, dem ein Balzac nachrühmte, er habe „mehr Macht über Menschen besessen als selbst Napoleon“. Aber Fouché hat es, wie zeitlebens, auch in der Geschichte gut verstanden, eine Hintergrundfigur zu bleiben: Er lässt sich nicht gerne ins Gesicht und in die Karten sehen. Fast immer steckt er innerhalb der Ereignisse, innerhalb der Parteien hinter der anonymen Hülle seines Amtes so unsichtbar tätig verborgen wie das Uhrwerk in der Uhr, und nur ganz selten gelingt es im Tumult der Geschehnisse, an den schärfsten Kurven seiner Bahn, sein wegflüchtendes Profil zu erhaschen. Und noch sonderbarer! Keins dieser fliehend gefassten Profile Fouchés stimmt auf den ersten Blick zum andern. Es kostet einige Anstrengung, sich vorzustellen, dass der gleiche Mensch, mit gleicher Haut und gleichen Haaren 1790 Priesterlehrer und 1792 schon Kirchenplünderer, 1793 Kommunist und fünf Jahre später schon mehrfacher Millionär und abermals zehn Jahre später Herzog von Otranto war. Aber je verwegener in seinen Verwandlungen, umso interessanter trat mir der Charakter oder vielmehr Nichtcharakter dieses vollkommensten Machiavellisten der Neuzeit entgegen, immer anreizender wurde mir sein ganz in Hintergründe und Heimlichkeit gehülltes politisches Leben, immer eigenartiger, ja dämonischer seine Figur. So kam ich ganz unvermutet, aus rein seelenwissenschaftlicher Freude dazu, die Geschichte Joseph Fouchés zu schreiben als einen Beitrag zu einer noch ausständigen und sehr notwendigen Biologie des Diplomaten, dieser noch nicht ganz erforschten, allergefährlichsten geistigen Rasse unserer Lebenswelt.
Solche Lebensbeschreibung einer durchaus amoralischen Natur, selbst einer so einzigartigen und bedeutungsvollen wie Joseph Fouchés – sie ist, ich weiß es, gegen den unverkennbaren Wunsch der Zeit. Unsere Zeit will und liebt heute heroische Biographien, denn aus der eigenen Armut an politisch schöpferischen Führergestalten sucht sie sich höheres Beispiel aus den Vergangenheiten. Ich verkenne nun durchaus nicht die seelenausweitende, die kraftsteigernde, die geistig erhebende Macht der heroischen Biographien. Sie sind seit den Tagen Plutarchs nötig für jedes steigende Geschlecht und jede neue Jugend. Aber gerade im Politischen bergen sie die Gefahr einer Geschichtsfälschung, nämlich als ob damals und immer die wahrhaft führenden Naturen auch das tatsächliche Weltschicksal bestimmt hätten. Zweifellos beherrscht eine heroische Natur durch ihr bloßes Dasein noch für Jahrzehnte und Jahrhunderte das geistige Leben, aber nur das geistige. Im realen, im wirklichen Leben, in der Machtsphäre der Politik entscheiden selten – und dies muss zur Warnung vor aller politischer Gläubigkeit betont werden– die überlegenen Gestalten, die Menschen der reinen Ideen, sondern eine viel geringwertigere, aber geschicktere Gattung: die Hintergrundgestalten. 1914 wie 1918 haben wir mitangesehen, wie die welthistorischen Entscheidungen des Krieges und des Friedens nicht von der Vernunft und der Verantwortlichkeit aus getroffen wurden, sondern von rückwärts verborgenen Menschen anzweifelbarsten Charakters und unzulänglichen Verstandes. Und täglich erleben wir es neuerdings, dass in dem fragwürdigen und oft frevlerischen Spiel der Politik, dem die Völker noch immer treugläubig ihre Kinder und ihre Zukunft anvertrauen, nicht die Männer des sittlichen Weitblicks, der unerschütterlichen Überzeugungen durchdringen, sondern dass sie immer wieder überspielt werden von jenen professionellen Hasardeuren, die wir Diplomaten nennen, diesen Künstlern der flinken Hände, der leeren Worte und kalten Nerven. Wenn also wirklich, wie Napoleon schon vor hundert Jahren sagte, die Politik „la fatalité moderne“ geworden ist, das neue Fatum, so wollen wir zu unserer Gegenwehr versuchen, die Menschen hinter diesen Mächten zu erkennen, und damit das gefährliche Geheimnis ihrer Macht. Ein solcher Beitrag zur Typologie des politischen Menschen sei diese Lebensgeschichte Joseph Fouchés.
Am 31. Mai 1759 wird Joseph Fouché – noch lange nicht Herzog von Otranto! – in der Hafenstadt Nantes geboren. Seeleute, Kaufleute seine Eltern, Seeleute seine Ahnen; nichts darum selbstverständlicher, als dass der Erbsohn wieder Meerfahrer würde, Schiffskaufmann oder Kapitän. Aber früh zeigt sich schon: Dieser schmächtig aufgeschossene, blutarme, nervöse, hässliche Junge entbehrt jeder Eignung zu so hartem und damals wirklich noch heldischem Handwerk. Zwei Meilen vom Ufer – und er wird schon seekrank, eine Viertelstunde Lauf oder Knabenspiel – und er ermüdet. Was also tun mit einem so zart geratenen Schössling, fragen sich die Eltern nicht ohne Sorge, denn das Frankreich um 1770 hat noch keinen rechten Raum für eine geistig bereits aufgewachte und ungeduldig vordrängende Bürgerschaft. Bei Gericht, bei der Verwaltung, in jeder Anstellung, jedem Amt bleiben alle fetten Pfründen dem Adel vorbehalten; für den Hofdienst benötigt man gräfliches Wappen oder gute Baronie, selbst in der Armee bringt es ein Bürgerlicher mit grauen Haaren kaum weiter als bis zum Korporal. Der dritte Stand ist überall noch ausgeschlossen in dem schlecht beratenen, korrupten Königreich; kein Wunder, dass er ein Vierteljahrhundert später mit Fäusten fordern wird, was man allzu lange seiner demütig bittenden Hand versagte.
Bleibt nur die Kirche. Diese tausend Jahre alte, an Weltwissen den Dynastien unendlich überlegene Großmacht denkt klüger, demokratischer und weitherziger. Sie findet immer Platz für jeden Begabten und nimmt auch den Niedrigsten in ihr unsichtbares Reich. Da der kleine Joseph sich schon auf der Schulbank der Oratorianer lernend auszeichnet, räumen sie dem Ausgebildeten gern das Katheder ein als Lehrer der Mathematik und Physik, als Schulaufseher und Präfekt. Mit zwanzig Jahren hat er in diesem Orden, der seit der Vertreibung der Jesuiten überall in Frankreich die katholische Erziehung leitet, Würde und Amt, ein ärmliches zwar, ohne viel Aussicht auf Aufstieg, aber eine Schule immerhin, in der er sich selber schult, in der er lehrend lernt. Er könnte höher gelangen, Pater werden, vielleicht einmal gar Bischof oder Eminenz, wenn er das Priestergelübde leistete. Aber typisch für Joseph Fouché: Schon auf der ersten, der untersten Stufe seiner Karriere tritt ein charakteristischer Zug seines Wesens zutage, seine Abneigung, sich vollkommen, sich unwiderruflich zu binden an irgendjemand oder irgendetwas. Er trägt geistliche Kleidung und Tonsur, er teilt das mönchische Leben der andern geistlichen Väter, er unterscheidet sich während jener zehn Oratorianerjahre äußerlich und innerlich in nichts von einem Priester. Aber er nimmt nicht die höheren Weihen, er leistet kein Gelübde. Wie immer, in jeder Situation, hält er sich den Rückzug offen, die Möglichkeit der Wandlung und Veränderung. Auch an die Kirche gibt er sich nur zeitweilig und nicht ganz, ebenso wenig wie später an die Revolution, das Direktorium, das Konsulat, das Kaisertum oder Königreich: Nicht einmal Gott, geschweige denn einem Menschen verpflichtet sich Joseph Fouché, jemals zeitlebens treu zu sein.
Zehn Jahre lang, vom zwanzigsten bis zum dreißigsten Jahre, geht dieser blasse, verschlossene Halbpriester durch Klostergänge und stille Refektorien. Er unterrichtet in Niort, Saumur, Vendôme, Paris, aber er spürt kaum den Wechsel des Wohnorts, denn das Leben eines Seminarlehrers spielt sich gleich still, ärmlich und unscheinbar ab in einer Stadt wie der andern, immer hinter schweigsamen Mauern, immer vom Leben abgesondert. Zwanzig Schüler, dreißig Schüler, vierzig Schüler, denen man Latein beibringt, Mathematik und Physik, blasse, schwarzgewandete Knaben, die man zur Messe führt und im Schlafsaal überwacht, einsame Lektüre in wissenschaftlichen Büchern, ärmliche Mahlzeiten, schlechte Bezahlung, ein schwarzes, verschabtes Kleid, ein klösterliches, anspruchsloses Dasein. Wie eine Erstarrung scheinen sie, unwirklich und abseits von Zeit und Raum, unfruchtbar und ehrgeizlos, diese zehn stillen, verschatteten Jahre.
Aber doch, in diesen zehn Jahren der Klosterschule lernt Joseph Fouché viel, was dem späteren Diplomaten unendlich zugutekommt, vor allem die Technik des Schweigenkönnens, die magistrale Kunst des Selbstverbergens, die Meisterschaft der Seelenbeobachtung und Psychologie. Dass dieser Mann ein Leben lang jeden Nerv seines Gesichts auch in der Leidenschaft beherrscht, dass man nie eine heftige Wallung des Zorns, der Erbitterung, der Erregung in seinem unbeweglichen, gleichsam in Schweigen vermauerten Gesicht entdecken kann, dass er mit der gleichen tonlosen Stimme das Umgänglichste wie das Furchtbarste gelassen ausspricht und mit dem gleichen lautlosen Schritt ebenso durch die Gemächer des Kaisers wie durch eine tobende Volksversammlung zu schreiten weiß – diese unvergleichliche Disziplin der Selbstbeherrschung ist erlernt in den Jahren des Refektoriums, sein Wille längst gezähmt durch die Exerzitien Loyolas und seine Rede geschult an den Diskussionen jahrhundertealter Priesterkunst, ehe er das Podium der Weltbühne betritt. Kein Zufall vielleicht, dass alle die drei großen Diplomaten der Französischen Revolution, dass Talleyrand, Sieyès und Fouché aus der Schule der Kirche kamen, schon längst Meister der Menschenkunst, ehe sie noch die Tribüne betraten. Die uralte, gemeinsame, weit über sie hinausreichende Tradition prägt ihren sonst gegensätzlichen Charakteren in den entscheidenden Minuten eine gewisse Ähnlichkeit auf. Dazu kommt bei Fouché noch eine eiserne, gleichsam spartanische Selbstzucht, ein innerer Widerstand gegen Luxus und Prunk, ein Verbergenkönnen privaten Lebens und persönlichen Gefühls; nein, diese Jahre Fouchés im Schatten der Klostergänge waren nicht verloren, er hat unendlich viel gelernt, indes er Lehrer war.
Hinter Klostermauern, in strengster Abgeschiedenheit erzieht und entfaltet sich dieser eigentümlich biegsame und unruhige Geist zu psychologischer Meisterschaft. Jahrelang darf er nur unsichtbar in engstem geistlichen Kreise wirken, aber schon 1778 hat jener soziale Sturm in Frankreich begonnen, der selbst über die Klostermauern schlägt. In den Priesterzellen der Oratorianer wird ebenso diskutiert über Menschenrechte wie in den Freimaurerklubs, eine neue Art Neugier drängt diese jungen Priester den Bürgerlichen entgegen, Neugier auch den Lehrer der Physik und Mathematik zu den erstaunlichen Entdeckungen der Zeit, den Montgolfiers, den ersten Luftschiffen, den großartigen Erfindungen auf den Gebieten der Elektrizität und Medizin. Die geistlichen Herren suchen Fühlung mit den geistigen Kreisen, und die bietet in Arras ein ganz sonderbarer geselliger Zirkel, die „Rosati“ genannt, eine Art „Schlaraffia“, in der sich die Intellektuellen der Stadt in heiterer Geselligkeit vereinigen. Recht unscheinbar geht es dort zu, kleine unansehnliche Bürger tragen Gedichtchen vor oder halten literarische Ansprachen, Militär mischt sich mit Zivil, und auch der Priesterlehrer Joseph Fouché wird gern gesehen, weil er von den neuen Errungenschaften der Physik viel zu erzählen weiß. Oft sitzt er dort im kameradschaftlichen Kreise und hört zu, wenn etwa ein Hauptmann vom Geniekorps, namens Lazare Carnot, mokante selbstgedichtete Verse vorliest oder der blasse, schmallippige Advokat Maximilian de Robespierre (er legt damals noch Gewicht auf seinen Adel) eine blümerante Tischrede zu Ehren der „Rosati“ hält. Denn noch genießt die Provinz die letzten Atemzüge des philosophierenden Dix-huitième, gemütlich noch schreibt Herr von Robespierre statt Bluturteile zierliche Verslein, noch verfasst der Schweizer Arzt Marat statt grimmiger kommunistischer Manifeste einen süßlich sentimentalen Roman, noch müht sich der kleine Leutnant Bonaparte irgendwo in der Provinz an einer Werther nachahmenden Novelle: Die Gewitter stehen noch unsichtbar hinter dem Horizont. Aber Schicksalsspiel: Gerade mit diesem blassen, nervösen, hemmungslos ehrgeizigen Advokaten de Robespierre freundet sich der tonsurierte Priesterlehrer besonders an; ihre Beziehungen sind sogar gerade auf bestem Wege, schwägerliche zu werden, denn Charlotte Robespierre, die Schwester Maximilians, will den Lehrer der Oratorianer von seiner Geistlichkeit heilen, schon munkelt man von ihrer Verlobung an allen Tischen. Warum diese Brautschaft schließlich auseinanderfällt, ist Geheimnis geblieben, aber vielleicht verbirgt sich hier die Wurzel jenes furchtbaren und welthistorischen Hasses zwischen diesen beiden Männern, den einst befreundeten, die später auf Tod und Leben kämpfen. Damals aber wissen sie noch nichts von Jakobinismus und nichts von Hass. Im Gegenteil sogar: Wie Maximilian de Robespierre als Abgeordneter zu den Generalständen nach Versailles geschickt wird, um an der neuen Verfassung Frankreichs mitzuarbeiten, ist es der tonsurierte Joseph Fouché, der dem blutarmen Rechtsanwalt de Robespierre die Goldstücke borgt, damit er die Reise bezahlen und sich einen frischen Anzug schneidern lassen kann. Symbol auch dies, dass er, wie später so oft, einem andern die Steigbügel hält für die Karriere in die Weltgeschichte. Und dass gerade er es sein wird, der im entscheidenden Augenblicke den einstigen Freund verrät und rücklings zu Boden reißt.
Kurz nach der Abreise Robespierres zur Versammlung der Generalstände, die alle Grundfesten Frankreichs erschüttern wird, machen auch die Oratorianer zu Arras ihre kleine Revolution. Die Politik ist bis in die Refektorien gedrungen, und der kluge Witterer jedes Windes, Joseph Fouché, füllt damit seine Segel. Auf seinen Vorschlag wird eine Deputation in die Nationalversammlung geschickt, um die Sympathien der Priester mit dem dritten Stand zu bekunden. Aber eine Stunde zu früh hat diesmal der sonst so Vorsichtige losgeschlagen. Seine Vorgesetzten schicken ihn strafweise, aber ohne Kraft zu einer wirklichen Strafe, in die Schwesteranstalt nach Nantes, an die gleiche Stelle, wo der Knabe die Anfangsgründe der Wissenschaft und Menschenkunst gelernt hat. Nun aber ist er erfahren und ausgereift, nun lockt es ihn nicht mehr, halbwüchsigen Jungen das Einmaleins, Geometrie und Physik zu lehren. Der Witterer des Windes hat gespürt, dass ein sozialer Sturm über dem Lande steht, dass Politik die Welt beherrscht: Also hinein in die Politik! Mit einem Ruck wirft er die Soutane ab, lässt die Tonsur überwachsen und hält statt unreifen Knaben nun den wackeren Bürgern von Nantes politische Vorträge. Ein Klub wird gegründet – immer beginnt ja die Karriere der Politiker auf einer solchen Probebühne der Beredsamkeit –, ein paar Wochen nur braucht es, und schon ist Fouché Präsident der „Amis de la Constitution“ in Nantes. Er rühmt den Fortschritt, aber sehr vorsichtig, sehr liberalistisch, denn das politische Barometer der biedern Kaufmannstadt steht auf gemäßigt, man mag keinen Radikalismus in Nantes, wo man für seinen Kredit fürchtet und vor allem gute Geschäfte machen will. Man mag dort auch, weil man von den Kolonien fette Pfründen bezieht, keine so phantastischen Projekte wie die Sklavenbefreiung: Deshalb verfasst Joseph Fouché sofort ein pathetisches Dokument an die Konvention gegen die Aufhebung des Sklavenhandels, das ihm zwar einen groben Rüffel von Brissot einträgt, sein Ansehen aber im engeren Bürgerkreise nicht mindert. Um seine politische Stellung im Bürgerklüngel (den zukünftigen Wählern!) rechtzeitig zu festigen, heiratet er eilig die Tochter eines vermögenden Kaufmanns, ein hässliches, aber wohlbegütertes Mädchen, denn er will rasch und ganz Bürger sein in einer Zeit, wo – er fühlt es schon – der dritte Stand bald der oberste, der herrschende sein wird. All das sind schon Vorbereitungen für das eigentliche Ziel. Kaum wird die Wahl für den Konvent ausgeschrieben, da präsentiert sich der ehemalige Priesterlehrer als Kandidat. Und was tut jeder Kandidat? Er verspricht zunächst seinen guten Wählern alles, was sie nur hören wollen. So schwört Fouché, den Handel zu schützen, das Eigentum zu verteidigen, die Gesetze zu respektieren; er wettert (denn der Wind bläst in Nantes mehr von rechts als von links) bei weitem wortreicher gegen die Unordnungmacher als gegen das alte Regime. Tatsächlich wird er Anno 1792 zum Deputierten des Konvents gewählt, und die dreifarbige Kokarde des Deputierten ersetzt nun für lange die verborgen und still getragene Tonsur.
Joseph Fouché ist zur Zeit seiner Wahl zweiunddreißig Jahre alt. Kein schöner Mann, durchaus nicht. Hagerer, fast gespenstisch dürrer Leib, ein schmalknochiges Gesicht mit eckigen Linien, hässlich und unangenehm. Scharf die Nase, scharf und eng auch der immer verschlossene Mund, fischhaft kalt die Augen unter schweren, fast schläfrigen Lidern, die Pupillen katzengrau wie kugeliges Glas. Alles in diesem Gesicht, alles an diesem Manne ist gleichsam dünn mit Lebensstoff dosiert: Er sieht aus wie ein Mensch bei Gaslicht, fahl und grünlich. Kein Glanz in den Augen, keine Sinnlichkeit in den Bewegungen, kein Stahl in der Stimme. Dünn und strähnig das Haar, rötlich und kaum sichtbar die Augenbrauen, graufahl die Wangen. Es ist, als wäre nicht genug Farbstoff da, dieses Gesicht ins Gesunde zu tönen: Immer wirkt dieser zähe, unerhört arbeitskräftige Mensch wie ein Müder, wie ein Kranker, wie ein Rekonvaleszent. Jeder, der ihn sieht, hat den Eindruck: Dieser Mensch hat kein heißes, rotes, rollendes Blut. Und in der Tat: Auch seelisch gehört er zur Rasse der Kaltblütler. Er kennt keine groben, mitreißenden Leidenschaften, ist nicht zu Frauen getrieben und nicht zum Spiel, er trinkt keinen Wein, er freut sich nicht an der Verschwendung, er lässt seine Muskeln nicht spielen, er lebt nur in Zimmern zwischen Akten und Papieren. Nie gerät er in sichtbaren Zorn, nie bebt ein Nerv in seinem Gesicht. Nur zu einem kleinen Lächeln, bald höflich und bald höhnisch, kräuseln sich diese scharfen, blutleeren Lippen, nie erkennt man unter dieser lehmgrauen, scheinbar schlaffen Maske eine wirkliche Spannung, nie verrät unter den rotgeränderten schweren Lidern das Auge seine Absicht oder eine Bewegung seine Gedanken. Diese unerschütterliche Kaltblütigkeit ist auch Fouchés eigentliche Kraft. Die Nerven beherrschen ihn nicht, die Sinne verführen ihn nicht, alle seine Leidenschaft lädt und entspannt sich hinter der undurchdringlichen Wand seiner Stirn. Er lässt seine Kräfte spielen und lauert dabei wach auf die Fehler der andern; er lässt die Leidenschaft der andern sich verbrauchen und wartet geduldig, bis sie sich verbraucht haben oder in ihrer Unbeherrschtheit eine Blöße geben: Dann erst stößt er unerbittlich zu. Furchtbar ist diese Überlegenheit seiner nervenlosen Geduld: Wer so warten kann und so sich verbergen, der kann auch den Geübtesten täuschen. Ruhig wird Fouché dienen, er wird, ohne mit der Wimper zu zucken, die gröbsten Beleidigungen, die schmachvollsten Erniedrigungen kühl lächelnd einstecken, keine Drohung, keine Wut wird diesen Fischblütigen erschüttern. Robespierre und Napoleon, beide zerschellen sie an dieser steinernen Ruhe wie Wasser am Fels: Drei Generationen, ein ganzes Geschlecht stürmt und verebbt in Leidenschaft, indes er kalt und stolz beharrt, der einzige Leidenschaftslose. Diese Kälte also des Blutes bedeutet Fouchés eigentliches Genie. Sein Körper hemmt ihn nicht und reißt ihn nicht mit, er ist gleichsam nicht dabei in all diesen verwegenen Geistspielen. Sein Blut, seine Sinne, seine Seele, all diese verwirrenden Gefühlselemente eines wirklichen Menschen tun nie wirklich mit bei diesem heimlichen Hasardeur, dessen ganze Leidenschaft hinaufgeschoben ist ins Gehirn. Denn dieser trockene Schreibstubenmensch liebt lasterhaft das Abenteuer, und seine Passion ist die Intrige. Aber nur vom Geist aus kann er sie erschöpfen und genießen, und nichts verbirgt seine unheimliche Freude an der Wirrnis, an der Zettelei genialer und besser als der nüchterne Habitus des pflichttreuen, biederen Beamten, als den er sich sein Leben lang maskiert. Von einem Zimmer aus die Fäden zu spinnen, hinter Akten und Registern verschanzt, mörderisch zuzustoßen, unerwartet und unbemerkt, das ist seine Taktik. Man muss tief in die Geschichte blicken, um im Feuerschein der Revolution, im legendarischen Licht Napoleons überhaupt seine Gegenwart zu bemerken, die anscheinend bescheidene und subalterne, in Wahrheit aber allgeschäftige und zeitgestaltende. Ein Leben lang geht er im Schatten, aber über drei Generationen hinweg, und Patroklus ist längst gefallen, Hektor und Achill, indes Odysseus lebt, der Listenreiche. Sein Talent überspielt das Genie, seine Kaltblütigkeit überdauert alle Leidenschaft.
Am Morgen des 21. September hält der neugewählte Konvent seinen Einzug in den Saal. Nicht mehr so feierlich, so pompös ist die Begrüßung wie bei der ersten Gesetzgebenden Versammlung vor drei Jahren. Damals stand noch in der Mitte ein kostbarer Damastfauteuil, mit weißen Lilien bestickt, der Platz des Königs. Und als er eintrat, jubelte, respektvoll erhoben, die ganze Versammlung dem Gesalbten zu. Jetzt aber sind seine Zwingburgen, die Bastille und die Tuilerien lahmgelegt, es gibt keinen König mehr in Frankreich; nur ein dicker Herr, Ludwig Capet genannt von seinen groben Gefängniswärtern und Richtern, langweilt sich als machtloser Bürger im Temple und erwartet sein Urteil. Statt seiner herrschen jetzt die Siebenhundertfünfzig im Land, und sie haben sich niedergelassen in seinem eigenen Hause. Hinter dem Präsidententisch erhebt sich in Riesenlettern die neue Mosestafel der Gesetze, der Wortlaut der Konstitution, und die Saalwände schmückt – gefährliches Symbol! – das Bündel der Liktoren und das mörderische Beil.
Auf den Galerien sammelt sich das Volk und betrachtet neugierig seine Repräsentanten. Siebenhundertfünfzig Konventsmitglieder ziehen langsamen Schrittes ein in das königliche Haus, seltsame Mischung aller Stände und Berufe: stellenlose Advokaten neben illustren Philosophen, entlaufene Priester neben verdienten Militärs, gescheiterte Abenteurer neben berühmten Mathematikern und galanten Dichtern; wie in einem gewaltsam geschüttelten Glas ist in Frankreich durch die Revolution das Unterste zuoberst gekommen. Nun ist es Zeit, das Chaos zu klären.
Schon die Sitzordnung deutet einen ersten Versuch zur Ordnung an. In dem amphitheatralischen Saal, der so eng ist, dass Stirn an Stirn, Atem an Atem feindselige Rede widereinander fährt, sitzen unten in der Tiefe die Ruhigen, die Geklärten, die Vorsichtigen, der „Marais“, der Sumpf, wie man die bei allen Entscheidungen Leidenschaftslosen höhnisch nennt. Die Stürmer, die Ungeduldigen, die Radikalen nehmen oben auf den höchsten Bänken Platz, am „Berge“, der mit seinen letzten Sitzreihen die Galerien schon berührt, gleichsam symbolisch damit andeutend, dass sie die Masse, dass sie das Volk, das Proletariat im Rücken haben.
Diese beiden Mächte halten sich die Waage. Zwischen ihnen schwankt in Ebbe und Flut die Revolution. Für die Bürgerlichen, für die Gemäßigten ist die Republik bereits vollendet mit der eroberten Verfassung, mit der Erledigung des Königs und des Adels, mit dem Übergang der Rechte an den dritten Stand: Sie möchten nun die Strömung, die von unten aufgewühlte, am liebsten wieder eindämmen und zurückhalten, nur noch das Gesicherte verteidigen. Condorcet, Roland, die Girondisten sind ihre Führer, Vertreter der Geistigkeit und des Mittelstandes. Jene vom Berge aber wollen die gewaltige revolutionäre Woge noch weitertreiben, bis sie alles mit sich reißt, was an Bestehendem, an Rückständigkeiten noch übrigblieb; sie wollen, Marat, Danton, Robespierre als Führer des Proletariats, „la revolution integrale“, die restlose, die radikale Revolution bis zum Atheismus und Kommunismus. Sie wollen nach dem König noch die andern alten Mächte des Staates zu Boden werfen, das Geld und Gott. Unruhig schwankt zwischen beiden Parteien die Waage. Siegen die Girondisten, die Gemäßigten, so wird die Revolution allmählich versanden in eine erst liberale, dann konservative Reaktion. Siegen die Radikalen, so treiben sie in alle Tiefen und Wirbelstürme der Anarchie. So täuscht der feierliche Einklang der ersten Stunde keinen der Anwesenden in dem schicksalhaften Saal, jeder weiß, dass hier bald ein Kampf beginnen wird um Leben und Tod, um Geist und Gewalt. Und die Stelle, an der ein Abgeordneter Platz nimmt, ob unten in der Ebene oder oben am Berge, sagt schon im Voraus seine Entscheidung.
Mit den Siebenhundertfünfzig, die den Saal des entthronten Königs feierlich beschreiten, tritt auch, die dreifarbige Binde des Volksbeauftragten quer über der Brust, Joseph Fouché, der Deputierte von Nantes, schweigend ein. Schon ist die Tonsur überwachsen, längst das Kleid des Priesters abgetan: Er trägt, wie sie alle, schmucklose Bürgertracht.
Wo wird er Platz nehmen, Joseph Fouché? Bei den Radikalen am Berge oder bei den Gemäßigten in der Tiefe? Joseph Fouché zögert nicht lange. Er kennt nur eine Partei, der er treu war und treu bleibt bis ans Ende: die stärkere, die Majorität. So wägt und zählt er auch diesmal innerlich die Stimmen und sieht: Zur Stunde steht die Macht noch bei den Girondisten, bei den Gemäßigten. Also setzt er sich hin auf ihre Bänke, zu Condorcet, zu Roland, zu Servan, zu den Männern, die die Ministerien in der Hand halten, die alle Ernennungen beeinflussen und die Pfründen verteilen. Dort in ihrer Mitte fühlt er sich sicher, dort setzt er sich hin. Aber wie er die Augen zufällig nach oben hebt, wo die Gegner, die Radikalen, ihre Stellungen bezogen haben, begegnet er einem strengen, abweisenden Blick. Sein Freund, Maximilian Robespierre, der Advokat von Arras, hat dort seine Kämpfer um sich versammelt, und durch das gehobene Lorgnon sieht der Unbarmherzige, der, eitel auf seinen eigenen Starrsinn, keinem andern Schwanken oder Schwäche verzeiht, kalt und höhnisch auf den Opportunisten herab. In diesem Augenblick ist das Letzte ihrer Freundschaft zu Ende. Von nun ab spürt, bei jeder Geste und jeder Handlung, Fouché im Rücken diesen unbarmherzig prüfenden, streng beobachtenden Blick des ewigen Anklägers, des unerbittlichen Puritaners und weiß: Er muss vorsichtig sein.
Vorsichtig: Kaum einer ist es mehr als er. In den Sitzungsberichten der ersten Monate vermisst man vollkommen den Namen Joseph Fouchés. Indes alle ungestüm und eitel zur Rednertribüne sich drängen, Vorschläge machen, Tiraden halten, einander anklagen und befeinden, betritt der Deputierte von Nantes niemals das erhobene Pult. Schwäche der Stimme, so entschuldigt er sich bei seinen Freunden und Wählern, behindern ihn an der öffentlichen Rede. Und da alle die andern gierig und ungeduldig sich das Wort vom Munde reißen, fällt das Schweigen dieses scheinbar Bescheidenen nur sympathisch auf.
Aber in Wahrheit ist seine Bescheidenheit Berechnung. Der Exphysiker kalkuliert erst das Parallelogramm der Kräfte, er beobachtet, er zögert mit seiner Stellungnahme, weil er die Waage noch ständig schwanken sieht. Vorsichtig spart er sein entscheidendes Votum erst für den Augenblick, da sie sich endgültig auf die eine oder andere Seite zu senken beginnt. Nur nicht zu früh sich verbrauchen, nur nicht vorzeitig sich festlegen, nur sich nicht binden für immer! Denn noch ist es nicht entschieden, ob die Revolution fortschreiten wird oder zurückebben: Als rechter Seemannssohn wartet er, um auf den Rücken der Welle zu springen, erst auf den rechten Wind und hält sein Fahrzeug im Hafen.
Und dann: Schon von Arras her, noch hinter Klostermauern hat er beobachtet, wie rasch in einer Revolution die Popularität sich verbraucht, wie rasch der Volksruf vom „Hosianna“ in das „Crucifige“ überschlägt. Alle, oder fast alle, die während der Epoche der Generalstände und der Gesetzgebenden Versammlung in den Vordergrund getreten waren, sind heute vergessen oder verhasst. Mirabeaus Leichnam, gestern noch im Pantheon, ist heute schmählich daraus entfernt worden; Lafayette, vor wenigen Wochen noch im Triumph als Vater des Vaterlandes gefeiert, heute schon Verräter; Custine, Petion, vor wenigen Wochen noch umjubelt, schleichen sich bereits ängstlich in den Schatten der Öffentlichkeit hinein. Nein, nur nicht zu früh ans Licht, nur nicht zu rasch sich festlegen, erst die andern sich abnutzen, sich verbrauchen lassen! Eine Revolution, er weiß es, der Früherfahrene, gehört niemals dem Ersten, der sie beginnt, sondern immer dem Letzten, der sie endet und wie eine Beute an sich reißt.
So duckt sich der Kluge absichtsvoll ins Dunkel. Er nähert sich den Mächtigen, aber er vermeidet jede öffentliche, jede sichtbare Macht. Statt auf der Tribüne, in den Zeitungen zu lärmen, lässt er sich lieber in die Ausschüsse und Kommissionen wählen, wo man Einsicht in die Verhältnisse, Einfluss auf die Geschehnisse im Schatten gewinnt, ohne kontrolliert und gehasst zu werden. Und tatsächlich, seine zähe, seine rapide Arbeitskraft macht ihn beliebt, seine Unsichtbarkeit schützt ihn vor jedem Neid. Aus seinem Arbeitszimmer kann er unbehelligt abwartend zusehen, wie die Tiger vom Berge und die Panther der Gironde sich gegenseitig zerfleischen, wie die großen Leidenschaftlichen, wie die überragenden Gestalten eines Vergniaud, Condorcet, Desmoulins, Danton, Marat und Robespierre einander tödlich verwunden. Er sieht zu und wartet, denn er weiß: erst wenn die Leidenschaftlichen sich gegenseitig vernichtet haben, beginnt die Zeit für die Abwartenden und für die Klugen. Immer erst, wenn eine Schlacht entschieden ist, wird sich Fouché endgültig entscheiden.
Dieses Im-Dunkel-Stehen ist Joseph Fouchés Haltung ein Leben lang: Niemals sichtbarer Träger der Macht zu sein und doch sie gänzlich zu halten, alle Fäden zu ziehen und niemals als verantwortlich zu gelten. Immer sich hinter einen Ersten stellen, sich hinter ihm zu verschanzen, ihn vorwärts zu treiben und, sobald er zu weit sich vorgewagt, im entscheidenden Augenblick ihn glatt zu verleugnen, das bleibt seine liebste Rolle. Er spielt sie, der vollendetste Intrigant der politischen Bühne, in zwanzig Verkleidungen, in zahllosen Episoden, unter Republikanern, Königen und Kaisern mit gleicher Virtuosität.
Manchmal tritt die Gelegenheit und damit die Versuchung an ihn heran, selbst die Hauptrolle, die Titelrolle im Weltspiel zu übernehmen. Aber er ist zu klug, sie ernstlich zu begehren. Er weiß um sein hässliches, abstoßendes Gesicht, das sich durchaus nicht eignen will für Medaillen und Embleme, für Prunk und Popularität, und dem kein Lorbeerkranz um die Stirne etwas Heldisches zu geben vermöchte. Er weiß um seine dünne gebrechliche Stimme, die gut flüstern, einblasen und verdächtigen, niemals aber eine Masse in feuriger Beredsamkeit mitreißen kann. Er weiß sich am stärksten am Schreibtisch, im verschlossenen Zimmer, im Schatten. Dort kann er gut spähen und forschen, beobachten und bereden, Fäden ziehen und sie wieder verwirren und selber undurchdringlich und unfassbar bleiben.
Das ist das letzte Machtgeheimnis Joseph Fouchés, dass er zwar immer die Macht will, ja sogar das Höchste an Macht, dass ihm aber, im Gegensatz zu den meisten, das Bewusstsein der Macht selbst genügt: Er braucht nicht ihre Abzeichen und ihr Gewand. Fouché ist ehrgeizig im höchsten, im allerhöchsten Maße, aber nicht ruhmsüchtig; er ist ambitioniert, ohne eitel zu sein. Als echter und rechter Geistspieler liebt er nur die Spannungswerte des Herrschertums, nicht seine Insignien. Den Liktorenstab, das Königszepter, die Kaiserkrone mag beruhigt ein anderer tragen, ob stark oder Strohmann, das ist ihm gleichgültig, er gönnt ihm gern den Glanz und das zweifelhafte Glück der Volksbeliebtheit. Ihm genügt es, in die Dinge Einblick zu haben, auf die Menschen Einfluss, den scheinbaren Führer der Welt wirklich zu führen und, ohne seine Person einzusetzen, das aufregendste aller Spiele zu spielen, das ungeheure politische Spiel. Während derart die andern sich binden an ihre Überzeugungen, an ihre öffentlichen Worte und Gesten, bleibt er, der Lichtscheue und Verborgene, innerlich frei und wird so der beharrende Pol in der Erscheinungen Flucht. Die Girondisten stürzen, Fouché bleibt, die Jakobiner werden verjagt, Fouché bleibt, das Direktorium, das Konsulat, das Kaiserreich, das Königtum und wieder das Kaiserreich schwinden und gehen zugrunde: Immer aber bleibt er zurück, der eine, Fouché, dank seiner raffinierten Zurückhaltung und dank seinem verwegenen Mut zur restlosen Charakterlosigkeit, zur unentwegten Überzeugungslosigkeit.
Aber ein Tag kommt im Weltengang der Revolution, ein einziger, der kein Schwanken duldet, ein Tag, da jeder mit ja oder nein, mit gerade oder ungerade sein Votum abgeben muss, der 16. Januar 1793. Der Uhrzeiger der Revolution steht auf Mittag, der halbe Weg ist vollbracht, dem Königtum Zoll um Zoll seiner Macht entwunden. Aber noch lebt der König Ludwig XVI., zwar Gefangener im Temple, aber er lebt. Weder ist es gelungen (wie die Gemäßigten hofften), ihn flüchten zu lassen, noch ist es gelungen (wie die Radikalen heimlich wünschten), ihn bei jenem Palaststurm durch die Volkswut umkommen zu lassen. Man hat ihn erniedrigt, ihm die Freiheit genommen, seinen Namen und Rang; aber noch durch seinen bloßen Atem, durch sein ererbtes Blut ist ein König, ein Enkel Ludwigs des Vierzehnten, auch wenn man ihn jetzt nur noch verächtlich Louis Capet nennt, noch immer Gefahr für eine junge Republik. So stellt nach der Verurteilung der Konvent am 15. Januar die Frage nach der Bestrafung, die Frage: Leben oder Tod. Vergebens haben die Unentschiedenen, die Feigen, die Vorsichtigen, haben die Leute vom Schlage Joseph Fouchés gehofft, sie könnten einer öffentlichen und bindenden Stellungnahme durch geheime Stimmabgabe entweichen: Aber unbarmherzig besteht Robespierre darauf, dass jeder Repräsentant der französischen Nation sein Ja oder Nein, sein Leben oder Tod inmitten der Versammlung ausspreche, damit von jedem das Volk und die Nachwelt wisse, wohin er gehört, ob zur Rechten oder zur Linken, ob zur Ebbe oder zur Flut der Revolution. Fouchés Einstellung ist noch am 15. Januar völlig klar. Die Zugehörigkeit zu den Girondisten, der Wunsch seiner durchaus gemäßigten Wähler verpflichtet ihn, für den König Gnade zu fordern. Er fragt seine Freunde, Condorcetvor allem, und sieht, dass sie einhellig geneigt sind, einer so unwiderruflichen Maßregel, wie der Hinrichtung des Königs, auszuweichen. Und da die Majorität grundsätzlich gegen das Todesurteil steht, tritt Fouché selbstverständlich auf ihre Seite: Noch am Abend zuvor, am 15. Januar, liest er einem Freunde die Rede vor, die er bei diesem Anlass halten und mit der er seinen Wunsch nach Gnade begründen will. Wenn man sich auf die Bänke der Gemäßigten gesetzt hat, ist man zu Mäßigung verpflichtet, und da die Majorität sich gegen jeden Radikalismus wehrt, verabscheut ihn auch der von Überzeugungen nicht belastete Joseph Fouché.
Aber zwischen jenem Abend des 15. Januar und dem Morgen des 16. liegt eine unruhige und bewegte Nacht. Die Radikalen sind nicht müßig gewesen, sie haben die mächtige Maschine der Volksrevolte, die sie so vorzüglich zu meistern wissen, in Bewegung gesetzt. In den Vorstädten donnert die Lärmkanone, die Sektionen trommeln breite Massen herbei, alle die ungeordneten Bataillone des Aufruhrs, die immer von den unsichtbar bleibenden Terroristen herangeholt werden, um politische Entscheidungen gewaltsam zu erzwingen, und die ein Fingerdruck des Braumeisters Santerre innerhalb weniger Stunden in Bewegung setzt. Man kennt sie, diese Bataillone der Vorstadtagitatoren, der Fischweiber und Abenteurer, von der glorreichen Erstürmung der Bastille her, man kennt sie von der erbärmlichen Stunde der Septembermorde. Immer wenn es gilt, den Damm des Gesetzes zu durchbrechen, wird diese riesige Volkswoge gewaltsam aufgewühlt, und immer reißt sie alles unwiderstehlich mit sich fort, zuletzt diejenigen, die sie aus ihrer eigenen Tiefe hervorgeholt. Gedrängte Massen umlagern mittags schon die Reitschule und die Tuilerien, Männer in Hemdärmeln, nackt die Brust, drohend die Piken zur Hand, höhnende, schreiende Weiber mit brennendroten Carmagnolen, Bürgergardisten und Straßenvolk. Zwischen ihnen vervielfältigen sich die Anstifter des Aufruhrs: Fourier, der Amerikaner; Guzmán, der Spanier; Theroigne de Mericour, diese hysterische Karikatur einer Jeanne d‘Arc. Kommen Abgeordnete vorbei, die verdächtig sind, für Milde zu stimmen, so schüttet sich wie aus Schmutzkübeln eine Flut Schimpfwörter über sie hin, Fäuste werden gehoben, Drohungen geschleudert gegen die Volksvertreter: Mit allen Mitteln des Terrors und der brutalen Gewalt arbeiten die Einschüchterer, um den Kopf des Königs unter das Beil zu bekommen. Und diese Einschüchterung wirkt auf alle schwachen Seelen. Scheu sitzen die Girondisten im Flackerlicht der Kerzen an diesem grauen, frühen Winterabend beisammen. Die gestern noch entschlossen waren, gegen den Tod des Königs zu stimmen, um den Krieg bis aufs Messer mit ganz Europa zu vermeiden, sie sind größtenteils unter dem ungeheuren Druck des Volksaufruhrs unruhig und uneinig geworden. Endlich, es ist schon spät abends, erfolgt der Namensaufruf, und einer der ersten trifft ironischerweise gerade den Führer der Girondisten, Vergniaud, den sonst so südländischen Redner, dessen Stimme immer wie ein Hammer auf das schwingende Holz der Wände schmettert. Jetzt aber fürchtet er, als Führer der Republik nicht mehr genug republikanisch zu erscheinen, wenn er dem König das Leben lässt. So tritt er, der sonst Wilde und Stürmische, langsam, schwer, das große Haupt beschämt niedergesenkt, auf die Tribüne und sagt leise „La mort“, der Tod.
Das Wort tönt wie eine Stimmgabel durch den Saal. Der erste der Girondisten hat versagt. Die meisten andern bleiben fest, dreihundert unter siebenhundert Stimmen sind für Gnade, obwohl sie wissen, dass jetzt eine politische Mäßigung tausendmal mehr Kühnheit erfordert als scheinbare Entschlossenheit. Lange schwankt die Waage: Ein paar Stimmen können entscheiden. Endlich wird der Deputierte Joseph Fouché de Nantes vorgerufen, derselbe, der noch gestern zuverlässig den Freunden versicherte, er werde mit hinreißender Rede das Leben des Königs verteidigen, der vor zehn Stunden noch den Entschlossensten aller Entschlossenen gespielt. Aber inzwischen hat der ehemalige Mathematiklehrer, der gute Rechner Fouché die Stimmen gezählt und gesehen, dass er damit zur falschen Partei käme, zur einzigen, zu der er sich nie bekennen wird: zur Minorität. So steigt er mit seinen lautlosen Schritten hastig die Tribüne empor, und von seinen blassen Lippen flüchten leise die beiden Worte „La mort“, der Tod.
Der Herzog von Otranto wird später hunderttausend Worte sprechen und schreiben, um diese beiden Worte, die ihn, Joseph Fouché, zum „régicide“, zum Königsmörder stempeln, als Irrtum zu entschuldigen. Aber diese beiden Worte sind öffentlich gesagt und vermerkt im „Moniteur“, sie sind nicht auszustreichen aus der Geschichte und denkwürdig auch in der persönlichen Geschichte seines Lebens. Denn sie sind Joseph Fouchés erster öffentlicher Umfall. Er ist Condorcet und Daunou, seinen Freunden, heimtückisch in den Rücken gefallen, er hat sie genarrt und betrogen. Aber sie brauchen sich dessen vor der Geschichte nicht zu schämen, denn noch andere, noch Stärkere, Robespierre und Carnot, Lafayette, Barras und Napoleon, die Mächtigsten ihrer Zeit, werden dieses Schicksal teilen und gleichfalls in der Stunde der Ungunst von ihm überspielt werden.
In dieser Minute aber enthüllt sich zum ersten Mal in Joseph Fouchés Charakter auch noch ein anderer und sehr ausgeprägter Wesenszug: seine Frechstirnigkeit. Wenn er verräterisch eine Partei verlässt, so geschieht dies niemals langsam und vorsichtig, er schlängelt sich nicht drückerisch heimlich aus Reih und Glied. Sondern am helllichten Tag, kalt lächelnd, mit einer verblüffenden und niederschmetternden Selbstverständlichkeit geht er geradeswegs zum bisherigen Gegner über und übernimmt all dessen Worte und Argumente. Was die einstigen Parteifreunde von ihm meinen und reden, was die Menge, die Öffentlichkeit denkt, lässt ihn vollständig kalt. Wichtig bleibt ihm nur eins, immer beim Sieger, niemals bei den Besiegten zu sein. In der Blitzartigkeit dieser Umkehr, im maßlosen Zynismus seiner Charakterumstellung bewährt er ein Maß Frechheit, das unwillkürlich betäubt und zur Bewunderung zwingt. Ihm genügen vierundzwanzig Stunden, oft nur eine Stunde, oft nur eine Minute, um blank die Fahne seiner Überzeugung wegzuwerfen und eine andere rauschend zu entrollen. Er geht nicht mit einer Idee, sondern geht mit der Zeit, und je rascher sie rennt, desto geschwinder wird er ihr nachlaufen. Er weiß, seine Wähler zu Nantes werden empört sein, wenn sie morgen im „Moniteur“ sein Votum lesen. So gilt es, sie zu überrennen, statt zu überzeugen. Und mit jener blitzhaften Kühnheit, mit jener Frechstirnigkeit, die in solchen Sekunden ihm beinahe einen Schein von Größe gibt, wartet er diese Empörung gar nicht ab, sondern kommt dem Angriff durch eine Attacke zuvor. Einen Tag schon nach der Abstimmung lässt Fouché ein Manifest drucken, in dem er donnernd als innerste Überzeugung proklamiert, was in Wahrheit ihm die Furcht vor parlamentarischer Missgunst eingegeben: Er will seinen Wählern nicht Zeit lassen, zu denken und nachzurechnen, sondern mit rasch zustoßender Brutalität sie terrorisieren und einschüchtern.
Marat und die hitzigsten Jakobiner können nicht blutrünstiger schreiben, als dieser gestern noch Gemäßigte an seine brav bürgerlichen Wähler: „Die Verbrechen des Tyrannen sind sichtbar geworden und haben alle Herzen mit Empörung erfüllt. Wenn sein Kopf nicht sofort unter dem Schwerte fällt, dürfen alle Räuber und Mörder erhobenen Hauptes dahingehen, und das furchtbarste Chaos würde uns bedrohen. Die Zeit ist für uns und gegen alle Könige der Erde.“ So proklamiert derselbe die Hinrichtung als unumgängliche Notwendigkeit, der am Tag zuvor noch ein wahrscheinlich ebenso überzeugtes Manifest gegen die Hinrichtung in der Rocktasche bereithielt.
Und tatsächlich, der kluge Rechner hat richtig kalkuliert. Selber Opportunist, kennt er die unwiderstehliche Fallkraft der Feigheit; er weiß, dass in allen politischen Massenaugenblicken Kühnheit der entscheidende Nenner aller Berechnung ist. Er behält recht: Die braven konservativen Bürger ducken sich ängstlich vor diesem frechen, unvermuteten Manifest; verwirrt und verlegen beeilen sie sich, ihre Zustimmung zu einer Entscheidung zu geben, der sie innerlich auch nicht im entferntesten zustimmen. Keiner wagt zu widersprechen. Und seit jenem Tage hat Joseph Fouché den harten und kalten Hebel in der Hand, mit dem er die schwersten Krisen bewältigt: die Verachtung der Menschen.
Von diesem Tage an, vom 16. Januar, wählt (bis auf weiteres) das Charakterchamäleon Joseph Fouché die rote Farbe, der Gemäßigte wird über Nacht Erzradikaler und Ultraterrorist. Mit einem Sprung ist er hinüber zu seinen Gegnern, und innerhalb der einstigen Gegner reiht er sich sofort auf den äußersten, den linksten, den radikalsten Flügel. Mit einer unheimlichen Geschwindigkeit redet sich dieser kalte Geist, dieser nüchterne Schreibstubenmensch, um nur ja hinter den andern nicht zurückzubleiben, in den blutrünstigen Jargon der Terroristen hinein. Er stellt scharfe Anträge gegen die Emigrierten, gegen die Priester; er hetzt, er donnert, er tobt, er massakriert mit Worten und Gesten. Eigentlich könnte er jetzt wieder Freundschaft schließen mit Robespierre und sich an dessen Seite setzen. Aber dieser unbestechliche, dieser protestantisch harte Gewissensmensch liebt die Renegaten nicht; doppelt misstrauisch wendet er sich von dem Überläufer ab, dessen lärmender Radikalismus ihm noch verdächtiger erscheint als seine frühere Lauheit.
Fouché spürt mit seinem geschärften atmosphärischen Sinn die Gefahr solcher Überwachung, er sieht kritische Tage heranziehen. Noch hängt ein Gewitter über der Versammlung, schon zeichnen sich die tragischen Kämpfe zwischen den Führern der Revolution, zwischen Danton und Robespierre, zwischen Hébert und Desmoulins am politischen Horizonte ab; man müsste sich innerhalb des Radikalismus‘ abermals entscheiden, und Fouché liebt nicht, sich festzulegen, ehe das Bekenntnis gefahrlos und einträglich wird. Er weiß, dass es Situationen in schicksalshaften Zeiten gibt, die ein Diplomat am klügsten bemeistert, indem er ihnen ausweicht. So zieht er es vor, die politische Arena des Konvents während des Kampfes zu verlassen und sie erst wieder zu betreten, wenn das Ringen entschieden ist. Für solchen Rückzug gibt es jetzt glücklicherweise einen ehrenvollen Vorwand, denn der Konvent wählt zweihundert Delegierte aus seiner Mitte, damit sie in den Landbezirken die Ordnung aufrecht erhalten. Fouché, der sich in der vulkanischen Atmosphäre des Sitzungssaales nicht wohl fühlt, bemüht sich sofort darum, weggeschickt zu werden, und er wird gewählt. Eine Atempause ist ihm gegönnt. Mögen sie inzwischen miteinander kämpfen und einer den anderen erledigen, mögen sie Raum schaffen, die Leidenschaftlichen, für den Ehrgeizigen! Nur jetzt nicht dabei sein, nicht Partei ergreifen zwischen den Parteien! Ein paar Monate, ein paar Wochen sind viel für jene Zeit, da die Weltuhr rasend rennt. Wird er wiederkehren, so ist die Entscheidung schon gefallen, und er kann dann geruhig und gefahrlos an die Seite des Siegers treten, zu seiner ewigen Partei: zur Majorität.