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Endlich wieder: Thomas Manns Josephsromane in einem Band! Thomas Mann hat mit seiner vierbändigen Joseph-Geschichte einen der größten mythischen Romane des 20. Jahrhunderts geschrieben. Aus einer kurzen biblischen Erzählung entwickelt der Autor ein episches Gemälde, das durch szenischen Reichtum, durch seine menschlichen Figuren, seinen Humor und seine Weisheit gleichermaßen begeistert. Insgesamt 17 Jahre hat Thomas Mann an seinem Opus magnum gearbeitet, bis 1943 der letzte Band erschien. Mit Daten zu Leben und Werk.
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Seitenzahl: 2865
Thomas Mann
Joseph und seine Brüder
Vier Romane in einem Band
Roman
FISCHER E-Books
Mit Daten zu Leben und Werk
Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?
Dies nämlich dann sogar und vielleicht eben dann, wenn nur und allein das Menschenwesen es ist, dessen Vergangenheit in Rede und Frage steht: dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und übernatürlichelendes Dasein in sich schließt und dessen Geheimnis sehr begreiflicherweise das A und das O all unseres Redens und Fragens bildet, allem Reden Bedrängtheit und Feuer, allem Fragen seine Inständigkeit verleiht. Da denn nun gerade geschieht es, daß, je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Vergangenen man dringt und tastet, die Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich als gänzlich unerlotbar erweisen und vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitenlänge wir seine Schnur auch abspulen, immer wieder und weiter ins Bodenlose zurückweichen. Zutreffend aber heißt es hier »wieder und weiter«; denn mit unserer Forscherangelegentlichkeit treibt das Unerforschliche eine Art von foppendem Spiel: es bietet ihr Scheinhalte und Wegesziele, hinter denen, wenn sie erreicht sind, neue Vergangenheitsstrecken sich auftun, wie es dem Küstengänger ergeht, der des Wanderns kein Ende findet, weil hinter jeder lehmigen Dünenkulisse, die er erstrebte, neue Weiten zu neuen Vorgebirgen vorwärtslocken.
So gibt es Anfänge bedingter Art, welche den Ur-Beginn der besonderen Überlieferung einer bestimmten Gemeinschaft, Volkheit oder Glaubensfamilie praktisch-tatsächlich bilden, so daß die Erinnerung, wenn auch wohl belehrt darüber, daß die Brunnenteufe damit keineswegs ernstlich als ausgepeilt gelten kann, sich bei solchem Ur denn auch national beruhigen und zum persönlich-geschichtlichen Stillstande kommen mag.
Der junge Joseph zum Beispiel, Jaakobs Sohn und der lieblichen, zu früh gen Westen gegangenen Rahel, Joseph zu seiner Zeit, als Kurigalzu, der Kossäer, zu Babel saß, Herr der vier Gegenden, König von Schumir und Akkad, höchst wohltuend dem Herzen Bel-Marudugs, ein zugleich strenger und üppiger Gebieter, dessen Bartlöckchen so künstlich gereiht erschienen, daß sie einer Abteilung gut ausgerichteter Schildträger glichen; – zu Theben aber, in dem Unterlande, das Joseph »Mizraim« oder auch »Keme, das Schwarze«, zu nennen gewohnt war, seine Heiligkeit der gute Gott, genannt »Amun ist zufrieden« und dieses Namens der dritte, der Sonne leiblicher Sohn, zum geblendeten Entzücken der Staubgeborenen im Horizont seines Palastes strahlte; als Assur zunahm durch die Kraft seiner Götter und auf der großen Straße am Meere, von Gaza hinauf zu den Pässen des Zederngebirges, königliche Karawanen Höflichkeitskontributionen in Lapislazuli und gestempeltem Golde zwischen den Höfen des Landes der Ströme und dem Pharaos hin und her führten; als man in den Städten der Amoriter zu Beth-San, Ajalon, Ta’anek, Urusalim der Aschtarti diente, zu Sichem und Beth-Lahama das siebentägige Klagen um den Wahrhaften Sohn, den Zerrissenen, erscholl und zu Gebal, der Buchstadt, El angebetet ward, der keines Tempels und Kultus bedurfte: Joseph also, wohnhaft im Distrikte Kenana des Landes, das ägyptisch das Obere Retenu hieß, in seines Vaters von Terebinthen und immergrünen Steineichen beschattetem Familienlager bei Hebron, ein berühmt angenehmer Jüngling, angenehm namentlich in erblicher Nachfolge seiner Mutter, die hübsch und schön gewesen war, wie der Mond, wenn er voll ist, und wie Ischtars Stern, wenn er milde im Reinen schwimmt, außerdem aber, vom Vater her, ausgestattet mit Geistesgaben, durch welche er diesen wohl gar in gewissem Sinne noch übertraf, – Joseph denn schließlich (zum fünften- und sechstenmal nennen wir seinen Namen und mit Befriedigung; denn um den Namen steht es geheimnisvoll, und uns ist, als gäbe sein Besitz uns Beschwörerkraft über des Knaben zeitversunkene, doch einst so gesprächig-lebensvolle Person) – Joseph für sein Teil erblickte in einer südbabylonischen Stadt namens Uru, die er in seiner Mundart »Ur Kaschdim«, »Ur der Chaldäer« zu nennen pflegte, den Anfang aller, das heißt: seiner persönlichen Dinge.
Von dort nämlich war vor längeren Zeiten – Joseph war sich nicht immer ganz im klaren darüber, wie weit es zurücklag – ein sinnender und innerlich beunruhigter Mann nebst seinem Weibe, die er aus Zärtlichkeit wohl gern seine »Schwester« nannte, und anderen Zugehörigen ausgezogen, um es dem Monde, der Gottheit von Ur, gleichzutun und zu wandern, weil er das als das Richtigste und seinem unzufriedenen, zweifelvollen, ja gequälten Zustande Angemessenste empfunden hatte. Sein Auszug, dem eine Sinnbetonung von Widerspruch und Auflehnung nicht abzusprechen gewesen war, hatte zusammengehangen mit gewissen Bauwerken, die ihm auf beleidigende Weise eindrucksvoll gewesen und die der dortzulande eben herrschende Nimrod und Erdengewaltige wenn nicht errichtet, so doch erneuert und übermächtig erhöht hatte: weniger, nach des Ur-Mannes geheimer Überzeugung, den göttlichen Lichtern zu Ehren, denen sie geweiht waren, denn als Hemmriegel der Zerstreuung und himmelaufragende Male von des Nimrods-Königs gesammelter Macht, – welcher der Mann von Ur sich nun gerade entzogen hatte, indem er sich dennoch zerstreute und mit seinem Anhange auf unbestimmte Wanderschaft begab. Josephs Überlieferungen waren nicht ganz einsinnig darin, ob es die große Mondburg von Ur gewesen war, die den Unzufriedenen namentlich geärgert, der getürmte Tempel des Sin-Gottes, nach welchem das ganze Land Sinear also benannt war und dessen Name auch in so manchem mitklang, was Heimatlicheres bezeichnete, wie etwa in dem des Berges Sinai; oder etwa jenes hochragende Sonnenhaus, der Mardug-Tempel Esagila zu Babel selbst, dessen Spitze der Nimrod ebenfalls gleich dem Himmel erhöht hatte und von dem Joseph genaue mündliche Beschreibung besaß. Auch war da offenbar noch mehreres andere gewesen, woran der sinnende Mann sich gestoßen hatte: angefangen von der Nimrod-Gewaltigkeit überhaupt bis zu den und den Sitten und Bräuchen, die den anderen als heilig hergebracht und unveräußerlich erschienen waren, ihm aber die Seele je mehr und mehr mit Zweifeln erfüllt hatten; und da mit zweifelnder Seele nicht gut stillsitzen ist, so hatte er sich eben in Bewegung gesetzt.
Er war nach Charran gelangt, der Mondstadt des Nordens, der Stadt des Weges, im Lande Naharain, wo er mehrere Jahre verblieben war und Seelen gesammelt, sie in die enge Verwandtschaft der Seinen aufgenommen hatte. Das war aber eine Verwandtschaft, die Unruhe bedeutete und fast nichts weiter, – Unruhe der Seele, sich äußernd in einer Unrast des Leibes, die mit dem Leichtsinn gewöhnlicher Wanderlust und abenteuernder Freizügigkeit wenig zu schaffen hatte, vielmehr die Getriebenheit und Heimsuchung eines Einzelnen war, in dessen Blut sich Schicksalsentwicklungen dunkelanfänglich vorbereiteten, zu deren erdrückender Tragweite die Qual seiner Friedlosigkeit in heimlich genauem Verhältnis mochte gestanden haben. Darum auch hatte sich Charran, noch in dem Machtbereiche des Nimrod gelegen, in Wahrheit nur als »Stadt des Weges« erwiesen, nämlich als eine Station, aus welcher der Mondmann über ein kleines sich wieder gelöst hatte, nebst Sarai, seiner Eheschwester, und allen seinen Verwandten und seiner und ihrer Habe, um als ihr Führer und Mahdi seine Higra mit unbestimmtem Ziele fortzusetzen.
So war er nach dem Westlande gekommen, zu den Amurru, die Kenana bewohnten, wo damals Männer von Chatti die Herren waren, hatte in Etappen das Land durchzogen und war tief in den Süden vorgestoßen, unter andere Sonne, in das Land des Schlammes, wo das Wasser verkehrt geht, ungleich dem Wasser von Naharina, und man stromab nach Norden fährt; wo ein altersstarres Volk seine Toten anbetete und für den Ur-Mann und seine Not nichts zu suchen und auszurichten gewesen war. Er war ins Westland zurückgekehrt, dem Mittellande eben, das zwischen dem des Schlammes und Nimrods Gebieten gelegen war, und hatte in dessen Süden, der Wüste nicht fern, in bergiger Gegend, wo es wenig Ackerbau, aber reichliche Weide gab für sein Kleinvieh und wo er sich mit den Einwohnern rechtlich vertrug, eine Art von oberflächlicher Seßhaftigkeit gefunden.
Die Überlieferung will wissen, daß ihm sein Gott, der Gott, an dessen Wesensbild sein Geist arbeitete, der Höchste unter den anderen, dem ganz allein zu dienen er aus Stolz und Liebe entschlossen war, der Gott der Äonen, dem er Namen suchte und hinlängliche nicht fand, weshalb er ihm die Mehrzahl verlieh und ihn Elohim, die Gottheit, versuchsweise nannte: daß also Elohim ihm ebenso weitreichende wie fest umschriebene Verheißungen gemacht hatte, des Sinnes nicht nur, er, der Mann aus Ur, solle zu einem Volke werden, zahlreich wie Sand und Sterne, und allen Völkern ein Segen sein, sondern auch dahingehend, das Land, in dem er nun als Fremder wohne und wohin Elohim ihn aus Chaldäa geführt hätte, solle ihm und seinem Samen zu ewiger Besitzung gegeben werden in allen seinen Teilen, – wobei der Gott der Götter ausdrücklich die Völkerschaften und gegenwärtigen Inhaber des Landes aufgeführt hätte, deren »Tore« der Same des Ur-Mannes besitzen solle, das heißt: denen der Gott im Interesse des Ur-Mannes und seines Samens Unterwerfung und Knechtschaft bündig zugedacht habe. Das ist mit Vorsicht aufzunehmen oder jedenfalls recht zu verstehen. Es handelt sich um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die sich auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu befestigen. In Wirklichkeit war das Gemüt des Mondwanderers auf keine Weise geschaffen, politische Verheißungen zu empfangen oder hervorzubringen. Nichts beweist, daß er das Amurruland auch nur von vornherein als zukünftiges Gebiet seines Wirkens ins Auge gefaßt habe, als er die Heimat verließ; ja, der Umstand, daß er versuchsweise auch das Land der Gräber und der stutznäsigen Löwenjungfrau erwanderte, scheint das Gegenteil zu beweisen. Wenn er aber des Nimrods großmächtiges Staatswesen im Rücken ließ und auch das hochangesehene Reich des Oasenkönigs mit der Doppelkrone sogleich wieder mied, um ins Westland zurückzukehren, das heißt in ein Land, dessen zersplittertes Staatsleben es zu politischer Ohnmacht und Abhängigkeit hoffnungslos bestimmte, so zeugt dies für nichts weniger als für seinen Geschmack an imperialer Größe und seine Anlage zur politischen Vision. Was ihn in Bewegung gesetzt hatte, war geistliche Unruhe, war Gottesnot gewesen, und wenn ihm Verkündigungen zuteil wurden, woran gar kein Zweifel statthaft ist, so bezogen sich diese auf die Ausstrahlungen seines neuartig-persönlichen Gotteserlebnisses, dem Teilnahme und Anhängerschaft zu werben er ja von Anbeginn bemüht gewesen war. Er litt, und indem er das Maß seiner inneren Unbequemlichkeit mit dem der großen Mehrzahl verglich, schloß er daraus auf seines Leidens Zukunftsträchtigkeit. Nicht umsonst, so vernahm er von dem neuerschauten Gott, soll deine Qual und Unrast gewesen sein: Sie wird viele Seelen befruchten, wird Proselyten zeugen, zahlreich wie der Sand am Meer, und den Anstoß geben zu Lebensweitläufigkeiten, die keimweise in ihr beschlossen sind, – mit einem Worte, du sollst ein Segen sein. Ein Segen? Es ist unwahrscheinlich, daß mit diesem Wort der Sinn desjenigen richtig wiedergegeben ist, das zu ihm im Gesicht geschah und das seiner Lebensstimmung, der Empfindung seiner selbst entsprach. In dem Worte »Segen« liegt eine Wertung, die man fernhalten sollte von Bezeichnungen des Wesens und der Wirkung von Männern seiner Art: von Männern also der inneren Unbequemlichkeit und der Wanderung, deren neuartige Gotteserfahrung die Zukunft zu prägen bestimmt ist. Einen reinen und unzweifelhaften »Segen« bedeutet das Leben solcher Männer selten oder nie, mit denen eine Geschichte beginnt, und nicht dies ist es, was ihr Selbstgefühl ihnen zuflüstert. »Und sollst ein Schicksal sein« – das ist die reinere und richtigere Übersetzung des Verheißungswortes, in welcher Sprache es immer möge gesprochen worden sein; und ob dies Schicksal einen Segen bedeuten möge oder nicht, ist eine Frage, deren Zweitrangigkeit aus der Tatsache erhellt, daß sie immer und ohne Ausnahme verschieden wird beantwortet werden können, obgleich sie natürlich mit Ja beantwortet wurde von der auf physischem und geistigem Wege wachsenden Gemeinschaft derer, die in dem Gotte, welcher den Mann von Ur aus Chaldäa geführt, den wahren Baal und Addu des Kreislaufs erkannten und auf deren Zusammenhang Joseph sein eigenes geistiges und körperliches Dasein zurückführte.
Zuweilen hielt er den Mondwanderer wohl gar für seinen Urgroßvater, was aber mit voller Strenge aus dem Gebiete des Möglichen zu verweisen ist. Er selbst wußte ganz genau, aus mancherlei Unterweisung, daß es sich weitläufiger verhielt. Nicht so weitläufig freilich, daß jener Erdengewaltige, dessen mit Tierkreisbildern bedeckte Grenzsteine der Ur-Mann hinter sich gelassen, wirklich Nimrod gewesen wäre, der erste König auf Erden, der den Bel von Sinear gezeugt hatte. Vielmehr war es nach den Tafeln Chammuragasch, der Gesetzgeber, gewesen, Erneuerer jener Mond- und Sonnenburgen, und wenn der junge Joseph ihn dem vorfrühen Nimrod gleichsetzte, so war das ein Gedankenspiel, das seinen Geist recht anmutig kleidete, dem unsrigen aber als unschicklich verwehrt ist. Ebenso lag es mit seiner gelegentlichen Verwechselung des Ur-Mannes mit seines Vaters Ältervater, der ähnlich oder ebenso geheißen hatte wie jener. Zwischen dem Knaben Joseph und der Wanderschaft des geistig-leiblichen Vorfahren lagen, zeitrechnerischer Ordnung zufolge, an der es seiner Epoche und Gesittungssphäre keineswegs fehlte, gut und gern zwanzig Geschlechter, rund sechshundert babylonische Umlaufsjahre, eine Spanne, so weit wie von uns zurück ins gotische Mittelalter, – so weit und auch wieder nicht.
Denn haben wir die mathematische Sternenzeit auch unverändert von dort und damals übernommen, das heißt aus Tagen weit vor dem Wandel des Mannes aus Ur, und werden wir sie ebenso auch noch den spätesten Enkeln vererben, so ist doch Bedeutung, Schwergewicht und Erfülltheit der Erdenzeit nicht immer und überall ein und dieselbe; die Zeit hat ungleiches Maß, trotz aller chaldäischen Sachlichkeit ihrer Bemessung; sechshundert Jahre wollten dazumal und unter jenem Himmel nicht das besagen, was sie in unserer abendlichen Geschichte sind; sie waren ein stilleres, stummeres, gleicheres Zeitgebreite; die Zeit war minder tätig, die ändernde Wirksamkeit ihrer steten Arbeit an Dingen und Welt geringer und milder, – wiewohl sie natürlich in diesen zwanzig Menschenaltern Veränderungen und Umwälzungen beträchtlicher Art betätigt hatte, natürliche Umwälzungen sogar, Veränderungen der Erdoberfläche in Josephs engerem Kreise, wie wir wissen, und wie er wußte. Denn wo waren zu seiner Zeit Gomorra und Lots aus Charran, des in des Ur-Mannes enge Verwandtschaft Aufgenommenen, Wohnsitz: Sodom, die wollüstigen Städte? Der bleierne Laugensee lag dort, wo ihre Unzucht geblüht hatte, kraft einer Umkehrung der Gegend in pechig-schweflichter Feuerflut, so fürchterlich und scheinbar alles vertilgend, daß Lots beizeiten mit ihm entwichene Töchter, dieselben, die er anstatt gewisser ernster Besucher der Begierde der Sodomiten hatte anbieten wollen, – daß sie, in dem Wahne, es sei außer ihnen kein Mensch mehr auf Erden, sich in weiblicher Sorge um das Fortbestehen des Menschengeschlechts mit ihrem Vater vermischt hatten.
So sichtbare Umgestaltungen also hatten die Läufte immerhin hinterlassen. Es hatte Segenszeiten gegeben und Fluchzeiten, Fülle und Dürre, Kriegszüge, wechselnde Herrschaft und neue Götter. Und doch war im ganzen die Zeit erhaltenderen Sinnes gewesen als unsere; Josephs Lebensform, Denkungsart und Gewohnheiten unterschieden sich von denen des Ahnen weit weniger als die unsrigen von denen der Kreuzfahrer; die Erinnerung, auf mündlicher Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht beruhend, war unmittelbarer und zutraulich-ungehinderter, die Zeit einheitlicher und darum von kürzerem Durchblick; kurzum, es war dem jungen Joseph nicht zu verargen, wenn er sie träumerisch zusammenzog und, manchmal wenigstens, bei minder genauer Geistesverfassung, des Nachts etwa, bei Mondlicht, den Ur-Mann für seines Vaters Großvater hielt – bei welcher Ungenauigkeit es nicht einmal sein Bewenden hatte. Denn wahrscheinlich, wie wir nun hinzufügen wollen, war der Ur-Mann gar nicht der eigentliche und wirkliche Mann aus Ur. Wahrscheinlich (auch dem jungen Joseph war es in genauen Stunden, am Tage, wahrscheinlich) hatte dieser die Mondburg von Uru niemals gesehen, sondern sein Vater schon war es gewesen, der von dort ausgewandert war, gen Norden, nach Charran im Lande Naharin, und aus Charran also erst war der fälschlich so genannte Ur-Mann, auf Weisung des Herrn der Götter, nach Amoriterland aufgebrochen, zusammen mit jenem später zu Sodom ansässigen Lot, den die Gemeinschaftsüberlieferung träumerischerweise für des Ur-Mannes Brudersohn erklärte, und zwar insofern er »der Sohn Charrans« gewesen sei. Gewiß, Lot von Sodom war ein Sohn Charrans, da er von dort stammte, so gut wie der Ur-Mann. Aber aus Charran, der Stadt des Weges, einen Bruder des Ur-Mannes und also aus dem Proselyten Lot einen Neffen von ihm zu machen, war eitel Träumerei und Gedankenspiel, bei Tage nicht haltbar, doch recht danach angetan, zu erklären, wie es dem jungen Joseph so leicht fiel, seine kleinen Verwechselungen zu vollziehn.
Er tat es mit demselben guten Gewissen, mit welchem etwa die Sternendiener und -deuter von Sinear bei ihren Wahrsagungen nach dem Grundsatz der Gestirnvertretung handelten und einen Himmelskörper für den anderen setzten, zum Beispiel die Sonne, wenn sie untergegangen war, mit dem Staats- und Kriegsplaneten Ninurtu, oder den Planeten Mardug mit dem Skorpionbilde vertauschten, indem sie dieses dann schlankerhand »Mardug« und den Ninurtu »Sonne« nannten; er tat es im Sinne praktischen Notbehelfs, denn sein Wunsch, dem Geschehen, dem er angehörte, einen Anfang zu setzen, begegnete derselben Schwierigkeit, auf welche ein solches Bemühen immer stößt: der Schwierigkeit eben, daß jeder einen Vater hat und daß kein Ding zuerst und von selber ist, Ursache seiner selbst, sondern ein jedes gezeugt ist und rückwärts weist, tiefer hinab in die Anfangsgründe, die Gründe und Abgründe des Brunnens der Vergangenheit. Joseph wußte natürlich, daß auch des Ur-Mannes Vater, der wahre Mann von Uru also, einen Vater gehabt haben mußte, mit welchem also eigentlich seine persönliche Geschichte begonnen hätte, und so immer fort, bis etwa zu Jabel, dem Sohne Ada’s, dem Urahnen derer, die in Zelten wohnen und Viehzucht treiben. Aber der Auszug aus Sinear bedeutete ihm ja auch eben nur einen bedingten und besonderen Urbeginn, und er war wohlunterrichtet darüber, durch Lied und Lehre, wie es dahinter ins Allgemeine weiter und weiter ging, über viele Geschichten, bis zurück zu Adapa oder Adama, dem ersten Menschen, welcher nach einer babylonischen Vers- und Lügenkunde, die Joseph teilweise sogar auswendig wußte, der Sohn Ea’s, Gottes der Weisheit und der Wassertiefe, gewesen sein und den Göttern als Bäcker und Mundschenk gedient haben sollte, von dem aber Joseph Heiligeres und Genaueres wußte; zurück zu dem Garten im Osten, worin die beiden Bäume, das Lebensholz und der unkeusche Baum des Todes, gestanden hatten; zurück zum Anfang, zur Entstehung der Welt, der Himmel und des irdischen Alls aus Tohu und Bohu durch das Wort, das frei über der Urflut schwebte und Gott war. Aber war nicht auch dies nur ein bedingter, besonderer Anfang der Dinge? Wesen hatten damals dem Schöpfer bewundernd und auch verwundert zugeschaut: Söhne Gottes, Gestirnengel, von denen Joseph manche merkwürdige und selbst lustige Geschichte kannte, und widrige Dämonen. Sie mußten aus einem vergangenen Welt-Äon stammen, das einst zu Tohu- und Bohu-Rohstoff geworden war bei seinem Altersuntergange – und war nun dieses das Allererste gewesen?
Hier schwindelte es den jungen Joseph, genau wie uns, indem wir uns über den Brunnenrand neigen, und trotz kleiner uns unzukömmlicher Ungenauigkeiten, die sein hübscher und schöner Kopf sich erlaubte, fühlen wir uns ihm nahe und zeitgenössisch in Hinsicht auf die Unterweltschlünde von Vergangenheit, in die auch er, der Ferne, schon blickte. Ein Mensch wie wir war er, so kommt uns vor, und trotz seiner Frühe von den Anfangsgründen des Menschlichen (um vom Anfange der Dinge überhaupt nun wieder ganz zu schweigen) mathematisch genommen ebensoweit entfernt wie wir, da diese tatsächlich im Abgründig-Dunklen des Brunnenschlundes liegen und wir bei unserem Forschen uns entweder an bedingte Scheinanfänge zu halten haben, die wir mit dem wirklichen Anfange auf dieselbe Art verwechseln, wie Joseph den Wanderer aus Ur einerseits mit dessen Vater und andererseits mit seinem eigenen Urgroßvater verwechselte, oder von einer Küstenkulisse zur anderen rückwärts und aber rückwärts ins Unermeßliche gelockt werden.
Wir erwähnten zum Beispiel, daß Joseph schöne babylonische Verse auswendig wußte, die aus einem großen und schriftlich vorliegenden Zusammenhange voll lügenhafter Weisheit stammten. Er hatte sie von Reisenden gelernt, die Hebron berührten und mit denen er in seiner umgänglichen Art Zwiesprache hielt, und von seinem Hauslehrer, dem alten Eliezer, einem Freigelassenen seines Vaters, – nicht zu verwechseln (wie es dem Joseph zuweilen geschah und wie es auch der Alte selbst sich wohl gern einmal geschehen ließ) mit Eliezer, des Ur-Wanderers ältestem Knechte, der einst die Tochter Bethuels am Brunnen für Isaak gefreit hatte. Nun denn, wir kennen diese Verse und Mären; wir besitzen Tafeltexte davon, die im Palaste Assurbanipals, Königes der Gesamtheit, Sohnes des Assarhaddon, Sohnes des Sinacherib, zu Niniveh gefunden worden und von denen einige die Ur-Kunde der großen Flut, mit welcher der Herr die erste Menschheit um ihrer Verderbtheit willen vertilgt und die auch in Josephs persönlicher Überlieferung eine so bedeutende Rolle spielte, in zierlicher Keilschrift auf graugelbem Tone darbieten. Offen gestanden ist aber das Wort »Urkunde«, wenigstens seinem ersten und eindrucksvollsten Bestandteile nach, nicht ganz genau am Platze; denn jene schadhaften Täfelchen stellen Abschriften dar, die Assurbanipal, ein der Schrift und dem befestigten Gedanken sehr holder Herr, ein »Erzgescheiter«, wie die babylonische Redensart lautete, und eifriger Sammler von Gütern der Gescheitheit, nur einige sechshundert Jahre vor unserer Zeitrechnung von gelehrten Sklaven herstellen ließ, und zwar nach einem Original, das reichlich eintausend Jahre älter war, also aus den Tagen des Gesetzgebers und des Mondwanderers stammte, für Assurbanipals Tafelschreiber ungefähr so leicht oder schwer zu lesen und zu verstehen wie für uns Heutige ein Manuskript aus Caroli Magni Zeiten. In einem ganz überholten und unentwickelten Duktus ausgefertigt, ein hieratisches Schriftstück, muß es schon damals schwer zu entziffern gewesen sein, und ob seine Bedeutungen bei der Abschrift so ganz zu ihrem Rechte gekommen sind, bleibt zweifelhaft.
Nun war aber dies Original nicht eigentlich ein Original, nicht das Original, wenn man es recht betrachtete. Es war selbst schon die Abschrift eines Dokumentes aus Gott weiß welcher Vorzeit, bei dem man denn also, ohne recht zu wissen, wo, als bei dem wahren Originale haltmachen könnte, wenn es nicht seinerseits bereits mit Glossen und Zusätzen von Schreiberhand versehen gewesen wäre, die dem besseren Verständnis eines wiederum urweit zurückliegenden Textes dienen sollten, wahrscheinlich aber im Gegenteil der modernen Verballhornung seiner Weisheit dienten – und so könnten wir fortfahren, wenn wir nicht hoffen dürften, daß unsere Zuhörer schon hier erfassen, was wir im Sinne haben, wenn wir von Küstenkulissen und Brunnenschlund reden.
Die Leute Ägyptenlandes hatten dafür ein Wort, das Joseph kannte und gelegentlich verwendete. Denn obgleich auf Jaakobs Hof keine Chamiten geduldet wurden, ihres Ahnen wegen, des Vaterschänders, der über und über schwarz geworden war, und weiterhin weil Jaakob die Sitten von Mizraim religiös mißbilligte, so verkehrte der Jüngling nach seiner neugierigen Art in den Städten, in Kirjath Arba sowohl wie in Sichem, doch öfters mit Ägyptern und fing auch dies und jenes von ihrer Sprache auf, in der er sich später so glänzend vervollkommnen sollte. Von einem Dinge also, das unbestimmten und sehr hohen, kurz: unvordenklichen Alters war, sagten sie: »Es stammt aus den Tagen des Set« – womit nämlich einer ihrer Götter gemeint war, der tückische Bruder ihres Mardug oder Tammuz, den sie Usiri, den Dulder, nannten: mit diesem Beinamen, weil Set ihn erstens in eine Sarglade gelockt und in den Fluß geworfen, dann ihn aber auch noch wie ein wildes Tier in Stücke gerissen und völlig gemordet hatte, so daß Usir, das Opfer, nun als Herr der Toten und König der Ewigkeit in der Unterwelt waltete ... »Aus den Tagen des Set« – die Leute von Mizraim hatten allerlei Verwendung für ihre Redensart, denn all ihrer Dinge Ursprung verlor sich auf unnachweisliche Art in jenem Dunkel.
Am Rande der Libyschen Wüste, nahe bei Memphis, lagerte, aus dem Felsen gehauen, der dreiundfünfzig Meter hohe Koloß-Zwitter aus Löwe und Jungfrau, mit Weibesbrüsten, Manneskinnbart und der sich bäumenden Königsschlange am Kopftuch, vor sich hingestreckt die riesigen Pranken seines Katzenleibes, die Nase kurz abgestumpft vom Zeitenfraße. Er hatte dort immer gelagert und immer schon mit von der Zeit gestumpfter Nase, und daß diese Nase jemals noch ungestumpft oder etwa gar der Sphinx selbst noch nicht vorhanden gewesen wäre, war unerinnerlich. Thutmose der Vierte, der Goldsperber und starke Stier, König von Ober- und Unterägypten, geliebt von der Göttin der Wahrheit, aus demselben achtzehnten Hause, dem auch jener Amun-ist-zufrieden entstammte, ließ ihn auf Grund einer Weisung, die er vor seiner Thronbesteigung im Traum empfangen, aus dem Wüstensande graben, von welchem die übergroße Skulptur schon weitgehend verweht und verschüttet gewesen war. Aber König Chufu bereits, anderthalb tausend Jahre vorher, aus dem vierten Hause, welcher nahebei sich die große Pyramide zum Grabmal erbaute und dem Sphinx Opfer darbrachte, hatte ihn als halbe Ruine vorgefunden, und von einer Zeit, die ihn nicht vorgefunden oder auch nur mit ganzer Nase vorgefunden hätte, wußte niemand.
Hatte Set selbst das Wundertier, das Spätere für ein Bild des Sonnengottes erachteten und »Hor im Lichtberge« hießen, aus dem Steine gehauen? Das war wohl möglich, denn wahrscheinlich war Set, wie auch Usiri, das Opfer, nicht immer ein Gott gewesen, sondern einmal ein Mensch, und zwar ein König über Ägypterland. An der nicht selten vernommenen Belehrung, ein gewisser Menes oder Hor-Meni habe, ungefähr sechstausend Jahre vor unserer Zeitrechnung, die erste ägyptische Dynastie gegründet und vorher sei »vordynastische Zeit« gewesen –; er, Meni, habe zuerst die Lande, das untere und obere, den Papyrus und die Lilie, die rote und die weiße Krone vereinigt und als erster König über Ägypten geherrscht, dessen Geschichte mit seiner Regierung beginne –, an dieser Aussage ist wahrscheinlich jedes Wort falsch, und für den schärfer zudringenden Blick wird Urkönig Meni zu einer bloßen Zeitenkulisse. Dem Herodot erklärten ägyptische Priester, die geschriebene Geschichte ihres Landes reiche 11 340 Jahre vor seine Ära zurück, was ungefähr vierzehntausend Jahre für uns bedeutet und eine Angabe darstellt, die König Meni’s Gestalt ihres urhaften Charakters weitgehend zu entkleiden geeignet ist. Die Geschichte Ägyptens zerfällt in Perioden der Spaltung und Ohnmacht und solche der Macht und des Glanzes, in Epochen der Herrschaftslosigkeit und der Vielherrschaft und in solche der majestätischen Sammlung aller Kräfte, und immer deutlicher wird, daß diese Daseinsformen zu oft gewechselt haben, als daß König Meni der erste Vertreter der Einheit gewesen sein könnte. Der Zerrissenheit, die er heilte, war ältere Einheit vorausgegangen, und dieser ältere Zerrissenheit; wie oft es aber hier »älter«, »wieder« und »weiter« zu heißen hat, ist nicht zu sagen, sondern nur dies, daß erste Einheit unter Götterdynastien blühte, deren Söhne mutmaßlich jene Set und Usiri waren, und daß die Geschichte von Usirs, des Opfers, Ermordung und Zerstückelung auf Thronstreitigkeiten, welche damals mit List und Verbrechen ausgetragen wurden, sagenhaft anspielte. Es war das eine bis zur Vergeistigung und Geisterhaftigkeit tiefe, mythisch und theologisch gewordene Vergangenheit, welche zur Gegenwart und zum Gegenstand pietätvoller Verehrung wurde in Gestalt gewissen Getieres, einiger Falken und Schakale, die man in den alten Hauptstädten der Länder, Buto und Enchab, hegte und in denen die Seelen jener Vorzeit-Wesen sich geheimnisvoll bewahren sollten.
»Aus den Tagen des Set«, – die Wendung gefiel dem jungen Joseph, und wir teilen sein Vergnügen daran; denn auch wir, wie die Leute Ägyptenlandes, finden sie höchst verwendbar und schlechthin auf alles passend, – ja, wohin wir nur blicken im Bereiche des Menschlichen, legt sie sich uns nahe, und aller Dinge Ursprung verliert sich bei schärferem Hinsehen in den Tagen des Set.
Zu dem Zeitpunkt, da unsere Erzählung beginnt – ein ziemlich beliebiger Zeitpunkt, aber irgendwo müssen wir ansetzen und das andre zurücklassen, da wir sonst selbst »in den Tagen des Set« beginnen müßten –, war Joseph schon ein Hirte des Viehs mit seinen Brüdern, wenn auch in schonenden Grenzen zu dieser Leistung berufen: er hütete, wenn es ihm Freude machte, mit ihnen auf den Weiden von Hebron seines Vaters Schafe, Ziegen und Rinder. Wie sahen diese Tiere aus, und worin unterschieden sie sich von denen, die wir halten und hüten? In gar nichts. Es waren dieselben befreundeten und gefriedeten Geschöpfe, auf derselben Stufe ihrer Züchtung, wie wir sie kennen, und die ganze Zuchtgeschichte etwa des Rindes aus seinen wilden Büffel-Formen war in des jungen Joseph Tagen seit so langem zurückgelegt, daß »längst« ein schlechthin lächerlicher Ausdruck ist für diese Strecken: das Rind war nachweislich gezüchtet schon in der Frühe jener Gesittungsepoche der Steinwerkzeuge, die dem Eisen-, dem Bronzezeitalter voranging und von welcher der babylonisch-ägyptisch gebildete Amurru-Knabe Joseph fast ebenso weit abstand wie wir Heutigen, – der Unterschied ist verschwindend.
Erkundigen wir uns nach dem wilden Schafe, aus welchem das unsrige und Jaakobs Herdenschaf »einst« gezüchtet worden, so wird uns bedeutet, daß es ausgestorben ist. »Längst« kommt es nicht mehr vor. Seine Verhäuslichung muß sich in den Tagen des Set vollzogen haben, und die Züchtung des Pferdes, des Esels, der Ziege und die des Schweines aus dem wilden Eber, der Tammuz, den Schäfer, zerriß, ist desselben nebelhaften Datums. Unsere geschichtlichen Aufzeichnungen reichen ungefähr siebentausend Jahre zurück; während dieser Zeit ist jedenfalls kein wildes Tier mehr nutzbar und häuslich gemacht worden. Das liegt vor jeder Erinnerung.
Ebendort liegt die Veredelung wilder und tauber Gräser zum brottragenden Korne. Unsere Getreidearten, mit denen auch Joseph sich nährte, die Gerste, den Hafer, Roggen, Mais und Weizen, auf ihre wildwachsenden Originale zurückzuführen, erklärt unsere Pflanzenkunde sich mit dem größten Bedauern außerstande, und kein Volk kann sich rühmen, sie zuerst entwickelt und gebaut zu haben. Wir hören, daß es zur Steinzeit in Europa fünf verschiedene Arten des Weizens und drei Arten Gerste gab. Und was die Züchtung des wilden Weines aus der Rebe betrifft, eine Tat sondergleichen, als menschliche Leistung genommen, wie man auch sonst darüber denken möge, so schreibt die abgründig weit herhallende Überlieferung sie Noah, dem Gerechten, zu, dem Überlebenden der Flut, demselben, den die Babylonier Utnapischtim und dazu Atrachasis, den Hochgescheiten, nannten und der seinem späten Enkel, Gilgamesch, dem Helden jener Tafel-Mären, die anfänglichen Dinge berichtete. Dieser Gerechte also hatte, wie auch Joseph wußte, zuallererst Weinberge gepflanzt, – was Joseph nicht sehr gerecht fand. Denn konnte er nicht pflanzen, was von Nutzen wäre? Feigenbäume oder Ölbäume? Nein, sondern Wein stellte er erstmals her, ward trunken davon und in der Trunkenheit verhöhnt und verschnitten. Wenn aber Joseph meinte, das sei gar nicht so lange her, daß das Ungeheuere geschehen und die Edelrebe entwickelt worden, etwa ein Dutzend Geschlechter vor seinem »Urgroßvater«, so war das ein ganz träumerischer Irrtum und eine fromme Heranziehung unausdenklicher Urferne, – wobei nur mit blassem Staunen darauf hinzuweisen bleibt, daß diese Urferne ihrerseits schon so spät, in solchem Abstande von den Ursprüngen des Menschengeschlechtes gelegen war, daß sie eine Hochgescheitheit zeitigen konnte, die solcher Gesittungstat wie der Veredelung des wilden Weines fähig war.
Wo liegen die Anfangsgründe der menschlichen Gesittung? Wie alt ist diese? Wir fragen so in Hinsicht auf den fernen Joseph, dessen Entwicklungsstufe sich, abgesehen von kleinen träumerischen Ungenauigkeiten, über die wir freundschaftlich lächeln, von der unsrigen schon nicht mehr wesentlich unterschied. Diese Frage aber eben braucht nur gestellt zu werden, damit das Gebiet der Dünenkulissen sich äffend eröffne. Sprechen wir vom »Altertum«, so meinen wir meistens die griechisch-römische Lebenswelt und damit eine solche von vergleichsweise blitzblanker Neuzeitlichkeit. Zurückgehend auf die sogenannte griechische »Urbevölkerung«, die Pelasger, gewahren wir, daß, ehe sie die Inseln in Besitz nahmen, diese von der eigentlichen Urbevölkerung bewohnt waren, einem Menschenschlage, der den Phöniziern in der Beherrschung des Meeres voranging, somit diese in ihrer Eigenschaft als »erste Seeräuber« zu einer bloßen Kulisse macht. Damit nicht genug, neigt die Wissenschaft in zunehmendem Grade zu der Vermutung und Überzeugung, daß diese »Barbaren« Kolonisten von Atlantis waren, des versunkenen Erdteils jenseits der Säulen des Herkules, der vor Zeiten Europa und Amerika verband. Ob aber dieser die vom Menschen erstbesiedelte Gegend der Erde war, steht so sehr dahin, daß es sich der Unwahrscheinlichkeit nähert und vielmehr wahrscheinlich wird, daß die Frühgeschichte der Gesittung und auch diejenige Noahs, des Hochgescheiten, an weit ältere, schon viel früher dem Untergange verfallene Landgebiete anzuknüpfen ist.
Das sind nicht zu erwandernde Vorgebirge, auf welche nur mit jener ägyptischen Redensart unbestimmt hinzudeuten ist, und die Völker des Ostens handelten so klug wie fromm, wenn sie ihre erste Erziehung zum Kulturleben den Göttern zuschrieben. Die rötlichen Leute von Mizraim sahen in jenem Dulder Usiri den Wohltäter, der sie zuerst im Ackerbau unterrichtet und ihnen Gesetze gegeben hatte, worin er eben nur durch den tückischen Anschlag des Set unterbrochen worden war, der sich dann wie ein reißender Eber gegen ihn benahm. Und die Chinesen erblicken den Gründer ihres Reiches in einem kaiserlichen Halbgott namens Fu-hi, welcher das Rind bei ihnen eingeführt und sie die köstliche Schreibkunst gelehrt habe. Die Astronomie zu empfangen erachtete dieses Wesen sie damals, 2852 vor unserer Zeitrechnung, offenbar noch nicht für reif, denn ihren Annalen zufolge wurde sie ihnen erst ungefähr dreizehnhundert Jahre später durch den großen Fremdenkaiser Tai-Ko-Fokee vermittelt, während die Gestirnpriester von Sinear sich auf die Zeichen des Tierkreises bestimmt schon mehrere hundert Jahre früher verstanden und uns sogar berichtet wird, daß ein Mann, der Alexander, den Mazedonier, nach Babylon begleitete, dem Aristoteles astronomische Aufzeichnungen der Chaldäer übersandte, deren Angaben, in gebackenen Ton geritzt, heute 4160 Jahre alt wären. Das hat bequemste Möglichkeit; denn es ist wahrscheinlich, daß Himmelsbeobachtung und kalendarische Berechnungen schon im Lande Atlantis geübt wurden, dessen Untergang nach Solon neuntausend Jahre vor den Lebzeiten dieses Gelehrten datierte, und daß also gut elfeinhalbtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung der Mensch bereits zur Pflege dieser hohen Künste gediehen war.
Daß die Schreibkunst nicht jünger, sehr möglicher Weise aber viel älter ist, leuchtet ein. Wir reden davon, weil Joseph ihr so besonders lebhaft zugetan war und sich, im Gegensatz zu allen seinen Geschwistern und anfangs mit Eliezers Beihilfe, früh darin vervollkommnete, nämlich sowohl in babylonischer wie in phönizischer und chetitischer Schriftart. Er hegte geradezu eine Vorliebe und Schwäche für den Gott oder Abgott, den man im Osten Nabu, den Geschichtsschreiber, in Tyrus und Sidon aber Taut nannte und in dem man hier wie dort den Erfinder der Zeichen und den Chronisten der Uranfänge sah: den ägyptischen Thot von Schmun, den Briefschreiber der Götter und Schutzherrn der Wissenschaft, dessen Amt dort unten für höher geachtet wurde als alle Ämter, – diesen wahrhaften, mäßigen und sorgsamen Gott, der zuweilen ein Affe mit weißem Haare war, von lieblicher Gestalt, zuweilen auch ibisköpfig erschien und, wiederum ganz nach Josephs Sinn, sehr zarte und feierliche Beziehungen zum Mondgestirn unterhielt. Dem Jaakob, seinem Vater, durfte der junge Mann diese Neigung nicht einmal eingestehen, da dieser das Liebäugeln mit solchem Götzengezüchte unbeugsam verpönte und also sich wohl strenger erwies als gewisse höchste Stellen selbst, denen seine Strenge geweiht war; denn Josephs Geschichte lehrt, daß diese ihm solche kleinen Abschweifungen ins eigentlich Unerlaubte nicht ernstlich, oder wenigstens nicht auf die Dauer verübelten.
Die Schreibkunst angehend, so ließe sich, um ihre verschwimmende Herkunft anzudeuten, von ihr in leichter Abwandlung jener ägyptischen Wendung besser sagen, sie stamme aus den Tagen des Thot. Die Schriftrolle als Abbildung findet sich in den ältesten ägyptischen Denkmälern, und wir kennen den Papyrus, der Hor-Sendi, einem Könige der zweiten dortigen Dynastie, sechstausend Jahre vor uns, gehörte, damals aber bereits für so alt galt, daß man sagte, Sendi habe ihn von Set ererbt. Als Snofru und jener Chufu, Sonnensöhne des vierten Hauses, herrschten und die Pyramiden von Gizeh erbaut wurden, war die Kenntnis der Schrift im niederen Volke so gang und gäbe, daß man heute die einfältigen Inschriften studiert, mit denen Arbeitsleute die riesigen Baublöcke bekritzelt. Daß aber zu derart entlegener Zeit die Wissenschaft so gemein geworden, kann nicht wundernehmen, wenn man sich jener priesterlichen Relation über das Alter der geschriebenen Geschichte Ägyptens erinnert.
Sind nun die Tage der befestigten Zeichensprache so ungezählt, – in welchen mögen dann die Anfänge der Sprache des Mundes zu suchen sein? Die älteste Sprache, die Ursprache, sagt man, sei das Indogermanische, Indoeuropäische, das Sanskrit. Aber es ist so gut wie gewiß, daß das ein »Ur« ist, so vorschnell wie manches andere, und daß es eine wieder ältere Muttersprache gegeben hat, welche die Wurzeln der arischen sowohl wie auch der semitischen und chamitischen Mundarten in sich beschloß. Wahrscheinlich ist sie auf Atlantis gesprochen worden, dessen Silhouette die letzte im Fernendunst undeutlich noch sichtbare Vorgebirgskulisse der Vergangenheit bildet, das aber selbst wohl kaum die Ur-Heimat des sprechenden Menschen ist.
Gewisse Funde bestimmen die Experten der Erdgeschichte, das Alter der Menschenspezies auf fünfhunderttausend Jahre zu schätzen. Das ist knapp gerechnet, erstens in Anbetracht dessen, was die Wissenschaft heute für wahr lehrt: daß nämlich der Mensch in seiner Eigenschaft als Tier das älteste aller Säugetiere sei und schon in Zeiten späterer Lebensfrühe, vor aller Großhirnentfaltung, in verschiedenen zoologischen Modetrachten, amphibischen und reptilischen, auf Erden sein Wesen getrieben habe; zweitens aber wenn man erwägt, welche unabsehbaren Zeitstrecken erforderlich gewesen sein müssen, damit aus dem halbaufrechten, traumwandlerischen und von einer Art Vor-Vernunft durchzuckten Beuteltiertypus mit verwachsenen Fingern, welchen der Mensch vor dem Erscheinen Noah-Utnapischtims, des Hochgescheiten, verkörpert haben muß, der Erfinder von Pfeil und Bogen, der Nutznießer des Feuers, der Meteoreisenschmied, der Züchter des Korns, der Haustiere und des Weines wurde – mit einem Worte das altkluge, kunstfertige und in jeder entscheidenden Hinsicht moderne Wesen, als das der Mensch uns beim ersten Morgengrauen der Geschichte bereits entgegentritt. Ein Tempelweiser zu Sais erläuterte dem Solon die griechische Überlieferung vom Phaethon durch das menschliche Erlebnis einer Abweichung im Laufe der Körper, die sich um die Erde im Himmelsraume bewegen und die eine verheerende Feuersbrunst auf Erden hervorgerufen hätten. Und wirklich wird immer gewisser, daß des Menschen Traumerinnerung, formlos, aber immer aufs neue sagenhaft nachgeformt, hinaufreicht bis zu Katastrophen ungeheueren Alters, deren Überlieferung, gespeist durch spätere und kleinere Vorkommnisse ähnlicher Art, von verschiedenen Völkern bei sich zu Hause angesiedelt wurde und so jene Kulissenbildung bewirkte, die den Zeitenwanderer lockt und reizt.
Die Tafelverse, die man dem Joseph vorgesagt und die er sehr gut behalten hatte, kündeten unter anderm die Geschichte der großen Flut. Er würde von dieser Geschichte gewußt haben, auch wenn sie ihm nicht in babylonischer Sprache und Gestaltung zugekommen wäre; denn sie war lebendig in seinem Westlande überhaupt und unter den Seinen im besonderen, wenn auch in etwas anderer Form und mit anderen Einzelheiten, als man sie im Stromlande wahrhaben wollte. Gerade in seiner Jugendzeit war sie im Begriffe, sich bei ihm zu Hause in einer von der östlichen abweichenden Sondergestalt zu befestigen, und Joseph wußte wohl, wie es zugegangen war damals, als alles Fleisch, die Tiere nicht ausgenommen, seinen Weg in unbeschreiblicher Weise verderbt hatte, ja selbst die Erde Hurerei trieb und Schwindelhafer hervorbrachte, wenn man Weizen säte, – und dies alles trotz der Warnungen Noahs, so daß der Herr und Schöpfer, der sogar seine Engel in diese Greuel verwickelt sehen mußte, es schließlich, nach einer letzten Geduldsfrist von hundertzwanzig Jahren, nicht länger verantworten und ertragen konnte und zu seinem Schmerz das Schwemmgericht hatte walten lassen müssen. Und wie er in seiner gewaltigen Gutmütigkeit (welche die Engel keineswegs teilten) dem Leben ein Hintertürchen, um zu entwischen, gelassen hatte in Gestalt des verpichten Kastens, den Noah mit dem Getiere bestieg! Joseph wußte es auch, und er kannte den Tag, an dem die Geschöpfe den Kasten betreten: der zehnte des Monats Cheschwan war es gewesen, und am siebzehnten war die Flut ausgebrochen, zur Zeit der Frühjahrsschmelze, wenn der Siriusstern am Tage aufgeht und die Wasserbrunnen zu schwellen anfangen. An diesem Tage also, – Joseph hatte das Datum vom alten Eliezer. Wie oft aber war dieser Jahrestag seitdem wohl wiedergekehrt? Das bedachte er nicht, das bedachte auch der alte Eliezer nicht, und hier beginnen die Zusammenziehungen, Verwechselungen und Durchblickstäuschungen, welche die Überlieferung beherrschen.
Der Himmel weiß, wann jener ertränkende Übergriff des zu Unregelmäßigkeit und Gewaltsamkeit immer geneigten Euphratstromes oder auch jener Einbruch des Persischen Meerbusens unter Wirbelsturm und Erdbeben in das weite Land sich ereignet hatte, der die Flut-Überlieferung nicht etwa gestiftet, aber ihr zum letzten Male Nahrung zugeführt, sie mit entsetzlicher Wirklichkeitsanschauung belebt hatte und nachkommenden Geschlechtern nun als die Sintflut galt. Vielleicht war der jüngste Schreckenszwischenfall dieser Art wirklich nicht lange her, und je näher er lag, desto stärkeren Reiz gewinnt die Frage, ob und wie es dem Geschlechte, das ihn am eigenen Leibe erlebte, gelang, diese gegenwärtige Heimsuchung mit dem Gegenstande einer Überlieferung, mit der Sintflut zu verwechseln. Dies geschah, und daß es geschah, gibt keinerlei Anlaß zur Verwunderung und geistigen Geringschätzung. Das Erlebnis bestand weniger darin, daß etwas Vergangenes sich wiederholte, als darin, daß es gegenwärtig wurde. Daß es aber Gegenwart gewinnen konnte, beruhte darauf, daß die Umstände, die es herbeigeführt hatten, jederzeit gegenwärtig waren. Jederzeit waren die Wege des Fleisches verderbt oder konnten es bei aller Frömmigkeit sein; denn wissen auch die Menschen, ob sie es gut oder schlecht machen vor Gott und ob nicht, was ihnen gut scheint, den Himmlischen ein Greuel ist? Die blöden Menschen kennen Gott nicht und nicht den Ratschluß der Unterwelt; jederzeit kann die Nachsicht sich als erschöpft erweisen, das Gericht in Kraft treten, und an einem Warner hat es wohl auch nicht gefehlt, einem Wissenden und Hochgescheiten, welcher die Zeichen zu deuten wußte und durch kluge Vorkehrungen als einziger von Zehntausenden dem Verderben entrinnt, – nicht ohne zuvor die Tafeln des Wissens als Samen zukünftiger Weisheit der Erde anvertraut zu haben, damit, wenn die Wasser sich verlaufen, aus dieser Schriftsaat alles wieder beginnen könne. Jederzeit, das ist das Wort des Geheimnisses. Das Geheimnis hat keine Zeit; aber die Form der Zeitlosigkeit ist das Jetzt und Hier.
Die Sintflut spielte also am Euphrat, aber in China spielte sie auch. Um das Jahr 1300 vor unserer Zeitrechnung gab es dort eine fürchterliche Ausschreitung des Hoang-Ho, die übrigens zur Regulierung des Stromes Anlaß gab, und in der die große Flut wiederkehrte, welche ungefähr tausendundfünfzig Jahre früher, unter dem fünften Kaiser, stattgefunden hatte und deren Noah Yau hieß, die aber, zeitlich genommen, noch lange nicht die wahre, die erste Sintflut war, denn die Erinnerung an diesen Originalvorgang ist den Völkern gemeinsam. Genau wie die babylonische Fluterzählung, die Joseph kannte, nur eine Nachschrift älterer und immer älterer Originale war, ebenso ist das Fluterlebnis selbst auf immer entlegenere Urbilder zurückzuführen, und besonders gründlich glaubt man zu sein, wenn man als letztes und wahres Original das Versinken des Landes Atlantis in den Meeresfluten bezeichnet, wovon die grauenvolle Kunde in alle einst von dorther besiedelten Gegenden der Erde gedrungen sei und sich als wandelbare Überlieferung für immer im Gedächtnis der Menschen befestigt habe. Das ist jedoch nur ein Scheinhalt und vorläufiges Wegesziel. Eine chaldäische Berechnung ergibt, daß zwischen der Sintflut und der ersten geschichtlichen Dynastie des Zweistromlandes ein Zeitraum von 39 180 Jahren lag. Folglich kann der Atlantis-Untergang, nur neuntausend Jahre vor Solon gelegen und unter dem erdgeschichtlichen Gesichtswinkel betrachtet eine sehr junge Katastrophe, bei weitem nicht die Sintflut gewesen sein. Auch er war nur eine Wiederholung, das Gegenwärtigwerden von etwas tief Vergangenem, eine fürchterliche Gedächtnisauffrischung; und der Geschichte eigentlicher Ursprung ist mindestens bis zu dem unberechenbaren Zeitpunkt zurückzuverlegen, wo die »Lemuria« genannte Festlandinsel, die ihrerseits nur ein Überrest des alten Gondwanakontinentes war, in den Wogen des Indischen Ozeans verschwand.
Was uns beschäftigt, ist nicht die bezifferbare Zeit. Es ist vielmehr ihre Aufhebung im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und Prophezeiung, welche dem Worte »Einst« seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und damit seine Ladung potentieller Gegenwart verleiht. Hier hat die Idee der Wiederverkörperung ihre Wurzeln. Die Könige von Babel und beider Ägypten, jener bartlockige Kurigalzu sowohl wie der Horus im Palaste zu Theben, genannt Amun-ist-zufrieden, und alle ihre Vorgänger und Nachfolger waren Erscheinungen des Sonnengottes im Fleische – das heißt, der Mythus wurde in ihnen zum Mysterium, und zwischen Sein und Bedeuten fehlte es an jedem Unterscheidungsraum. Zeiten, in denen man darüber streiten konnte, ob die Oblate der Leib des Opfers »sei« oder ihn nur »bedeute«, sollten erst dreitausend Jahre später sich einstellen; aber auch diese höchst müßigen Erörterungen haben nichts daran zu ändern vermocht, daß das Wesen des Geheimnisses zeitlose Gegenwart ist und bleibt. Das ist der Sinn des Begängnisses, des Festes. Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren. Und wenn Joseph zu Sichem oder Beth-Lahama um die Mittsommerzeit beim »Fest der weinenden Frauen«, dem »Fest des Lampenbrennens«, dem Tammuzfest den Mordtod des »vermißten Sohnes«, des Jüngling-Gottes, Usir-Adonai’s, und seine Auferstehung unter viel Flötengeschluchz und Freudengeschrei in ausführlicher Gegenwart erlebte, dann waltete ebenjene Aufhebung der Zeit im Geheimnis, die uns angeht, weil sie alle logische Anstößigkeit entfernt von einem Denken, welches in jeder Heimsuchung durch Wassersnot einfach die Sintflut erkannte.
Der Geschichte der Flut zur Seite steht diejenige des Großen Turmes. Gemeingut gleich jener, besaß sie örtliche Gegenwart da und dort und bot ebensoviel Anlaß zur Kulissenbildung und träumerischen Vertauschung wie sie. Daß zum Beispiel Joseph den Sonnen-Tempelturm von Babel, genannt Esagila oder Haus der Haupterhebung, schlechthin für den Großen Turm selber hielt, ist ebenso gewiß wie entschuldbar. Schon der Wanderer aus Ur hatte ihn zweifellos dafür gehalten, und nicht nur in Josephs Lebenskreis, sondern vor allem im Lande Sinear selbst hielt man ihn unbedingt dafür. Allen Chaldäern bedeutete der uralte und ungeheuere, nach ihrer Meinung von Bel, dem Schöpfer, selbst mit Hilfe der erst geschaffenen Schwarzköpfigen erbaute, von Chammuragasch, dem Gesetzgeber, aufgefrischte und ergänzte sieben Stockwerk hohe Terrassenturm Esagila’s, von dessen bunt emaillierter Pracht Joseph eine Vorstellung hatte, das Anschaulichwerden und gegenwärtige Erlebnis eines urweither übermachten Inbegriffs: Des Turmes, des bis an den Himmel ragenden Bauwerks von Menschenhand. Daß in Josephs besonderer Welt die Turm-Märe sich mit weiteren und eigentlich unzugehörigen Vorstellungen, mit der Idee der »Zerstreuung« etwa, verband, ist allein aus des Mondmannes persönlichem Verhalten, seiner Ärgernisnahme und Auswanderung zu erklären; denn für die Leute von Sinear hatten die Migdals oder Burgtürme ihrer Städte durchaus nichts mit jenem Begriff zu schaffen, sondern im Gegenteil hatte Chammuragasch, der Gesetzgeber, ausdrücklich aufschreiben lassen, er habe ihre Spitzen hoch gemacht, um das zerfahren auseinanderstrebende Volk unter seiner, des Gesandten, Herrschaft »wieder zusammenzubringen«. Aber der Mondmann hatte daran im Sinne der Gottheit Ärgernis genommen und sich gegen Nimrods königliche Sammlungsabsichten zerstreut; dadurch gewann in Josephs Heimat das Vergangene, das in Gestalt Esagila’s gegenwärtig war, einen Einschlag des Zukünftigen und der Prophetie: Ein Gericht schwebte über dem himmelan getürmten Trotzmal von Nimrods Königsvermessenheit; kein Ziegel sollte davon auf dem anderen bleiben und seine Erbauer verwirrt und zerstreut werden vom Herrn der Götter. So lehrte der alte Eliezer es den Sohn Jaakobs und wahrte so den Doppelsinn des »Einst«, seine Mischung aus Mär und Verkündigung, deren Ergebnis das zeitlos Gegenwärtige, der Turm der Chaldäer war.
An ihn also heftete sich für Joseph die Kunde vom Großen Turm. Aber es ist ja klar, daß Esagila nur einer Dünenkulisse gleichkommt auf der unermeßlichen Wanderung nach diesem – eine wie andere mehr. Auch die Leute von Mizraim schauten den Turm als Gegenwart, in Gestalt von König Chufu’s erstaunlichem Wüstengrabmal. Und in Landen, von deren Existenz weder Joseph noch der alte Eliezer die blasseste Ahnung hatten, mitten in Amerika nämlich, hatten die Leute auch ihren »Turm« oder ihr Gleichnis des Turmes, die große Pyramide von Cholula, deren Ruinen Ausmaße zeigen, welche den Ärger und Neid König Chufu’s notwendig hätten erregen müssen. Die Leute von Cholula haben immer bestritten, dies Riesenwerk selbst errichtet zu haben. Sie erklärten es wirklich für Riesenwerk: Einwanderer aus dem Osten, versicherten sie, überlegenes Volk, das von trunkener Sehnsucht nach der Sonne erfüllt gewesen, hätten es mit Begeisterungskraft aus Ton und Erdharz aufgetürmt, um sich dem geliebten Gestirn zu nähern. Mehreres spricht für die Vermutung, daß die fortgeschrittenen Fremden atlantische Kolonisten gewesen sind, und es scheint, daß diese Sonnenverehrer und eingefleischten Astronomen überall, wohin sie kamen, nichts Eiligeres zu tun hatten, als vor den Augen der staunenden Ureinwohner mächtige Gestirnwarten zu errichten, nach dem Vorbilde heimischer Hochbauten und namentlich des ragenden Götterberges inmitten ihres Landes, von welchem Plato erzählt. In Atlantis also mag das Urbild des Großen Turmes zu suchen sein. Jedenfalls vermögen wir seine Geschichte nicht weiter zurückzuverfolgen und beenden hier unsere Studien über diesen seltsamen Gegenstand.
Wo aber lag das Paradies? Der »Garten im Osten«? Der Ort der Ruhe und des Glückes, die Heimat des Menschen, wo er vom schlimmen Baume gekostet und von wo er vertrieben worden war oder eigentlich sich selbst vertrieben und sich zerstreut hatte? Der junge Joseph wußte es so gut, wie er von der Flut wußte, und aus denselben Quellen. Er mußte etwas lächeln, wenn er syrische Wüstenbewohner dafürhalten hörte, die große Oase Damaskus sei das Paradies – denn Himmlischeres könne man nicht erträumen, als wie sie gebettet sei zwischen königlichem Gebirg und Wiesenseen in Obstwald und lieblich bewässerte Gärten, wimmelnd von allerlei Volk und voll üppigen Austausches. Auch zuckte er aus Höflichkeit zwar nicht mit den Achseln, tat es aber innerlich, wenn Männer von Mizraim erklärten, die Stätte des Gartens sei selbstverständlich Ägypten gewesen, denn dieses sei Mitte und Nabel der Welt. Das meinten die bartlockigen Männer von Sinear wohl auch, daß ihre Königsstadt, die sie »Pforte Gottes« und »Band Himmels und der Erde« nannten (der Knabe Joseph sprach es ihnen in ihrer weltläufigen Mundart nach: »Bab-ilu, markas šamê u irsitim«, sagte er gewandt) – daß also Babel der Welt heiliger Mittelpunkt sei. Aber Joseph hatte über diese Frage des Weltnabels nähere und wahrere Nachrichten, und zwar aus der Lebensgeschichte seines guten, sinnenden und feierlichen Vaters, welcher, ein junger Mann noch, auf der Reise von »Siebenbrunnen«, der Seinen Wohnsitz, gen Naharajim zum Oheim nach Charran ganz unverhofft und unwissend auf die wirkliche Pforte des Himmels, den wahren Weltnabel gestoßen war: auf die Hügelstätte Luz mit ihrem heiligen Steinkreise, die er dann Beth-el, Haus Gottes, geheißen hatte, weil ihm hier, dem vor Esau Flüchtigen, die schauerlich größte Offenbarung seines Lebens zuteil geworden. Hier oben, wo Jaakob das steinerne Kopfkissen aufgerichtet hatte als ein Mal und es mit Öl begossen, hier war fortan für Die um Joseph die Mitte der Welt und dieser Ort das Mutterband Himmels und der Erde; aber das Paradies hatte auch hier nicht gelegen, sondern in Gegenden des Anfangs und der Heimat, irgendwo dort, nach Josephs kindlicher Überzeugung, die übrigens eine viel angenommene Überzeugung war, von wo der Mann der Mondstadt einst ausgezogen, im unteren Sinear, dort, wo der Strom sich auflöste und das feuchte Land zwischen seinen Armen noch heute von Süßkost tragenden Bäumen strotzte.
Daß hier, im südlichen Babylonien irgendwo, Eden zu suchen und Adams Leib aus babylonischer Erde gemacht worden sei, ist lange die bevorzugte Lehre der theologischen Wissenschaft geblieben. Dennoch handelt es sich noch einmal um die uns schon vertraute Kulissenwirkung, um jenes System von Vorlagerungen, örtlichen Ansiedelungen und Zurückverweisungen, das wir mehrfach zu studieren Gelegenheit hatten, – nur daß es sich hier auf eine überbesondere, im wörtlichsten Sinn verlockende, über das Irdische hinaus lockende und hinüberschreitende Art darum handelt; nur daß der Brunnenschlund der Menschengeschichte hier seine ganze Tiefe erweist, die keine zu messende Tiefe ist, – eine Bodenlosigkeit vielmehr, auf welche endlich weder der Begriff der Tiefe noch derjenige der Finsternis mehr Anwendung findet, sondern im Gegenteil die Vorstellung der Höhe und des Lichtes: der lichten Höhe nämlich, aus welcher der Fall geschehen konnte, dessen Geschichte mit der Erinnerung unserer Seele an den Garten des Glückes untrennbar verbunden ist.
Die überlieferte Ortsbeschreibung des Paradieses ist in einer Hinsicht genau. Es sei, heißt es, von Eden ausgegangen ein Strom, zu tränken den Garten, und habe sich von da in vier Weltwasser geteilt: den Pison, Gihon, Euphrat und Hiddekel. Der Pison, so fügt die Auslegung hinzu, sei auch Ganges genannt; er fließe um das ganze Inderland und bringe mit sich das Gold. Der Gihon, das sei der Nilus, der größte Strom der Welt, der fließe um das Mohrenland. Doch Hiddekel, der pfeilschnelle Strom, sei der Tigris, der vor Assyrien fließt. Dies letztere ist unbestritten. Bestritten aber, und von ansehnlicher Seite, ist die Einerleiheit des Pison und Gihon mit Ganges und Nil. Gemeint seien vielmehr der Araxes, der ins Kaspische Meer, und der Halys, der in das Schwarze geht, wie denn die Stätte des Paradieses in Wahrheit zwar im babylonischen Gesichtskreise, aber nicht in Babylonien, sondern in dem armenischen Alpenlande nördlich der Mesopotamischen Ebene zu denken sei, wo jene Ströme nahe beieinander entspringen.
Nicht ohne vernünftigen Beifall vernimmt man die Lehre. Denn falls, wie ehrwürdigste Nachricht es will, der »Phrat« oder Euphrat im Paradiese entsprang, so ist die Annahme nicht haltbar, daß dieses in seinem Mündungsgebiet gelegen gewesen sei. Mit solcher Einsicht aber und indem man dem Lande Armenien die Palme reichte, wäre höchstens der Schritt zur nächstfolgenden Wahrheit getan; man hielte eben nur eine Kulisse und Verwechselung weiter.
Vier Seiten, so lehrte schon der alte Eliezer es den Joseph, hat Gott der Welt verliehen: Morgen, Abend, Mittag und Mitternacht, bewacht am Stuhle der Herrschaft selbst von vier heiligen Tieren und vier Engelswächtern, welche auf diese Grundbedingung ein unbewegliches Auge haben. Wendeten nicht auch die unterägyptischen Pyramiden ihre mit glänzendem Zement bedeckten Breitseiten genau nach den vier Weltrichtungen? So war die Anordnung der Paradiesesströme gedacht. Sie sind ihrem Laufe nach gleich Schlangen vorzustellen, deren Schwanzspitzen sich berühren und deren Mündungshäupter weit voneinander liegen, so daß sie denn nach den vier Himmelsrichtungen auseinanderstreben. Das nun ist eine offenkundige Übertragung. Es ist die nach Vorderasien verlegte Wiederholung einer Geographie, die uns von anderer, abhanden gekommener Stelle her wohlvertraut ist: von Atlantis nämlich, woselbst, nach Plato’s Mitteilung und Beschreibung, von dem inmitten der Insel aufragenden Götterberge dieselben vier Ströme auf dieselbe Art, das heißt kreuzweise, nach den vier Weltseiten ausgingen. Jeder gelehrte Streit über der »Heuptwasser« erdkundliche Bedeutung und über die Stätte des Gartens selbst hat das beschwichtigende Gepräge des Müßigen gewonnen durch eine Zurückführung, aus der erhellt, daß der da und dort angesiedelte Paradiesgedanke seine Anschaulichkeit aus der Erinnerung der Völker an ein entschwundenes Land bezog, wo eine weise fortgeschrittene Menschheit in ebenso milder wie heiliger Ordnung glückselige Zeiten verbracht hatte. Daß hier eine Vermengung der Überlieferung vom eigentlichen Paradiese mit der Sage eines Goldenen Zeitalters der Menschheit walte, ist nicht zu verkennen. Mit vielem Recht, wie es scheint, nimmt die Erinnerung an ein solches auf das hesperische Land bezug, wo, wenn nicht alle Nachrichten trügen, ein großes Volk unter Bedingungen von nicht wieder erreichter Gunst sein kluges und frommes Wesen getrieben hat. Der »Garten in Eden« aber, die Stätte der Heimat und des Falles, war es mitnichten; auf der zeitlich-räumlichen Wanderung nach dem Paradiese bildet es nur ein kulissenhaft scheinbares Wegesziel; denn den Urmenschen, den Adamiten, sucht die erdgeschichtliche Altertumskunde in Zeiten und Räumen, deren Untergang vor der Besiedelung von Atlantis liegt.