Jugend in Neukölln - Archiv der Jugendkulturen - E-Book

Jugend in Neukölln E-Book

Archiv der Jugendkulturen

4,9

Beschreibung

Nord-Neukölln - das berühmteste "Ghetto" Deutschlands. Hier liegt die Rütli-Schule, hier lassen sich Gangsta-Rapper anschießen, hier werden Polizisten ermordet und Drogen im Familienpark gehandelt. Neukölln bedeutet hohe Arbeitslosigkeit, Armut, Schulabbrecher- und Migrantenzahlen. In Neukölln sind aber auch eines der renommiertesten Bezirksmuseen Deutschlands, ein Dutzend bekannter SchriftstellerInnen, immer mehr Studierende, ModeschöpferInnen und andere junge Kreative beheimatet. Neukölln ist "hip". Wie stellt sich die ambivalente Realität Neuköllns aus der Perspektive dort lebender Jugendlicher dar? Die AutorInnen und FotografInnen haben ein Jahr lang mit jungen Menschen in Neukölln Gespräche geführt, sie in ihrem Alltag und zu außergewöhnlichen Ereignissen begleitet, ihren Stress, ihre Konflikte, Probleme, Erfolge und Freuden erlebt und dokumentiert. Neuköllner Jugendliche selbst haben in einer Literaturund Fotowerkstatt ihre Erfahrungen reflektiert und kreativ aufgearbeitet.

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Originalausgabe

© 2012 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Februar 2012

Herausgeber: Klaus Farin für das

Archiv der Jugendkulturen e. V.

Fidicinstraße 3, D – 10965 Berlin

Tel.: 030 / 694 29 34; Fax: 030 / 691 30 16

E-Mail: [email protected]

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)

Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)

Privatkunden und Mailorder: www.jugendkulturen.de

Lektorat: Klaus Farin / Frauke Lindloff in der Beek

Umschlaggestaltung und Layout: Conny Agel

unter Verwendung eines Fotos von Jörg Metzner

Druck: werbeproduktion bucher

ISBN (Buch): 978-3-940213-64-8

ISBN (E-Book): 978-3-940213-74-7

ISBN (PDF): 978-3-943612-38-7

Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen auch eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 80 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit ca. sechs Titeln jährlich. Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist daher immer an entsprechenden Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert. Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.

Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen unterstützen, Teil eines kreativen Netzwerkes werden und sich zugleich eine umfassende Bibliothek zum Thema Jugendkulturen aufbauen. Denn als Vereinsmitglied erhalten Sie für Ihren Beitrag zwei Bücher Ihrer Wahl aus unserer Jahresproduktion kostenlos zugesandt.

Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

INHALT

Vorwort// VON KLAUS FARIN

ZUR GESCHICHTE NEUKÖLLNS

Neukölln – ein historischer Abriss// VON SIMON KLIPPERT

Einmal wurde auch ein Auge ausgeschossen// VON HORST BOSETZKY

„Ick war oft ’n rauer Kerl“// KLAUS FELDMANN, AUFGEZEICHNET VON SOPHIE AIGNER

SPAZIERGÄNGE DURCH NEUKÖLLN

Bildungsreise durch Neukölln// VON EBERHARD SEIDEL

Mucke für den Kiez// VON FRITZ MARQUART

„Mein Neukölln“// FOTOGRAFIERT UND AUFGEZEICHNET VON SOPHIE AIGNER

„Das ist ja gar nicht wie im Film.“// VON NADINE HEYMANN

Sommernächte in Nordneukölln// VON ANJA TUCKERMANN

Der Streetworker// FOTOGRAFIERT UND AUFGEZEICHNET VON SOPHIE AIGNER

NEUKÖLLN HEUTE

Zwischen Ghetto 44 und Kreuzkölln// VON NICOLLE PFAFF

„Wir stör’n nur kurz“// VON RANYA ALLOUCH UND JENNIFER KURZAWA

TRÄUM SCHÖN WEITER

Batikan Gönül

Idir Allane

Jason Raasch

Jennifer Kurzawa

Lejna Hozic

Mehmet Yalçin

Meldin Muratovic

Meryem Kartal

Mohammed Chahrour

Nebi Sabanuç

Ömer Bahadır

Ranya Allouch

Willy Wang

ZWISCHEN ORIENT UND OKZIDENT. MIGRATIONSGESCHICHTEN

Potpourri der Kulturen und Wege der Integration in Neukölln// VON NICOLLE PFAFF

„Neukölln ist einfach meine Heimat“// VON NICOLLE PFAFF

Erfolgsgeschichten// VON SOPHIE AIGNER

„Man behauptet nur so, dass es ‚’n Ghetto is‘“// VON NICOLLE PFAFF

Tiefverschleiert und texttreu: Die Salafis// VON JULIA GERLACH

Anhang

VORWORT

VON KLAUS FARIN

Nord-Neukölln – das berühmteste „Ghetto“ Deutschlands. Hier liegt die Rütli-Schule, hier lassen sich Gangsta-Rapper anschießen, hier werden Polizisten ermordet und Drogen im Familienpark gehandelt. Schon 1912 per Umbenennung aus dem damaligen „Rixdorf“ entstanden – weil Rixdorf als Hochburg von Kriminalität und „schlechten Sitten“ ein nicht zu änderndes Negativimage besaß, hoffte man, mit einer Namensänderung auch das Image (und vielleicht sogar die Realität?) zu ändern, so wie clevere Marketingleute einhundert Jahre später dem ramponierten Schlecker-Konzern einen neuen Namen verpassen wollen – bleibt Neukölln diesem Ruf jedoch bis heute treu. Neukölln bedeutet hohe Arbeitslosigkeit, Armut, Schulabbrecher- und Kriminalitätszahlen. Jede/r fünfte NeuköllnerIn ist arbeitslos, darunter auch ca. 10 Prozent der Jugendlichen. Zusätzlich zu den arbeitslos gemeldeten Personen ist noch ca. ein Fünftel der erwachsenen NeuköllnerInnen und mehr als jede/r zweite unter 15-Jährige auf staatliche Sozialleistungen angewiesen, um den Lebensunterhalt wenigstens notdürftig zu sichern. In Nordneukölln leben nach einem Gutachten des Ende 2011 viel zu früh verstorbenen Stadtsoziologen Hartmut Häußermann „4,6 Prozent der Berliner Bevölkerung, aber 7,6 Prozent aller Arbeitslosen, 14,6 Prozent aller ausländischen Arbeitslosen, 7,1 Prozent aller Langzeitarbeitslosen und 9 Prozent aller nicht-erwerbslosen Hartz IV-Empfänger“. Zwangsprostitution, Drogenhandel, Schutzgelderpressung, illegale Wettbüros mit geregelten Öffnungszeiten und mehr als 100 Glücksspielhallen (allein 17 legale auf der Hermannstraße); 18-, 20-jährige Jungmachos, die noch keinen Tag in ihrem Leben gearbeitet haben und doch immer gut bei Kasse sind. Das alles findet man dicht gedrängt auf wenigen Quadratkilometern im Herzen (Nord-)Neuköllns zwischen Sonnenallee und Hermannstraße, und wer sich dort mit offenen Augen bewegt, kann es kaum übersehen. Die Bevölkerungsgruppe mit der höchsten Wegzugrate sind junge Familien mit Kindern kurz vor der Einschulung.

Die höchste wegzugrate haben junge Familien mit Kindern.

In eben diesen Straßen in Nordneukölln sind aber auch eines der renommiertesten Bezirksmuseen Deutschlands, das Volkstheater „Heimathafen“, die Neuköllner Oper, ein Dutzend bekannter SchriftstellerInnen, immer mehr StudentInnen, mehr als 50 (!) Mode-Labels und viele andere junge Kreative beheimatet. Zwischen illegalen Puffs und als „Kulturverein“ getarnten Alte-Männer-Treffs hat sich eine der lebendigsten subkulturellen Klub- und Galerieszenen Berlins gebildet; Provinz-Rapper ziehen nach Neukölln und Neuköllns heimischer HipHop-Nachwuchs behauptet längst nicht mehr wie so manche ihrer älteren Brüder noch vor zwei Jahrzehnten, sie stammten aus „Kreuzberg“, sondern tragen stolz ihre 44-T-Shirts. Mehr als 200 Vereine engagieren sich für und in Nordneukölln und kaum ein Berliner Bezirk investiert so viel in Integrationsprojekte; der „Rütli-Campus“ und „Rütli-Wear“ stehen beispielhaft für die Veränderungsmöglichkeiten und -prozesse, die (Nord-)Neuköllns Gesicht derzeit rasant verwandeln.

Neukölln ist längst „hip“. „Alle paar Tage eröffnet eine Bar, ein Atelier oder ein Kunstraum, wo bisher nur Matratzendiscounter, türkische Bäcker und Handy-Shops residierten. Im nördlichen Teil von Neukölln entsteht aufregende und mutige Kultur jenseits von Cocktail-Lounge und White-Cube-Gallery. Der Enthusiasmus, mit dem die Künstler und Musiker zwischen Wildenbruch-, Weser- und Boddinstraße zu Werke gehen, rufen ein berühmtes historisches Vorbild in Erinnerung. Was heute in Nord-Neukölln passiert, gab es ähnlich schon einmal: vor 30 Jahren in der New Yorker Lower East Side“, stellte das Berliner Stadtmagazin tip ein wenig überrascht im März 2010 fest, und sein Konkurrent Zitty widmete „Kreuzkölln“ eine ganze Titelgeschichte. Ein Dutzend Buchveröffentlichungen beschäftigt sich seitdem mit dem einstigen hässlichen Entlein, das möglicherweise gerade zum stolzen Schwan mutiert (u. a. Ulli Hannemann: „Neulich in Neukölln“ und „Neukölln, mon amour“; Ursula Rogg: „Nord Neukölln“; Güner Yasemin Balci: „Arabboy“ und „Arabqueen“; Fadi Saad: „Der große Bruder von Neukölln“, Johannes Groschupf: „Hinterhofhelden“, Murat Topal: „Endlich die Wahrheit“), darunter auch wissenschaftliche Arbeiten mit Titeln wie „Kreative Raumpioniere in Berlin Nord-Neukölln“, „Empowerment von Jugendlichen: Lokale Strategien der Engagementförderung in benachteiligten Stadtteilen am Beispiel Berlin-Neukölln“oder „Revitalisierungsprozesse als Wegbereiter für Gentrification?: Eine Untersuchung am Beispiel des Reuterquartiers in Berlin-Neukölln“. Neukölln, krass in allen Bedeutungen dieses Adjektivs, oszillierend zwischen arm und hip, Kult und Ghetto, hat einen festen Platz auf der Agenda von Politik und Medien.

„Plötzlich schämte ich mich, Neukölln mein Zuhause zu nennen.“

Wie stellt sich die ambivalente Realität und Medienpräsenz Neuköllns aus der Perspektive dort lebender Jugendlicher dar? Von den rund 310.000 Menschen, die derzeit im Bezirk Neukölln leben, sind immerhin ca. 62.000 Jugendliche unter 21 Jahren, die aus insgesamt 160 Nationen abstammen Die AutorInnen und FotografInnen dieses Ausstellungs- und Buchprojektes haben ein Jahr lang mit einigen dieser jungen Menschen in Neukölln Gespräche geführt, sie in ihrem Alltag und zu außergewöhnlichen Ereignissen begleitet, ihren Stress, ihre Konflikte, Probleme, Erfolge und Freuden erlebt und dokumentiert. Neuköllner Jugendliche selbst haben in eigenen Projekten ihre Erfahrungen reflektiert und kreativ aufgearbeitet.

Wie das Mädchen aus dem idyllischen Britz, das plötzlich auf eine Schule in Nordneukölln verschlagen wird:

„Ich sah Leute, die in Armut lebten, ich sah volle Straßen mit vielen Läden, ich sah Dreck, Schmutz, ich sah Elend, ich sah Drogendealer, kurzum: Ich sah eine andere Seite von Neukölln. Seitdem begann ich meinen Bezirk mit den Augen der Medien zu sehen. Plötzlich schämte ich mich, Neukölln mein Zuhause zu nennen, und wenn man mich fragte, wo ich denn wohne, antwortete ich immer nur: Britz. Ich fühlte mich schuldig.

Erst Jahre später begann ich für das ganze Thema offen zu sein. Wenn man mit offenen Augen durch die Welt geht, sieht man mehr als alle anderen zusammen. Also öffnete ich meine Augen und fing an, die Welt zu verstehen. Ich sehe nun ein Miteinander von unterschiedlichen Kulturen, die alle individuell aber trotzdem eine Einheit sind.“

Das ist auch das Ziel dieses Buches: Sie, den Leser und die Leserin, zu motivieren, genauer hinzusehen, Ihnen den Blick zu schärfen für eine vielfältige Realität, die in der üblichen Medienpräsentation oft zugunsten knalliger „Berichte“ jeglicher Widersprüche und Tiefenschärfen beraubt wird. Vorurteile bricht man am besten durch Begegnungen und reale Erfahrungen. So, wie es den beiden Vierzehnjährigen ergangen ist, die eine Stadtteilführung durch den Kiez am Richardplatz mit machten:

„Die haben total Angst gehabt. Und dann haben sie Freunde auf dem Handy angerufen und gefragt, wo sie gerade sind, und auch die Mutter hat zweimal angerufen und gefragt, ob es ihnen gut geht. Wir haben sie dann gefragt, warum sie so ein Problem haben, und sie meinten, dass sie den Film ‚Knallhart’ gesehen hätten und dachten, das würde wirklich so ablaufen in Neukölln. Am Ende meinten sie, das ist ja gar nicht wie im Film.“ – berichtet eine der engagierten Stadtteilführerinnen weiter hinten in diesem Buch. Ein Buch kann natürlich niemals wirkliche Begegnungen ersetzen. Aber es ist vielleicht ein erster Schritt. Es kann neugierig machen durch spannende Geschichten, aufregende Bilder, witzige Anekdoten und herzzerreißende Biografien. Ergänzend zu diesem Buch gibt es auch diverse Workshop- und Vortragsangebote für Schulen und andere (siehe www.culture-on-the-road.de und www.jugend-kulturen.de/projekte/zeitmaschine-bauen) sowie eine Ausstellung, die unter dem Titel „Träum schön weiter“ seit März 2012 durch Schulen, Jugendklubs, Akademien, Theater und andere Einrichtungen in ganz Deutschland (und ab 2013 auch in Österreich und der Schweiz) wandert. Bei Interesse an dieser Ausstellung oder auch, weil Sie uns Ihre Freude, Kritik oder sonstige Anmerkungen zu diesem Buch mitteilen möchten, mailden Sie sich einfach bei uns: neukö[email protected].

Und nun wünschen wir Ihnen viel Vergnügen und eine anregende Lektüre!

ZUR GESCHICHTE NEUKÖLLNS

Foto: Sophie Aigner

NEUKÖLLN – EIN HISTORISCHER ABRISS

VON SIMON KLIPPERT

Wie so vieles ist auch der Lauf der Geschichte in Neukölln ein ganz besonderer. Und besonders schwierig ist es deshalb auch, sie hier in wenigen Worten nachzuzeichnen. Denn Geschichte wird geschrieben von den Großen, den Mächtigen, den Gewinnern. Und nur selten über oder aus der Sicht von jungen Menschen, von Kinder und Jugendlichen. Wir wollen es versuchen.

Ich stehe mitten auf dem Richardplatz, hinter mir die alte Schmiede, stolz steht die sicherlich noch nicht ganz so alte Jahreszahl „1624“ auf ihr geschrieben. Die Schmiede ist das älteste noch erhaltene Gebäude hier am Platz und ein Stück lebendige Geschichte; noch immer wird in ihr geschmiedet. Durch einen schmalen, unauffälligen Pfad durchschreite ich das Tor, hinein in einen Innenhof, umringt von glatten, weißen Häuserrücken, und mittendrin zwei alte Scheunengebäude, dicke Steine pflastern den Boden. Und meine Gedanken schweifen ab: Das ist also das Herz des berüchtigtsten aller Berliner Bezirke, der bekannt ist für Hartz IV, Jugendkriminalität und Parallelgesellschaften? Was mag dieser Ort wohl für eine Geschichte haben?

Es ist ein Freitag im Juni, wir schreiben das Jahr 1360. Ein großer Tag in einer kleinen Siedlung: Die 50-Einwohner-Siedlung Richardsdorp, an der viel frequentierten Straße zwischen Cölln und Köpenick inmitten der märkischen Sumpfund Waldlandschaft gelegen, erlebt gerade den Moment, der 650 Jahre später als Geburtsstunde Neuköllns gefeiert werden sollte. Die Johanniter, nach Pest und Krieg auf Wachstum bedacht, besiegeln die Gründung des Dorfes durch eine Urkunde – heute der älteste Nachweis einer damals jungen Gemeinde. 14 Familien wohnen im Dorf, unter ihnen viele Kinder. Wie mag wohl der Alltag der vielen jungen Menschen ausgesehen haben? Sicherlich bestimmt durch Arbeit auf dem Hof, die Familie und den Einfluss des Ordens – denn neben den Abgaben an die Johanniter ist der Besuch der katholischen Messe den Bewohnern Pflicht. Da Richardsdorp noch keine eigene Kirche besitzt, muss eben jene in Tempelhof besucht werden. Die Familien leben von der Landwirtschaft, und dabei müssen natürlich auch Kinder und Jugendliche aufs Feld; wir befinden uns noch Jahrhunderte vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht.

Als Neukölln noch katholisch war …

Doch die Zeit schreitet voran, und mit ihr gerät das junge Richardsdorf in die Wirren sowohl der lokalen als auch der Weltgeschichte: Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten müssen die Johanniter ihre Besitztümer an die vereinigten Schwesterstädte Berlin und Cölln abtreten, ehe Richardsdorf dann 1534 in den alleinigen Besitz Cöllns übergeht. Trotz der abnehmenden Präsenz des Ordens bauen die (noch) überwiegend katholischen Dorfbewohner in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts eine eigene Kirche, die mit dem Einzug der Reformation 1539 und dem Übertritt des Kurfürsten zum Gotteshaus der neuen Lehre werden soll.

aus: Anna Faroqhi, Weltreiche erblühten und fielen – 650 Jahre Geschichte Neuköllns, J&D Dagyeli Verlag GmbH, 2010

Der große Brand von 1578 war nur der Vorbote eines noch größeren Unglücks, setzt er doch nur das Dorf unter Feuer, bevor der Dreißigjährige Krieg einige Jahrzehnte später halb Europa erfassen sollte. Richardsdorp – inzwischen zum kürzeren Rixdorf geworden – ist dabei den durchziehenden Kriegern schutzlos ausgeliefert. Und nicht nur die wüteten, der schwarze Tod tat sein Übriges, und so ist das Dorf – fast drei Jahrhunderte nach seiner feierlichen Gründung – wieder da, wo es angefangen hatte: Als 1648 der Westfälische Frieden geschlossen wird, zählt es wieder nicht mehr als 50 Bewohner.

Das heutige Neukölln ist also zu Zeiten, in denen andere europäische Städte blühenden Handel treiben, die Künste und Philosophie sich in die Aufklärung aufmachen, immer noch ein verlorenes Kaff an einer viel befahrenen Hauptstraße, durch Krieg zerstört, durch Lehnswesen entmündigt. Dass eine Jugend in Rixdorf unter diesen Vorzeichen – Krankheit, Krieg und harte Arbeit – sicherlich mühsam war, lässt sich heute nur noch erahnen.

Nach den schrecklichen Zeiten des langen Krieges wenden sich die Sorgen der Rixdorfer nun wieder alltäglicheren Dingen zu. In Chroniken und Kirchenbüchern jener Zeit lesen wir Fragen wie: Sollen wir einen Gänsehirten für die Gemeinde einstellen? Und: Muss der Zaun des Kirchgrundstückes wirklich repariert werden? Zeichen für eine Normalisierung allemal. Zudem entstand am heutigen Hermannplatz, schon damals wichtigste Kreuzung der näheren Umgebung, auch Rixdorfs erste Gastwirtschaft „Behrendts Rollkrug“. Hier können Durchreisende die letzte Stärkung mit Gerstensaft aus einer der zahlreichen Rixdorfer Brauereien zu sich nehmen. Seit jener Zeit, der Mitte des 17. Jahrhunderts, steht auch die Alte Schmiede auf dem Richardplatz. Und die Erwähnung der ersten Rixdorfer Schule fällt ebenfalls in diese Epoche relativer Stabilität; allerdings ist es keine gerade erfreuliche Nachricht, die uns dieses überliefert: Der Name des Lehrers ist uns heute nicht mehr bekannt, der Beste seiner Zunft kann er jedoch nicht gewesen sein, denn die Rixdorfer jagten ihn ohne Weiteres aus dem Dorf.

… und der Lehrer aus dem Dorf gejagt wurde.

aus: Anna Faroqhi, Weltreiche erblühten und fielen – 650 Jahre Geschichte Neuköllns, J&D Dagyeli Verlag GmbH, 2010

In der medialen Diskussion ist Neukölln heutzutage für die Themen Armut, Migration und all die Probleme dazwischen berühmt und berüchtigt, in der historischen Perspektive markiert bereits das Jahr 1737 den Anfang der Migrationsgeschichte nach Rixdorf.

Über 250 Jahre vor der aktuellen Integrationsdabatte kommen die ersten Migranten nach Rixdorf. Eine Gruppe von gut 500 Protestanten hatte sich auf den Weg gemacht, ihre Heimat Böhmen zu verlassen, da sie ihren Glauben dort nicht mehr ausüben durften. Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. gewährt ihnen Einlass und weist an, in Rixdorf Unterkünfte für sie erbauen zu lassen – 1737 wurde so „Böhmisch-Rixdorf“ gegründet.

Die Immigranten leben auf engstem Raum, viele weben und spinnen oder sind als Bauern tätig. Für die Kinder wird eine eigene Schule eingerichtet, mit inspiriert durch die Ideen des Universalgelehrten Johann Amos Comenius‘, dessen Ideen man auch heute noch in Rixdorf begegnen kann – der Comenius-Garten an der Richardstraße ist nach diesen gestaltet worden.

Das Zusammenleben verschiedener Menschen erwies sich auch damals als nicht nur einfach: Zwiste zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen führen zur Gründung dreier verschiedener Gemeinden innerhalb Böhmisch-Rixdorfs, die Beziehungen zu den Bewohnern von Deutsch-Rixdorf waren wohl nicht weniger spannungsvoll. Eine Heirat über die – auch sprachlichen – Grenzen hinweg schien bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aussichtslos, wenn man nicht verstoßen werden wollte.

Einige Traditionen und Spuren des böhmischen Lebens haben sich übrigens bis heute erhalten: Der böhmische Gottesacker am Karl-Marx-Platz zeugt mit seinen Grabsteinen in tschechischer Sprache von den Vorfahren der Menschen, von denen auch heute noch einige Häuser in Böh-misch-Rixdorf bewohnt werden; bis heute leben Geistliche der Herrnhuter Brüdergemeinde in Neukölln, die aus den Glaubenszwisten hervorgegangenen Kirchenhäuser stehen weiterhin; prominent mitten im Dorf in der Kirchgasse steht das 1912 eingeweihte Denkmal für eben jenen Preußenkönig, der mit seiner Geste den Anfangspunkt der Migrationsbewegung nach Neukölln markierte. Besonders erwähnenswert: Seit dem Jahre 2008 wird mit dem historisierenden (aber keinesfalls historisch fundierten) Popráci, dem Strohballenrollen auf dem Richardplatz, sogar an böhmische Traditionen angeknüpft, die gar keine sind – was aber ebenfalls als hohes Geschichtsbewusstsein interpretiert werden kann.

Aber zurück zum Lauf der Geschichte: War Rixdorf bis zur Jahrhundertwende nur ein kleines Dorf im Dunstkreis der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin geblieben, kündigten sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts große Umwälzungen an: Innerhalb von wenigen Jahren sollte sich – bedingt durch die einsetzende Industrialisierung und den damit verbundenen Zuzug in die baldige Reichshauptstadt Berlin – das Stadtbild und die Bevölkerungszahl rasant vergrößern. Ein Blick auf die Einwohnerzahl im Laufe des 19. Jahrhunderts zeigt dies eindrucksvoll: 1806 leben knapp 700, 1867 schon fast 7.000 und 1895 bereits 90.000 Menschen im dann „größten Dorf der Monarchie“.

Mit dem enormen Zuzug in die Stadt vor den Toren Berlins kommen viele Menschen in der Hoffnung auf Arbeit; die Kinder müssen wie immer mit anpacken, denn es heißt, auf engstem Raum und nur von der Hoffnung auf zukünftigen Wohlstand zu überleben.

In der Hasenheide geht zeitgleich eine ganz andere Entwicklung vonstatten: Einige Brauereien verlegen ihre Verkaufsstellen auf den ehemaligen Exerzierplatz im neu entstandenden Volkspark. Attraktionen und Vergnügungsstätten aller Art, Sommertheater, Schießbuden und Pferdewetten lassen sich nieder und die Massen freut es: Sie strömen aus Berlin „raus ins Jrüne“, Familien und Vereine verbringen ihre freie Zeit mit Picknick, Tanz und allerlei Privatvergnügen zwischen Wahrsagern und Schönheitsköniginnen. Eine der skurrilsten unter ihnen war wohl Bamba Hongorillo, der „König der Wüste“, der seinen „heimatlichen“ Schlachtruf brüllt und dabei vor den Augen der Menge lebende Kaninchen zerreißt, um deren Blut zu trinken.

Kinder spielen auch hier eine Rolle: Die einen vergnügten sich mit ihren Familien, die anderen nutzen das geschäftige Treiben zum Verkaufen von Kornblumen. Nachts war der Park dann voll von „Gesindel“ und so genannten „Strauchrittern“, und wenn man heute ganz genau hinhört, könnte man zeitweilig meinen, dass die Büsche in der Hasenheide immer noch sprechen können.

Mit der Eröffnung der „Neuen Welt“ konnte der bunte Trubel auch im Winter fortgeführt werden: Die Allzweckvergnügungshalle am Rande des Hermannplatzes bot bis zu 6.000 Gästen gleichzeitig Platz, zunächst für Boxkämpfe und Bockbierfeste, später nutzten Erwin Piscators proletarisches Theater und in den 1930er Jahren dann die Nationalsozialisten sie als Spielstätte für ihre Parteitage und Propagandaveranstaltungen.

Am plakativsten für die Entwicklung Rixdorfs zur Vergnügungsmeile vor den Toren Berlins ist die Geschichte eines Liedes, des „Rixdorfers“. Diese Polka, bis heute viel interpretiert, bringt es in den 1880er Jahren zu großem Ruhm. Gespielt wird sie vom Komiker Littke-Carsten als Einlage in zahlreichen Revues und auf Volksfesten, wobei er tanzend mit einer überlebensgroßen Puppe, der im Lied zitierten Rieke, auf der Bühne steht:

Auf den Sonntag freu’ ick mir, ja,

dann geht es raus zu ihr,

feste mit vergnügtem Sinn,

Pferdebus nach Rixdorf hin.

Dort erwartet Rieke mir, ohne Rieke kein Plaisir,

Rieke, Rieke, Riekake, die ist mir nicht pipape! –

Geh mit ihr ins Tanzlokal, Rieke,

Riekchen woll’n mir mal

Kost’n Groschen nur, für die ganze Tour.

Rieke lacht und sagt, na ja! Dazu

sind wir auch noch da,

und nu geht er mit avec, immer feste weg!

Das populäre Tanzlied erfreute viele Menschen, galt andererseits allerdings auch als grob und ordinär und bereitete somit den Stadtvätern und in der Industrie reich gewordenen gutsituierten Rixdorfern große Sorge. So heißt es:

„Der Rixdorfer, der bekannte Tanzgalopp, erschien auf der Bildfläche – alle Welt lachte, und natürlich in erster Linie Berlin. Wie allein dieser eine wüste Gassenhauer mit seiner kreischenden Klarinettenstimme unserem Orte geschadet hat, ist kaum zu beschrieben. […] Sein […] Verbreiter […] kann den traurigen Ruhm für sich in Anspruch nehmen, das Kuplet zum Schaden Rixdorfs in weitesten Kreisen Berlins und der Mitwellt ‚populär‘ gemacht zu haben.“1

Das Ende vom Lied: 1912 erfolgte die Umbenennung Rixdorfs in Neukölln, jedoch nur für einige wenige Jahre: Mit der Eingemeindung des ehemals größten Dorfes des Reiches in das neu formierte Groß-Berlin fand die kurze Selbständigkeit der Stadt Neukölln bereits acht Jahre später ihr jähes Ende. (Aufgrund der gehäuften örtlichen Verankerung des Begriffs „Problembezirk“ gab es in den 1990ern erneut eine Diskussion um die Umbenennung des Bezirkes – der Vorschlag diesmal: Rixdorf.)

Es folgt ein weiterer Krieg, 6.600 Neuköllner fallen an der Front, und als 1918 die Weimarer Republik ausgerufen wird, folgt eine Epoche, die besonders für die Neuköllner Schülerinnen und Schüler große Umbrüche mit sich bringen sollte: Der Arbeiterbezirk wird zum Modellprojekt für eine ganz neue Bildungspolitik, neue Pädagogik erhält Einzug in die Gemäuer vieler Neuköllner Schulgebäude. Führende Reformpädagogen wie Fritz Karsen und Schulreformer wie Kurt Löwenstein setzen mit ihren Lebensgemeinschaftsschulen in einem revolutionären eingliedrigen Schulsystem neue Akzente, die sich deutlich vom autoritären Lehr- und Erziehungsstil der Kaiserzeit abgrenzen.

Überhaupt war die Zeit der Weimarer Republik für Neukölln eine Epoche voller Neugier: Etliche Theatergründungen, innovative Architekturprojekte, das wilde Leben in der Hasenheide und eine Politisierung durch Gewerkschaften und Parteien im neben dem Wedding zweiten roten Bezirks Berlins. Das U-Bahnnetz schließt den Bezirk an den Rest der aufstrebenden Metropole an, der Bahnhof Hermannplatz mit seinen hohen Decken, seinem direkten Zugang zum Warenhaus Karstadt avanciert genau wie dieses zu einem Anziehungspunkt, der seinesgleichen suchte.

Aber das ist nur die eine Seite: Harte Arbeit war vonnöten, dass Kinder in Fabriken und bei handwerklichen Tätigkeiten mit anpackten an der Tagesordnung. Die Inflation traf besonders die Arbeiterkinder Neuköllns hart, die versuchten, sich und ihre Familien mit Betteln und allerlei Hilfsarbeiten über Wasser zu halten. Staatliche Hilfen wie Milchausgabe und Versorgung mit Kleidern konnten die Not nur minimal lindern.

In der Zeit des Nationalsozialismus wird Neukölln deshalb eine Hochburg des Widerstandes, bei den Bezirksverordnetenwahlen erreichen Kommunisten und Sozialdemokraten eine Zweidrittelmehrheit gegen die Nazis. Viele Kinder und Jugendliche werden trotzdem in den Nachwuchsorganisationen des Nazi-Staates erzogen.

Der zweite Weltkrieg trifft Neukölln wieder einmal hart. 9 Prozent der Gebäude werden durch Luftangriffe zerstört und weitere 12 Prozent schwer beschädigt. Und die Nazis tragen ihren Teil dazu bei: In den letzten Kriegstagen sprengen sie Karstadt am Hermannplatz, um es nicht den Sowjets zu überlassen. Viele Neuköllner SchülerInnen sind zur Zeit des Krieges mit der Kinder-landverschickung Richtung Osten gebracht worden und kehren nun aus gleicher Richtung wie die Sowjets in eine Trümmerlandschaft zurück. Der Wiederaufbau beginnt.

Sprung ins Jahr 1961: Die Mauer trennte nicht nur Deutschland, sie legte ihre Schatten auch auf Neukölln, geografisch östlicher als das Brandenburger Tor und dennoch unter amerikanischer Verwaltung. Die Sonnenallee wurde systemgerecht getrennt, und die Realität mit ihren Schrecken und Schikanen war wohl weniger amüsant als Leander Haussmanns Film dazu. Der alte Arbeiterbezirk bekommt durch enormen Zuzug ein neues Gesicht, denn Platz ist da in den leerstehenden Gründerzeitbauten, die schon lange nicht mehr Avantgarde sind, sondern mit ihren Kohleöfen und Außentoiletten im Gegensatz zu den modernen Hochbauten eher alt aussehen. Der politischen Entscheidung, dass zunächst die so genannten Gastarbeiter und später auch zahlreiche Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Libanon hier angesiedelt wurden und damit direkt an die innerdeutsche Grenze und ins Fadenkreuz des Kalten Krieges gerieten, mögen nur böse Zungen Absicht unterstellen.

1975 heißt es Zuzugsstopp für Kreuzberg, und Neukölln wird der große Anlaufpunkt für all die Gastarbeiter, angeworben von der deutschen Industrie als notwendiger Ersatz für die Ostberliner, die nun nicht mehr als Arbeitskräfte in West-Berlin zur Verfügung stehen. Sie, ihre Familien und viele andere Zugezogene machen Neukölln zu einem Bezirk mit heute über 165 Nationalitäten.

Und nun steht Neukölln da, stolze 650 Jahre auf dem Buckel, und doch irgendwie noch ziemlich jung. Irgendwie frisch und immer bodenständig, immer Anziehungspunkt für die, die von woanders kamen und von dort immer viel Neues, doch niemals großen Reichtum mitbrachten. Ein Potpourri von großen Herausforderungen und vielen Chancen. Und die liegen vor allem in den Händen derjenigen, die weiter an der Geschichte Neuköllns schreiben werden.

1 Dorothea Kolland (Hg.): Rixdorfer Musen, Neinsager und Caprifischer. Berlin 1990. S. 68f

EINMAL WURDE AUCH EIN AUGE AUSGESCHOSSEN

VON HORST BOSETZKY

8. Klasse, Albert-Schweitzer-Schule, 1951; Horst Bosetzky, 13 Jahre, 3. von rechts

Aufgewachsen bin ich in der Ossastraße, durchaus nicht unglücklich darüber, und habe von 1946 bis 1951 die 31. Grundschule in der Rütlistraße besucht – damals noch eine reine Jungs-Schule: Koedukation gab es noch nicht.

Die sozialen Verhältnisse waren nicht so, dass wir Kinder lieb und artig daherkamen. Oft war der Vater im Krieg gefallen oder saß noch in Gefangenschaft und die Mütter mussten arbeiten gehen. Viele von uns waren Schlüsselkinder und die Sozialisation erfolgte durch Gleichaltrige. Alle waren wir irgendwie traumatisiert, hatten in einstürzenden Luftschutzkellern gesessen, waren evakuiert gewesen und in den Dörfern von der einheimischen Jugend malträtiert worden, hatten miterlebt, wie nach Bombenangriffen die Brände gelöscht und die Toten abtransportiert wurden, wie unsere Mütter in unserem Beisein vergewaltigt worden waren, wie unsere Wohnhäuser in Schutt und Asche lagen und unsere Großväter ganz einfach verhungerten. Da waren viele zum Wolf unter Wölfen geworden, und die Straßen wurden von jugendlichen Warlords beherrscht. Die hatten ihre Ausbildung zum Teil in der HJ genossen und waren in Nazihaushalten aufgewachsen, wo der deutsche Junge zäh wie Sohlenleder und hart wie Kruppstahl sein musste. Weh dem Knaben in der Nähe der Rütli-Schule, der da zart besaitet war. Die Zeiten waren, um es soziologisch zu sagen, ganz schön anomisch.

Jede Woche gab es Straßenschlachten, zum Beispiel Ossa- gegen Tell-Clique. Karl May mit seinen Kämpfen zwischen Apatschen, Kiowas, Sioux und Kommantschen wirkte sehr anregend. Tribalismus war angesagt, man verabredete sich zum Kampf und schlug mit Fäusten, Gürteln und Knüppeln aufeinander ein. Andere Waffen waren Katapulte, Blasrohre und Bolas. Für ein Katapult brauchte man einen starken Gummi, aus der Unterhose vielleicht, am besten aber vom Einweckglas, und eine Gabel, die man sich aus einem abgebrochenen Ast oder aus Teilen seines Stabilbaukastens bastelte. Waren diese Hilfsmittel nicht zur Hand, mussten Daumen und Zeigefinger reichen. Verschossen wurden vorwiegend Krampen aus Papier, aber auch Steine und krumme Nägel. Mein Freund Gert aus der Weserstraße, heute Professor in München, erzählte mir am Telefon, dass dabei einem Jungen aus der Nachbarschaft ein Auge „ausgeschossen“ worden ist. Blasrohre wurden hergestellt, indem man gerade gewachsene Holunderäste mit einer Stricknadel aushöhlte, und Bolas, südamerikanische Schleuderwaffen, entstanden, indem wir kleine Säckchen mit nassem Sand füllten und an Stricke banden. Wer am Kopf getroffen wurde, hatte ein wunderschönes blaues Auge. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, hieß es aber, und wer die meisten Blessuren aufweisen konnte, war der größte Held.

Mit Schlagring in die Schule …

Ging man durch andere Straßen, befand man sich in Feindesland. Ich hatte beispielsweise eine wahnsinnige Angst, die Weserstraße zwischen Pannier- und Rütlistraße entlangzugehen, weil da im Hausflur immer ein großer Junge lauerte, der sich auf andere stürzte und sie grundlos verprügelte. Abgenommen wurden einem Bälle, die damals absolute Wertgegenstände waren, Rennautos, mit denen wir auf den Bordsteinen spielten, und geklautes Buntmetall. Traf man zu Hause ein und erzählte, dass man überfallen worden war, bekam man womöglich noch ein paar hinter die Ohren. „Dafür, dass du dich nicht gewehrt hast!“

… und Rasierklingen für die Lehrersitze.

In der Schule gab es zwei Welten. Die eine hatte in den Unterrichtsstunden Vorrang, die andere in den Pausen. In der einen galten die Werte der Lehrer, und die leistungsstarken Schüler genossen die größte Achtung, in der anderen die der Schläger, meist ein bis zwei Jahre älter, damals Rowdys, Rabauken oder Früchtchen genannt. Wer sie anhimmelte und ihnen kleine Geschenke mitbrachte, konnte ungestört leben und in ihrem Schutz prächtig gedeihen, wen sie aber auf dem Kieker hatten, der erlebte knallhartes Mobbing und wurde permanent bedroht und verprügelt. Besonders schwer hatten es die Streber, also die, die alles wussten und beim Melden mit dem Finger schnipsten und immer nur Einsen schrieben.