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Ein altes Manuskript führt den Geologieprofessor Otto Lidenbrock auf die Spur eines verborgenen Pfades in das Erdinnere – bis zum Mittelpunkt der Erde. Neugier und Wissenschaftsdrang treiben ihn an, das Unerforschte zu betreten. Begleitet von seinem skeptischen Neffen Axel und dem schweigsamen Führer Hans Belker begibt sich Lidenbrock auf eine abenteuerliche Expedition. Unter der Erde erwartet sie eine Welt voller Überraschungen und Gefahren: gewaltige Höhlensysteme, glühende Magmaströme und Lebewesen, die längst als ausgestorben galten. Inmitten dieser urzeitlichen Landschaft lauern Hindernisse, die ihr Durchhaltevermögen und ihre Geschicklichkeit auf die Probe stellen. Die Gruppe kämpft sich durch labyrinthische Gänge, begegnet rätselhaften Kreaturen und entdeckt beeindruckende, unterirdische Ozeane. Jules Verne schildert detailreich die unheimliche Schönheit der unterirdischen Welt, während die Forscher sich immer weiter in eine unwirtliche, fremde Umgebung vorwagen.
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Seitenzahl: 314
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Jules Verne
Die Reise zum Mittelpunkt der Erde
Copyright © 2024 Novelaris Verlag
ISBN: 978-3-68931-095-0
Erstes Kapitel: Professor Lidenbrock
Zweites Kapitel: Ein altes Dokument
Drittes Kapitel: Das Pergament des Arne Saknussemm
Viertes Kapitel: Die Entzifferung des Geheimnisses
Fünftes Kapitel: Der Schlüssel des Dokuments
Sechstes Kapitel: Das Zentrum der Erde
Siebentes Kapitel: Reisevorbereitungen
Achtes Kapitel: Reise nach Island
Neuntes Kapitel: Ankunft auf Island
Zehntes Kapitel: Professor Fridrickson
Elftes Kapitel: Hans Bjelke
Zwölftes Kapitel: Nach Snäfieldsnäß
Dreizehntes Kapitel: Eine Bauernherberge
Vierzehntes Kapitel: Im Pfarrhaus
Fünfzehntes Kapitel: Auf dem Vulkan
Sechzehntes Kapitel: In dem Krater
Siebenzehntes Kapitel: In den Schlund hinab
Achtzehntes Kapitel: Durch die Lavagalerie
Neunzehntes Kapitel: Auf dem Irrweg
Zwanzigstes Kapitel: Verlegenheiten
Einundzwanzigstes Kapitel: Wassermangel
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Not
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Der Hansbach
Vierundzwanzigstes Kapitel: Weiter hinab
Fünfundzwanzigstes Kapitel: Rasttag
Sechsundzwanzigstes Kapitel: Verirrt
Siebenundzwanzigstes Kapitel: Im dunklen Labyrinth
Achtundzwanzigstes Kapitel Ein Spiel der Akustik
Neunundzwanzigstes Kapitel: Rettung
Dreißigstes Kapitel: Das Meer Lidenbrock
Einunddreißigstes Kapitel: Auf dem Schiff
Zweiunddreißigstes Kapitel: Eine Wasserpartie
Dreiunddreißigstes Kapitel: Ein Riesenkampf
Vierunddreißigstes Kapitel: Ein Geysir
Fünfunddreißigstes Kapitel: Ein Gewitter
Sechsunddreißigstes Kapitel: Verschlagen
Siebenunddreißigstes Kapitel: Ein Gebeinfeld
Achtunddreißigstes Kapitel: Ein fossiler Mensch
Neununddreißigstes Kapitel: Ein Proteus der Urwelt
Vierzigstes Kapitel: Kap Saknussemm
Einundvierzigstes Kapitel: Eine Explosion
Zweiundvierzigstes Kapitel: Bergfahrt im Tunnel
Dreiundvierzigstes Kapitel: Ausgeworfen aus dem Krater
Vierundvierzigstes Kapitel: Stromboli
Fünfundvierzigstes Kapitel: Schluss
Cover
Table of Contents
Text
Am 24. Mai 1863, einem Sonntag, kam mein Onkel, der Professor Lidenbrock, in großer Eile heim in sein kleines Haus, Königsstraße 19, eine der ältesten Straßen des alten Stadtviertels in Hamburg.
Die gute Martha musste glauben, sehr mit dem Mittagessen in Rückstand zu sein, denn es fing eben erst an auf dem Herd zu kochen.
„Schön, sagte ich, aber wenn mein Onkel Hunger hat, wird der ungeduldige Mann Zeter schreien.
– Da ist ja schon Herr Lidenbrock! rief die gute Martha in Bestürzung, indem sie die Tür des Speisezimmers ein wenig öffnete.
– Ja, Martha, aber das Essen darf schon noch etwas kochen, denn es hat eben erst auf der Michaeliskirche halb zwei geschlagen.
– Warum kommt aber Herr Lidenbrock schon heim?
– Er wird’s uns vermutlich sagen.
– Da ist er! Ich flüchte mich, Herr Axel, Sie werden ihn zur Einsicht bringen.“
Und die gute Martha eilte wieder in ihre Küche.
Ich blieb allein. Aber einen zornigen Professor zur Einsicht zu bringen, war doch für meinen etwas schwankenden Charakter nicht möglich. Daher war ich im Begriff mich klüglich wieder in mein Zimmerchen hinauf zu begeben, als die Angeln der Haustüre knarrten; des Hausherrn lange Beine schritten geräuschvoll über die hölzerne Treppe quer durch das Speisezimmer hastig in sein Arbeitszimmer.
Im Vorbeirennen warf er seinen Stock mit einem Nußknackerknopf in eine Ecke, seinen wider den Strich gebürsteten Hut auf einen Tisch, und rief laut seinem Neffen zu:
„Axel, komm’ mir nach!“.
Ich hatte noch nicht Zeit, vom Fleck zu kommen, als der Professor mit lebhafter Ungeduld mir zurief:
„Nun! noch nicht hier?“
Ich eilte ins Zimmer meines fürchterlichen Onkels. Otto Lidenbrock war kein bösartiger Mensch, ich gebe es gerne zu; aber wofern er nicht, was sehr unwahrscheinlich ist, sich ändert, so wird er als ein schrecklicher Sonderling sterben.
Er war Professor am Johanneum, und hielt Vorträge über Mineralogie, wobei er regelmäßig ein- oder auch zweimal in Zorn geriet. Es kam ihm durchaus nicht darauf an, dass seine Schüler fleißig die Lektionen besuchten, noch dass sie aufmerksam zuhörten, noch dass sie Fortschritte machten: diese Kleinigkeiten machten ihm wenig Sorge. Sein Vortrag war, wie die deutsche Philosophie sich ausdrückt, „subjektiv“ für ihn, und nicht für andere. Er war ein egoistischer Gelehrter, ein Wissensbrunnen, dessen Rolle knarrte, wenn man etwas herausziehen wollte: mit einem Wort, ein Geizhals.
Es gibt in Deutschland manche Professoren der Art. Mein Onkel hatte leider keine leichte Aussprache, wenigstens wann er öffentlich sprach, ein bedauerlicher Mangel bei einem Redner. Bei seinen Vorträgen im Johanneum blieb der Professor oft plötzlich stecken; er rang mit einem störrigen Ausdruck, der nicht von seinen Lippen wollte, einem Ausdruck, der sich sträubt und aufbläht, bis er endlich in der unwissenschaftlichen Form eines Fluchs herauskommt. Darüber arge Erzürnung.
Nun gibt es in der Mineralogie viele halb-griechische, halb-lateinische Benennungen, die schwer auszusprechen sind, so holperig rau, dass sie für eines Dichters Lippen eine Pein sind. Ich will dieser Wissenschaft nichts Übles nachsagen. Aber gegenüber von rhomboedrischen Kristallisationen, von retin-asphaltischen Harzen, von Gheleniden, Fangasiden, Molybdaten, Tungstaten, Titaniaten und Zirkonien darf die geläufigste Zunge fehl sprechen.
In der Stadt nun kannte man diese verzeihliche Schwäche meines Onkels, und man machte sich über ihn lustig; man lauerte ihm auf, reizte ihn zum Zorn und lachte ihn aus, was auch in Deutschland durchaus nicht für anständig gilt. Und waren die Zuhörer Lidenbrocks stets zahlreich, so kamen sie meist deshalb, um sich an dem ergötzlichen Zorn des Professors zu belustigen.
Wie dem auch sein mag, mein Onkel war, – das kann ich nicht genug betonen – ein echter Gelehrter. Obwohl er manchmal bei allzu barschen Versuchen seine Musterstücke zerschlug, verband er mit dem Genie des Geologen den Blick des Mineralogen. Mit seinem Hammer, seiner stählernen Spitzhaue, seiner Magnetnadel, seinem Lötrohr und Fläschchen Salpetersäure war der Mann sehr stark. Er verstand jedes beliebige Metall nach dem Bruch, Aussehen, der Härte, Schmelzbarkeit, dem Ton, Geruch oder Geschmack ohne viel Bedenken in die Classification der sechshundert jetzt bekannten Gattungen einzureihen.
Daher hatte auch Lidenbrocks Name in den Gymnasien und Vereinen einen ehrenvollen Klang. Humphry Davy und von Humboldt, die Kapitäne Franklin und Sabine machten ihm auf der Reise durch Hamburg ihren Besuch. Becquerel, Ebelmen, Brewster, Dumas, Milne-Edwards, Sainte-Claire-Deville befragten ihn gerne über wichtige Punkte der Chemie. Diese Wissenschaft verdankte ihm hübsche Entdeckungen, und im Jahre 1853 war zu Leipzig von Otto Lidenbrock eine Abhandlung über Transzendentale Kristallographie in Großfolio mit Abbildungen erschienen, welche jedoch nicht die Kosten deckte.
Zudem war mein Onkel Konservator des mineralogischen Museums des russischen Gesandten Struve, welches europäischen Ruf hatte.
Dieser Mann war’s, der mich so ungeduldig anrief. Ein großer, magerer Mann mit eiserner Gesundheit und blondem jugendlichen Aussehen, das ihn um zehn Jahre jünger machte, als er wirklich war. Große unablässig rollende Augen hinter einer ansehnlichen Brille; eine lange feine Nase, gleich einer scharfen Klinge; böse Zungen behaupteten, sie sei mit einem Magnet bestrichen und ziehe den Eisenstaub an sich.
Pure Verleumdung: sie zog nur den Tabak in sich, und zwar, um der Wahrheit ihr Recht zu geben, in reichlichem Maße.
Wenn ich noch hinzufüge, dass mein Onkel mathematisch gemessen drei Fuß lange Schritte machte, und ferner bemerke, dass er mit festgeschlossenen Händen – was ein heftiges Temperament bezeichnet – einherging, so kennt man ihn hinlänglich, um auf seine Gesellschaft nicht sehr erpicht zu sein.
Er wohnte auf der Königsstraße in einem eigenen kleinen Hause, das halb aus Holz, halb aus Ziegelstein gebaut war, mit ausgezacktem Giebel; es lag an einem der Kanäle, welche in Schlangenwindungen durch das älteste Quartier Hamburgs ziehen, das von dem großen Brand im Jahre 1842 glücklich verschont wurde; sein Dach saß ihm so schief, als einem Studenten des Tugendbundes die Mütze auf dem Ohr; das Senkblei durfte man an seine Seiten nicht anlegen; aber im Ganzen hielt es sich fest, dank einer kräftigen in die Vorderseite eingefügten Ulme, die im Frühling ihre blühenden Zweige durch die Fensterscheiben trieb.
Mein Onkel war für einen deutschen Professor reich zu nennen. Das Haus war samt Inhalt sein volles Eigentum. Zu dem Inhalt gehörte seine Patin, Gretchen, ein siebenzehnjähriges Mädchen aus den Vierlanden, die gute Martha und ich. In meiner doppelten Eigenschaft als Neffe und Waise ward ich sein Handlanger-Gehilfe bei seinen Experimenten.
Ich gestehe, dass ich an den geologischen Wissenschaften Lust hatte; es floss mineralogisches Blut in meinen Adern, und ich langweilte mich nie in Gesellschaft meiner kostbaren Steine.
Übrigens konnte man doch in diesem kleinen Hause der Königsstraße glücklich leben trotz der ungeduldigen Weise seines Eigentümers, denn obwohl er sich etwas brutal benahm, liebte er mich doch. Aber der Mann verstand nicht zu warten, und eilte sogar der Natur voran.
Wenn er im April in die Fayence-Töpfe seines Salons Stöckchen Reseda oder Winde pflanzte, zupfte er sie jeden Morgen an den Blättern, um ihr Wachstum zu beschleunigen.
Bei einem solchen Original war nichts anderes möglich, als gehorchen. Ich stürzte daher hastig in sein Arbeitszimmer.
Dieses Zimmer war ein wahrhaftes Museum. Alle Musterstücke aus dem Mineralreich fanden sich da, mit Etiketten versehen in vollständigster Ordnung gereiht, nach den drei großen Abteilungen der brennbaren, metallischen und steinartigen Mineralien.
Wie war ich mit diesem Spielzeug der mineralogischen Wissenschaft vertraut! Wie oft hatte ich, anstatt mit meinen Kameraden meine Zeit zu vertändeln, meine Freude daran, diese Graphiten, Anthraciden, Ligniten, die Steinkohlen und Torfe abzustäuben! Und die Harze, Erdharze, organischen Salze, die vor den geringsten Stäubchen zu schützen waren! Und diese Metalle, vom Eisen bis zum Gold, deren relativer Wert vor der absoluten Gleichheit der wissenschaftlichen Gattungen verschwand! Und alle die Steine, womit man das Haus an der Königsstraße hätte neu aufbauen können, und noch ein hübsches Zimmer dazu, worin ich mich recht hübsch eingerichtet hätte!
Aber als ich in das Arbeitszimmer trat, dachte ich nicht an diese Wunder; mein einziger Gedanke war mein Onkel. Er war in seinem großen, mit Utrechter Samt beschlagenen Lehnstuhl vergraben und hielt ein Buch in den Händen, das er mit tiefster Bewunderung anschaute.
„Welch ein Buch! welch ein Buch!“ rief er aus. Dieser Ausruf erinnerte mich, dass der Professor Lidenbrock auch zu Zeiten ein Büchernarr war: eine alte Scharteke hatte in seinen Augen nur insofern Wert, als sie schwer aufzufinden oder wenigstens unleserlich war.
„Aber, sagte er, siehst Du denn nicht? Das ist ja ein unschätzbares Kleinod, das ich heute Morgen im Laden des Juden Hevelius aufgefunden habe.
– Prachtvoll!“ erwiderte ich mit erheucheltem Enthusiasmus. Wahrhaftig, wozu so viel Lärm um einen alten Quartanten in Kalbleder, eine vergilbte Scharteke mit verblasstem Buchzeichen.
Der Professor fuhr indessen fort in unerschöpflicher Bewunderung, indem er sich selbst fragte und antwortete:
„Siehst Du, ist’s nicht hübsch? Ja, wunderschön! was für ein Einband! wie leicht schlägt man es auf! wie trefflich schließen die Blätter, dass sie nirgends klaffen! Und an diesem Rücken sieht man nach sieben Jahrhunderten noch keinen Riss!“
Ich konnte nichts Besseres tun, als ihn über den Inhalt zu fragen, obwohl der mich wenig kümmerte.
„Und wie ist denn der Titel des merkwürdigen Buches? fragte ich hastig.
– Dies Werk, erwiderte mein Onkel lebhaft, ist die Heimskringla von Snorro Sturleson, dem berühmten isländischen Chronisten des zwölften Jahrhunderts! Es enthält die Geschichte der norwegischen Fürsten, die auf Island herrschten.
– Wirklich! rief ich so freudig wie möglich, und gewiss eine deutsche Übersetzung?
– Schön! entgegnete lebhaft der Professor, eine Übersetzung! Und was mit der Übersetzung anfangen? Wer kümmert sich um eine solche? Es ist ein Originalwerk in isländischer Sprache, dem prächtigen, reichen und zugleich einfachen Idiom!
– Wie das Deutsche, fügte ich schmeichelnd bei.
– Ja, erwiderte mein Onkel mit Achselzucken, ohne in Anschlag zu bringen, dass die isländische Sprache die drei Geschlechter bezeichnet, wie beim Griechischen, und die Eigennamen dekliniert, wie im Lateinischen!
– Ah! rief ich, indem ich meiner Gleichgültigkeit Gewalt antat, und wie schön sind die Lettern!
– Lettern! Was meinst Du, Lettern? Wie? Du meinst, das sei gedruckt? Nein, Dummer, es ist ein Manuskript, ein Runen-Manuskript! …
– Runen?
– Ja! Begehrst Du nun eine Erklärung dieses Worts?
– Das lasse ich bleiben“, erwiderte ich mit dem Ton eines Beleidigten.
Aber mein Onkel fuhr umso eifriger fort mich wider Willen über Dinge zu belehren, die ich zu wissen gar nicht Lust hatte.
„Die Runen, fuhr er fort, waren Schriftzüge, die vor uralten Zeiten auf Island im Gebrauch waren und von Odin selbst erfunden sein sollen! Aber schau doch her, bewundere doch, Gottloser, die von einem Gott ausgedachten Zeichen!“
Wahrhaftig, anstatt zu antworten, fiel ich auf die Kniee, eine Antwort, die Göttern und Königen gefällt.
Ein Zwischenfall gab der Unterhaltung eine andere Wendung. Ein schmutziges Pergament fiel aus der Scharteke heraus auf den Boden.
Mit begreiflicher Gier fiel mein Onkel über diesen Quark her. Ein altes Dokument, das vielleicht seit unvordenklicher Zeit in einem alten Buche lag, musste unfehlbar in seinen Augen sehr kostbar sein.
„Was ist das?“ rief er aus.
Und zugleich entfaltete er sorgfältig auf dem Tisch ein fünf Zoll langes, drei Zoll breites Pergamentstück, worauf in Querzeilen ein unverständliches Gekritzel von Schriftzügen sich befand.
Ich gebe hier ein genaues Faksimile derselben. Es ist mir darum zu tun, diese seltsamen Zeichen zur Anschauung zu bringen, weil sie den Professor Lidenbrock nebst seinen Neffen zu der sonderbarsten Unternehmung des neunzehnten Jahrhunderts veranlassten:
Der Professor betrachtete diese Zeichen eine Weile; dann sprach er, indem er seine Brille höher rückte:
„Es ist Runisch; diese Zeichen sind denen auf dem Manuskript Snorros völlig gleich! Aber … was mag das nur bedeuten?“
Da es mir schien, das Runische sei eine Erfindung der Gelehrten, um die ungelehrten Leute zu hintergehen, so war es mir nicht unlieb, dass mein Onkel nichts davon verstand. Das nahm ich wenigstens aus seinen Fingerbewegungen ab.
„Es ist doch Alt-Isländisch“, brummte er in den Bart.
Und der Professor Lidenbrock musste das wohl verstehen, denn er galt für ein Wunder von einem Sprachenkenner. Die zweitausend Sprachen und viertausend Dialekte, die man auf der Erde kennt, sprach er nicht nur geläufig, sondern verstand auch deren einen guten Teil.
Um dieser Schwierigkeit willen war er im Begriff, sich allen Stürmen seines heftigen Gefühls hinzugeben, als es auf der kleinen Uhr des Kamins zwei schlug, und die gute Martha die Thür mit den Worten öffnete:
„Die Suppe ist aufgetragen.
– Zum Henker mit der Suppe, schrie mein Onkel, samt der Köchin, und wer sie verzehrt!“
Martha entfloh, ich eilte ihr nach und befand mich, ohne zu wissen wie, an meinem gewöhnlichen Platz im Speisezimmer.
Ich wartete eine Weile. Der Professor kam nicht. Zum ersten Mal, meines Gedenkens, ließ er sich bei dem Mittagessen vermissen. Und doch, welch treffliches Essen! Petersiliensuppe, Eierkuchen mit Schinken in Sauerampfersauce, Kalbsnierenbraten mit Pflaumenkompott, und zum Dessert Meereskrebschen mit Zucker, und dazu ein hübscher Moselwein.
Das Alles versäumte mein Onkel über dem alten Papier. Wahrhaftig als ergebener Neffe glaubte ich mich verbunden, für uns beide zu essen. Und ich tat es gewissenhaft.
„Das hab’ ich nie erlebt! sagte die gute Martha. Herr Lidenbrock nicht bei Tische!
– Unglaublich.
– Das hat was Arges zu bedeuten!“ fuhr die Alte mit Kopfschütteln fort.
Meines Erachtens bedeutete es nichts anderes, als eine fürchterliche Szene, wenn mein Onkel sein Essen aufgezehrt finden würde.
Ich war an meinem letzten Krebschen, als eine lauthallende Stimme mich den Genüssen des Nachtisches entzog. Mit einem Sprung war ich im Zimmer des Herrn.
„Es ist offenbar Runisch, sagte der Professor mit Stirnrunzeln. Aber ich werde das Geheimnis, das dahintersteckt, entdecken, sonst …“
Und er machte eine heftige Bewegung mit der Hand.
„Setz’ Dich dahin, fuhr er fort, indem er auf den Tisch hinwies, und schreib’.“
Im Augenblick war ich bereit.
„Jetzt will ich Dir jeden Buchstaben unseres Alphabets diktieren, sowie er mit einem dieser Schriftzüge stimmt. Wir werden sehen, was dabei herauskommen wird. Aber nimm Dich wohl in Acht, dass Du nichts verfehlst!“
Er fing an, zu diktieren, und ich gab mir alle Mühe. Er benannte jeden Buchstaben einen nach dem andern, und so bildeten sich folgende unverständliche Worte
:
Als dies fertig war, nahm mein Onkel hastig das Blatt, worauf ich geschrieben hatte.
„Was will das bedeuten?“ wiederholte er mechanisch.
Auf Ehre, ich hätte es ihm nicht sagen können. Übrigens fragte er mich nicht, und sprach weiter mit sich selbst:
„Das heißen wir eine Geheimschrift, sagte er, worin der Sinn hinter absichtlich durcheinander gemischten Buchstaben versteckt ist, welche in gehöriger Folge geordnet, eine verständliche Phrase bilden würden. Darin steckt vielleicht die Erklärung oder Andeutung einer großen Entdeckung!“
Ich für meinen Teil dachte, es stecke gar nichts dahinter, aber ich hütete mich wohl, meine Meinung auszusprechen.
Der Professor nahm darauf das Buch und das Pergament, und verglich sie beide mit einander.
„Diese beiden Schriften sind nicht von derselben Hand; das Geheimschriftstück ist späteren Ursprungs, als das Buch, wie ich das gleich vorne aus einem unwiderleglichen Beweis ersehe. In der Tat, der erste Buchstabe ist ein doppeltes M, das in Sturlesons Buch sich nicht findet, denn es wurde erst im vierzehnten Jahrhundert dem isländischen Alphabet hinzugefügt. Also liegen wenigstens zwei Jahrhunderte zwischen dem Manuskript und dem Dokument.“
Das schien mir allerdings ziemlich folgerichtig.
„Das bringt mich auf den Gedanken, fuhr mein Onkel fort, diese geheimnisvolle Schrift sei von einem Besitzer des Buches verfasst worden. Aber wer zum Henker war dieser Besitzer? Sollte er nicht seinen Namen irgendwo unter das Manuskript gesetzt haben?“
Mein Onkel setzte seine Brille höher, nahm eine starke Lupe, und musterte sorgfältig die ersten Seiten des Buches durch. Auf der zweiten Rückseite entdeckte er eine Art Flecken, der wie ein Tintenklecks aussah; aber genauer besehen unterschied man einige halb verloschene Schriftzüge. Mein Onkel begriff, dass es auf diesen Punkt ankomme; er machte sich also aufs Eifrigste darüber her, und erkannte endlich mit Hilfe seiner Lupe die folgenden Runenschriftzeichen, welche er ohne Anstoß lesen konnte:
„Arne Saknussemm! rief er triumphierend aus, aber das ist ein Name, und noch dazu ein isländischer Name, eines Gelehrten des sechzehnten Jahrhunderts, eines berühmten Alchemisten.“
Ich schaute meinen Onkel mit einigem Staunen an.
„Diese Alchemisten, fuhr er fort, Avicenna, Bacon, Lullus, Paracelsus waren die einzigen, die echten Gelehrten ihrer Epoche. Sie haben Entdeckungen gemacht, worüber wir erstaunt sein dürfen. Warum sollte nicht dieser Saknussemm unter dieser Geheimschrift eine auffallende Entdeckung verhüllt haben? So muss es sein. So ist’s wirklich.“
Bei dieser Hypothese erhitzte sich des Professors Phantasie.
„Ganz gewiss, erwiderte ich keck, aber was konnte dieser Gelehrte für ein Interesse daran haben, eine merkwürdige Entdeckung geheim zu halten?
– Warum? Warum? Ja, weiß ich’s? Hat’s nicht Galilei ebenso gemacht in Beziehung auf Saturn? Übrigens, wir werden schon sehen: ich werde das Geheimnis dieses Dokuments herausbekommen, und ich werde weder essen noch schlafen, bis ich’s heraushabe.
– O! dachte ich.
– Du ebenfalls nicht, Axel, fuhr er fort.
– Teufel! dacht’ ich, da ist’s gut, dass ich doppelte Mahlzeit gehalten habe.
– Und zunächst, sagte mein Onkel, geht es darum, die Sprache dieser Chiffre aufzufinden. Das kann nicht schwer sein.“
Bei diesen Worten hob ich lebhaft den Kopf. Mein Onkel fuhr fort, mit sich selbst zu reden:
„Es gibt nichts Leichteres. Dieses Dokument enthält hundertzweiunddreißig Buchstaben, wovon neunundsiebzig Konsonanten gegen dreiundfünfzig Vokale. Ungefähr dieses Verhältnis findet bei den südlichen Sprachen statt, während die Idiome des Nordens unendlich reicher an Konsonanten sind. Es handelt sich also um eine Sprache des Südens.“
Diese Folgerungen waren richtig.
„Aber was ist’s für eine Sprache?
– Dieser Saknussemm, fuhr er fort, war ein unterrichteter Mann; wenn er also nicht in seiner Muttersprache schrieb, musste er der unter den gebildeten Geistern des sechzehnten Jahrhunderts geläufigen Sprache den Vorzug geben, der lateinischen nämlich. Irre ich darin, so kann ich mit dem Spanischen, dem Französischen, Italienischen, Griechischen oder Hebräischen einen Versuch machen. Aber die Gelehrten des sechzehnten Jahrhunderts schrieben im Allgemeinen lateinisch. Ich darf also als selbstverständlich annehmen, es sei Latein.“
Ich sprang von meinem Stuhl auf. Meine Erinnerungen aus der Lateinschule sträubten sich gegen die Behauptung, diese Gruppe seltsamer Worte könne der sanften Sprache Virgils angehören.
„Ja! Latein, fuhr mein Onkel fort, aber verworrenes Latein.
– Das mag sein! dachte ich. Wenn Du es entwirrst, lieber Onkel, bist Du ein feiner Kopf.
– Untersuchen wir gehörig, sagte er, und nahm das von mir beschriebene Blatt wieder zur Hand. Hier ist eine Gruppe von hundertzweiunddreißig Buchstaben, die wir in vollständiger Verworrenheit finden. Da sind Worte, worin nur Konsonanten vorkommen, wie das erste ‘rnlls’, andere dagegen, worin die Vokale überwiegen, z.B. das fünfte: ‘uneeief’, oder das vorletzte: ‘oseibo’. Nun ist offenbar diese Gruppierung nicht so zusammengesetzt worden; sie wurde mathematisch gegeben durch ein uns unbekanntes Verhältnis, nach welchem die Aneinanderreihung dieser Buchstaben bestimmt wurde. Ich halte für gewiss, dass die ursprüngliche Phrase regelmäßig geschrieben, sodann nach einem Grundgedanken, den man auffinden muss, umgebildet wurde. Wer den Schlüssel dieser ‘Chiffre’ besäße, würde sie geläufig lesen. Aber was ist das für ein Schlüssel? Axel, hast Du ihn?“
Auf diese Frage wusste ich nicht zu antworten, und aus gutem Grunde. Meine Blicke waren auf ein reizendes Porträt, das an der Wand hing, geheftet, das Porträt Gretchens. Die Mündel meines Onkels befand sich damals zu Altona bei einer Verwandten, und ich war über ihre Abwesenheit sehr betrübt, denn, jetzt kann ich’s gestehen, die hübsche Vierländerin und der Neffe des Professors liebten sich mit echt deutscher Herzlichkeit und Ausdauer. Wir hatten uns ohne Wissen unseres Onkels verlobt, der allzu viel Geologe war, um für solche Gefühle einen Begriff zu haben. Gretchen war eine reizende Blondine mit blauen Augen, von etwas gesetztem Charakter und ernstem Sinn; aber sie liebte mich darum nicht minder. Ich meinerseits betete sie an, sofern dieser Begriff im Altdeutschen existiert! Das Bild meiner kleinen Vierländerin versetzte mich also auf einmal aus der wirklichen Welt in die Welt der Träume, der Erinnerungen.
Ich erblickte in diesem Bild die treue Genossin meiner Arbeiten und Freuden. Sie half mir tagtäglich die köstlichen Steine meines Onkels ordnen, dieselben mit Etiketten versehen. Fräulein Gretchen war in der Mineralogie sehr stark! Sie hätte darin mehr als einen Gelehrten zurechtweisen können. Sie befasste sich gerne damit, schwierige Fragen der Wissenschaft zu ergründen. Welche süßen Stunden hatten wir mit gemeinsamen Studien hingebracht! Und wie oft beneidete ich die fühllosen Steine um das Glück, von ihren reizenden Händen betastet zu werden!
Hernach, wann die Erholungszeit kam, wandelten wir mit einander durch die belaubte Alsterallee, und besuchten zusammen die alte geteerte Mühle, die sich am Ende des Sees so gut ausnimmt; unterwegs plauderten wir Hand in Hand. Ich erzählte ihr Dinge, worüber sie herzlich lachte. So kamen wir bis zum Elbufer, und nachdem wir den Schwänen, die zwischen den großen weißen Seerosen schwimmen, gute Nacht gesagt, begaben wir uns mit dem Dampfboot wieder zum Quai.
Als ich in meinem Träumen hier ankam, ward ich von meinem Onkel durch einen Faustschlag auf den Tisch gewaltsam in die Wirklichkeit zurückgerufen.
„Sehen wir, sagte er, die erste Idee, die sich dem Geist darbietet, um die Buchstaben einer Phrase aus ihrer Ordnung zu bringen, besteht, dünkt mir, darin, dass man die Worte, anstatt horizontal, vertikal schreibt. Wir müssen anschauen, was dabei herauskommt. Axel, schreib’ irgendeinen Satz auf diesen Zettel, aber anstatt die Buchstaben neben einander zu stellen, setze sie in vertikalen Reihen einen nach dem andern, und zwar in Gruppen von fünf bis sechs.“
Ich begriff, wie es gemeint war, und schrieb sogleich von oben nach unten.
„Gut, sagte der Professor, ohne gelesen zu haben. Jetzt schreibe diese Worte in eine horizontale Zeile.
Ich gehorchte und bekam folgende Phrase:
Iermtt chdzeech lilise ichinGn ehchgr! be,ue
Ganz recht, sagte mein Onkel, und riss mir den Zettel aus der Hand, das sieht schon aus wie das alte Dokument: die Vokale stehen so wie die Konsonanten in der nämlichen Unordnung gruppiert; da sind selbst Anfangsbuchstaben sowie Komma in der Mitte der Worte, ganz wie in dem Pergament des Saknussemm!“
Ich konnte nicht umhin, diese Bemerkungen für recht sinnreich zu halten.
„Nun, fuhr mein Onkel fort, um die Phrase, welche Du geschrieben hast, und deren Inhalt ich nicht kenne, zu lesen, brauch’ ich nur zuerst den ersten Buchstaben jedes Wortes zusammen zu reihen, dann jeweils den zweiten, danach den dritten usw.“
Und mein Onkel las, zu seinem und meinem größten Erstaunen:
Ich liebe dich herzlich, mein gutes Gretchen!
„Oho!“ sagte der Professor.
Ja, unversehens hatte ich als verliebter Tölpel diese verräterische Zeile geschrieben!
„So! Du liebst Gretchen? fuhr mein Onkel im Bevormundungston fort.
– Ja … Nein … stotterte ich.
– Du liebst also Gretchen! wiederholte er maschinenmäßig. Nun, wenden wir mein Verfahren auf das fragliche Dokument an.“
Mein Onkel war schon wieder in das Nachsinnen, welches ihn ganz in Anspruch nahm, versunken, dass er bereits meine unvorsichtigen Worte vergaß. Ich sage unvorsichtigen, denn der Kopf des Gelehrten konnte die Herzensangelegenheiten nicht begreifen. Aber zum Glück hatte die große Angelegenheit des Dokuments das Übergewicht.
Im Begriff, seinen Hauptversuch zu machen, sprühten des Professors Augen Blitze durch seine Brille hindurch. Mit zitternden Fingern nahm er das alte Pergament wieder zur Hand. Er war von ernster Bewegung ergriffen. Endlich hustete er tüchtig, und diktierte mir mit würdigem Ton, indem er der Reihe nach zuerst den ersten Buchstaben, dann den zweiten jedes Wortes zusammennahm, die folgenden Gruppen:
mmessunkaSenrA.icefdoK.segnittamurtn
ecertserrette,rotaivxadua,ednecsedsadne
lacartniiiluJsiratracSarbmutabiledmek
meretarcsilucoYsleffenSnI
Als ich sie fertig hatte, war ich, offen gestanden, in Gemütsbewegung; in diesen Buchstaben hatte ich gar keinen Sinn zu erkennen vermocht; ich war also darauf gespannt, des Professors Lippen würden hochtrabend eine Phrase prachtvollen Lateins hören lassen.
Aber wer hätte das gedacht! ein heftiger Faustschlag erschütterte den Tisch, dass die Tinte emporspritzte, die Feder meinen Händen entfiel.
„Das ist’s nicht! schrie mein Onkel, das hat keinen Sinn!“ Darauf stürzte er rasch wie eine Kugel durch das Zimmer, wie eine Lawine die Treppe hinab, auf die Königsstraße und entfloh aus Leibeskräften.
„Er ist fort, rief Martha, die herbeigelaufen kam, als er die Haustür so heftig zuschlug, dass von dem Schmettern das ganze Haus erschüttert wurde.
– Ja, erwiderte ich, ganz und gar fort!
– Nun! und sein Mittagessen? sagte die alte Dienerin.
– Er wird nicht zu Mittag speisen!
– Und sein Abendessen?
– Er wird auch nicht zu Abend speisen!
– Wie? sagte Martha und rang die Hände.
– Nein, gute Martha, er wird nicht mehr essen, und Niemand im ganzen Hause. Mein Onkel lässt uns alle fasten, bis es ihm gelingt, ein altes Gekritzel, das durchaus unleserlich ist, zu entziffern!
– Jesus! So bleibt uns also nichts, als Hungers sterben.“
Ich getraute nicht, einzugestehen, dass bei einem so unbedingten Mann, wie mein Onkel, dies uns unvermeidlich bevorstehe.
Ernstlich beunruhigt begab sich die alte Dienerin mit Seufzen in ihre Küche zurück.
Als ich allein war, kam mir der Gedanke, zu Gretchen zu eilen und ihr Alles zu erzählen. Aber wie konnte ich das Haus verlassen? Der Professor konnte jeden Augenblick heimkommen. Und wenn er nach mir rief? Und wenn er seine Enträtselungsarbeit, die man dem alten Ödipus vergeblich vorgelegt haben würde, wieder anfangen wollte? Und was würde es geben, wenn ich auf sein Rufen nicht Antwort gäbe?
Das Klügste war, zu bleiben. Eben hatte uns ein Mineraloge aus Besançon eine Sammlung Klappersteine vom Kieselgeschlecht zugeschickt, welche zu klassifizieren waren. Ich machte mich an die Arbeit. Ich sonderte aus, machte Etiketten, ordnete in ihrem Glaskasten alle die hohlen Steine, worin kleine Kristalle eingeschlossen waren.
Aber diese Tätigkeit beschäftigte mich nicht völlig. Das alte Dokument machte mir in den Gedanken viel zu schaffen. Mein Kopf glühte, und eine unbestimmte Unruhe ergriff mich. Ich ahnte eine bevorstehende Katastrophe.
Nach Verlauf einer Stunde waren meine Klappersteine geordnet. Darauf wiegte ich mich in dem großen Lehnstuhl, den Kopf rückwärts, die Arme baumelnd. Ich zündete meine Pfeife an, deren lange krumme Röhre am Kopf mit dem Bild einer Nymphe geziert war, und ergötzte mich daran, die Fortschritte der Verkohlung zu beobachten, wodurch die Nymphe zu einer vollständigen Negerin geworden war. Von Zeit zu Zeit lauschte ich, ob sich nicht Tritte auf der Treppe vernehmen ließen. Nichts zu hören. Wo mochte mein Onkel eben sein? Ich sah ihn in Gedanken die schöne Allee der Altonaer Straße entlanglaufen, gestikulierend, mit kräftigem Arm die Kräuter zerschlagen, Disteln köpfen und die Schwäne in ihrem Frieden stören.
Wird er triumphierend oder entmutigt heimkommen? Sollte er das Geheimnis herausbekommen haben? So fragte ich mich, und nahm maschinenmäßig das Blatt Papier in die Hand, worauf die von mir geschriebenen unverständlichen Zeilen sich befanden. Ich wiederholte:
„Was bedeutet dies?“
Ich versuchte die Buchstaben so zu gruppieren, dass sie Worte bildeten. Unmöglich. Man mochte sie zu zwei, drei, fünf oder sechs zusammenstellen, es kam durchaus nichts Verständliches heraus. Doch ließ sich aus dem vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Buchstaben das englische Wort „ice“ bilden, aus dem vier-, fünf- und sechsundachtzigsten das Wort „sir“. Endlich erkannte ich mitten in dem Dokument auf der dreißigsten Zeile die lateinischen Worte „rota“, „mutabile“, „ira“, „nec“, „atra“.
Teufel, dacht’ ich, diese letzteren Wörter könnten wohl meinem Onkel Auskunft über die Sprache des Dokuments geben! Und da sehe ich gar, auf der vierten Zeile noch das Wort „luco“, das einen „heiligen Hain“ bedeutet. Zwar auf der dritten Zeile ist das Wort „tabiled“ zu lesen, welches ganz hebräisch aussieht, und auf der letzten die Wörter „mer“, „arc“, „mère“, die rein französisch sind.
Darüber konnte man den Kopf verlieren: Vier verschiedene Sprachidiome in einer sinnlosen Phrase! In welchem Zusammenhang konnten die Wörter „Eis“, „Herr“, „Zorn“, „grausam“, „heiliger Hain“, „wechselnd“, „Mutter“, „Bogen“, „Meer“ stehen? Das letzte und erste allein ließen sich leicht an einander reihen: es wäre nicht zu verwundern, wenn in einem auf Island geschriebenen Dokument von „Eismeer“ die Rede wäre. Aber den übrigen Teil des Geheimschriftstücks zu begreifen, war doch eine andere Aufgabe.
Ich rang also mit einer unlöslichen Schwierigkeit; mein Gehirn erhitzte sich, meine Augen blinzelten bei dem Blick auf das Blatt; die hundertzweiunddreißig Buchstaben schienen um mich herum zu hüpfen, wie die Silbertropfen, die in der Luft unseren Kopf umflimmern, wenn das Blut stark dahin dringt.
Es wandelten mich Phantasiegesichte an; der Atem ging mir aus; ich bedurfte Luft. Unwillkürlich fächelte ich mich mit dem Blatt Papier, so dass seine Vorder- und Rückseite abwechselnd mir vor Augen kamen. Wie war ich überrascht, als ich bei einem solchen raschen Umwenden vollkommen lesbare Wörter zu erkennen glaubte, lateinische Wörter, z.B. „craterem“, „terrestre“.
So drang auf einmal ein Lichtstrahl in meinen Geist; diese einzigen Spuren führten mich auf den Weg der Wahrheit; ich hatte das Gesetz der Chiffre gefunden. Um das Dokument zu verstehen, brauchte man nicht einmal quer über auf die Rückseite des Blattes zu lesen! Nein.
Gerade so, wie es war, gerade so, wie mir’s diktiert wurde, konnte es geläufig buchstabiert werden. Alle sinnreichen Gedanken des Professors verwirklichten sich. Er hatte Recht in Hinsicht der Zusammenreihung der Buchstaben, sowie in Hinsicht der Sprache. Um dieses lateinische Schreiben von Anfang bis zu Ende lesen zu können, bedurfte er nur noch „etwas“, und dieses „etwas“ wurde mir vom Zufall gegeben.
Natürlich war ich sehr im Gemüt ergriffen. Meine Augen wurden trübe, so dass sie mir den Dienst versagten. Ich hatte das Papier auf dem Tisch ausgebreitet. Ich brauchte nur einen Blick darauf zu werfen, um das Geheimnis in Besitz zu bekommen.
Endlich ward ich mit Mühe meiner Bewegung Herr. Um meine Nerven ruhig werden zu lassen, legte ich mir auf, zweimal durch das Zimmer zu gehen, darauf wiegte ich mich wieder in dem großen Lehnstuhl.
„So will ich lesen“, rief ich aus, nachdem ich aus tiefer Brust aufgeatmet.
Ich neigte mich über den Tisch, verfolgte mit dem Finger der Reihe nach jeden Buchstaben, und las ohne anzuhalten, ohne einen Augenblick zu stocken, mit lauter Stimme den ganzen Satz.
Aber welche Bestürzung, welcher Schrecken befiel mich! Ich stand Anfangs wie vom Schlag gerührt. Wie! Was ich eben gelernt hatte, war schon am Ziel! Ein Mensch war kühn genug, dahin zu dringen! …
„Ah! rief ich hüpfend aus, nein! nein! Mein Onkel soll’s nicht erfahren! Er würde unfehlbar eine solche Reise vornehmen! Er würde auch diesen Genuss haben wollen! Nichts würde ihn abhalten können! Ein so entschlossener Geologe! Er würde jedenfalls hinreisen, trotz Allem! und er würde mich mitnehmen, um nimmer heimzukehren! Niemals! nie!“
Ich war in unbeschreiblicher Aufregung.
„Nein! nein! Das wird nicht geschehen, sagte ich mit Energie, und da es in meiner Macht steht, zu verhindern, dass meinem Tyrannen eine solche Idee in den Sinn komme, so will ich’s tun. Wenn er das Dokument um- und herumwendet, könnte er zufällig den Schlüssel desselben entdecken! So will ich’s vernichten!“
Im Kamin war noch ein wenig Feuer. Ich ergriff nicht allein das Blatt Papier, sondern auch das Pergament des Saknussemm; mit fieberhaft zitternder Hand war ich im Begriff, es mit einander auf die Kohlen zu werfen, und so das gefährliche Geheimnis zu vernichten. Da öffnete sich die Thür des Zimmers und mein Onkel trat ein.
Ich hatte nur noch Zeit, das unglückselige Dokument wieder auf den Tisch zu legen.
Der Professor Lidenbrock schien gänzlich erschöpft. Der ihn beherrschende Gedanke ließ ihm keinen Augenblick Ruhe; er hatte während seines Spazierganges offenbar die Sache durchforscht, zergliedert, alle Hilfsquellen seines Geistes erschlossen, und er kam zurück, einen neuen Gedanken in Anwendung zu bringen.
In der Tat setzte er sich in seinen Lehnstuhl, ergriff die Feder und fing an, Formeln niederzuschreiben, die einem algebraischen Rechenexempel glichen.
Meine Blicke begleiteten seine zitternde Hand; ich ließ mir nicht eine einzige seiner Bewegungen entgehen. Sollte wohl unversehens ein unverhofftes Resultat sich ergeben? Ich zitterte, doch ohne Grund, denn da die einzig richtige Verbindungsweise bereits aufgefunden war, so musste notwendig jedes andere Nachforschen vergeblich sein.
Drei Stunden lang arbeitete mein Onkel, ohne zu reden, ohne den Kopf zu heben, tilgte aus, fuhr fort, radierte, fing tausendmal von Neuem an.
Ich wusste wohl, dass, wenn er’s dahin brächte, diese Buchstaben in alle möglichen Verbindungen mit einander zu bringen, die Phrase dabei herauskäme. Aber ich wusste auch, dass aus nur zwanzig Buchstaben sich zwei Quintillionen, vierhundertzweiunddreißig Quadrillionen, neunhundertundzwei Trillionen, acht Milliarden, hundertsechsundsiebzig Millionen, sechshundertvierzehntausend Verbindungen bilden lassen. Nun waren in der Phrase hundertzweiunddreißig Buchstaben vorhanden, und diese hundertzweiunddreißig ergaben eine Anzahl verschiedener Phrasen, die aus hundertdreiunddreißig Ziffern mindestens bestanden, eine Zahl, die fast zu zählen unmöglich ist, und über alle Schätzungen hinausgeht.
Ich war beruhigt in Hinsicht dieses heroischen Mittels, das Problem zu lösen.
Inzwischen verfloss die Zeit; es ward Nacht; der Lärm der Straße verstummte; mein Onkel, stets über seiner Aufgabe, sah nichts, selbst die gute Martha nicht, als sie die Thür etwas öffnete; er hörte nichts, selbst die Stimme dieser guten Dienerin nicht, als sie sagte:
„Wird der Herr diesen Abend speisen?“
Auch Martha musste ohne Antwort sich zurückziehen.
Ich meines Teils, nachdem ich einige Zeit widerstanden, verfiel in einen unüberwindlichen Schlaf, und ich schlief an einem Ende des Kanapees ein, während mein Onkel Lidenbrock immer fort rechnete und stets ausstrich.
Als ich am folgenden Morgen wieder erwachte, war der unermüdliche Forscher immer noch bei der Arbeit. Seine roten Augen, seine bleifarbige Haut, seine verwirrten Haare unter seiner fieberhaften Hand, seine geröteten Wangen gaben hinlänglich seinen Kampf mit dem Unmöglichen zu erkennen, und in welcher Erschöpfung des Geistes, welcher Anstrengung des Gehirns ihm die Stunden verfließen mussten.
Wahrlich, er dauerte mich. Trotz der Vorwürfe, die ich glaubte ihm machen zu dürfen, war ich einigermaßen gerührt. Der arme Mann war dermaßen von seiner Idee befangen, dass er sich zu erzürnen vergaß. Alle seine Lebenskräfte konzentrierten sich auf einen einzigen Punkt, und da sie nicht ihren gewöhnlichen Ableitungsweg hatten, so konnte man fürchten, es werde ihre Spannung ihm jeden Augenblick den Kopf zersprengen.
Ich konnte den eisernen Schraubstock, worin sein Schädel gespannt war, mit einer Handbewegung, mit einem einzigen Wort ihm lockern! Und ich tat’s nicht.
Doch war ich gutmütig. Weshalb blieb ich denn stumm unter solchen Umständen? Im eigenen Interesse meines Onkels.
„Nein, nein, sagte ich wiederholt, nein, ich werde nicht reden! Er würde hinreisen wollen, ich kenne ihn; nichts würde ihn zurückhalten können. Es ist ein vulkanischer Gedanke, und um zu tun, was andere Geologen nicht getan haben, würde er sein Leben riskieren. Ich will schweigen; ich will das Geheimnis, in dessen Besitz mich der Zufall gesetzt hat, für mich behalten! Es ihm mitzuteilen wäre sein Tod. Er mag’s erraten, wenn er kann. Ich will mir nicht einen einzigen Tag den Vorwurf aufbürden, ihn in sein Verderben geführt zu haben!“
Nachdem ich diesen Entschluss gefasst hatte, kreuzte ich die Arme, und wartete ab. Aber ich hatte doch die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Als die gute Martha aus dem Hause auf den Markt gehen wollte, fand sie die Tür verschlossen, und es war kein Schlüssel im Schloss. Wer hatte ihn weggenommen? Offenbar mein Onkel, als er am Abend von seinem Ausgang heimgekehrt war.
War’s absichtlich oder aus Versehen? Wollte er uns der Pein des Hungers aussetzen? Das wäre doch ein wenig stark. Wie! Martha und ich, wir sollten unter der Verlegenheit leiden, die uns auf der Welt nichts anging? Ganz gewiss, und ich erinnerte mich eines anderen Falles der Art, welcher uns in Schrecken setzen konnte. In der Tat, vor einigen Jahren, zurzeit als mein Onkel an seiner großen mineralogischen Classification arbeitete, enthielt er sich einmal achtundvierzig Stunden des Essens, und das ganze Haus musste sich dieser wissenschaftlichen Diät fügen. Ich bekam damals Magenkrämpfe, die einem Jungen von etwas gefräßigem Charakter sehr wenig erquicklich waren.
Nun dünkte es mir, das Frühstück werde ebenso in Ausfall kommen, wie tags zuvor das Abendessen. Doch entschloss ich mich, heroisch zu sein, und den Forderungen des Magens nicht nachzugeben. Martha nahm das sehr ernst und ward trostlos, die gute Frau. Mir machte die Unmöglichkeit, das Haus verlassen zu können, viel zu schaffen, aus gutem Grunde.
Mein Onkel arbeitete immer fort; seine Phantasie verlor sich in der idealen Welt der Kombinationen; er lebte fern von der Erde, und wahrhaftig außerhalb der irdischen Bedürfnisse.
Gegen Mittag stachelte mich der Hunger ernstlich. Martha hatte in aller Unschuld tags zuvor alle Vorräte der Speisekammer aufgezehrt; es war gar nichts mehr im Hause vorhanden. Doch hielt ich standhaft aus; es war mir eine Art Ehrensache geworden.