Junktown - Matthias Oden - E-Book

Junktown E-Book

Matthias Oden

4,6
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Heyne Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Abstinenz ist Hochverrat!

Diese Zukunft ist ein Schlaraffenland: Konsum ist Pflicht, Rauschmittel werden vom Staat verabreicht, und Beamte achten darauf, dass ja keine Langeweile aufkommt. Die Wirklichkeit in »Junktown«, wie die Hauptstadt nur noch genannt wird, sieht anders aus. Eine eiserne Diktatur hält die Menschen im kollektiven Drogenwahn, dem sich niemand entziehen darf, und Biotech-Maschinen beherrschen den Alltag. Als Solomon Cain, Inspektor der Geheimen Maschinenpolizei, zum Tatort eines Mordes gerufen wird, ahnt er noch nicht, dass dieser Fall ihn in die Abgründe von Junktown und an die Grenzen seines Gewissens führen wird. Denn was bleibt vom Menschen, wenn der Tod nur der letzte große Kick ist?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 462

Bewertungen
4,6 (40 Bewertungen)
27
9
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


DAS BUCH

Willkommen in Junktown, der Stadt der Zukunft! Hier ist Konsum erste Bürgerpflicht, Drogen werden vom Staat verabreicht, und Maschinen sorgen für den Wohlstand. Junktown ist ein wahres Schlaraffenland – nur nicht für Inspektor Solomon Cain, der in die schmutzigen Abgründe der Stadt hinabsteigen muss, um einen Mörder zu finden. Denn in Junktown ist der Tod der ultimative Kick …

Cain ist seit Jahrzehnten Inspektor bei der Geheimen Maschinenpolizei, doch so etwas wie hier hat er noch nicht gesehen. Der Tatort, zu dem er gerufen wurde und den er pflichtschuldig im Drogenrausch besucht, wirkt wie die verzweifelte Bluttat eines enttäuschten Liebhabers, nur dass die Leiche in diesem Fall eine Maschine ist. Denn in Junktown, wie die Hauptstadt seit langer Zeit nur noch genannt wird, leben Menschen und Maschinen zusammen. Je weiter Cain in dem Fall allerdings ermittelt, umso tiefer wird er in ein Netz aus geheimen Regierungsaufträgen, korrupten Konzernen und unfähigen Bürokraten verstrickt. Warum musste die Maschine sterben? Welches Forschungsprojekt sollte mit ihrem Tod vertuscht werden? Und warum interessiert sich plötzlich die höchste Behörde, das Rauschsicherheitshauptamt, für diesen Fall und für Solomon Cains eigene, nicht ganz lupenreine Vergangenheit? Aus der Ermittlung wird schnell eine Hetzjagd quer durch Junktown, ein Höllentrip durch die scheinbar perfekte Utopie. Bleibt Cain nüchtern genug, um die Wahrheit aufzudecken und den Mörder zu finden?

Mit seinem Debütroman zeichnet Matthias Oden, seines Zeichens Werbefachmann, ein so düsteres wie sprachgewaltiges Bild der immer hemmungsloseren Konsumwelt.

DER AUTOR

Matthias Oden studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Ethnologie. Nach einem Volontoriat bei der Financial Times Deutschland arbeitete er als Redakteur und übernahm anschließend die Redaktionsleitung des Lifestyle-Magazins Business Punk. Danach war er als stellvertretender Chefredakteur der Werbe- und Kommunikationsfachzeitschrift Werben & Verkaufen tätig. Er ist Träger des Hans-Strothoff- und des Deutschen Journalistenpreises.

Mehr Informationen unter:

MATTHIAS ODEN

JUNKTOWN

Roman aus einer psychotropen Stadt

Originalausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und

enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung.

Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch

unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder

öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form,

ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text

enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt

der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten.

Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss.

Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Originalausgabe 6/2017

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2017 by Matthias Oden

Copyright © 2017 dieser Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19717-9V001

www.diezukunft.de

Meinen Eltern

Inhalt

Erster Teil

Tod einer Brutmutter

Zweiter Teil

Projekt Reboot

Dritter Teil

Deleatur

Anhang I

Verzeichnis der Humanklassen

Anhang II

Abkürzungs- und Begriffsverzeichnis

Danksagung

Aber unser Trip war etwas anderes. Er war die klassische Bestätigung aller richtigen und wahren und anständigen Eigenschaften unseres Nationalcharakters. Er war eine derbe, physische Ehrenbezeugung an die fantastischen Möglichkeiten, in diesem Land zu leben – aber nur für diejenigen mit echtem Mumm. Und davon hatten wir überreichlich.

Hunter S. Thompson,

»Fear and Loathing in Las Vegas«

Die Prohibition überschreitet die Grenze jeder Vernunft, indem sie die Bedürfnisse des Menschen durch Gesetze zu kontrollieren versucht und Verbrechen aus Dingen macht, die keine Verbrechen sind. Ein Prohibitionsgesetz ist ein Schlag gegen die Prinzipien, die die Grundlage unseres Staates sind.

Abraham Lincoln

Und deshalb sage ich, dass der ganze Faschismus eine fehlgelaufene Drogengeschichte ist, falscher Umgang mit Ekstase.

Wolfgang Neuss

ERSTER TEIL

Tod einer Brutmutter

1

Die Sonne hievte sich über den Horizont und schien nieder auf ein Junktown, das den Morgen so teilnahmslos über sich ergehen ließ wie eine Cracknutte den letzten Freier nach einer viel zu geschäftigen Nacht. Dunkel ging über in Hell, ohne dass sich die Leblosigkeit der einen Tageshälfte von jener der anderen unterschieden hätte. In der Nördlichen Industriebrache bretterte Solomon Cain auf seinem Adrenalinchopper durch eines der vielen Gewerbegebiete der Stadt, die bereits vor Jahren den Tod konjunktureller Unterkühlung gestorben waren und nun tagein, tagaus unter einem gleichmütigen Himmel vor sich hinrotteten. Von Sandstürmen angenagte Schlote reckten sich windschief ins fahle Firmament, die rotbraun oxidierten Tanks und Förderbänder zu ihren Füßen wirkten wie ein Stillleben, das ein manisch-depressiver Künstler arrangiert hatte. Ein gutes Dutzend Morphin-Silos lag, zusammengebrochen unter der Wucht der Jahre, wirr durcheinandergetürmt wie gigantische Kegel, die niemand mehr aufstellen würde, und über einer zerplatzten Bitumenauffahrt schwappte an quietschenden Ketten ein ausgeblichenes KRAFT DURCH KONSUM-Banner in der Morgenbrise hin und her.

Cain war froh, das Elend nur undeutlich wahrzunehmen.

Die drei Zäpfchen, die er sich vor Dienstantritt in den Mastdarm geschoben hatte, fingen an, ihre Wirkung zu tun: 900 Milligramm Tramadol schwemmten seine Blutgefäße. An den Rändern zerlief seine Sicht wie die Farben auf der Palette eines Malers, und er musste die Augen zusammenkneifen, um mit seinem schummrigen Tunnelblick die Schlaglöcher rechtzeitig zu erkennen. So konnte er sich wenigstens auf die Stöße vorbereiten, denn an Ausweichen war nicht zu denken: Cain wusste aus leidvoller Erfahrung, dass er unter Tramadoleinfluss seiner Auge-Hand-Koordination so viel Vertrauen schenken sollte wie einem verschuldeten Meth-Dealer. Wenn er erst mal damit anfing, um die Schlaglöcher herumzulenken, würde seine Fahrt sehr schnell in einer der Fabrikmauern enden, von denen er wusste, dass sie sich hinter den graubraunen Schlieren zur Linken und Rechten seines Blickfelds verbargen.

Aus dem Limbus seiner Wahrnehmung erschien ein weiteres Schlagloch, raste ihm entgegen, eine Monstrosität des Asphalts, deren unheilvolle Annäherung er ebenso schicksalsergeben wie angespannt zur Kenntnis nahm. Das Weiß seiner Knöchel wurde noch ein bisschen weißer, als er den Griff um den Lenker verstärkte. Der dunkel gähnende Schlund kam näher, kam näher und – Ka-zang! – war er hindurch und darüber hinweg.

Schweiß legte sich wie ein eiskalter Quecksilberpanzer um seine Schultern, rann das Rückgrat hinab, durchnässte seine Dederon-Unterhose und versickerte zwischen seinen Arschbacken. Abwärtsspirale, dachte er, das Leben ist eine beschissene Abwärtsspirale. Hätte er sich nicht die Zäpfchen reingedrückt, hätte er den Schlaglöchern ausweichen können, würde sein Steiß nicht schmerzen, würde sein Schließmuskel nicht im körpereigenen Kondenswasser schwimmen. Hätte, hätte, würde, würde – die Poesie der Fatalisten, dachte Cain, und er war einer ihrer Meister, ein ganz Großer, ein lamentierender Dichterfürst mit einer nassen Rosette.

Ka-zang.

Die Leiche wartete direkt hinter den stillgelegten Heroinfabriken auf ihn.

Cain fuhr durch das Geländetor auf sie zu, ihr massiger Leib zeichnete sich dunkel gegen den Himmel ab. Lang und hoch wie ein Häuserblock war sie, ganz brauner Stahl, die Signalleuchten an ihrer Flanke erloschen. Oben auf der Gangway des ersten Stocks tauchte aus den Farbschlieren ein fettiger Klecks auf, eilte die Steigleiter hinab und auf Cain zu.

Es war Wachtmeister Zachäus Brom, und er walzte durch den Morgen wie eine Dampframme. Cain stellte sein Krad ab und seufzte.

»Ah, die Gemapo!« Broms Stimme war der tonale Zwillingsbruder seiner Erscheinung: ungeschlacht und schwer zu ignorieren. »Immer wieder eine Freude, die Kollegen zu sehen! Vor allem am Wochenende, fleißig, fleißig.« Er steckte die Daumen in den Gürtel, wippte auf den Absätzen und musterte Cain mit impertinenter Amüsiertheit.

»Was ist hier los?« Cain wedelte mit der linken Hand in Richtung Brutmutter, ohne Brom eines Blickes zu würdigen. Der Wachtmeister der Bedarfspolizei war ein Kotzbrocken in Uniform, fantasielos bis zum Abwinken, selbst wenn man ihn bis zu den Augäpfeln mit Dope vollpumpen würde. Es passte ins Bild, dass er hässlich war wie die Nacht. Unter einem pomadisierten Haarkissen kämpften ein schiefes Augenpaar, eine mitesserzerpolkte Nase und die grobschlächtigen Lippen verbissen um den Titel des missratensten Körperteils – nur um von der fassförmigen Leibesmitte klar auf die Plätze verwiesen zu werden. Zwei viel zu kleine Füße rundeten alles auf eine zwar lächerliche, aber durchaus konsequente Art ab.

Cain kannte die Akte von Brom. Ein mies gelauntes Schicksal wollte es, dass er immer wieder mit ihm zusammenarbeiten musste, und irgendwann hatte er sie sich kommen lassen, nur um zu wissen, wer ihm da regelmäßig den letzten Nerv raubte. Brom war, so hieß es in den Unterlagen, maximal für den mittleren Dienst geeignetes Genmaterial mit teilweise deutlich ausgeprägten Defiziten im Humankontakt. Von Verwendung in eigenverantwortlichen Arbeitsprozessen ist abzusehen. Selten hatte sich Cain einer Dienststelle so verbunden gefühlt wie beim Lesen dieser Zeilen. Das eigentliche Problem war nur: Brom hatte von seiner Unzulänglichkeit keine Ahnung. Und aus irgendeinem Cain schleierhaften Grund neigte Brom dazu, jede ihrer Begegnungen mit der Theatralik eines gönnerhaften Vorgesetzten zu beginnen.

»Der gute alte Adrenalinchopper!«, startete Brom einen zweiten Versuch, Herablassung mit Small Talk zu verbinden, und tätschelte Cains Krad. »Immer noch nicht befördert worden, was? Hab gehört, die Gemapo hat jetzt für Hauptinspektoren welche mit Amphetaminmotor. Die gehen ab wie Zäpfchen.«

Zäpfchen. Cains Unterhose klebte plötzlich noch ein bisschen klammer an den Backen, aber er schluckte seine Antwort hinunter. Heute Morgen hatte er sich selbst im Spiegel seines Bads gesehen: ein Mittfünfziger mit ergrauten Haaren und jener Art von Falten, die zu wenig Schlaf und zu viel Drogen gruben. Und jetzt gerade fühlte er sich noch fertiger, als er aussah. Aber so weit, dass er sich von Brom würde provozieren lassen, so weit war er dann doch noch nicht. Unsicheren Schritts wankte er in Richtung Brutmutter und steckte die Hände in die Taschen seines stahlgrauen Uniformmantels. »Also, was ist hier los?«, wiederholte er seine Frage.

Brom, der sich nach zwei gescheiterten Gesprächsversuchen schließlich doch seines niedrigeren Dienstrangs besann, zuckte mit den Schultern. »Bislang ungeklärter Maschinenexitus. Meldung kam gegen halb sechs Uhr morgens. Bin gleich los, und als ich gesehen habe, dass die Leiche ein HMW ist, hab ich bei euch Jungs durchgerufen.«

Natürlich hast du das, dachte Cain. Dienstvorschrift ist Dienstvorschrift, und ein Höheres Maschinenwesen, das ist so weit über deiner Zuständigkeit, dass du dein Hirn sofort wieder in den Dämmermodus zurückgeschaltet hast. Andererseits: Was hätte ein mitdenkender Brom schon für einen Beitrag leisten können?

Cains Blick zitterte von der toten Brutmutter hinaus aufs Gelände. Ein hoher, engmaschiger Drahtzaun umgab das Areal, darauf dichte Wolken Stacheldraht als Übersteigschutz. Ein gedrungenes Gebäude, ein Transformator- oder Wartungsschuppen vielleicht, in der vorderen linken Ecke. Auf der anderen Seite glaubte er, eine Pumpstation ausmachen zu können. Er ging ein paar Schritte, bis er an der Brutmutter vorbeischauen konnte. Vierhundert Meter bis zum Zaun, schätzte er, und da, am anderen Ende, da reckten sich noch eine Handvoll weiterer Maschinenkörper in den Himmel.

»Sind das auch Brutmütter?«, fragte er, während er die Augen gegen die Morgensonne abschirmte und vergeblich versuchte, die Kolosse näher zu bestimmen.

Brom, der ihm gefolgt war, grunzte zustimmend. »Sechs an der Zahl. Und ein Brutpfleger.«

»Sind die etwa auch …?«

»Schlafen.«

»Wenigstens etwas.« Cain nahm die Hand wieder runter und wandte sich um. »Was ist das hier überhaupt? Eine illegale Brutstätte? Ich hab kein Firmenschild am Eingang gesehen.«

»Gehört alles Pregnantam. Nutzen die als Reserve, wenn die Gebärhöfe überfüllt sind. Ist hier zwar verkackt hässlich, aber die Grundstückspreise sind kaum zu unterbieten – wer will schon in die Nördliche Industriebrache? Und mit den Brutmüttern können sie’s ja machen.«

»Hm. Pregnantam weiß Bescheid?«

»Sind auf dem Weg.«

»Und der Mechapathologe?«

»Müsste jeden Moment hier sein.«

Pregnantam. Cain kramte in seinem Hirn nach dem, was er über den Laden wusste. Viel war es nicht. Ein Gebärkonzern mittlerer Größe, Hauptsitz hier in Junktown. Eines der Unternehmen, die Generation um Generation neuer Staatsbürger ins Land pressten, Junkies für die Partei, maßgeschneidert und nach den Vorgaben des Fünfjahresplans. Bislang hatte er nicht mit Pregnantam zu tun gehabt, aber – der Tunnelblick inspizierte den stählernen Leib vor ihm – das würde sich nun ganz sicher ändern. »Verdammt jung«, sagte er.

»Was?« Brom betrachtete abwesend Cains Chopper.

»Holen Sie das Absperrband und sperren Sie die Umgebung ab, weiträumig. Jetzt ist es« – Cain bemühte sich, die Zeigerstellung auf seiner hervorgeholten Taschenuhr zu erkennen – »sieben. In spätestens einer halben Stunde werden die ersten Brutmütter ihre morgendlichen Krämpfe bekommen und aufwachen, und bis dahin sollte der Tatort gesichert sein. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, sind ein paar Gebärmaschinen, die hier in heller Aufregung rumwalzen, weil ihre Kollegin hops gegangen ist.«

»Tatort?« Brom fuhr herum, sein Gesicht zwei glotzende Augen.

»Was glauben Sie denn, Mann? Die Brutmutter hier hat noch keine drei Jahre auf dem Buckel, an Altersschwäche wird sie kaum gestorben sein. Und wenn hier nicht der sehr unwahrscheinliche Fall eines letalen technischen Versagens vorliegt, dann muss wohl jemand nachgeholfen haben, oder? Brom, wachen Sie auf, Sie sind mittendrin in einer Mordermittlung.«

Die Mischung aus Sensationslust, plötzlich aufflammendem Diensteifer und Sorge vor unbekannten Arbeitsabläufen, die über Broms grobporiges Gesicht flackerte, amüsierte Cain beinahe. Dann entschied er, dass er dafür keine Zeit hatte, eilte mit unsicheren Schritten auf die Brutmutter zu, zog sich das Geländer der Gangway hoch und verschwand, den völlig überforderten Brom sich selbst überlassend, in der Einstiegsluke.

Stille empfing ihn.

Tote Maschinen waren nichts Ungewohntes für Cain, sie waren Teil seines Berufs, aber die Atmosphäre, die ein HMW nach dem Ableben in seinem Innern hinterließ, war jedes Mal aufs Neue überwältigend. Nichts regte sich. Kein rhythmisches Stampfen von Pleuel- und Kolbenstangen, kein Belfern der Kessel mehr, das von den Wänden wieder und wieder zurückgeworfen wurde, kein Stakkatorattern der Lochkartenstanzer – vollkommene, totale Geräuschlosigkeit.

Cain legte eine Hand auf das Geländer des Laufgitters, auf dem er stand. Nichts. Der Motor, der sonst jede Strebe und jede Schraube dieses Körpers leicht vibrieren ließ, war nicht mehr. Zum ersten Mal seit ihrer Fertigung war die gigantische Maschine zur Ruhe gekommen. Verstummt für immer.

Wir, dachte Cain, wir sterben, und unser Körper bekommt Flecken, fängt an zu stinken und wird von Bakterien zersetzt. Und irgendwann sind wir weg. Ein Höheres Maschinenwesen aber wandelte sich nach seinem Tod zu etwas Ehrfurchtgebietendem, zu einem Mausoleum der Ingenieurskunst, ein stilles Sinnbild des strebsamen Schaffensprozesses, für den es einst vom Band gelaufen war; erhaben, edel, ewig.

Wieder fiel ihm auf, wie jung die Brutmutter war. Nirgends entdeckte er Rost, das Laufgitter war blank und das Geländer noch nicht abgewetzt. Die Luft roch nach kaltem Stahl und nicht nach dem Mief aus Östrogen, Schmieröl und Babypuder, der für ältere Brutmütter so charakteristisch war. Die Menopause setzte bei ihnen mit etwa fünfundzwanzig Jahren ein; die meisten ließen sich dann umrüsten und nahmen eine Stelle als Drogenküche an oder als Geldwäscherei, bis irgendwann die ersten Verschleißerscheinungen auftraten, ihr Innenleben immer störanfälliger wurde und sie schließlich den natürlichen Tod der Materialermüdung starben. Aber selbst die Billigmodelle unter ihnen konnten das Aussetzen ihres Zyklus um gut zwei Jahrzehnte überleben, und die hier hatte noch nicht mal die erste Hälfte ihres ersten beendet.

Er trat ein paar Schritte vor, weiter hinein in die Tote. Der Klang seiner genagelten Stiefelsohlen auf dem Laufgitter hallte metallen nach, und jedes Echo kam ihm beinahe vor wie ein Sakrileg. Ein paar Notleuchten, die beim Tod der Brutmutter automatisch eingesprungen waren und die Standardbeleuchtung ersetzt hatten, glommen im Dunkeln. In ein paar Stunden, wenn ihre Batterien erschöpft waren, würden auch sie erlöschen.

Cain legte den Kopf in den Nacken und sah bis ganz nach oben. Sein Sichtfeld franste an den Rändern immer noch aus, aber das änderte nichts an dem Anblick, der auf ihn niederstürzte. Es war ein Übereinander von Ebenen und Halbebenen, mit Steigleitern verbunden, halb verschluckt von der Dunkelheit und acht Stockwerke hoch bis hinauf zur Hirnkammer. Metall türmte sich auf Metall: Röhren, Kessel, Laufgitter – ein Industriepark, der in die Höhe gewachsen war.

Von hier sah jede Ebene mehr oder weniger gleich aus, aber Cain kannte die Anatomie einer Brutmutter besser als seine eigene. Erster und zweiter Stock: Brutkammern, fing er stumm an, die Stockwerke abzuzählen, und seine Lippen formten die Silben mit wie die Worte eines Gebets. Dritter Stock: Gebärstation. Vierter Stock: Eichstation. Fünfter Stock: Aufzucht und Pädiatrie. Sechster Stock: Kindergarten. Siebter Stock: Kontrollstation und Lebenserhaltung. Achter Stock: Nervensystem und Hirnkammer. Unter ihm das nach oben offene, zwei Stockwerke hohe Erdgeschoss: Maschinendeck, Motor und Kettenlaufwerke. Brutmütter bewegten sich nicht oft. Taten sie es aber doch einmal, dann war es, als würde ein Berg beseelt. Cain ließ den Kopf nach vorne klappen und schaute hinunter. Im Halbdunkel erspähte er einen der gigantischen Gleiskettenantriebe hinter den Motorblöcken.

Und irgendwo zwischen all dem Stahl wartete er auf ihn: der Grund, warum diese Gebärfabrik ihr Leben hatte lassen müssen. Cain spürte, wie sich bei diesem Gedanken die Atmosphäre wandelte, so wie sie es immer tat. Die andächtige Stille wurde zur Sprachlosigkeit des Opfers, das Mausoleum verschwand, und was es zurückließ, war ein Rätsel aus totem Metall, eine Leiche, aus der er die Antworten, die er brauchte, herausklauben würde, ein Mittel zum Zweck, um am Ende eine Akte mit einem Stempel versehen und vergessen zu können.

Barnabas Stukk kam gerade rechtzeitig.

Die spillerige Gestalt des Mechapathologen schlüpfte durch die Einstiegsluke.

»Sol.«

»Bas.«

»Siehst scheiße aus.«

»Tramadol.«

»600?«

»900.«

»Oha. Bluttest?«

»Morgen.«

»Klar. Dass Solomon Cain die Mindestwerte auch mal ohne Endspurt erreicht, werde ich wohl nicht mehr erleben.«

»Du mich auch.«

»Ist doch so. Alle ABS sofort am Monatsanfang verbrauchen, dann Prokrastinieren bis ultimo, und zum Schluss alles auf einmal. Quasi auf den letzten Drücker.« Stukk kicherte über sein Wortspiel, und seine spitze Nase zitterte dabei, als schnupperte sie dem Witz nach.

Stukk, ging es Cain durch den Kopf, fehlten nur noch die Schnurrhaare, und man könnte ihn überhaupt nicht mehr von einem Maulwurf unterscheiden. Von einem ölverschmierten Maulwurf. Keine zwei Stunden nach Schichtbeginn sah sein Partner aus, als hätte er in einer Werkstatt übernachtet. Wahrscheinlich hatte er das sogar. Aber leider war er gar nicht so im Unrecht: Cain verbrauchte seine Abstinenzberechtigungsscheine in aller Regel, sobald er sie bekam. Und wenn er keine offenen Fälle bearbeitete, konnte er auch keine weiteren beantragen. Das würde sich jetzt zwar ändern, trotzdem bildete Stucks Spott sein Konsumverhalten zwar überzogen, aber doch recht wahrheitsgetreu ab.

»Sehr witzig«, knurrte Cain. »Aber dir wird das Lachen schon vergehen. Hier wartet eine Menge Arbeit auf dich.«

Bei Untersuchungen von Todesfällen setzte die Gemapo Inspektoren und Mechapathologen immer als Gespann ein. Der eine war für die eigentliche Ermittlung zuständig, der andere für die Arbeit am und im Opfer. Es war eine erprobte Zweiteilung, die aber in Fällen wie diesem die Lastenverteilung etwas ungleich erschienen ließ: Die vollständige Obduktion würde Cains Partner Ewigkeiten beschäftigen.

Stukks Knopfaugenblick wanderte durch die Brutmutter. »Mach dir um mich keine Sorgen, aber du siehst aus, als ob du was gebrauchen könntest.« Er griff in eine Tasche seines grauen Uniformblaumanns und zog zwei Spritzampullen heraus. »Na, wären diese Babys hier was für dich? 0,8 Milligramm Naloxon. Ich mache dir einen guten Preis.« Er kicherte wieder.

Cains Hemd klebte am Rücken, die Unterhose war feuchter Stoff zwischen seinen Beinen. Sein Atem ging schwer, und die Welt sah immer noch aus wie ein Fensterbild. Der Opioidantagonist in Stukks Hand war so verlockend wie ein Glas Wasser in der Hölle.

»Geht schon, danke.«

»Wie du meinst.« Stukk zuckte mit den Schultern und steckte die Ampullen wieder ein. »Also, was ist hier passiert?«

»Das, mein lieber Barnabas, würde ich gern von dir wissen. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, noch nicht.«

»Aber eine Vermutung.«

»Dann sperrt Brom also das Gelände ab?«

»Wie ein Besengter. Ich habe ihn selten so dienstbeflissen gesehen.«

Cain schnaubte.

»Du glaubst, dass das hier ein Tatort ist?«

»Ich habe noch nie eine so junge und so tote Brutmutter gesehen. Du etwa?«

Stukk schürzte die Lippen. »Damals auf der Akademie, da hatten wir einmal diese Brutmutter, eine Uteri 911, flottes Teil. Die war in einen Kinderhandelring verwickelt gewesen oder so. Irgendwas in der Art. Wir haben sie nach der Giftspritze direkt in die Sezierhalle bekommen. Als Anschauungsobjekt. Das war was, sage ich dir, Jungejunge! Fünfzehn Monate war die erst in Betrieb gewesen, so was Frisches hast du noch nicht gesehen. Und die hier dürfte etwa doppelt so alt sein. Insofern …«

»Bas.«

»Schon gut, schon gut, ja, hast recht, das Mütterchen hier wird kaum eines natürlichen Todes gestorben sein?«

»So. Und was hältst du dann davon, wenn du jetzt deinen Arsch nach da unten oder nach da oben schwingst oder wohin auch immer du willst, und mit der Arbeit anfängst?«

»So gute Ideen bin ich von dir gar nicht gewohnt.« Stukk grinste ihn an. »Ich nehme mir als Erstes die Lebenserhaltung vor, vielleicht finde ich ja da schon was. Aber weißt du, was du inzwischen machen kannst?«

»Ermitteln vielleicht?«

»Wenn du willst, nur zu. Aber erst mal darfst du dem Tross von Pregnantam-Anzügen, die ich auf dem Weg hierher überholt habe, erklären, warum du ihren netten kleinen Brutpark dichtmachst.«

Cain stöhnte auf. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht. Eine maschinenpolizeiliche Ermittlung in einem Kapitalverbrechen stellte die Betriebsstätte automatisch und für ihre gesamte Dauer unter die Leitung der Gemapo, die erst mal die Produktion stoppte, um Ruhe zu haben. Standardvorgehensweise. Dass er den Brutpark von Brom nun unwiderruflich und offiziell als Tatort absperren ließ, bedeutete für Pregnantam vor allem eines: Verdienstausfall. Sieben Brutmütter, die unnütz rumstanden und das Gebären auf unbestimmte Zeit einstellten – das würde teuer werden.

Sechs, korrigierte sich Cain, nur noch sechs. Aber er wusste, dass das nichts änderte und dass der Konzern alles tun würde, um die Freigabe des Brutparks so schnell wie möglich zu erreichen.

Die Gruppe, von der Stukk gesprochen hatte, bestand mit Sicherheit zur Hälfte aus Anwälten, und sie würden seine Entscheidung anfechten, weil es das war, was Anwälte eben machten. Kübel voll notarieller Scheiße würden sie über ihm auskippen.

»Du brauchst nicht zufällig Hilfe da oben?«, fragte er resigniert und wusste schon, wie die Antwort ausfallen würde.

»Nicht um alles in der Welt.« Stukks Grinsen wurde noch breiter. Der Mechapathologe ergriff die nächste Steigleiter und fing an, an ihr emporzuklettern. »Ich wünsche dir viel Spaß.«

Cains Antwort ging in ohrenbetäubendem Tröten unter. Er schloss die Augen und stöhnte abermals. Die restlichen Brutmütter waren aufgewacht, und ihre Signalhörner gaben ihm unmissverständlich zu verstehen, dass sich gleich zu erbosten Anwälten auch noch aufgebrachte HMWs gesellen würden. Mit einem Mal tat er sich selbst sehr leid.

Von oben regnete Stukks Kichern auf ihn herab.

»Bas?«

»Sol?«

»Steht dein Angebot noch?«

Die Naloxon-Ampullen kamen angeflogen. »Aber nicht gleich alles auf einmal, alte Naschkatze!«

Cain fing die beiden Fläschchen mehr mit Glück als Geschick. Seine Hände schlossen sich um das kühle Glas. Er hatte noch nie auf Stukks Ratschläge gehört.

Heute würde er bestimmt nicht damit anfangen.

2

»Herr Direktor, Inspektor Solomon Cain. Von der Geheimen Maschinenpolizei.« Die Sekretärin schloss die Tür mit einem sanften Schmatzen hinter Cain. Er dankte ihr im Stillen. Sie hatte keinen Ärger gemacht und ihn sofort vorgelassen. Dabei hatte er an ihrem Blick gesehen, dass er einen ziemlich derangierten Eindruck machte. Es hätte zwar nichts geändert, aber eine biestige Sekretärin hätte ihn im Vorzimmer rösten können. Und Cain war nicht unbedingt in der Verfassung, in der er dem etwas hätte abgewinnen können.

Der Geburtsvorstand von Pregnantam stand am Fenster, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und schaute in den Hof hinunter.

»Setzen Sie sich, Inspektor, ich bin gleich bei Ihnen.« Geistesabwesend deutete er in Richtung der Besucherstühle vor seinem Schreibtisch und nahm dann wieder seine ursprüngliche Haltung ein. Cain stiefelte los, über die braunen Teppichfliesen und an zwei eingestaubten Plastikpalmen vorbei. In der Luft hing der Duft verbrannten Styropors: Crack.

Beim Hinsetzen blieb sein Blick am Namensschild hängen, das neben einem Uterusmodell auf dem Schreibtisch vor ihm stand. Jedediah Eigenbedarf Kort, Vorstand Nataldivision war dort zu lesen, und das war keine gute Nachricht. Kampfnamen aus der Revolutionszeit – die trugen heutzutage nur noch die 110-Prozentigen, Ultras, deren radikale Auslegung des Parteiprogramms den Umgang mit ihnen so angenehm machte wie den mit einer stumpfen Nadel.

Im Paradies sind die Tugendwächter die Schmeißfliegen, dachte Cain, bohrte sich in den Sessel und stellte sich auf die Fortsetzung des Empörungsstakkatos der Pregnantam-Anwälte ein – als Solovorstellung zwar, aber dafür in konzentrierter Form. Politschranzen wie Kort hätten eigentlich mehr als alle anderen Verständnis für die Arbeit der Gemapo haben müssen, aber stets waren sie es, die am meisten Scherereien machten. Durch den goldenen Lotus der Inneren Parteimitglieder am Revers wähnten sie sich über die Niederungen des Alltags erhaben, und das schloss natürlich auch polizeiliche Ermittlungen mit ein. Das war es vor allem, was sie Cain verhasst machte: dass sie sich erdreisteten, ihm bei seiner Arbeit reinzureden, und mal plump, mal durch die Hintertür mit ihren Verbindungen zum Politlabor drohten, wenn er sich weigerte, nach ihrer Pfeife tanzen.

Natürlich war Kort von seinen Anwälten über Cains Vorgehen unterrichtet worden. Das hier, das Aufbauen am Fenster, das Schweigen, das alles war die Ouvertüre für den üblichen Großkopferten-Bullshit, den er nur allzu gut kannte. Aber sollte Kort mal nur ruhig kommen, er war ganz gut darin, Bonzen auflaufen zu lassen, und mit jeder Sekunde, die verstrich, fühlte er sich besser: Er mochte zwar immer noch aussehen wie ein halb sedierter Heroinstudent im ersten Trimester, aber das Naloxon hatte ihn mittlerweile von den Tramadolnebenwirkungen befreit. Einzig seine Unterhose war immer noch klamm. Cain rutschte auf ihr rum und fühlte sich gleich erheblich grimmiger. Und wenn Kort ihn nicht für voll nahm, konnte ihm das nur nützen.

»Sind Sie sicher?«

Das allerdings war eine Überraschung. Damit hatte er nicht gerechnet. Die Frage war noch nicht mal entfernt verwandt mit den Eröffnungsklassikern »Haben Sie den Verstand verloren?« und »Wissen Sie eigentlich, wie viel Geld Sie mich kosten?« Interessant.

»Wie bitte?«

»Ob Sie sicher sind. Dass sie ermordet wurde.« Kort drehte sich um und suchte seinen Blick, Anfang dreißig vielleicht, mit Halbglatze, in einem orangen Frack und orangen Gamaschen, ein weicher Körper, den nur der regelmäßige Heroinkonsum vor der Verwanstung schützte und ihm so die seiner gesellschaftlichen Stellung angemessene Wespentaille ermöglichte. Seine Stimme war leise, beinahe belegt.

Cain war auf der Hut. Er konnte keine unterschwellige Aggressivität spüren, aber das musste nicht heißen, dass sie nicht da war. Gerade die Stillen machten oft mehr Ärger als die Schreihälse. Waren hartnäckiger. Hinterhältiger. Nein, er würde nicht den Fehler machen, Jedediah Eigenbedarf Kort zu unterschätzen. Wenn er sich jetzt auch nur die kleinste Blöße gab, einen Zweifel an seiner Entscheidung zuließ, dann würde der Geburtsvorstand ihn in der Luft zerreißen.

Der Tanz hatte begonnen.

»Sicher?« Cain beugte sich im Sessel nach vorn, breitbeinig, und stützte seine Unterarme auf die Schenkel. »Direktor, ich habe keine Beweise, ich habe keine Verdächtigen, ich habe kein Motiv. Ich habe bislang noch nicht mal eine Todesursache. Aber was ich habe, das sind zwanzig Jahre Berufserfahrung, und manchmal ist das alles, was ich brauche. Wissen Sie, wie viele HMWs ich in dieser Zeit gesehen habe, die noch vor ihrer ersten Hauptuntersuchung eines natürlichen Todes gestorben sind? Keine einzige. Aber ich habe mehr Maschinen gesehen, denen die Adrenalinleitungen zerschnitten, die Hirnkammern aufgebrochen und die Kardiomotoren manipuliert wurden, als auf ihren Betriebsschrottplatz passen würden. HMWs sind die kompliziertesten, komplexesten Konstrukte, die wir je erschaffen haben, und sie schaffen es auch nach Jahren, selbst die zu überraschen, die täglich mit ihnen zu tun haben. Ich schließe mich da nicht aus. Aber es gibt eine einfache Regel, Direktor, die stets und immer zutrifft: Ein früher Tod hat genau eine Ursache – den Menschen. Sie wollen wissen, ob ich sicher bin?« Cain holte tief Luft und atmete dann aus. »So sicher, wie Sie feststellen können, ob eine Ihrer Maschinen schwanger ist oder nicht.«

Kort hatte ihn die ganze Zeit mit geweiteten Crackpupillen angeschaut, ein stummer Strich vor dem hellen Fenster. Jetzt ließ er den Blick los und fixierte einen Punkt hinter Cains Kopf.

»Vielleicht war sie ja krank.«

»Ja, genau.« Cain schnaubte empört, aber sein Unbehagen wuchs. Korts Äußerung war so hanebüchen, dass es ihm selbst nicht entgehen konnte. Welche Fallstricke legte er ihm gerade aus? Was übersah er?

»Direktor, zeigen Sie mir die Brutmutter, die eine Krankheit entwickelt, von der die Zuchtaufsicht nichts mitbekommt – und die obendrein noch tödlich ist. Binnen kürzester Zeit. Bei Schwarzgebärenden mag das vielleicht passieren, in einem von zehntausend Fällen. Aber bei einem börsengelisteten Gebärkonzern? Sie wissen, dass das nicht möglich ist.«

»Kindbetttod? Technisches Versagen?«

»War die Brutmutter ein Westimport?«

Kort schüttelte den Kopf. »Sie war die Beste.«

»Dann können Sie sich die Antwort selbst geben.«

Für einen Moment hingen die Worte im Raum, mischten sich mit dem süßen Duft des aufgekochten Kokainhydrochlorids und fügten ihm eine bittere Note hinzu. »Ich weiß, Inspektor«, sagte Kort schließlich und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Augen. »Ich weiß. Aber sehen Sie es einem wie mir nach, dass er sich der bitteren Wahrheit erst stellt, wenn er den letzten Strohhalm der Hoffnung hat davonschwimmen sehen.«

Ungläubig kniff Cain die Augen zusammen. Was war das jetzt bitte?

»Ich sehe Sie erstaunt, Inspektor, meine Wortwahl überrascht Sie offensichtlich«, sagte Kort und drehte sich wieder zum Fenster. »Eine Brutmutter wurde ermordet, es gibt jetzt einen Haufen Scherereien mit den Behörden, und natürlich ist das ein herber finanzieller Verlust. Alles unangenehm und sicher auch schmerzhaft, aber doch eigentlich kein Grund, melodramatisch zu werden. Das ist es doch, was Sie jetzt denken, oder?«

Das war genau das, was Cain dachte. Aber Kort war wieder in sein Schweigen versunken, und sein Rücken wirkte nicht, als warte er auf eine Antwort.

»Ich will Ihnen etwas erklären«, setzte Kort nach einer Weile wieder an. »Pregnantam ist ein Gebärkonzern, und als solcher arbeiten wir profitorientiert, keine Frage. Aber Sie täten uns unrecht, wenn Sie uns auf das reduzierten. Die Worte sind abgedroschen, vor allem für ein Unternehmen wie das unsere, aber das macht sie nicht weniger richtig: Pregnantam ist eine Familie, wir sind eine Familie, und nur als solche funktionieren wir. Wir arbeiten zusammen, wir leben zusammen.« Er holte tief Luft. »Und wenn jemandem aus unserer Mitte etwas zustößt, gleich ob Mensch oder Maschine, dann ist das so, als ob es uns allen zugestoßen wäre. Es ist immer tragisch, wenn jemand vor seiner Zeit von uns gehen muss; an einem Ort wie diesem, an dem Leben produziert wird, Tag für Tag, spüren wir das vielleicht stärker als anderswo. Eine Krankheit, ein Unfall, ein unglücklicher Zufall – das alles wäre schlimm genug gewesen, wenn auch etwas, mit dem wir uns hätten abfinden können. Aber ein Mord? Das verändert alles. BM17 mag tot sein, aber ihr Mörder hätte ebenso uns alle angreifen können. Dieser heimtückische Akt ist ein Anschlag auf unser Gemeinwesen, auf unsere Familie. Und wissen Sie, was eine Familie macht, wenn sie angegriffen wurde?« Kort drehte sich wieder um, die Stimme ein hartes Knirschen. »Sie wehrt sich.«

Cain hielt seinem Blick stand. Korts Kiefer mahlten, noch vor wenigen Augenblicken hätte er das als typisches Symptom eines Crackheads angesehen, aber jetzt war er sich da nicht mehr so sicher. Allerdings war er auch noch nicht ganz bereit, an diese Wendung zu glauben – sie war einfach zu schön. Entweder war Kort tatsächlich erschüttert über den Tod seiner Brutmutter, und dann hatte er sehr gute Chancen, seine Ermittlung so durchzuziehen, wie er es für richtig hielt. Oder aber Kort war ein mieses Stück, vor dem er sich hüten musste.

»Und damit wollen Sie mir was sagen?«

»Dass Sie diesen Mörder zur Strecke bringen sollen, Inspektor. Finden Sie ihn und bringen Sie ihn zur Strecke. Das will ich Ihnen damit sagen. Und dass Sie dabei meine vollste Unterstützung haben. Was immer Sie brauchen – Sie bekommen es. Sperren Sie den Brutpark, so lange Sie wollen, nehmen Sie auseinander, wen oder was Sie wollen. Befragen Sie meinetwegen die gesamte Belegschaft, durchleuchten Sie unsere Zulieferer, unsere Tochterfirmen, unsere Kunden. Jeden. Nur: Finden Sie den Mörder. Und wenn Ihnen jemand Steine in den Weg legt, kommen Sie zu mir.«

»Ihre Anwälte haben dieses Angebot ein wenig anders ausgedrückt.«

»Sie werden Sie nicht mehr belästigen.« Kort machte eine wegwerfende Handbewegung. »Kettenhunde, die wieder an der Leine sind.«

Cain versuchte, in Korts Gesicht Anzeichen von Unaufrichtigkeit zu entdecken, fand aber keine. »Na schön. Aber ich warne Sie, Direktor. Wenn Sie irgendwelche Spielchen spielen, dann hören Sie besser jetzt damit auf. Ich werde auf Ihr Angebot zurückkommen, wahrscheinlich früher und öfter, als Ihnen lieb ist. Und ich werde dann besser nicht feststellen müssen, dass Ihre Worte nur leeres Gewäsch sind. Das da«, er deutete auf das goldene Blinken in Korts oberstem Knopfloch, »mag auf manche vielleicht Eindruck machen. Aber die Gemapo ist keine Parteiorganisation, und soweit mir bekannt ist, auch keine Abteilung des Politlabors. Wenn Sie kooperieren wollen, ist Ihre Hilfe willkommen. Wenn Sie mich verarschen, wird es Ihnen leidtun.«

Kort hob beschwichtigend die Hände. »Sie können mir glauben: Das ist nicht der Fall. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie misstrauisch sind und dass Ihr Misstrauen durch leidvolle Erfahrung gerechtfertigt ist. Aber ich habe nicht vor, Spielchen mit Ihnen zu spielen. Sie wollen einen Mörder fassen, und ich will, dass Ihnen das gelingt. Und wenn Sie mich lassen, beweise ich Ihnen das. Sie müssen mir nur sagen, wie.«

»Kein Problem. Was ich von Ihnen will, ist die Akte der Toten, die komplette: medizinische Unterlagen, Führungszeugnisse, Produktionsberichte. Wartungsprotokolle. Wenn es sie gibt, Tagebücher.«

»Betrachten Sie das als erledigt.«

»Dazu eine Aufstellung aller Angestellten, die mit ihr zusammengearbeitet haben, und deren Dienstpläne. Für welche Kunden hat BM17 im letzten Jahr geboren?«

»Nur für einen: die Generalinspektion des Ministeriums für den Wiederaufbau der Bevölkerung.«

Cain runzelte die Stirn. Ein privater Kunde wäre ihm lieber gewesen, von ihm aus auch ein staatliches Unternehmen. Ein Regierungsauftrag aber, das klang nach Behördenmikado und Büroautisten, die den ganzen Tag nichts anderes taten, als Mauern aus Akten zu errichten.

Kort musste seinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben, denn diesmal war er es, der auf seine Anstecknadel deutete. »Jetzt kommt Ihnen ›das da‹ gar nicht mehr so ungelegen, oder?«

»Wir werden sehen, Direktor. Es kann sicherlich nicht schaden, wenn Sie Ihre Kontakte spielen lassen. Aber erst, wenn ich Ihnen das sage, verstanden?« Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war ein übereifriger Bonze, der Beamte aufweckte, die man besser hätte schlafen lassen. »Für den Moment reicht es, wenn Sie mir die Ansprechpartner nennen.«

»In Ordnung. Kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Ja. Um das hier alles zu beschleunigen, können Sie mir sagen, ob es unter den Kollegen der Brutmutter vielleicht jemanden gibt, den man sich als Allerersten anschauen sollte.«

Kort nickte und ging zu seinen Schreibtisch. »Als ich vom Tod BM17s gehört habe, bin ich vom Schlimmsten ausgegangen«, sagte er dann. »Ich wusste, dass die Gemapo hier vorbeischauen würde, und habe geahnt, was Sie für Fragen stellen würden. Entsprechend habe ich mich über das soziale Umfeld von BM17 informieren lassen, und vielleicht gibt es tatsächlich jemanden.« Er machte eine Pause. »Epaphras Thon. Der Ontogenetiker von BM17. Die beiden waren liiert. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass er etwas mit der Sache zu tun haben sollte, aber die Partner von Verbrechensopfern stehen wahrscheinlich immer ganz oben auf Ihren Verdächtigenlisten, nehme ich an.«

»In der Tat. Wo finde ich ihn?«

»Er hat heute seinen freien Tag. Meine Sekretärin hat Ihnen die Adresse aufgeschrieben.« Er schob Cain einen Zettel zu, der auf dem Tisch lag.

Cain klaubte das Papier von der Tischplatte.

»Gut. Weiß Thon schon Bescheid?«

»Nicht dass ich wüsste.«

»Das soll auch so bleiben. Ich will sehen, wie er auf die Nachricht reagiert. In den meisten Fällen reicht das bereits aus.«

Die Sekretärin lugte herein. »Herr Direktor, ich habe einen Anruf.«

»Nicht jetzt.«

»Er ist für den Herrn Inspektor. Aus der Brutmutter.«

»Mein Mechapathologe«, sagte Cain schnell. »Das wird wichtig sein.«

»Stellen Sie ihn durch.«

»Sehr gern.« Die Sekretärin zog die Tür wieder zu, und wenige Augenblicke später klingelte der Fernsprechapparat auf dem Schreibtisch. Kort machte eine einladende Handbewegung. »Ihr Anruf.«

Cain erhob sich, griff über den Tisch und holte sich den klobigen Kasten heran. Er nahm die Ohrmuschel von ihrer Aufhängung und den Sprechtrichter zum Mund. »Bas, was gibt es?«

»Ich hoffe, ich störe dich nicht bei einem Schwätzchen mit deinen Pregnantam-Freunden?«, knisterte Stukks Stimme aus der Muschel. »Mit ihren Anwälten hast du dich ja prima verstanden – ich konnte euch selbst noch in der Hirnkammer schreien hören.«

»Bas.«

»Ich hab was ziemlich Interessantes gefunden, das solltest du dir mal ansehen. Ist zu kompliziert, um es dir am Telefon zu erklären. Die Leitung ist auch nicht sehr stabil.«

»In Ordnung, ich komme vorbei. Wo finde ich dich?«

»Ich bin ab jetzt in einem der Fruchtwassertanks.«

»Alles klar, ich bin auf dem Weg. Aber sag mal, ist Brom noch bei dir?«

»Na, was denkst du denn? Der muss doch schließlich aufpassen, dass hier niemand seinen Tatort betritt.« Stukks Kichern ging in statischem Rauschen unter.

»Sag ihm, dass er jemanden für mich aufs Präsidium bringen soll. Und zwar einen gewissen Epaphras Thon; der Mann ist Ontogenetiker bei Pregnantam und müsste heute zu Hause sein.« Er schaute auf den Zettel. »Die Adresse lautet: Südwestdistrikt, Wohnareal 14 428. Aber er soll seine Schnauze halten – ein Wort von der toten Brutmutter, und er regelt den Rest seiner Dienstzeit den Verkehr.«

»Wird erledigt. Bis später.« Stukk legte auf.

Cain hängte die Muschel wieder zurück und steckte den Zettel ein. »Ich werde mich jetzt wieder auf den Weg machen.« Er stand auf.

»Gibt es etwas Neues?«

»Mein Kollege ist auf irgendetwas gestoßen, keine Ahnung, was.«

»Aber Sie halten mich auf dem Laufenden?«

»Über alles, was Sie wissen müssen.« Er wandte sich zum Gehen. Kurz vor der Tür hielt er noch mal inne. »Da wäre noch etwas, das Sie für mich tun könnten.« Cain waren die sechs Brutmütter wieder eingefallen, die wie verstörte Zuchtkühe über den Brutpark blökten. »Sie können die Medikation Ihrer Brutmütter doch aus der Zentrale regeln, oder? Auch die der Brutmütter in Ihrem Industriebrachen-Brutpark?«

»Es gibt für den Notfall eine Fernsteuerkonsole, sicher.«

»Dann pumpen Sie ihnen so viel Diazepam in den Leib, wie Sie gerade noch verantworten können. Ich hätte gern meine Ruhe.«

Es war auf der fünften Transversale, ungefähr auf der Höhe des Denkmals des Unbekannten Drogentoten, als Cain entschied, Brom die Abholung des Ontogenetikers nicht allein überlassen zu können. Die Angelegenheit war zu wichtig, um der Verschwiegenheit des Wachtmeisters zu vertrauen. Aufgeputscht durch seinen ersten Mordfall wie nach einer Doppelration Speed, würde Brom den Mund nicht halten können, und wenn sein Leben davon abhinge.

Cain lenkte den Chopper durch den morgendlichen Verkehr. Acht Autos zählte er und drei Kräder, viel für diese Tageszeit. In Junktown war eine Ecke so schäbig wie die andere – wo sollte man also schon hinwollen? Vor allem, wenn man sich zu Hause an bessere Orte spritzen konnte. Im Politlabor würden sie wohl auch das als Erfolg werten, dachte er: Wer daheim an der Nadel hing oder vor der Stimmungsorgel hockte, konnte eben nicht draußen unterwegs sein.

Er gab Gas und überholte einen Psilocybin-Laster, die Mulde voll mit gelbbraunen Pilzköpfen, unterwegs zu den Tryptamin-Raffinerien im Westen der Stadt.

Fünfspurige leere Hauptstraßen als Beweis für den Sieg des Konsumismus, das war nicht schlecht, das war selbst den Halbhirnen im Ministerium für Öffentlichkeitsarbeit noch nicht eingefallen, vielleicht sollte er ihnen das mal rübertelegrafieren. Eine Weile hing er dem Gedanken nach, ein spöttisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht.

Andererseits – hatten sie nicht schon damals, als die KP die Bahnhöfe und Überlandstraßen dichtgemacht hatte, die Parole ausgegeben: Die einzigen Highways, die dieses Land braucht, sind die Venen seiner Bewohner? Womöglich, musste sich Cain eingestehen, während er auf der neuen Spur weiterfuhr, war seine Idee doch nicht ganz so frisch.

Genau wie die, Brom zu Thon zu schicken. Selbst wenn der den Mund halten könnte: Wäre Thon tatsächlich der Mörder, würde ihm bereits das Auftauchen eines Polizisten verraten, was die Stunde geschlagen hatte. Und die Miene, die Cain auf dem Präsidium zu Gesicht bekäme, wäre eine Maske geheuchelter Betroffenheit. Keine Chance mehr auf spontanen Selbstverrat. Nein, er musste der Erste sein, der an Thons Tür klopfte, und seine echte, wahre Reaktion sehen, wenn er ihm den Dienstausweis hinhielt.

Cain zog die Nase hoch und spuckte aus. Der Fahrtwind wehte den Klumpen sofort nach hinten weg, in wenigen Augenblicken würde er auf dem Asphalt aufschlagen, ein abruptes, hartes Ende eines viel zu kurzen Flugs. So wie bei seinen Gedankenspielen. Im Laufe der Jahre hatte er sich schon so oft in die Tasche gelogen, jedes Mal kam dasselbe dabei heraus, jedes Mal versuchte er es aufs Neue – nach einer kurzen Flucht in die Illusion folgte der Aufprall auf dem Bitumen der Realität. Er konnte noch so viele Gründe für seine Planänderung aufführen, am Ende musste er doch zumindest vor sich selbst eingestehen: Es war völlig egal, wer Thon abholte und wie lange dieser sich auf sein Verhör vorbereiten konnte – am Ende würde er die Wahrheit so oder so aus ihm herausbekommen.

Aber was spielte das schon für eine Rolle, wenn er einen Vorwand finden konnte, an der Goldenen Reihe vorbeizufahren?

Da vorne kam sie bereits in Sicht, ein Stelenfeld zur Linken und zur Rechten der Prachtstraße, 15 422 Quader in je acht Reihen auf beiden Seiten, und jedes Jahr wurden es mehr. 15 422 Vorbilder, denen er nie nacheifern würde. 15 422 graue Blöcke, 15 422 Goldene Schüsse. Für die Partei, für die Sache feierlich in die Venen gedrückt vor den Augen der aufmarschierten Konsumgemeinschaft. Ein Opfer, dargebracht in den Lichtdomen der großen Rauschparteitage, als quasi-sakrale Hingabe für die Neue Ordnung. 15 422 Fixerheilige, deren heroininduzierter Übergang ins Parteinirwana hier seine Verewigung in Beton erfuhr.

Cain raste hinein in das Feld und war mitten unter ihnen. Er spürte, wie sein Nebennierenmark Adrenalin ausschüttete, das ihm mit hellem Stechen in den Körper fuhr, wie immer, und er spürte die Sogwirkung, die von dem Monument ausging. Der Einzelne verschwand zwischen den haushohen Stelen, und die Geschwindigkeit der Fahrt verdichtete die vordersten Reihen zu schier endlosen grauen Bändern, zu zwei Leitplanken am Straßenrand, die die einzig richtige Richtung wiesen: hin auf die Zentrale der KP.

Aber das war es nicht, was ihn immer wieder zwang, diesen Weg zu nehmen. Nicht das Gefühl, Teil einer Sache zu sein, die größer war als man selbst, eins mit ihr zu werden auf dem Weg zum alleinseligmachenden Zentrum der Welt. Das nicht. Es war der Name, der irgendwo im letzten Drittel des Felds auf einer der Stelen stehen musste, links hinten in der sechsten Reihe. Ihr Name.

Tabea Cain.

Er hatte ihre Stele nie gesucht, dabei hatten sie ihm in den Schreiben sogar die Nummer und den genauen Standort mitgeteilt. Stele 9212 im Planquadrat L PQ 17. Alles, was er je gemacht hatte, war, die Straße entlangzufahren. Mehr Nähe ging nicht, nicht mehr. Aber weniger ging auch nicht. Er brauchte diese Vorbeifahrten. Weil sie schmerzten, weil sie guttaten. Weil sie bewiesen, dass er recht und alle anderen sich geirrt hatten: Er würde nicht verstehen, nicht in hundert Jahren. Täte er es, würde er am Proliferationstag einen Kranz am Fuße ihrer Stele niederlegen, und gut wäre es.

Aber nichts war gut. Er war noch da, allein, weil sie gegangen war und ihn zurückgelassen hatte.

Seine Fahrten waren keine Trauerbekundungen. Sie waren Anklagen.

Er beschleunigte den Chopper abermals und trieb die Tachonadel tief hinein in den roten Bereich. Der Motor röhrte gequält, und Cain spürte die Wut in sich hochkochen, ein ungebändigtes Tier, fauchend, aber hilflos. Er passierte die Stelle, auf deren Höhe sich ihre Stele in etwa befinden musste, zum zweiten Mal an diesem Tag verengte sich sein Blick zu einem Tunnel, und wie immer fand er erst wieder im Kreisverkehr hinter der Goldenen Reihe zu sich. Schwer atmend, erschöpft, sterbende Wut im Bauch und den Kopf voll weißen Rauschens. Seine Augen tränten vom Fahrtwind, und das war der Teil der Lüge, den er sich sorgsam hütete niederzureißen.

Über dem Südwestdistrikt lag ein Hauch von Marmorkuchen. Heute war Gebäcktag, und das Viertel war noch nicht so weit verfallen, dass sämtliche Straßenbedufter ausgefallen waren.

Wohnareal 14 428 war so charmant, wie sein Name es vermuten ließ. Eine Parzelle grauen Grases, aus deren Mitte sich ein ebenso graues Wohniglu aus Bakelitziegeln erhob. Der brusthohe Maschendrahtzaun, der das Grundstück von der Straße und den Nachbarparzellen abtrennte, war ein braun korrodiertes Netz aus Beulen, das sich tapfer an die wenigen Pfosten klammerte, die noch niemand aus dem Boden gerissen hatte. Das, was der Immobilienprospekt einmal als Garten bezeichnet hatte, war leer bis auf die obligatorische Mülltonne. Ein Kleinbürgertraum, wie ihn die Partei ihren Mitgliedern millionenfach im ganzen Land mit günstigen Krediten verwirklicht hatte. Die unterste Stufe der Mittelschicht wohnte in solchen Iglus – Wachtmeister wie Brom waren hier zu Hause, Affektanten, die nur Standardemotionen destillieren konnten, Genbäcker, Schichtleiter. Und Ontogenetiker wie Epaphras Thon.

Cain trat durch die offen stehende Zauntür und ging auf die Mülltonne zu. Sie war abgeschlossen, ein Umstand, der kein allzu gutes Licht auf die Gegend warf. Müll war der offenkundige Beweis, dass man seinen Bürgerpflichten als Konsument nachkam, dass man es sich leisten konnte, ihnen nachzukommen, und entsprechend wertvoll. Dass Thon seine Mülltonne mit einem Schloss versehen hatte, bedeutete entweder, dass er seinen Nachbarn nicht über den Weg traute. Oder dass er nicht so viel Müll produzieren oder kaufen konnte, wie es sein sozialer Status verlangte, und diesen Makel mit einem Vorhängeschloss zu verbergen suchte. Im ersten Fall waren Thons Nachbarn wahrscheinlich Diebe, im zweiten ließen sie einem der ihren eine offensichtliche soziale Schlamperei durchgehen. Was wiederum Rückschlüsse auf ihre eigene politische Zuverlässigkeit zuließ. In Cains Wohndistrikt hätte ein Schloss an den Mülltonnen zu sofortiger Kündigung geführt und zu einer Meldung bei den Behörden. Aber das war schließlich eine Gegend, die für Ontogenetiker und ihresgleichen unerreichbar war. Zum Glück, dachte er, denn Gesellen wie Brom auch noch als Nachbarn zu haben … Er schüttelte sich.

Er ließ von der Mülltonne ab und wandte sich dem Iglu zu. 56,95 Quadratmeter Wohnfläche, zwei Stockwerke, fünf Fenster, Adrenalinheizung – das Standardmodell für die Humanklassen Ba3 bis Baa1, eine Unterkunft, so durchschnittlich wie ihre Bewohner. Das Alter schätzte er auf zehn, fünfzehn Jahre; der Flugsand aus der Graubeigen Sandeinöde hatte bereits angefangen, die Bakelitziegel zu zerkauen. Dieselbe Zeitspanne in die Zukunft, dann, wenn der Kredit abgezahlt wäre, und von dem Iglu würde nur noch das Skelett aus Plastitstahl übrig sein, ein von der Witterung glatt geschmirgeltes Überbleibsel eines gebrochenen Versprechens.

Das Gesicht am Fenster verschwand beinahe in dem Augenblick, in dem Cain es sah. Die Gardinen im ersten Stock zitterten leicht, dann war der Mann weg.

Die Reflexbögen von Cains Muskelapparat übernahmen die Steuerung und ließen ihn nach vorne schnellen, auf die Rundtür des Iglus zu. Sie war abgeschlossen, natürlich, und Cain ließ zweimal vergeblich seine Schulter gegen sie krachen, bevor er sich der Feuerleiter auf der anderen Seite des Iglus entsann.

Mehr Zeit brauchte der andere nicht. Als Cain um das Iglu herumgeschossen kam, war der schon die Leiter hinunter, über die paar Meter bis zur Grundstücksgrenze hinweg und gerade dabei, durch ein Loch im Zaun zu schlüpfen.

»Gemapo, stehen bleiben!«, schrie Cain. Er jagte dem Fliehenden hinterher.

Sand knackte unter seinen Stiefeln, als er über das Grundstück flog. Der Fliehende verschwand hinter dem benachbarten Wohniglu. Cain setzte durch die Zaunlücke. Sein Mantel blieb an einem Drahtende hängen und riss knirschend. Er stolperte, mühte sich, das Gleichgewicht zu wahren. Rannte weiter.

Als er um das Iglu bog, war der andere verschwunden.

Die Grundstückstür stand offen, die Straße dahinter erstreckte sich zu beiden Seiten in Leblosigkeit. Eine Parzelle wie die nächste, die Gartentüren offen, und durch jede hätte der andere entkommen können. Cain fluchte.

Auf gut Glück wählte er eine aus, rannte durch den Garten bis zur anderen Grundstücksseite und sah sich um. Nichts.

Das Blut in seinen Ohren rauschte vom kurzen Sprint. Er schluckte einen Mundvoll Speichel und musste sich eingestehen, stoßweise atmend und mit vor Anstrengung verzogenem Gesicht, dass die Verfolgung zu Ende war, bevor sie richtig angefangen hatte.

Voller Frust stampfte er mit dem Fuß auf und krallte die Hände in den Mantelstoff.

Auf seiner Fahrt hatte er unweit von hier eine Terrorwache der Bepo gesehen, die gelangweilt auf ihrem Posten die Stunden bis zum Schichtende zählte, aber bis er den Beamten erklärt hätte, was los war, wäre Thon selbst auf allen vieren kriechend entkommen. Fluchend ging er zurück.

Als er die Notrufsäule an der Ecke sah, besserte sich seine Laune schlagartig.

»Inspektor Cain, Gemapo«, blaffte er noch immer leicht atemlos in die Sprechmuschel. »Habe hier einen Neun-Zwölfer im Südwestdistrikt. Ich brauche Zerebralwächter in der gesamten Umgebung, Wohnareale 10 000 bis 18 000. Autorisation Cain-vier-sieben-alpha-tango. Gesucht wird Humanbürger Epaphras Thon.«

Die Bestätigung rhabarberte aus dem Hörer, Cain legte auf. Zumindest gab es doch noch eine Chance, Thon zu erwischen. Die ersten Zerebralwächter würden binnen weniger Minuten hier sein, und der Ontogenetiker bräuchte schon einen Wagen, einen sehr schnellen, um rechtzeitig aus dem von Cain umgrenzten Gebiet zu fliehen. Die Wächter würden seine Hirnströme aufspüren wie Jagdhunde Geruch und ihn zur Strecke bringen.

Cain atmete tief durch. Er klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen, beäugte missvergnügt den Riss in seinem Mantel und ging dann den Weg zurück zu Wohnareal 14 428. Auf ihn wartete eine Hausdurchsuchung.

Die Wohnung roch nach Scheuermilch und Kohl. Cain war über die Feuerleiter und den offenen Notausgang eingetreten. Der Geruch kam von unten herauf, er füllte die ansonsten leeren Räume und nahm ihnen die Atmosphäre völliger Verlassenheit. Karg, dachte Cain, als er durchs obere Stockwerk schritt, aber er hatte nichts anderes erwartet. Ontogenetiker waren nataltechnische Assistenten, als solche gehörten sie zum wissenschaftlichen Personal zweiter Ordnung, und dem wurde ein aufs Wesentliche fokussierter Charakter in die Gene gelegt. Er fuhr mit den Fingern über die Türrahmen: kein Staub. Auch das war nicht überraschend. DNA-programmierte Reinlichkeit ließ sich auch in den eigenen vier Wänden nicht abschalten.

Im Schlafzimmer fand er ein zerwühltes Bett, ein klarer Verstoß gegen den angeborenen Drang zur Ordnung und ein erster Hinweis, dass mit Thon etwas nicht stimmte. Er hielt die Hände über die Laken, spürte aber keine Körperwärme mehr. Auf dem Nachttisch neben dem Bett lag ein umgedrehter Ferrotypierahmen. Schon vor dem Umdrehen wusste Cain, dass es ein Bild von BM17 war. Es war eine Halbtotale, die Brutmutter im Gegenlicht auf einem Werksgelände, weichgezeichnet und nachträglich koloriert.

Die Stimmungsorgel an der Wand komplettierte das Bild: Sie war aus, aber Thon hatte sich an ihr zu schaffen gemacht und einen selbstgebauten Override-Schalter angebracht. Eine weit verbreitete Praxis, mit der die Sicherheitssperren des Geräts umgangen wurden. Die meisten Emohacker holten sich so ein paar Programme mehr, als sie zu zahlen bereit waren, oder besorgten sich zusätzliche Abstinenztage – lässliche Sünden, die maximal mit einer Geldstrafe geahndet wurden, wenn sie denn aufflogen. In diesem Fall aber zeigte das Bedienfeld eine höchst illegale Einstellung: Die Basisemotion war Verzweiflung, zugemischt waren Ohnmacht und Enttäuschung. Und Zorn. Jede Menge Zorn. Die Dosierung war so hoch, dass sie den Emotionsgenerator der Orgel bis an die Leistungsgrenze geführt haben musste. Und auch wenn die kein sonderlich hochwertiges Modell war – das war eine Einstellung, die aus Memmen Mörder machte.

Cain pfiff durch die Zähne. »Mein lieber Epaphras, da hat sich aber einer ganz schön aufgeputscht, was?« Triumphierend tippte er die Stimmungsorgel an, dann machte er sich auf den Weg nach unten. Das Wie war also geklärt, aber was hatte den Ontogenetiker dazu getrieben? Hatte es Streit gegeben? Wenn ja, worüber? Hatte BM17 sich von ihm getrennt? Gab es einen anderen?

Das nölende Pfeifen eines Zerebralwächters unterbrach seine Überlegungen. Cain spurtete die letzten Stufen hinunter, eilte durch den Flur in die Küche und sah aus dem Fenster. Auf der Straße fuhr der Wächter auf seinen kugeligen Vollgummireifen vorbei, hoch wie eine Straßenlaterne und von ähnlicher Gestalt. An seinem oberen, geschwungenen Ende saßen eine 360-Grad-Kamera und darunter das Zerebralspektroskop, das Gehirnfunktionen in der näheren Umgebung messen konnte. Eingestellt auf Thons spezifisches Hirnwellenmuster, hatte der Ontogenetiker keine Chance, unentdeckt zu bleiben, wenn er sich in den 300 Metern der Reichweite des Zerebralwächters aufhielt. Cain hob grüßend die rechte Hand an die Schläfe und schaute der Maschine nach, bis sie aus seinem Sichtfeld verschwunden war. Er mochte diese Maschinen. Zerebralwächter waren keine HMWs, ihr Intellekt war etwa mit dem eines schlauen Hundes zu vergleichen. Aber sie waren unermüdliche Arbeiter, nützliche Kollegen, die ihm schon so manchen Täter aufgespürt hatten, und dabei blieben sie stets unkompliziert und machten so gut wie nie Schwierigkeiten. Er wandte sich vom Fenster ab und wieder seiner Aufgabe zu. Die Jagd nach Thon war in guten Händen.

Noch in der Küche wurde er fündig. Auf der Anrichte neben dem Waschbecken stand ein Dexedrin-Naseninhalator neben einem leeren Blister Amphetamintabletten. Er steckte beides in eine Beweismitteltüte.

»Du wolltest auf Nummer sicher gehen, stimmt’s? Keinen Platz mehr lassen für letzte Gewissensbisse, dir jeden Ausweg verbauen. Hast dir das Speed reingezogen, dich vor deine Stimmungsorgel gesetzt und deinen Kummer in Aggression umgetauscht. Und dann bist du losgezogen und hast deiner Liebsten im Vollrausch den Schalter umgelegt.« Cain schüttelte den Kopf. Das war das Problem mit diesen Wissenschaftlertypen. Sie waren von Natur aus gründlich, und so hatte Thon seinen zweifellos hasenfüßigen Charakter mit dem Amphetamin auf Linie gebracht und war dann – ohne Möglichkeit, vorher auszusteigen – auf der Wutschiene bis zur Endstation gefahren. AKV war der Fachbegriff dafür, Aggressionseinleitendes Konsumverhalten.

Als Cain ins Wohnzimmer ging, hämmerte es an der Iglutür. »Aufmachen, sofort aufmachen! Bedarfspolizei, machen Sie auf!« Das dünne Plastiktürblatt ließ keinen Zweifel daran, wer gekommen war. Seufzend ging Cain zur Tür, entriegelte sie und ließ einen perplexen Wachtmeister Brom ein.

»Was machen Sie denn …? Wie kommen Sie …?« Sich plötzlich Cain gegenüberzusehen, nahm Brom zu sehr mit, um noch in vollständigen Sätzen sprechen zu können. Der nahm darauf keine Rücksicht und ging wortlos zurück ins Wohnzimmer. Wenn Brom jemals von der Obrigkeit gesucht werden sollte, dachte er, dürfte er vielleicht der Erste sein, der gegen Zerebralwächter ganz gute Chancen hatte.

»Überall fahren Zebras rum, hat das was mit …? Habe ich was …? Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte, Doktor Stukk meinte … Aber sagen Sie doch mal etwas! Was ist denn hier los?« Brom, ganz knallrote Hängebacken, war Cain hinterhergestampft und blieb plusternd in der Wohnzimmertür stehen. Dann, als er merkte, dass Cain ihn nicht beachtete, folgte er dessen Blick.

Auf dem Couchtisch, neben dem Schaumstoffsofa das einzige Möbelstück im Raum, lag ein einzelnes Maschinenteil. Es war faustgroß und aus Edelstahl und sah aus wie ein Ring mit zwei Zwischenstreben.

»Was ist das?«, fragte Brom.

»Das, Brom«, sagte Cain, »ist unsere Todesursache.«

Dann steckte er die Herzklappe ein.

3

Stukk saß inmitten von Schrauben.

Der Körper des Mechapathologen sah in dem gigantischen Fruchtwassertank noch winziger aus, als er ohnehin war. Seine Finger huschten über ein freigelegtes Relais im Stahlboden, steckten hier und da Kabel um und kippten Schalter hin und her. Nach jeder Aktion nickte der kahle Kopf, ab und an hielt Stukk in seiner Untersuchung inne und füllte den Obduktionsbogen weiter aus, der in der Kladde neben ihm klemmte. Er summte.

Cain stand in der Einstiegsluke und schaute auf seinen Partner hinunter, der vier Meter unter ihm im Schein einer batteriebetriebenen Grubenlampe arbeitete. Ein Maulwurf in seiner Höhle, dachte er, glücklich und zufrieden.

Er räusperte sich. Stukk blickte nach oben. »Sol, alter Bedröhnski, da bist du ja! Wie ich sehe, hast du den Weg hierher gefunden.« Im leeren Tank hallte seine Stimme dumpf nach.

»Ja, war kein Problem.«

»Komm runter, das Wasser hab ich abgelassen.« Stukk winkte.

Cain musste widerwillig lächeln. »Tatsächlich? Ist mir noch nicht aufgefallen.« Doch Stukk hatte sich schon wieder seiner Arbeit zugewandt und war weggetaucht. Cain griff nach den Geländerstangen der Leiter und kletterte nach unten. Die Wände des Tanks glänzten feucht, und mit jeder Sprosse, die Cain nahm, wurde der Geruch des Fruchtwassers stärker, eine intensive Note irgendwo zwischen Pfirsich und Sperma. Unten angekommen, schob er sich vorsichtig vor: Er hatte keine Lust, auf dem nassen Boden auszurutschen.