Kaffee mit Blut und Zucker - Dirk Führmann - E-Book

Kaffee mit Blut und Zucker E-Book

Dirk Führmann

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Beschreibung

Der pensionierte Ingenieur Heinrich Lichtenberg hat vor einigen Jahren seine Frau bei einem Autounfall verloren und lebt nun allein in einer großen Villa. Er liebt seine Tochter und seine Enkeltochter über alles. Als die beiden, und auch er selbst, vom geschiedenen Mann seiner Tochter bedroht und angegriffen werden und die Polizei ihnen nicht helfen kann, entschließt er sich zum Kampf. Es wird nicht sein letzter sein.

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INHALT

Geburtstagskaffee

Kneipengespräche

Radtour mit Freunden

Wiedersehen mit Gunter

Magenprobleme

Frau im Café und Frau im Wasser

Toilettenfrauen und Tattoos

Ein Mädchen in Not

Die Pendeluhr

Der Abend mit Birgit

Das Mädchen im Restaurant

Vorfall im Maisfeld

Burgbesichtigung

Die German Road Patrol

Eingesperrt im Bad

Der Bettler

Die bedrohte Krankenschwester

Frau Meinersens Kirschlikör

Ungebetener Besuch

Urlaub auf Mallorca

Ein schöner Abend

Ausflug nach Valldemossa

Motorradtour über die Insel

Antiquitätenladen in Emden

Tage des Schmerzes

Vereinssitzung

Ein traumatisiertes Kind

GEBURTSTAGSKAFFEE

Montag, 5. Mai 2008. Auf dem Grundstück steht ein großer Kastanienbaum, der bereits frische Blätter ausgetrieben und das vor kurzem noch etwas trostlos aussehende Gehölz in eine wahre Augenweide verwandelt hat. Der Vorbesitzer, der zurückgezogen und allein in dem Haus gelebt hatte, war unheilbar an Lungenkrebs erkrankt und hatte sich an einem Ast des Baumes aufgeknüpft.

Das jedenfalls erzählte die Nachbarin Frau Meinersen ihm, Heinrich Lichtenberg, dem seit einigen Jahren neuen Besitzer des Anwesens. Sie erblickte ihren früheren Nachbarn eines Morgens vom Fenster ihrer Küche aus in dem Geäst hängend und informierte die Polizei, die eine liegende Trittleiter, eine leere Weinflasche und einige Zigarettenkippen in der Nähe der Leiche fand.

Auf halbem Weg zwischen Kastanie und Wohnhaus wartet ein weiß angestrichener Pavillon, an dem stellenweise die Farbe abblättert, auf Besucher, die auf den Bänken in seinem Inneren Platz nehmen und von dort aus den Ausblick auf den etwas verwilderten, aber fantasievoll gestalteten Garten genießen.

Rund um den hölzernen Pavillon wurde ein Gartenteich angelegt, der von Schilfpflanzen umsäumt ist und in dem sich einige Goldfische und Karpfen tummeln.

Eine kleine Brücke ermöglicht den Zugang über den Teich, der den Pavillon wie ein Burggraben umschließt.

Die Terrassentür der alten Villa steht offen. Das Telefon klingelt und ein älterer Herr mit grauen, kurz geschnitten Haaren nimmt den Hörer ab. »Lichtenberg!«

»Hallo, hier ist Manuela. Wie geht es dir Papa?«

»Hallo Manuela! Danke, es geht mir gut, und dir?«

»Mir geht es auch gut. Ich möchte dich für nächsten Sonntag zum Geburtstagskaffee einladen. Ich würde mich freuen, wenn du kommst. Wir haben uns ja schon einige Wochen nicht gesehen.«

»Natürlich komme ich. Ich werde doch den Geburtstag meiner einzigen Tochter nicht versäumen. Ich bin dann irgendwann am frühen Nachmittag da.«

»Prima! Also bis dann, mach es gut!«

»Ja, du auch, bis dann!«

Am Sonntagvormittag ist das Wetter sehr angenehm. Die Luft ist mild und trocken und nur ein paar kleine Wölkchen zieren den ansonsten strahlend blauen Himmel.

Heinrich Lichtenberg, der in der Stadt Braunschweig wohnt, ist mit seinem Auto auf der Landstraße unterwegs zu seiner Tochter.

Einige Rehe verstecken sich im Gebüsch neben der Straße, während sich das Auto von Lichtenberg nähert. Als er bis auf zehn Meter an die Tiere herangekommen ist, springen diese plötzlich aus ihrer Deckung und laufen über die Straße. Er macht eine Vollbremsung und drei Rehe können unbehelligt die Fahrbahn überqueren. Aber das letzte wird voll von dem Auto erfasst. Lichtenberg stellt die Warnblinkanlage an, steigt aus und geht zu dem Tier vor seinem Auto. Es rührt sich nicht mehr und Blut läuft aus seinem Maul. Dem Reh ist offensichtlich nicht mehr zu helfen. Lichtenberg ist wütend über sich, weil er einen Moment lang unkonzentriert war. Wäre er etwas aufmerksamer gewesen und langsamer gefahren, hätte er den Zusammenstoß vermutlich verhindern können, und das bedauernswerte Geschöpf könnte sich weiter seines Daseins erfreuen. Er fragt sich, ob die anderen Rehe den Tod ihres Artgenossen ähnlich betrauern wie Menschen, wenn sie einen Angehörigen oder Freund durch einen Unfall verlieren, oder ob sie sein Dahinscheiden einfach nur zur Kenntnis nehmen.

Der Schaden an dem Auto ist nur gering und eine Reparatur wohl nicht nötig. Lichtenberg zieht das tote Tier von der Straße, ruft mit seinem Mobiltelefon die Polizei an und schildert den Vorfall, damit diese den zuständigen Jäger, oder wen auch immer, informieren kann und das verstorbene Reh abgeholt wird. Er zündet sich eine Zigarette an.

Am frühen Nachmittag trifft Lichtenberg bei seiner Tochter ein. Sie wohnt mit ihrer sechsjährigen Tochter in einem Einfamilienhaus am Stadtrand von Gütersloh. Sie begrüßen sich herzlich und umarmen sich. Lichtenberg sieht seiner Tochter lächelnd in die Augen, während er ihre Schultern mit seinen Händen umfasst.

»Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag, mein Liebes!«

Ihm fällt das leicht geschwollene Auge seiner Tochter auf und er erkennt auch, ohne sich dies anmerken zu lassen, die reichlich aufgetragene Schminke, unter der sich vermutlich blutunterlaufene Hautpartien verbergen.

Dann begrüßt er liebevoll seine Enkelin, indem er ihr sanft über den Kopf streichelt.

»Hallo Jasmin, wie geht es dir?« Jasmin streckt Lichtenberg den Zeigefinger ihrer linken Hand entgegen.

»Ich habe mich am Finger geschnitten. Guck mal hier, Opa!«

»Das ist aber ein hübsches Pflaster. Wie ist denn das passiert?«

»Ich habe Mamma beim Kartoffeln schälen geholfen.«

Sie setzen sich an den Tisch und trinken Kaffee. Lichtenberg wendet sich seiner Enkeltochter zu.

»Gefällt es dir in der Schule, Jasmin?« Jasmin antwortet ihm, ohne ihn anzusehen, da sie gerade konzentriert damit beschäftigt ist, ein Stück Schokoladentorte aufzugabeln.

»Ja, letztes Mal haben wir gemalt. Ich habe ein Bild von Mamma gemacht.«

Nach einer Weile steht Jasmin von der Kaffeetafel auf und spielt in einer Ecke des Wohnzimmers mit ihren Puppen. Lichtenberg sieht seine Tochter mit ernster Miene an.

»Lass mich mal raten. Das blaue Auge ist doch von Stefan?«

Manuela zögert einen Moment, bevor sie antwortet.

»Ja, stimmt! Ich habe ihn zufällig in der Stadt beim Einkaufen getroffen. Er wird mit der Trennung nicht fertig. Ich habe es aufgegeben, mit ihm darüber zu diskutieren. Hoffentlich sieht er irgendwann ein, dass es keinen Sinn hat, mich weiter zu bedrängen.«

Sie gehen in den angrenzenden Wintergarten.

»Hier sitze ich im Herbst fast jeden Abend und genieße den Ausblick auf den Garten. Im Sommer verwandelt sich dieser Glaskasten allerdings in eine Sauna und ich sitze lieber draußen auf der Terrasse.«

Lichtenberg stößt versehentlich ein kleines Tischchen mitsamt einem darauf platzierten Blumenkübel um, der gegen eine Scheibe des Wintergartens fällt und diese zerschlägt.

»Das tut mit leid, Manuela.«

»Ist doch nicht schlimm, Papa. Scherben bringen Glück.«

»Meine Versicherung wird den Schaden übernehmen und ich werde mich um die Reparatur kümmern – keine Widerrede!«

»Lass uns in den Garten gehen, Papa!«

»Dein Garten ist eindeutig langweiliger als meiner.«

»Du meinst wohl, gepflegter?«

»Das wollte ich damit sagen. Hast du ihn angezeigt?«

»Nein, ich glaube, das würde ihn nur noch ärgerlicher machen. Ich versuche, ihm aus dem Weg zu gehen.«

»Was geht in diesen Leuten eigentlich vor, die sich mit einer Trennung nicht abfinden können und die, wenn alles Betteln und Jammern nichts hilft, eine Beziehung mit Gewalt erzwingen wollen oder ihren ehemaligen Partner verletzen oder töten? Haben sie in ihrer Kindheit nie gelernt, mit Anstand zu verlieren?«

»Vermutlich haben ihnen die Eltern alles durchgehen lassen. Wenn man als Kind mit genug Hartnäckigkeit immer seinen Willen durchsetzt, kann man als Erwachsener nicht begreifen, dass dies manchmal nicht funktioniert.«

»Ich glaube eher, dass diese Typen von ihren Eltern verprügelt wurden. Sie haben gelernt, dass man seine Interessen mit Gewalt durchsetzen kann.«

Lichtenberg und seine Tochter gehen durch den Garten und bemerken nicht, dass sie gerade aus dem nahen Gebüsch beobachtet und belauscht werden.

»Was wollen wir heute unternehmen, Manuela?«

»Wir könnten eine Bootsfahrt auf dem See machen.«

»Das ist eine gute Idee.«

Sie fahren mit dem Auto an das nahe gelegene Gewässer und mieten sich ein Boot. Lichtenberg rudert auf den See hinaus. Manuela lässt ihre Hand durchs Wasser gleiten, während Jasmin sich an der Bordwand festhält und vergeblich versucht, das Boot zum Schaukeln zu bringen.

Der Beobachter aus dem Gebüsch ist ihnen heimlich gefolgt und verbirgt sich im Ufergestrüpp, von wo aus er die drei weiter im Auge behält.

Nach einer Stunde wird die Bootsfahrt beendet und sie gehen zum Auto zurück. Dort sehen sie jemanden stehen, der offensichtlich auf sie wartet.

Es ist Stefan Mertens, der geschiedene Mann von Manuela und von Beruf Lastwagenfahrer, bis er betrunken bei einer Verkehrskontrolle aufgefallen war und daraufhin seinen Führerschein abgeben musste. Derzeit ist er arbeitslos, chronisch gereizt und schlecht gelaunt. Er ist etwa so groß wie Lichtenberg, aber kräftiger gebaut. Die drei bleiben wortlos vor dem Fahrzeug stehen. Stefan hat sich jetzt an die Beifahrerseite des Autos angelehnt und seinen rechten Arm auf das Autodach gelegt.

Mit einem leicht aggressiven und arroganten Tonfall richtet er das Wort an Manuela, während er Heinrich Lichtenberg ansieht.

»Wie ich sehe, hast du dir Verstärkung mitgebracht. Wie geht es dir, Schwiegerpapa?«

Lichtenberg antwortet mit ruhiger Stimme. »Was willst du?«

»Ich möchte meiner Frau zum Geburtstag gratulieren und meine Tochter wiedersehen.«

Manuela antwortet etwas genervt, ohne Stefan dabei anzusehen.

»Das wäre ja nun erledigt. Wir müssen jetzt wieder los. Außerdem bin ich nicht mehr deine Frau.«

Sie will ins Auto einsteigen, aber Stefan bleibt stur vor der Beifahrertür stehen und erwidert: »Warum so eilig? Wir können doch noch etwas plaudern.«

»Ich habe aber kein Interesse an einer Unterhaltung mit dir!«

Als sie die Tür öffnen will, hält er sie am Handgelenk fest. Lichtenberg geht auf Stefan zu. Ein Faustschlag trifft ihn am Kopf und lässt ihn zu Boden gehen. Heinrich liegt benommen neben dem Auto. Stefan widmet sich erneut seiner ehemaligen Frau und hält sie an beiden Armen fest. Jasmin steht im Hintergrund und weint.

Stefan schreit Manuela wütend an: »Ich lasse mir von dir nicht meine Familie kaputt machen. Du hast die Wahl. Entweder du kommst zu mir zurück oder ich bringe dich um und den Rest deiner Familie gleich mit. Mir ist inzwischen alles egal. Überlege es dir – aber nicht zu lange.«

Er lässt sie los und verschwindet zu Fuß in Richtung Straße. Lichtenberg rappelt sich wieder auf und bürstet sich mit seinen Händen den Staub von der Kleidung.

»Der hat einen ordentlichen Schlag drauf.«

»Was ist mit dir, Papa? Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?« Lichtenberg antwortet mit entschlossener Stimme: »Nein, wir fahren nach Hause, und höre bitte auf zu weinen, Jasmin!«

Sie steigen ins Auto und fahren zurück zu Manuelas Haus.

»Sollen wir Strafanzeige stellen, Papa?«

»Natürlich, er hat unser Leben bedroht!«

Zu Hause angekommen, verständigt Lichtenberg telefonisch die Polizei. Er berichtet, was passiert ist und will übermorgen persönlich auf dem Polizeirevier erscheinen, um Anzeige gegen seinen ehemaligen Schwiegersohn zu erstatten.

Den Pfingstmontag verbringen die drei zu Hause bei Manuela. Sie arbeitet werktags in einem Büro und ist dank gleitender Arbeitszeit etwas flexibel in ihrer Tagesplanung. Sie bringt Jasmin vor der Arbeit zur Schule und holt sie danach auch wieder ab. Dienstagmorgen geht Lichtenberg zur Polizei und erstattet Anzeige. Dann erledigt er noch einige Besorgungen und fährt zurück zu Manuelas Haus, wo bereits der Wagen der inzwischen informierten Glaserei wartet. Er unterhält sich ausführlich mit einem Mitarbeiter der Firma und zeigt ihm dann den Wintergarten. Die Reparatur wird für kommenden Donnerstag vereinbart.

Am Nachmittag sind Manuela, die heute nicht arbeiten musste und Jasmin, die einen Ferientag hatte, nach einem Ausflug in einen Freizeitpark, wieder zu Hause. Lichtenberg hat den Tisch gedeckt und sie trinken zusammen im Wohnzimmer Kaffee. Jasmin möchte auch mal richtigen Kaffee probieren, aber sie muss sich schließlich doch mit Malzkaffee begnügen und macht deshalb für einige Sekunden einen Schmollmund.

Lichtenberg berichtet, was er erreicht hat: »Mein Anwalt will erwirken, dass er sich deinem Haus, deiner Arbeitsstelle und der Schule sowie auch uns nicht mehr nähern darf, sonst droht ihm eine Haftstrafe.«

»Glaubst du, dass er sich daran halten wird?«

»Vermutlich nicht. Er hat doch gesagt, dass ihm alles egal ist, und Morddrohungen muss man immer ernst nehmen. Wie so was ausgeht, liest man doch ständig in der Zeitung. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: Rachsüchtiger Mann zerstückelt Ex-Frau, Tochter und Schwiegervater mit der Kettensäge.«

Manuela mit aufgeregter und leicht verzweifelter Stimme: »Aber was sollen wir denn jetzt machen?«

»Das Beste wird wohl sein, wir verschwinden erst mal ein paar Tage von der Bildfläche. Donnerstag kommen die Handwerker wegen des Wintergartens. Ich habe ihnen schon einen Hausschlüssel gegeben. Du meldest Jasmin in der Schule krank, nimmst ein paar Tage Urlaub und wir verreisen eine Weile, um unsere Nerven zu schonen, und damit wir uns in Ruhe was überlegen können.«

Am nächsten Morgen laden sie etwas Gepäck ins Auto und fahren los. Nach etwa 500 Metern kommen sie zu einer Fußgängerbrücke, die die Straße überspannt. Als sie gerade unter der Brücke wieder herauskommen, trifft ein schwerer Schlag die Windschutzscheibe auf der Fahrerseite. Manuela schreit.

Die Scheibe ist an der Stelle, an der sie der Stein getroffen hat, innerlich zersplittert und milchig weiß getrübt, aber nicht durchlöchert. Lichtenberg bremst den Wagen ab und sieht im Rückspiegel eine Person von der Brücke verschwinden. Wortlos zieht er sich seine Lederhandschuhe an, steigt aus und hebt einen mehrere Kilo schweren Feldstein auf, der vor dem Auto liegt. Er öffnet den Kofferraum, legt den Stein hinein, steigt wieder ins Auto und fährt weiter.

»Wir wissen, wer das getan hat. Es war richtig, erst mal zu verschwinden«, sagt Lichtenberg mit ruhiger Stimme.

»Wieso ist die Scheibe noch heil? Ich dachte, du wärst tot. Der Stein wiegt doch bestimmt zehn Kilo!«

»Der Wagen ist gepanzert, sonst wäre ich vermutlich auch tot. Ich habe einen Teil meiner üppigen Rente in ein sicheres Fahrzeug investiert. Es sind heutzutage zu viele Desperados auf den Straßen unterwegs.«

»Warum hast du den Stein mitgenommen?«

»Vielleicht sind Spuren drauf – Fingerabdrücke oder Hautschuppen.«

Nach eineinhalb Stunden Fahrt Richtung Norden machen sie an einer Autobahnraststätte Pause und trinken draußen an einem Tisch einen von zu Hause mitgebrachten Kaffee. Jasmin saugt mit einem Trinkhalm an einer Apfelsafttüte, während sie ihren Stoffhund Gassi führt. Lichtenberg raucht eine Zigarette.

»Wo geht es eigentlich hin, Papa?«

»Ich habe in einem ruhigen Gasthof an der Küste in der Nähe von Emden Zimmer für uns gebucht. Ich war da schon ein paar Mal im Urlaub. Jasmin wird es auch gefallen.«

»Aber wir können uns nicht ewig verstecken. Ich muss arbeiten und Jasmin muss wieder in die Schule. Die Polizei kann uns nicht wirklich beschützen, und dass Stefan den Stein geworfen hat, können wir wahrscheinlich auch nicht beweisen. Ich habe Angst.«

»Die Situation ist in der Tat nicht gerade rosig. Versuchen wir, die vielleicht letzten Tage unseres Lebens zu genießen.«

»Deine Gelassenheit möchte ich haben, Papa.«

Am frühen Nachmittag treffen sie an dem Gasthof ein und belegen ihre Zimmer, von denen man einen wunderschönen Blick auf das Meer hat. Später treffen sie sich zu einem Spaziergang am Strand.

Manuela geht barfuß neben ihrem Vater über den von der sanften Meeresbrandung durchnässten und geglätteten Sand. Ab und zu umspült eine Welle ihre Füße. Sie trägt ihre Sandalen in der rechten Hand und umfasst mit ihrem linken Arm die Hüfte von Lichtenberg, der daraufhin seinen Arm auf ihre Schulter legt.

»Nächste Woche ist der fünfte Todestag von Mama.«

»Ich weiß. Ich habe ihr Grab neu bepflanzen lassen. Ist ganz hübsch geworden. Ihr müsst mich mal besuchen kommen, wenn diese Sache überstanden ist. Jasmin, such doch mal ein paar Muscheln, da können wir etwas draus basteln!«

»Ist gut, Opa!«

»Manuela, weißt du eigentlich, dass ein großer Teil des Sandes am Strand aus zerriebenem Kunststoff besteht?«

»Im Ernst? Ich finde es schön, dass es dem Plastikmüll nicht anders ergeht als den Felsen. Klein gemahlen, bis man sich gemütlich darauf sonnen kann.«

»Ich vermisse deine Mutter noch immer sehr. Wir haben uns in der Ehe nie gestritten und wir haben uns prima verstanden. Oft hatten wir in bestimmten Situationen die gleichen Gedanken. Ich finde ihren Tod so sinnlos. Ein Unfall mit einem Zug an einem unbeschrankten Bahnübergang. Nur durch ein Blinklicht gesichert. Wer plant so etwas eigentlich? Denken diese Leute nicht daran, dass sie selbst, ihre Angehörigen oder Freunde auch zu Schaden kommen könnten? Wieso gibt es da keine strengeren Vorschriften?«

»Warum wohl? Weil es Geld kostet und die Bahnlobbyisten starken Einfluss auf die Politik haben.«

»Warum wird das denn nicht aus Steuergeldern finanziert? Auf die paar Cent pro Nase kommt es doch wirklich nicht an. Aber für Kriegseinsätze im Ausland ist genug Geld da. Wenn man durch die Sonne geblendet wird, ist so ein Signallicht als Sicherheit einfach zu wenig. In den letzten Jahren hat sich da immer noch nichts geändert. Wahrscheinlich müssen an der Stelle erst zehn tödliche Unfälle passieren, bis die sich endlich zu ein paar Schranken durchringen können.«

»Wir könnten morgen ja mal zu einer Insel fahren. Als ich noch klein war, habt ihr doch öfter Inselurlaub mit mir gemacht. Vielleicht erkenne ich etwas wieder.«

»In Ordnung, das machen wir!«

Am nächsten Tag geht es mit der Fähre nach Borkum. Sie mieten sich Fahrräder und erkunden die Insel. Jasmin sitzt in einem Kindersitz hinter Lichtenberg. Manuela erinnert sich an einige markante Punkte, wie den Leuchtturm, die mondäne Promenade und die Gartenzäune aus den Kieferknochen von Walen.

»Was sind Wale, Opa?«

Lichtenberg freut sich über das Interesse von Jasmin und antwortet mit betonter Stimme: »Wale sind die größten Lebewesen, die jemals auf der Erde gelebt haben und bis jetzt auch noch nicht ausgestorben sind. Aber das wird der Mensch schon noch hinbekommen. Manche Leute halten Wale für Fische, aber es sind Säugetiere wie wir und eng mit den Walrössern verwandt, die du doch aus dem Zoo kennst. Wale haben Knochen und eine Lunge und bekommen lebende Junge, die sie mit Milch ernähren. Fische haben Gräten, Schuppen und Kiemen und legen Eier ins Wasser.«

»Bin ich auch ein Säugetier, Opa?«

»Ja, natürlich, und ein ganz süßes sogar!«

Nach einem ausgiebigen Mittagessen schlägt Lichtenberg einen Rundflug über die Insel vor. Sie fahren mit den Rädern zum Flugplatz und Lichtenberg bucht einen Flug.

»Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Abflug. Die Tour wird ungefähr fünfundvierzig Minuten dauern«, erklärt Lichtenberg. Sie setzen sich auf eine Bank und genießen die warme Sonne.

»Kommen Sie, es geht los!« Der Pilot winkt die drei heran. Manuela und Jasmin sitzen auf der Rückbank des Flugzeugs und Lichtenberg sitzt vorn, neben dem Piloten. Die Maschine hebt nach einigen holprigen Sekunden von der Startbahn ab und gewinnt rasch an Höhe.

»Ich drehe erst mal eine Runde über der Insel, dann geht es weiter bis nach Juist, Richtung Küste und dann wieder zurück. Ist das Ihr erster Flug in einem Flugzeug?«

»Für mich und meine Tochter nicht, aber für meine Enkeltochter Jasmin.«

Der Pilot versucht Jasmin Mut zu machen, die etwas verunsichert wirkt.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Jasmin. Wir kommen bestimmt wieder runter.«

Manuela deutet mit dem Finger gegen das Seitenfenster. »Schau mal, Jasmin, wie klein die Menschen da unten am Strand sind.«

Lichtenberg beginnt eine Unterhaltung mit dem Piloten.

»Wie lange machen Sie den Job schon?«

»Ich fliege seit zwanzig Jahren an der Küste, mal hier, mal dort. Auf Borkum bin ich nur aushilfsweise beschäftigt. Ich habe früher in einem Büro gearbeitet, aber das wurde mir irgendwann zu langweilig.«

Die Passagiere genießen die meiste Zeit wortlos die Aussicht und hin und wieder gibt der Pilot Hinweise auf vermeintlich sehenswerte Objekte oder Landschaften. Jasmin drückt neugierig ihre Nase an die Fensterscheibe. Nach etwa vierzig Minuten nähern sie sich wieder dem Flugplatz von Borkum, der aus der Ferne als schmaler Streifen zu erkennen ist. Der Pilot hat schon eine Weile nichts mehr gesagt und es ist abgesehen vom Motorengeräusch still in der Maschine, die plötzlich in einen Sinkflug übergeht.

Lichtenberg sieht den Piloten an. Sein Kopf ist nach hinten gesunken und seine Augen sind geschlossen. Er schreit den Piloten an: »Hey, was ist los, schlafen Sie?«

Keine Reaktion. Lichtenberg schüttelt ihn am Arm. Manuela, mit Entsetzen in der Stimme: »Was ist mit Ihm? Wir stürzen ab!«

Jasmin wird blass, sagt aber nichts. Manuela rüttelt den Piloten von hinten an den Schultern und brüllt ihn an:

»Wachen Sie auf!«

Der Pilot gibt immer noch kein Lebenszeichen von sich. Das Flugzeug nähert sich nun mit rasanter Geschwindigkeit dem Erdboden und Manuela beginnt panisch zu schreien. Dann hält sie sich die Hände vor ihre Augen.

Lichtenberg schnappt sich das Steuerhorn des Kopiloten und bringt das Flugzeug in eine horizontale Fluglage. Die Landebahn ist ungefähr noch drei Kilometer entfernt. Lichtenberg zieht den Gasknopf heraus, bis sich die Drehzahl des Motors auf etwas 1600 Umdrehungen verringert hat.

»Weißt du eigentlich, was du da machst?«, fragt Manuela, die inzwischen die Hände wieder vom Gesicht genommen und ihre Fassung wiedergefunden hat.

»Ich glaube schon«, sagt Lichtenberg und drückt den Schalter für die Landeklappen, sodass diese um 10 Grad ausfahren. Die Landebahn rückt näher und Lichtenberg beobachtet immer wieder den Fluglageanzeiger. Er versucht, den günstigen Gleitpfad von drei Grad für die Landung einzuhalten. »Hast du etwa einen Pilotenschein, Papa?«

»Leider nicht, aber einen Computer mit einem Flugsimulatorprogramm und ich habe damit schon ein paar Flugstunden in einer Cessna, ähnlich wie dieser, absolviert.«

Die Cessna nähert sich der Landebahnschwelle. Lichtenberg nimmt das Gas ganz weg und als das Flugzeug noch etwa fünf Meter über dem Boden ist, geht er in den waagerechten Flug über, den er beibehält, bis das immer langsamer werdende Flugzeug fast den Boden erreicht hat. Dann zieht er die Nase des Fliegers etwas nach oben, bis er ziemlich hart auf der Landebahn aufsetzt. Er bremst und stellt den Motor ab.

»Gar nicht so übel, wenn man bedenkt, dass dies meine erste richtige Landung war.«

Nachdem er den Piloten aus dem Flugzeug gezogen und auf den Boden gelegt hat, kommt dieser langsam wieder zu sich. Lichtenberg ruft mit seinem Telefon einen Notarzt, der mit dem Helikopter vom Festland kommt. Später stellt sich heraus, dass der Pilot nur einen Schwächeanfall erlitten hatte. Er wird zur Untersuchung ins Krankenhaus geflogen.

Den nächsten Vormittag verbringen die drei am Strand. Das Wasser ist zwar noch zu kalt für ein Bad, aber die Luft ist angenehm warm und sie verbringen die Zeit mit lesen und schlafen. Jasmin sucht am Strand nach Muscheln und Treibgut. Gegen Mittag brechen sie zu einem Ausflug nach Emden auf, essen dort in einem guten Fischrestaurant und machen dann einen Stadtbummel. Lichtenberg entdeckt einen Trödelladen und will sich darin etwas umsehen. Sie betreten das Geschäft.

»Wie wäre es mit dieser schicken Schiffsglocke für dich, Manuela?«

»Nein danke. Noch so ein überflüssiges Ding, das geputzt werden muss.«

»Was wollen Sie für diese Pendeluhr haben, junger Mann?«, fragt Lichtenberg den älteren Herren, der sich mühsam von seinem Ruhesessel aufrafft und auf die Uhr zusteuert.

»Das ist ein besonders kostbares und hochwertiges Stück, das mir ein Seefahrer vor zwanzig Jahren verkauft hat, der dringend Geld brauchte. Er hat sie angeblich von einem Voodoopriester auf Haiti erworben, der der Uhr Zauberkräfte verliehen hat. Wenn man das Pendel an seinem Herzen reibt und dabei dreimal den eingravierten Spruch oben an der Uhr laut aufsagt, dann schlägt das Herz so lange, wie das Pendel der Uhr in Bewegung bleibt. Allerdings habe ich von dem Zauber noch keinen Gebrauch gemacht.«

»Klingt ja geheimnisvoll. Und was soll dieses Wunderding nun kosten?«

»Geben Sie mir achtzig Euro und sie gehört Ihnen. Für den Zauber übernehme ich aber keine Garantie!«

»Einverstanden! Packen Sie mir das Ding bitte ein. Und was wollen Sie für diesen rostigen Säbel da an der Wand haben?«

»Rostiger Säbel? Dieses antike Artefakt in tadellosem Zustand gehörte einst einem Seeräuber, der damit einmal zwanzig Gegner gleichzeitig in Schach gehalten und nacheinander erledigt hat. Auch dieser Säbel besitzt magische Kräfte und macht seinen Besitzer unverwundbar, solange er ihn in der Hand hält. Für schlappe hundertfünfzig Euro wechselt er den Besitzer.«

Jasmin hört dem seltsamen Verkäufer mit offenem Mund und großen Augen zu.

»Münchhausen ist gegen Sie ein Amateur! Na gut, ich nehme ihn …auch ohne Zauberkräftegarantie.«

»Ich will auch was mit Zauberkräften haben!«, verkündet Jasmin energisch.

»Haben Sie noch etwas mit Zauberkräften? Aber was preiswertes, wenn möglich«, wendet sich Lichtenberg an den Verkäufer, der gerade den Säbel in Zeitungspapier verpackt.

»Ja, ich habe noch ein magisches Amulett. Wenn man es einem Todkranken auf die Stirn legt, den eingravierten Spruch dreimal in sein Ohr flüstert und das Amulett danach in einen Fluss wirft, dann wird die betreffende Person wieder gesund. Kostet Sie nur dreißig Euro.«

»Tolle Sache! Meine Brieftasche haben Sie jedenfalls schon mal leer gezaubert. Wir nehmen es!«

Lichtenberg nimmt die Tüte mit seinen neuen Besitztümern an sich und geht in Richtung Ausgang. Der Verkäufer ruft ihm nach: »Warten Sie! Mir fällt ein, dass ich noch eine magische Sanduhr habe.«

Lichtenberg geht zu ihm zurück und der ältere Herr verschwindet kurz hinter einem Regal, um dann flink wieder aufzutauchen. Er hält triumphierend eine etwa zwanzig Zentimeter hohe Sanduhr mit einem hölzernen Gestell in der Hand.

»Wenn Sie die Sanduhr zerbrechen, dann hält die Zeit für zehn Sekunden an. Nur nicht für den, der die Uhr zerbrochen hat. Ansonsten können Sie sie als normale Eieruhr verwenden. Kostet Sie nur hundert Euro.«

Lichtenberg leiht sich das Geld von seiner Tochter und steckt die Sanduhr in die Tüte.

Die drei beenden den Einkaufsbummel und fahren in den Gasthof zurück. Der Rest des Kurzurlaubs verläuft angenehm und ohne nennenswerte Zwischenfälle. Am Sonntag nach dem Mittagessen verlassen sie die Herberge, verbringen den übrigen Tag noch an der Küste und fahren dann abends wieder heim.

Manuelas Haus scheint unversehrt. Lichtenberg hatte schon befürchtet, dass Stefan sich während ihrer Abwesenheit hier austoben würde. Manuela schickt Jasmin ins Bett, die während der Rückfahrt schon eingeschlafen war und nun schlaftrunken vor sich hin blinzelt. Lichtenberg wünscht seiner Enkeltochter eine gute Nacht:

»Schlaf gut, Jasmin! Morgen geht’s wieder zur Schule.«

»Schlaf auch gut, Opa!«

Jasmin trottet mit ihrem Teddybär unter dem Arm in ihr Zimmer.

»Willst du etwas trinken, Papa?«

»Ich hätte gern einen Kaffee.«

Manuela stellt den Wasserkocher an, bestückt einen kleinen Porzellanfilter mit Filterpapier und etwas Kaffeemehl und holt sich dann selbst ein Glas Rotwein. Sie setzt sich damit auf die Couch im Wohnzimmer, von wo ihr Blick auf den Wintergarten fällt. Lichtenberg mustert die Scheiben des Wintergartens.

»Haben sie die Scheibe repariert?«, ruft sie ihm zu.

»Ja, alles in Ordnung!«

»Ich mache uns ein paar Brote!« Manuela verschwindet in der Küche und kommt nach einer Weile mit den Broten und dem Kaffee zurück.

»Gute Idee, das mit den Schnittchen, Manuela. Ich habe tatsächlich etwas Hunger.«

Gegen Mitternacht geht Manuela schlafen.

»Ich muss morgen wieder früh raus. Schlaf gut nachher. Wenn du willst, mach dir den Fernseher an. Mein Schlafzimmer liegt ja weit genug weg, da höre ich das nicht.«

»Schlaf auch gut. Bis morgen dann.«

Lichtenberg holt sich ein Bier und macht das Licht aus. Er sitzt jetzt im dunklen Wohnzimmer und es fällt nur etwas Licht vom spärlich beleuchteten Wintergarten durch die große Glasfront, die ihn vom Wohnzimmer abtrennt. Es ist Vollmond, wodurch der Garten in ein kaltes Mondlicht getaucht ist. Lichtenberg hat sein Bier ausgetrunken. Es hat ihn etwas müde gemacht und die belebende Wirkung des Kaffees überlagert. Er entschließt sich, auch bald schlafen zu gehen. Plötzlich sieht er schemenhaft, wie eine menschliche Gestalt aus dem Garten in Richtung Wintergarten schleicht.

Lichtenberg bleibt regungslos sitzen. Seine Müdigkeit ist verschwunden und sein Blick verharrt auf der Person, die sich nunmehr direkt vor der Tür des Wintergartens befindet.

Er erkennt jetzt auch das Gesicht des Eindringlings. Es ist Stefan Mertens. Er hält ein Brecheisen in der Hand.

Stefan drückt die Klinke der Wintergartentür und merkt, dass sie nicht verschlossen ist. Er legt das Brecheisen auf den Boden und betritt vorsichtig den Wintergarten, dessen Tür sich hinter ihm selbsttätig wieder schließt. Nun sieht Lichtenberg, dass Stefan eine Pistole aus seiner Hosentasche holt. Er nähert sich der Glasfront zum Wohnzimmer und versucht, durch sie hindurch in das Wohnzimmer zu blicken. Da dieses dunkel ist, kann er nichts erkennen, obwohl er seine Nase an die Scheibe drückt.

Er tastet nach der Türklinke zum Wohnzimmer. Als er merkt, dass die Tür verschlossen ist, legt er seine Pistole auf den Boden und sucht nach der Brechstange. Ihm fällt wieder ein, dass er sie draußen vor dem Wintergarten abgelegt hat, und will sie holen. Plötzlich wird er von einem hellen Lichtschein geblendet. Lichtenberg hat die Beleuchtung im Wohnzimmer angeschaltet und steht nun ein paar Meter vor Stefan, gut sichtbar und nur durch eine Glasscheibe von ihm getrennt.

Stefan Mertens ist überrascht und starrt ihn an. Lichtenberg steht regungslos da und wartet ab. Stefan schnappt sich seine Pistole, die er auf den Boden gelegt hatte. Grinsend zielt er damit auf Lichtenberg und drückt ab. Es gibt einen heftigen Knall. Lichtenberg steht immer noch wie angewurzelt an seinem Platz. Die Glasscheibe ist zwar kreisförmig an der Stelle, wo sie die Pistolenkugel traf, gesplittert, aber das Geschoss konnte sie nicht durchdringen. Lichtenberg hat die Scheiben des Wintergartens durch Panzerglas ersetzen lassen. Stefan schießt noch zweimal, aber das Resultat bleibt das Gleiche.

Lichtenberg rührt sich immer noch nicht. Stefan glotzt ihn überrascht und dann ärgerlich an und will den Wintergarten durch die Außentür wieder verlassen. Er muss aber feststellen, dass sie sich von dieser Seite nicht öffnen lässt. Er greift erneut zu seiner Waffe und versucht, die Scheibe der Glastür zu zerschießen, was ihm ebenfalls misslingt.

Lichtenberg geht in den Nebenraum, der als Gästezimmer dient und in dem er derzeit schläft. Er kehrt mit vier großen Gaszylindern zurück, die auf einem Fahrgestell montiert sind, das er hinter sich herzieht. Er fährt die Gasflaschen dicht an die Glasfront heran, nimmt einen Schlauch aus der Halterung und steckt das Ende in einen Lüftungsschlitz nahe an der Decke des Wohnzimmers. Dann dreht er den Verschluss der Gasflaschen auf.

Das Gas, bei dem es sich um Kohlendioxid handelt, das man auch für Bierzapfanlagen verwendet, strömt aus dem Schlauchende und beginnt, den Wintergarten von unten her zu füllen, da es schwerer als Luft ist und sich am Boden sammelt. Die Flaschen, die er am Dienstag nach Pfingsten besorgt hatte, enthalten zusammen vierzig Kilogramm Kohlendioxid und da zwei Kilogramm davon einen Kubikmeter Gas bilden, reicht die Menge aus, um den kleinen Wintergarten etwa zwei Meter hoch mit dem Gas anzufüllen. Mehr als ausreichend, denn bereits eine Kohlendioxid- oder genauer gesagt Kohlenstoffdioxidkonzentration von etwas weniger als zehn Prozent in der Atemluft wirkt bereits tödlich. Bei weniger Kohlendioxid müsste die Luft allerdings verwirbelt werden, um das Gas im ganzen Raum zu verteilen. Stefan hämmert in Panik mit den Fäusten gegen die Scheiben. »Mach die Tür auf, du Wahnsinniger, oder ich mach dich kalt.«

Heinrich Lichtenberg sieht sich das Schauspiel, das Stefan Mertens im Wintergarten aufführt, gelassen an. Nach einiger Zeit hat sich der Raum mannshoch mit dem Gas gefüllt und Stefan sinkt zu Boden.

»Treibhauseffekt einmal anders«, murmelt Lichtenberg vor sich hin, dreht die Ventile der Gasflaschen wieder zu und zieht den Schlauch aus dem Lüftungsschlitz heraus. Dann schiebt er den Wagen mit den Gasflaschen wieder ins Gästezimmer.

Manuela hat von dem ganzen Lärm anscheinend nichts mitbekommen, aber selbst wenn, hätte er auch nicht anders gehandelt.

Lichtenberg geht durch den Hauseingang nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Dann öffnet er die Tür des Wintergartens so weit wie möglich und legt einen Ziegelstein davor, damit sie sich nicht selbstständig wieder schließt.

Er wartet einige Minuten, damit das Gas vollständig aus dem Gebäude herausströmen kann. Dann zieht er sich seine Lederhandschuhe an und schleift den leblosen Körper von Stefan, so wie er es beim Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, aus dem Wintergarten bis zu seinem Auto und legt ihn zusammen mit der Pistole und dem Brecheisen in den Kofferraum. Nachdem er den Vorhang im Wohnzimmer vor den Wintergarten gezogen hat, fährt er mit dem Auto in Richtung Stadt. Dort lenkt er den Wagen zum Stadtpark, den er noch von früheren Besuchen kennt, und wo er mit Manuela schon ein paar Mal spazieren gegangen ist.

Lichtenberg sucht sich einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe des Parkeingangs, vergewissert sich, dass auch niemand in der Nähe ist, zieht Stefans Körper aus dem Kofferraum und legt ihn über seine Schultern. Dann trägt er ihn in den Park, setzt ihn auf eine Parkbank und stülpt ihm eine Plastiktüte über den Kopf, die er mit einem Gummiring am Hals fixiert.

Lichtenberg überprüft noch einmal, dass niemand in Sichtweite ist, der Zeuge der Aktion gewesen sein könnte. Aber es ist weit und breit kein Mensch zu sehen, und er fährt zu Manuelas Haus zurück. Dort ist alles ruhig und er legt sich schlafen. Am nächsten Morgen steht Lichtenberg früh auf und bereitet das Frühstück vor.

Manuela kommt im Morgenmantel gähnend in die Küche. »Guten Morgen, Papa! Hast du gut geschlafen?«

Lichtenberg wirft ihr einen flüchtigen Blick zu.

»Morgen, Manuela! Ja, ganz gut.«

Sie setzt sich zu ihm an den Tisch und fragt: »Sag mal, hast du gestern noch einen Actionfilm im Fernsehen gesehen? Ich habe zwar gesagt, du kannst den Fernseher anmachen, aber doch nicht in voller Lautstärke.«

»Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht wecken.«

»Schon gut.«

Jasmin kommt herein und reibt sich verschlafen die Augen. »Guten Morgen, Opa! Fahren wir heute wieder ans Meer?«

»Nein, vielleicht in deinen nächsten Ferien. Pass schön in der Schule auf! Und du pass ebenfalls auf, Manuela. Komm nach der Arbeit sofort mit Jasmin zurück. Man kann nie wissen.«

»Alles klar! Bis nachher. Ich fahre zur Sicherheit eine andere Strecke als sonst.«

Nachdem Manuela und Jasmin das Haus verlassen haben, ruft er erneut bei der Glaserei an und lässt die defekten Scheiben austauschen. Als Erklärung gibt er an, sich selbst versehentlich im Wintergarten eingeschlossen zu haben, und mit einer zufällig im Wintergarten liegenden Spitzhacke einen vergeblichen Ausbruchsversuch unternommen zu haben, bis ihm eingefallen sei, dass er den Türschlüssel in seiner Hosentasche hatte. Während der Reparatur des Wintergartens bringt er die Gasflaschen zum Händler zurück und lässt seinen Wagen gründlich von innen und außen reinigen. Die Patronenhülsen, die deformierten Projektile, die Pistole und das Brecheisen vergräbt er anschließend im Wald. Zum Glück hat der spät in der letzten Nacht einsetzende Regen weitere Spuren beseitigt. Seine Kleidungsstücke, die er gestern getragen hat, steckt er in die Waschmaschine und putzt seine Schuhe gründlich.

Abends kommen zwei Polizisten zu Manuelas Haus und berichten, dass man ihren geschiedenen Mann tot im Park aufgefunden hat. Sie sagen, dass er vermutlich Selbstmord begangen habe, aber man müsse die Obduktion und die weitere Untersuchung noch abwarten. Manuela ist einerseits geschockt, aber andererseits auch erleichtert, weil die Bedrohung dadurch verschwunden ist. Nach ein paar Tagen wird die Leiche von der Polizei freigegeben. Die Obduktion hat nichts Auffälliges ergeben, und der Fall wird als Selbsttötung zu den Akten gelegt. Lichtenberg bleibt noch ein paar Tage und fährt nach der Beerdigung von Stefan, an der er mit Manuela und Jasmin teilgenommen hatte, zurück nach Hause. Er nimmt den Feldstein, den Stefan auf sein Auto geworfen hatte, aus dem Kofferraum und platziert ihn am Rand seines Gartenteiches. »Ein ausgesprochen schöner Stein. Wenn er etwas größer wäre, könnte er einen guten Grabstein für Stefan abgeben.« Lichtenberg holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

KNEIPENGESPRÄCHE

Montag, 16. Juni 2008. Die Ereignisse bei seiner Tochter lagen schon ein paar Wochen zurück und Lichtenberg dachte nur noch gelegentlich darüber nach.

Die defekte Frontscheibe seines Autos hat er inzwischen austauschen lassen.

Morgens trinkt er wie gewöhnlich einige Tassen Kaffee, perfekt ergänzt durch den Genuss einiger Zigaretten und die Lektüre der Tageszeitung.

Hunger hat er kurz nach dem Aufstehen selten. Der würde sich erst ein paar Stunden später einstellen.

Er überlegt, wie er den Tag gestalten soll und entschließt sich, ins Stadtzentrum zu fahren, um einige Lebensmittel zu besorgen. Anschließend will er einen kleinen Stadtbummel machen.

Der Supermarkt, in dem er einkaufen will, ist gut besucht, aber zum Glück nicht überfüllt. Allerdings stört ihn jedes Mal der Spießrutenlauf im Eingangsbereich, wo Vertreter von Telefongesellschaften, Spendensammler oder Warenverkäufer aller Art versuchen, vorbeikommenden Kunden Produkte aufzuschwatzen. Lichtenberg hat heute das Glück, unbehelligt in den Markt vorzudringen.

Nachdem er seine Einkäufe erledigt und bei Verlassen des Geschäftes das Rufen eines Verkäufers eines zweifellos hervorragenden Reinigungsmittels – »Hallo, der Herr …«, demonstrativ überhört hat, beschließt er, zukünftig woanders einzukaufen.

In der Fußgängerzone versucht Lichtenberg, die mehr oder weniger talentierten Musiker, die sich hier ihre Brötchen verdienen, und die herumsitzenden Bettler unauffällig zu umschiffen. Nicht, dass er zu geizig wäre für eine kleine Spende. Schließlich wollen diese Leute auch nur leben und oft genug hatte er ihnen ja auch schon etwas gegeben. Aber entweder har er ein schlechtes Gewissen, wenn er an ihnen vorübergeht und sie einfach ignoriert, oder er schämt sich seiner Gönnerhaftigkeit, wenn andere ihn beobachten, wie er eine Münze in einen geöffneten Geigenkasten oder einen schäbigen Hut hineinwirft. Und jedes Mal müsste er sich entscheiden, ob er diesem oder jenem etwas gibt oder nicht. Er rettet sich in eine Buchhandlung und schlendert an den Regalen vorbei. In der Abteilung Physik hält er inne. Sein Blick fällt auf ein Buch, das sich mit Quantenphysik beschäftigt. Er schlägt es auf und liest dort, dass ein Teilchen auch gleichzeitig eine Welle sein kann, und ein unteilbares Teilchen gleichzeitig durch zwei Öffnungen in einer Wand fliegen kann und anschließend wieder als ein Teilchen hinter der Wand herauskommt.

Ob dies nun der Wahrheit entsprach oder nicht. Lichtenberg mochte sich nicht näher mit Ideen beschäftigen, die den gesunden Menschenverstand derart quälten.

Er isst in einem Selbstbedienungsrestaurant zu Mittag, kauft sich in einem Spielwarengeschäft ein funkgesteuertes Modellschiff und geht in den Stadtpark, wo er das Schiff zu Wasser lässt. Es gelingt ihm, das Schiff in eine Gruppe von Enten hinein zu steuern, die sofort die Flucht ergreifen. Nach einer Weile hat er genug und fährt wieder nach Hause, um sich auf dem Sofa auszuruhen und neue Pläne zu schmieden.

Nach dem Abendessen macht er einen ausgiebigen Spaziergang, kehrt anschließend in eine Eckkneipe ein, setzt sich an den Tresen und bestellt sich ein Bier. Dazu schmeckt natürlich auch eine Zigarette. Er beschließt, das Rauchen Ende des Jahres endgültig aufzugeben. Die Kneipe ist überwiegend mit Bier trinkenden und rauchenden Männern gefüllt, die sich an die letzten Oasen klammern, in denen man das Laster Rauchen noch in geschlossenen öffentlich zugänglichen Orten pflegen kann. Der Nachbar neben ihm am Tresen hat schon einige Biere Vorsprung und beginnt eine Unterhaltung.

»Ich feiere gerade meine Kündigung. Zehn Jahre lang habe ich Mobiltelefone zusammengebaut und jetzt wird die Produktion in ein Billiglohnland verlagert. Dreimal dürfen Sie raten, in welches. Ein Toast auf die Globalisierung!«

»Tut mir leid für Sie. Aber in ihrem Alter finden Sie sicher bald etwas Neues.«

»Ja vielleicht, aber bestimmt einen deutlich schlechter bezahlten Job, und die laufenden Kosten bleiben gleich oder steigen sogar noch. Wie soll ich denn so mein Haus halten? Meine Frau wird sich wohl auch eine Arbeit suchen müssen.«

»Das ist nun mal die Kehrseite der Globalisierung, aber ein Export orientiertes Land wie unseres kann nun mal nicht munter seine Waren in alle Welt verkaufen und sagen: Eure Produkte wollen wir aber nicht haben!«

Der Gesprächspartner ordert noch schnell ein neues Bier, indem er Blickkontakt mit dem Wirt aufnimmt und mit dem Finger auf das leere Glas tippt, das er gut sichtbar in die Höhe hält, und antwortet dann auf Lichtenbergs Bemerkung: »Da haben Sie schon recht. Ich finde aber, jede Regierung sollte selbst entscheiden können, welche und wie viel Waren ins Land dürfen, damit wenigstens ein Minimum der Arbeitsplätze sicher ist. Wenn unsere Produkte wirklich so toll und begehrt sind, dann werden die Regierungen der anderen Länder die Einfuhr schon erlauben.

Außerdem glaube ich, dass wir insgesamt trotzdem den Kürzeren beim Handel mit diesen Billiglohnländern ziehen.«

»Wieso denn das?«