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Im Yellowstone Park bricht ein Supervulkan aus, der Nordamerika ins Chaos stürzt und den Rest der Welt in Panik versetzt. Verzweifelt und unter Anwendung aller Mittel versuchen die Menschen dem Megaausbruch zu entkommen, denn sie wissen, dass er den Kontinent und die Welt in einem ewigen Aschewinter versinken lassen wird. Doch egal, was die Menschheit unternimmt, um mit dieser Katastrophe fertig zu werden – nichts kann sie auf das vorbereiten, was aus der Asche steigt: Kaiju!
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Seitenzahl: 431
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übersetzt von Nicole Lischewski
This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: KAIJU WINTER. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2014. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.
Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: KAIJU WINTER Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Nicole Lischewski Lektorat: Astrid Pfister
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-190-5
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
»In diesem Anzug wird man ja gekocht«, empört sich Dr. Allison Hartness, als ihr erneut ein Schweißtropfen in die Augen fällt. »Hätte Bartolli nicht Geld für gekühlte Modelle lockermachen können?«
»Hat er ja«, antwortet Dr. Robert Tomlinson, während sich die beiden Vulkanologen ein paar Meilen vom Epizentrum des Yellowstone Vulkankraters entfernt mühsam ihren Weg über die aschebedeckte Erde bahnen. »Aber die hat der alte Bastard natürlich selbst behalten. Als ob der seinen Arsch jemals hierher vor Ort bewegen würde.«
Asche rieselt auf die zwei Wissenschaftler und auf die zehn Zentimeter dicke Schicht nieder, die bereits auf der trockenen, rissigen Erde liegt. Dr. Hartness und Dr. Tomlinson sind hergekommen, um die östlichen Sensoren in Zone Zwei des Supervulkans neu zu kalibrieren. Sie machen sich gerade an die letzten Arbeiten, bevor sie wieder zu den Annehmlichkeiten in Bozeman, Montana, ein paar Meilen entfernt zurückkehren. Da wegen des bevorstehenden Ausbruchs des Yellowstones Supervulkans die gesamte Bevölkerung von Bozeman evakuiert worden ist, halten sich die Annehmlichkeiten momentan allerdings in Grenzen – und sicher ist es nebenbei bemerkt dort auch nicht. Keinem von beiden gefällt es, dass sie sich in ihrem verwaisten Hotel die Handtücher und die frische Bettwäsche selbst holen müssen; insbesondere, da sie die Handtücher und Bettbezüge erst einmal in Plastiktüten wickeln müssen, damit die Asche auf dem Weg durch den überdachten Gang zwischen dem Büro und ihren Zimmern nicht alles sofort verschmutzt.
»Ihr zwei wisst, dass ihr gerade das Funkgerät anhabt, oder?«, fragt Dr. Cheryl Probst vom United States Geological Survey in ihr Ohr.
»Ja, aber wir wissen auch, dass du als Einzige daheim in Virginia mithörst«, antwortet Dr. Hartness. »Bartolli hat schließlich noch kein einziges Mal den Funkverkehr übernommen.«
»Möchtest du das denn?«, meint Dr. Probst lachend. »Ihr macht die Studien vor Ort doch eigentlich nur deshalb, weil ihr dadurch von dem Arsch wegkommen könnt.«
»Sagt die Frau, die ohne Atemgerät schlafen gehen kann«, brummt Dr. Tomlinson. »Willst du vielleicht tauschen? Du kannst mich hier gerne ersetzen. Ich hätte nichts dagegen.«
»Repariert einfach die Messgeräte und seht zu, dass ihr wieder ins Motel zurückkommt«, sagt Dr. Probst. »Danach kannst du dir gerne ein paar Drinks genehmigen und mit dem Wissen einschlafen, dass ihr nur noch zwei Tage mit Reparaturen vor euch habt.«
»Steck dir deine rosige Sicht der Dinge doch einfach in den Arsch, Cheryl«, erwidert Dr. Hartness lachend. »Und was du dir da sonst noch alles reinstecken willst. Tu dir keinen Zwang an.«
»Da ist sie«, sagt Dr. Tomlinson nun und zeigt auf den Deckel einer schwarzen Kiste, die aus der Asche ragt. »Die Letzte. Und danach befolge ich Dr. Probst's Rat und fahre zurück, um mich ordentlich zu besaufen.«
»Von Besaufen habe ich nichts gesagt. Ein paar Drinks sollst du dir genehmigen«, antwortet Dr. Probst.
Die Wissenschaftler knien sich jetzt neben die Kiste und machen sich an die Arbeit. Jeder von ihnen untersucht das Messgerät systematisch. Auf diese Art und Weise überprüfen sie auch die Arbeit des anderen und stellen sicher, dass sie nicht schon bald wieder herkommen und die Sensoren erneut reparieren müssen.
»Das sollte es gewesen sein«, erwidert Dr. Tomlinson. »Funktioniert's?«
»Kleinen Augenblick noch«, antwortet Dr. Probst.
Die beiden Vulkanologen warten ungeduldig, während ihre Kollegin daheim in Reston, Virginia, die an den Hauptsitz des USGS übermittelten Signale und Messwerte überprüft. Dr. Tomlinson sieht währenddessen in den trüben Winterhimmel hoch und ignoriert die kleinen Ascheflocken, die anfangen, seine Gesichtsmaske aus Plastik zu bedecken. Es ist fast schon ein Ding der Unmöglichkeit, die echten Wolken von den endlosen Aschewolken zu unterscheiden, die aus diversen Stellen in der Nähe des Yellowstone Kraters emporsteigen. Der Mann schüttelt den Kopf, sieht dann nach unten und beobachtet, wie die grauen Flocken weich auf der vor ihnen versteckten Erde landen.
»Zeigt es etwas an?«, fragt Dr. Hartness nun.
»Ja, das schon«, antwortet Dr. Probst. »Aber es ergibt keinen Sinn. Ist da vielleicht irgendwo ein Auto in der Nähe?«
»Ein Auto?«, fragt Dr. Hartness verwirrt. »Was ist denn das für eine Frage?«
»Ich bekomme zwar Werte, aber die sind alle gleich und fast rhythmisch«, gibt Dr. Probst zurück. »Darum wollte ich wissen, ob eventuell ein Auto in der Nähe ist. Vielleicht irgendein Hartgesottener, der sich nicht evakuieren lassen wollte und nun dort draußen in seinem aufgemotzten Truck mit aufgedrehter Stereoanlage herumfährt.«
Mühsam dreht sich Dr. Hartness in ihrem Schutzanzug herum, dessen dickes Plastik knittert und sich biegt, zu Dr. Tomlinson um. Der Mann erwidert ihren Blick mit einem Schulterzucken, was in seinem ebenso massiven und unförmigen Anzug allerdings kaum bemerkbar ist.
»Wir haben nichts gesehen«, meint Dr. Hartness. »Das müsste schließlich eine monströse Anlage sein, wenn die Sensoren sie bemerken.«
»Spürt ihr denn irgendwas?«, fragt Dr. Probst. »Denn was auch immer es ist, es sollte ungefähr … hm … auch egal. Jetzt hat's aufgehört!«
»Heißt das, dass wir jetzt gehen können?«, fragt Dr. Tomlinson Allison.
»Ich sage euch gerade, dass die Sensoren eine komische Anomalie aufzeichnen, und du fragst, ob du jetzt gehen kannst?« Dr. Probst lacht spöttisch. »Netter Versuch, Bob.«
»Ich hasse dich, Cheryl«, antwortet Dr. Tomlinson. »Wir werden also alles auseinandernehmen und noch mal ganz von vorne anfangen.«
»Wie schön«, seufzt Dr. Hartness.
Dr. Tomlinson kniet sich wieder neben die Kiste und nimmt sein Werkzeug aus der Tasche. Er öffnet das Messgerät und hält dann mit einer Hand auf dem Boden inne.
»Hey – ich kann tatsächlich was fühlen«, sagt Dr. Tomlinson. »Es wird stärker. Allison, fühl auch mal. Das scheint nicht …«
Dr. Tomlinson wird plötzlich hart zu Boden gerissen und um ihn herum explodiert eine große Aschewolke. Er ist flach auf die Erde gepresst und sein Arm ist außer Sicht, während der Rest von ihm erzittert, als er zu schreien beginnt.
»Bob!«, ruft Dr. Hartness entsetzt und stürzt auf ihn zu. »Bob! Was ist denn passiert?«
»Heilige Scheiße!«, schreit Dr. Tomlinson. »Es hat meinen Arm! ES HAT MEINEN ARM!«
Dann ist der Mann plötzlich wieder frei und rollt hektisch über den Boden. Sein rechter Arm ist abgerissen! Blut spritzt überallhin und färbt die graue Asche schwarz. Statt weiter auf ihn zuzulaufen, stolpert Dr. Hartness zurück, dreht sich um und übergibt sich geräuschvoll. Das Erbrochene erfüllt ihren Schutzanzug, woraufhin sie sich noch stärker übergeben muss, während ihr Kollege weiterhin schreiend auf dem Boden liegt.
»Allison! Bob!«, ruft Dr. Probst über den Funk. »Was ist denn? Was ist passiert?«
Dr. Hartness reißt sich daraufhin den Kopfschutz ihres Anzugs herunter und zerrt sich das ganze Ding so schnell wie möglich vom Leib. Ihre Brust ist förmlich von ihrem Erbrochenen getränkt. Vor lauter Angst, dass sie nie wieder mit dem Brechen aufhören kann, vermeidet sie es, den keinen Meter entfernten Mann anzusehen, der panisch nach Hilfe schreit. Aber leider tröstet sie das, was sie nun stattdessen sieht, kein bisschen.
»Was zum Teufel …?«, keucht sie, als die Asche sofort beginnt, in ihrer Kehle kleben zu bleiben. Die Erde vor ihr entwickelt plötzlich Risse und reißt auf, und dann schießt etwas Langes und Knallblaues hervor. Es wickelt sich um Dr. Hartness' Körper und zerrt sie in das gerade entstandene Loch und faltet sie praktisch zusammen, damit sie dort hineinpasst. Wie ein kleiner Geysir spritzt nun Blut aus dem Loch. Geysire sind in Yellowstone keine Seltenheit; welche aus menschlichem Blut allerdings schon.
»Bob!«, schreit Dr. Probst. »Sag mir, was bei euch los ist!«
Aber Dr. Tomlinson ist zu sehr mit Schreien beschäftigt, um ihr eine Antwort geben zu können. Und danach ist er zu beschäftigt damit, von demselben langen, knallblauen Ding in das Loch gezerrt zu werden. Seine Schreie verstummen plötzlich, und nur noch das Summen aus Dr. Hartness' Funkkopfhörer ist zu hören. Der leere auf dem Boden liegende Schutzanzug wird langsam von Asche bedeckt.
»Bob! Allison! Redet mit mir!«, ruft Dr. Probst aufgeregt aus dem Kopfhörer. »Hallo? Hallo? Sagt mir, dass alles in Ordnung ist! Lasst mich eure Stimmen hören! Bitte!«
***
Hank Williams' Lonesome Whistle spielt leise, als das neue Auto in Montana über den mit Asche bedeckten Highway fährt. Special Agent Tobias Linder starrt angestrengt durch die Windschutzscheibe, während winzige Ascheflocken vom Himmel schweben und sich zu der einen Zentimeter hohen Asche gesellen, die in den letzten achtundvierzig Stunden gefallen ist. Er hat mittlerweile den Überblick darüber verloren, wie viel insgesamt auf den Boden liegt. Seine Aufmerksamkeit wandert nun vom Highway 37 zu seinem Armaturenbrett und dem kleinen Gerät, das ihm ständig rote Zahlen anzeigt.
Er seufzt, als die Zahl innerhalb von Sekunden von sechsunddreißig Prozent auf achtunddreißig Prozent steigt. Nach zwei Meilen erreicht die Zahl bereits vierzig Prozent, was bedeutet, dass er sein Ziel wahrscheinlich gerade noch so erreichen wird, bevor er den Luftfilter auswechseln muss. Sonst wird der Automotor unweigerlich an Asche ersticken und zu einem nutzlosen Metallklumpen werden.
Zum siebzehnten Mal an diesem Morgen klingelt sein Handy, aber er ignoriert es. Denn er weiß genau, was für eine Nachricht ihm hinterlassen werden wird. So gerne er auch seine Pflicht erfüllen würde, die ihm vom Präsidentenamt der Vereinigten Staaten vorgeschrieben wird, hat Linder doch etwas ganz anderes vor, als bei der Evakuierung der südwestlichen USA zu helfen. Denn ein paar Meilen weiter in Champion, Montana, einer Kleinstadt am Lake Koocanusa, erwartet ihn bereits eine wichtige Aufgabe.
Zumindest hofft er das. Es hat über zehn Jahre und Hunderte von Fährten, die in Sackgassen geendet haben, gedauert, bis er diesen Ort endlich gefunden hat. Und ob der Supervulkan nun ausbricht oder nicht – Linder hat nicht vor, sich diese Chance entgehen zu lassen. Er ist früher schon einmal nahe dran gewesen, aber dann kam er doch immer knapp zu spät. Dieses Mal sagt ihm allerdings sein Bauchgefühl, das er richtig liegt. Die Person, die er jagt, ist nur noch ein paar Meilen entfernt. Und all das hat er einem einzigen überwachten Telefongespräch zu verdanken.
Die letzten Klänge von Hank Williams verstummen, aber Linder ignoriert die fehlende Musikberieselung einfach, als er um eine Kurve fährt und sich plötzlich zwei Sheriffautos gegenübersieht, die quer auf der Straße stehen. Er hält an und kurbelt sein Fenster herunter, als ein verwundert aussehender Deputy mit einer hellblauen OP-Maske über Mund und Nase zu ihm herüberkommt.
»Tut mir leid, Sir, aber der Highway ist gesperrt«, sagt der Deputy und zieht seine Maske ein Stück hinunter. »Champion wird heute evakuiert und die Straße ist deshalb nur noch in eine Richtung offen.«
»Verstehe, Deputy …?«
»Mikellson«, antwortet der Mann. Deputy Eric Mikellson, groß, breitschultrig und jung, lehnt sich vor. Sein Blick schweift durch das Auto. »Haben Sie in Champion zu tun, Special Agent …?«
Linder grinst, zieht seinen Ausweis aus der Tasche und klappt ihn auf, damit Mikellson ihn lesen kann.
»Special Agent Linder«, antwortet er. »Woher wussten Sie denn, dass ich beim FBI bin?«
»Habe ich nur geraten.« Mikellson zuckt mit den Schultern. »Sie sehen halt wie einer von der Regierung aus und Ihr Auto ebenfalls.« Er deutet mit dem Kopf auf die Luftfilteranzeige, die am Armaturenbrett klebt. »Habe gerade ein Webseminar über die Dinger angeschaut und weiß deshalb, dass die nur den Regierungsstellen geben werden, damit diese bei den Evakuierungen helfen können.« Er nickt zu den Polizeiwagen. »Uns haben Sie dabei wohl vergessen.«
»Hat die Asche Ihnen schon den Motor kaputtgemacht?«, fragt Linder.
»Noch nicht«, antwortet Mikellson. »Ist aber nur eine Frage der Zeit.«
»Das ist heute alles«, meint Linder lachend und sieht zu den Streifenwagen hinüber. »Denken Sie, dass ich vielleicht trotzdem durch kann? Ich habe in Champion zu tun.«
»Das bezweifle ich«, erwidert Mikellson lachend. »Das Einzige, was es in Champion überhaupt zu tun gibt, ist Fischen, Jagen und Campen.« Er schaut in den verfrühten Winterhimmel und die ständig fallende Asche hoch. »Und das kann man jetzt alles nicht mehr machen.«
»Ja, stimmt«, meint Linder nickend und holt unter dem Beifahrersitz einen braunen Briefumschlag hervor. Er öffnet ihn und nimmt das Foto eines kleinen Jungen heraus. »Haben Sie diesen Jungen schon mal gesehen?«
Mikellson streckt die Hand nach dem Bild aus und Linder lässt es daraufhin widerstrebend los. Der Deputy sieht sich das Foto ein paar Sekunden lang intensiv an und schüttelt dann den Kopf.
»Kann ich nicht behaupten, Special Agent«, sagt Mikellson.
»Linder«, entgegnet dieser grinsend. »Sie können ruhig Linder zu mir sagen.«
»Also, Linder, er erinnert mich spontan an niemanden«, antwortet Mikellson. »Aber wir haben hier im Sommer so viele Kinder, dass es schwer ist, sie alle auseinanderzuhalten. Den Winter über vergesse ich sie normalerweise alle und hab dann wieder Platz im Kopf für die neuen Gesichter, die zum Frühlingsende hier aufkreuzen.«
»Natürlich, das kann ich gut verstehen«, meint Linder und tippt mit dem Finger auf das Bild. »Aber das hier ist ein altes Foto, das gemacht wurde, als er sechs Jahre alt war. Der Junge müsste jetzt ungefähr siebzehn sein. Ich suche bereits seit seiner Geburt nach ihm, und ein Tipp hat mich hierhergeführt. Er ist wahrscheinlich viel größer und hat vielleicht sogar mittlerweile einen Bart. Und er lebt bei einer älteren Frau, glaube ich zumindest. Rote Haare, grüne Augen, sieht wie ein altes Fotomodell aus dem L.L. Bean-Katalog aus. Oder zumindest sah sie einmal so aus.«
Mikellson gibt Linder das Foto zurück und schüttelt den Kopf. »Sorry, Linder. Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber leider kann ich's nicht. Diesen Jungen habe ich noch nie gesehen, und um ehrlich zu sein – es gibt wirklich viele gut aussehende ältere Frauen hier. Die sind in unserer Gegend keine Seltenheit.« Mikellson lacht kurz auf und schlägt dann mit der Hand gegen die Autotür. »Tut mir leid, dass Sie Ihre Zeit damit vergeudet haben, hier raus zu fahren. Sie werden ja bestimmt bei den großen Evakuierungen im Süden gebraucht, oder?«
Linder betrachtet den Deputy eine Sekunde lang und lächelt dann breit. »Oh, ich glaube nicht, dass ich Zeit verschwendet habe«, sagt er und deutet dann auf die Streifenwagen. »Haben Sie was dagegen, wenn ich durchfahre und mal mit Ihrem Sheriff rede? Ich verspreche Ihnen auch, ihn nicht allzu lange zu belästigen.«
»Sie«, erwidert Mikellson daraufhin. »Sheriff Stieglitz ist eine Frau.«
»Tatsache?«, fragt Linder erstaunt. »War mir gar nicht bewusst, dass Montana so fortschrittlich ist.«
»Wir befinden uns in Lincoln County«, erklärt Mikellson. »Wenn man für den Job qualifiziert ist, kann man ihn auch haben. So läuft das hier. Und es ist nebenbei bemerkt das einundzwanzigste Jahrhundert.«
»Dann darf ich also zu Sheriff Stieglitz fahren? Ich werde ihr auch nicht weiter auf die Nerven fallen«, sagt Linder. »Großes Pfadfinderehrenwort.«
Mikellson starrt Linder ein paar Sekunden lang an und nickt dann. Anschließend tritt er vom Auto zurück und zieht sich die Maske über Nase und Mund.
»Machen Sie nur«, entgegnet Mikellson, dreht sich um und winkt dem anderen Deputy zu, der bei den Streifenwagen steht.
Der Mann legt den Kopf schief, zuckt mit den Schultern und steigt dann in seinen Polizeiwagen. Der Motor stottert beim Starten, fängt sich dann aber wieder, und der Deputy fährt weit genug rückwärts, um Platz für Linders Auto zu machen.
»Danke, ich weiß das wirklich zu schätzen«, sagt Linder, als er die Automatikschaltung betätigt. »Es dauert auch nur ein paar Minuten, dann bin ich wieder unterwegs und Sie sind mich los. Ich weiß, dass Sie im Moment wichtigere Dinge im Kopf haben, als sich um einen blöden FBI-Agenten Gedanken zu machen, der ausgerechnet dann auftaucht, wenn Sie versuchen, Ihre Freunde und Nachbarn in Sicherheit zu bringen.«
»Uns ist zurzeit nicht gerade langweilig, das stimmt schon«, sagt Mikellson, während er Linder vorbeiwinkt. »Passen Sie auf und behalten Sie die Luftfilteranzeige im Blick, denn die Asche kommt immer dichter runter.«
»Danke, Deputy Mikellson.« Linder nickt ihm zu, rollt sein Fenster wieder hoch und fährt langsam an den beiden Streifenwagen vorbei.
Der zweite Deputy wartet noch eine Minute lang und fährt seinen Wagen dann zurück in die ursprüngliche Position, sodass beide Spuren des Highways 37 wieder gesperrt sind.
»Wer war denn das?«, fragt Deputy Shane Weaver, der seinen aufgeschwemmten Körper mühsam aus dem Wagen bugsiert und seine Gesichtsmaske zurechtrückt. »Stephie hat doch gesagt, dass wir keinen durchlassen sollen.«
»FBI«, entgegnet Mikellson. »Er sucht nach jemandem.«
»In diesem Mist?«, fragt Weaver mit ausgebreiteten Armen, während die Asche weiter fällt. »Nach wem sucht er denn?«
»Nach jemandem, der nicht gefunden werden will«, erwidert Mikellson.
***
Sheriff Stephie Stieglitz steht mit ruß- und schweißverschmierter Stirn auf dem Gehweg vor Sheena's Diner und sieht einer Familie dabei zu, wie diese in einen der Schulbusse steigt, mit denen sie die Bevölkerung von Champion evakuieren. Der Vater hilft dem kleinsten Kind gerade die Stufen hoch, während die Mutter die Hand der älteren Schwester hält und wartet, dass sie einsteigen können. Das Mädchen wirft noch einen Blick über die Schulter und verengt die Augen – ihr Lachen ist hinter der OP-Maske versteckt.
Stephie zieht ihre eigene Maske kurz herunter, damit das Mädchen ihr beruhigendes Lächeln sehen kann. Champion ist ein sehr kleiner Ort und Stephie kennt daher jede einzelne Person, die in den schmutzigen gelben Schulbus steigt. Das kleine Mädchen, Brita Hoverson, ist letzten Montag gerade erst sieben Jahre alt geworden. Genau an dem Tag, als Yellowstones Supervulkan anfing, Asche in die Luft zu spucken.
Nach Stephies Meinung ein ziemlich dämliches Geburtstagsgeschenk.
»Hey, Stephie«, ruft Deputy Mikellsons Stimme vom Funkgerät an ihrer Hüfte.
Stephie zieht ihre Maske wieder hoch und nimmt das Funkgerät in die Hand. »Was gibt's, Eric? Hältst du noch mit Shane die Stellung?«
»Es ist Besuch zu dir unterwegs«, antwortet Mikellson und verzichtet auf weiteren Small Talk. Das erregt sofort Stephies Aufmerksamkeit. Eric Mikellson ist nämlich für seinen Charme und seine Höflichkeit bekannt. Wenn er diese nicht spielen lässt, ist die Lage äußerst ernst.
»Was für Besuch denn?«, fragt Stephie alarmiert. »Und wieso ist der auf dem Weg zu mir, wenn niemand mehr nach Champion rein darf?«
»FBI«, antwortet Mikellson. »Er ist auf der Suche nach unseren Freunden.«
»Ach, du Scheiße! Jetzt?«, ruft Stephie, was Britas Mutter dazu bringt, sich mit überrascht geweiteten Augen zu ihr umzudrehen. Stephie zieht sofort ihre Maske herunter und haucht ein »Sorry« in ihre Richtung, dann zieht sie den Gesichtsschutz wieder hoch und geht weiter den Bürgersteig hinunter, wobei sie auf die schmierige Asche aufpasst, die jeden Zentimeter bedeckt. »Bist du dir sicher, dass er nach unseren Freunden sucht?«
»Ganz sicher«, erwidert Mikellson. »Er hat mir ein Bild von Kyle als Kind gezeigt und mir Terrie ganz genau beschrieben.«
»Scheiße«, sagt Stephie wieder. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
»Sollen Shane und ich vielleicht zurückkommen?«, fragt Mikellson. »Denkst du, dass du Verstärkung brauchst?«
»Nein, ich werde damit schon fertig«, entgegnet Stephie. »Ich möchte lieber, dass du Terrie und Kyle findest. Sie hätten inzwischen schon längst hier sein sollen, sind aber noch nicht aufgetaucht. Macht's dir was aus, kurz zum Haus rauszufahren und zu gucken, ob sie noch da sind? Wir müssen uns nämlich beeilen, denn sonst verpassen wir das Treffen mit dem staatlichen Konvoi in Coeur d'Alene. Lu hat uns schließlich einen riesigen Gefallen getan, indem sie uns dort einen Platz organisiert hat. Ich fände es furchtbar, wenn ausgerechnet ihre Mutter alles verpatzt.«
»Und was ist mit dem Agenten?«
»Wie heißt er denn?«
»Linder«, antwortet Mikellson. »Inzwischen müsste er schon fast bei dir im Ort sein.«
Linder. Mist.
Stephie dreht sich um und schaut durch den Aschenebel die Straße hinunter. Sie sieht ein schwarzes Auto um die Kurve kommen, hinter der die Berge von Montana vor lauter fallender Asche kaum noch zu erkennen sind.
»Hab ihn gesichtet«, meint Stephie. »Sieh zu, dass du Terrie und Kyle findest. Lass mich sofort wissen, wenn du sie hast. Aber ab jetzt keine Namen mehr über Funk, verstanden?«
»Alles klar«, sagt Mikellson. »Oh, und noch was, Stephie.«
»Ja, Eric?«
»Pass auf dich auf«, warnt er sie. »Das Lächeln von dem Typen schafft's nicht bis zu seinen Augen hoch. Er ist ganz offensichtlich auf Beute aus.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich kenne mich mit Special Agent Tobias Linder gut aus«, antwortet Stephie. »Ich werde schon vorsichtig sein.«
Sie klickt ihr Funkgerät wieder an ihren Gürtel und beobachtet dann, wie das Auto um die lange Reihe von Schulbussen herumfährt und ein paar Meter von ihr entfernt zum Stehen kommt. Special Agent Tobias Linder steigt aus, zieht sich eine Gesichtsmaske über und schreitet anschließend schnellen Schrittes auf Stephie zu.
»Sheriff Stieglitz?«, fragt Linder und hält seinen FBI-Ausweis hoch. »Ich bin Special Agent Tobias Linder. Haben Sie einen kurzen Augenblick Zeit für mich?«
Stephie betrachtet den Mann von oben bis unten. Er ist groß und muskulös, dunkelhaarig, mit braunen Augen. Unter der Jacke seines Anzugs, auf der sich bereits die Asche sammelt, kann sie an seiner rechten Hüfte den Umriss einer Pistole erkennen. An der Innenseite seines linken Fußgelenks zeichnet sich leicht eine zweite Pistole ab. Als sie wieder hochschaut, fängt Linder ihren Blick auf und sie weiß instinktiv, dass alles wahr ist, was sie bisher über den Mann gehört hat: Er ist auf der Jagd!
»Ein kurzer Augenblick ist so ziemlich alles, was ich gerade habe«, antwortet Stephie, als sie auf Linder zugeht. »Was führt denn das FBI hierher? Ich habe gedacht, dass alle Bundesangestellten gerade mit der angekündigten Verhängung des Kriegsrechts beschäftigt sind.«
»Ja, schon. Aber ich bin gerade dabei, noch ein paar offene Akten zu schließen, bevor das große Chaos ausbricht«, antwortet Linder und steckt seinen Ausweis wieder zurück in die Tasche. Er holt nun das Foto des Jungen heraus und hält es Stephie hin, damit sie es sich ansehen kann. »Dieser Junge ist bereits vor mehr als zehn Jahren verschwunden, und es sind gerade ein paar neue Informationen darüber aufgetaucht, dass er sich hier in der Gegend befinden könnte.«
»Wirklich?«, sagt Stephie. »Tut mir leid, Ihnen diese Illusionen nehmen zu müssen, Agent Linder …«
»Einfach nur Linder, bitte«, sagt er. Seine Maske verzieht sich, als er grinst.
»Also, Agent Linder«, sagt Stephie und lacht innerlich, als sie die Augenwinkel des Mannes schmal werden sieht. »In diesem Bezirk kenne ich wirklich jedes Gesicht, und dieses da habe ich noch nie gesehen.«
»Inzwischen ist er schon wesentlich älter«, erklärt Linder. »Eher ein junger Mann als ein Kind.«
»Seltsame Zeit, um an einem Vermisstenfall zu arbeiten«, sagt Stephie. »Mich wundert, dass das FBI Ihre Fahrt hier hoch autorisiert hat.«
Linder antwortet nicht, sondern steht einfach nur mit dem Foto in der ausgestreckten Hand da.
Stephie nimmt das Bild entgegen und sieht es sich genauer an, gibt aber darauf Acht, dass sie ihre Gefühle unter Kontrolle hat und einen neutralen Gesichtsausdruck beibehält.
»Ein hübscher Junge«, sagt Stephie. »Ist heute bestimmt ein gut aussehender junger Mann.« Sie gibt ihm das Foto zurück. »Für seine Eltern muss es ein schwerer Schlag gewesen sein, als er verschwunden ist.«
»War es auch«, bestätigt Linder.
»Haben Sie damit viel zu tun, Agent Linder?«, fragt Stephie. »Eltern, deren Kinder verschwunden sind, schlechte Nachrichten zu überbringen? Ich habe hier meistens nur mit Wanderern und Jägern zu tun, die sich verlaufen haben und nicht gefunden werden können, was schon schwierig genug ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, in der Vermisstenabteilung des FBIs zu arbeiten.«
Wieder antwortet Linder nicht. Er sieht zu der Reihe von Schulbussen hinüber. Stephie folgt seinem Blick.
»Also, wie Sie sehen können, habe ich heute ziemlich viel zu tun. Ich muss mich an feste Uhrzeiten halten, damit wir es pünktlich nach Coeur d'Alene schaffen«, erklärt Stephie.
»Coeur d'Alene?«, fragt Linder. »Ich habe gedacht, dass alle Zivilisten dieser Gegend runter an den Golf fahren sollen?«
»Wir treffen uns mit dem Bundeskonvoi«, entgegnet Stephie. »Und dann geht's weiter nach Seattle. Wir haben Plätze auf einem der Schiffsträger in Everett reserviert.«
»Das muss Sie ja Einiges an Vitamin B gekostet haben«, antwortet Linder lachend.
»Ich habe eine Freundin an der richtigen Stelle«, antwortet Stephie. »Außer einem Anruf hat es mich nichts gekostet.«
»Ja«, sagt Linder nickend. »Das reicht manchmal aus. Ein einziger Anruf.«
Stephies Blut gefriert augenblicklich in ihren Adern, als ihr klar wird, warum Linder plötzlich in Champion aufgetaucht ist. So viele Jahre voller Vorsicht, und dann hebt sie mit der Entscheidung den Telefonhörer, sich mal eben ein Jahrzehnt voller Gefallen zurückzahlen zu lassen.
»Also hören Sie, Agent Linder«, sagt Stephie. »Ich bin ungern unfreundlich, aber ich muss mich jetzt wirklich um andere Sachen kümmern. Ich hätte Ihnen gerne mehr geholfen. Ich würde Ihnen ja anbieten, sich unserem Karavan anzuschließen, aber ich bin mir sicher, dass Sie noch zu tun haben.« Sie zeigt auf die sechs Busse. »Und wie Sie sehen, beladen wir immer noch zwei Busse, von daher werden Sie vermutlich keine Zeit damit verschwenden wollen, auf uns zu warten. Am besten sehen Sie zu, dass Sie Ihr Auto aus dem Ascheregen fahren, bevor der Motor anfängt zu streiken.«
»Ach, ich denke, ich werde noch etwas bleiben und mich mit ein paar Ihrer Bürger unterhalten«, sagt Linder. »Jetzt bin ich schließlich schon so weit gekommen, dass es mich zu Tode ärgern würde, wenn ich mich nicht weiter darum bemühen würde. Das stört Sie doch nicht, Sheriff, oder? Ich verspreche Ihnen auch, dass ich Sie nicht aufhalten oder Ihnen im Weg herumstehen werde. Und Sie sagten ja, dass Sie noch darauf warten, zwei Busse zu füllen.«
»Machen Sie nur«, antwortet Stephie, »aber versuchen Sie, nicht zu aufdringlich zu sein. Die Menschen hier sind selbst unter den besten Umständen nicht so gut auf die Bundesregierung zu sprechen. Wenn man ihnen dann noch mit dem Kriegsrecht droht, sinkt ihre Toleranzgrenze ganz rapide. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Aber sicher«, erwidert Linder nickend. »Auf jeden Fall.«
Er streckt seine Hand aus und Stephie schüttelt sie.
»Es war mir ein Vergnügen, Sheriff«, sagt er, als er auf den ersten Bus zugeht. »Hoffentlich werden Sie eine Reise ohne Zwischenfälle haben.«
»Danke, Mr. Linder«, antwortet Stephie. »Und auch viel Glück für Ihre Suche.«
Linder hält inne und sieht Stephie ein paar Sekunden lang an, bevor er den Kopf schüttelt. »Danke, Sheriff. Glück kann ich wirklich gebrauchen.«
Schnell geht er auf den ersten Bus zu und zieht dann das Foto des Jungen heraus, als er die Stufen hochgeht und sich neben den Fahrersitz stellt.
»Hallo allesamt, mein Name ist Special Agent Tobias Linder vom FBI. Ich will hier niemandem Schwierigkeiten bereiten, sondern möchte nur kurz wissen, ob Sie diesen Jungen schon einmal gesehen haben.«
***
»Grandma!«, ruft Kyle Morgan. »Eric ist da! Wir müssen los!«
Mit seinen siebzehn Jahren misst Kyle bereits über einen Meter achtzig und wächst immer noch. Sein blonder Haarschopf schaut unter der Baseballkappe hervor und eine Krankenhausmaske versteckt sein breites Grinsen, als er dem Streifenwagen zuwinkt, der gerade neben dem Blockhaus zum Stehen kommt, das er sich mit seiner Großmutter Terrie Morgan teilt.
Wobei sie diesen Nachnamen eigentlich schon lange nicht mehr benutzt haben. Die meisten Leute wissen genug, um sie sicherheitshalber »die Holdens« zu nennen, wenn Fremde in der Nähe sind. Ihre wahre Identität ist in Champion ein offenes Geheimnis, aber eins, das alle akzeptieren. Der Norden von Montana ist eine Gegend, in die Menschen auf der Flucht vor einer Vergangenheit ziehen, die sie lieber komplett vergessen wollen – von daher haben Kyle und Terrie gleich von Anfang an sehr gut hierher gepasst.
»Hey, Kyle«, ruft Mikellson und steigt aus dem Streifenwagen. »Du und Terrie solltet eigentlich inzwischen schon längst im Ort sein.«
»Hi, Eric«, sagt Kyle, der zu ihm hinübergeht und ihm die Hand schüttelt. »Biscuit ist hinter irgendwas hergelaufen und Grandma ist ihm natürlich mal wieder nachgerannt.«
»Wir können aber leider nicht warten, bis dein Hund wieder auftaucht, Kyle«, antwortet Mikellson. »Das weißt du doch oder?«
»Grandma geht hier ohne Biscuit aber bestimmt nicht weg«, sagt Kyle lachend, »und das weißt du auch. Manchmal glaube ich, dass sie den Hund lieber mag als mich.«
»So ein Schwachsinn«, entgegnet Mikellson. »Jeder in Champion weiß doch, wie vernarrt Terrie Morgan in ihren Enkel ist.«
»Terrie Holden, meinst du«, sagt Kyle nachdrücklich.
»Tja, genau deshalb bin ich hier«, erwidert Eric und deutet mit dem Kopf auf das zweistöckige Blockhaus. »Können wir kurz reingehen, um der Asche zu entkommen? Ich hab das Scheißzeug nämlich allmählich richtig satt.«
»Immer langsam mit den Kraftausdrücken, Eric Mikellson«, fährt ihn Terrie Morgan plötzlich an, die hinter einem riesigen Husky-Wolfsmischling namens Biscuit um die Ecke des Blockhauses auftaucht. »Was um alles in der Welt machst du denn hier? Solltest du nicht eigentlich die Straße bewachen?«
»Wir haben ein Problem«, erklärt Mikellson. »Es ist jemand aufgetaucht, der nach euch sucht.«
Terrie Morgan, eine gut aussehende Frau Anfang sechzig, ist fast ebenso groß wie ihr Enkel. Ihr hellrotes Haar ist inzwischen fast ganz weiß und unter ihrem aschebedeckten Cowboyhut zu einem Dutt gedreht. Ihr Gesicht ist von der Sonne und dem Wind verwittert, hat aber etwas von der glühenden Jugend und Charakterstärke beibehalten, die unter der Bevölkerung von Nordmontana so häufig zu finden ist. Ein Teil ihrer Stärke verfliegt allerdings sofort angesichts von Mikellsons Worten.
»Beweg deinen Hintern sofort ins Haus«, sagt Terrie, »und erzähl mir, was los ist.« Sie dreht sich um, schlägt sich gegen die Oberschenkel, und Biscuit geht sofort bei Fuß – die gesamten fünfzig Kilo Hund trotten im Gleichschritt neben ihr her, während sie alle ins Haus gehen.
Terrie nimmt vorsichtig den Hut vom Kopf und setzt ihn auf eine Ablage neben der Tür. Sie ziehen sich die ascheverstaubten Jacken aus und hängen sie auf, während Biscuit zu der großen Hirschledercouch rennt, hochspringt, sich vier Mal um die eigene Achse dreht und dann mitten in einer Aschewolke hinlegt.
An den Wänden des Blockhauses hängen Tierschädel aller Art und aller Größen neben kleinen und großen Fotos von Kyle mit Terrie und auch von Terrie und Kyle mit einer Frau, die jünger als Terrie ist und die den beiden stark ähnelt. Es sind auch viele Bilder dabei, auf denen Terrie Arm in Arm mit Stephie zu sehen ist; auf manchen ist Kyle mit dabei, auf anderen nicht. Offensichtlich ist das Blockhaus auch das Zuhause von Sheriff Stephie Stieglitz.
»Verpackt ihr denn gar nichts in Kisten?«, fragt Mikellson verwirrt, als er sich im Haus umsieht und nur ein paar Reisetaschen und Koffer neben der Tür gestapelt sieht, während der Rest der Blockhauseinrichtung genauso aussieht wie immer.
»Wozu denn?«, fragt Terrie resignierend. »Wenn der Supervulkan hochgeht, wird das Haus garantiert unter Metern von Asche begraben. Da ist es doch wohl ganz egal, ob nun alles in Kisten verpackt ist oder nicht. Wir werden ja schließlich nicht so bald wieder zurückkommen, falls überhaupt jemals.«
»Stimmt«, meint Mikellson und setzt sich an den Frühstückstisch der offen konzipierten Küche.
»Wird das ein gemütlicher Plausch?«, fragt Terrie mit in die Taille gestemmten Händen. »Sag doch einfach, was los ist!«
»Special Agent Tobias Linder ist gerade in den Ort gefahren«, erzählt Mikellson. »Bist du dir sicher, dass du dich nicht lieber hinsetzen willst?«
»Scheiße«, ruft Terrie und überrascht damit sowohl Kyle als auch Mikellson. »Entschuldigung.«
Sie setzt sich hin und bedeutet dann Kyle, sich ebenfalls einen Stuhl zu nehmen. »Wo ist er denn jetzt genau?«, erkundigt sich Terrie.
»Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er mit Stephie geredet hat«, antwortet Mikellson. »Sie wird ihn schon irgendwie wieder loswerden, aber ich weiß nicht, wie lange das dauert.«
»Wer ist denn Special Agent Tobias Linder überhaupt?«, fragt Kyle.
Mikellson sieht Terrie überrascht an, aber die Frau schüttelt nur stumm den Kopf und der Deputy fragt nicht weiter nach.
»Er ist vom FBI«, sagt Terrie zu Kyle. »Er ist einer der Gründe dafür, dass wir hier leben.«
»Ich habe gedacht, dass das FBI beim Zeugenschutzprogramm hilft«, meint Kyle. »Wieso haben wir denn dann Angst vor ihm?«
»Ich habe keine Angst vor dem Mann«, sagt Terrie barsch. »Niemals.«
Kyle sieht von seiner Großmutter zu Mikellson, seufzt dann und verschränkt die Arme.
»Also, wer ist er?«, fragt Kyle.
»Ärger«, antwortet Terrie.
»Und eine Behinderung«, erklärt Mikellson. »Wenn er im Ort bleibt, bedeutet das, dass ihr keinen von den Bussen nehmen könnt.«
»Ich würde sowieso viel lieber mit dem Bronco fahren«, entgegnet Terrie. »Bei dem Gedanken daran, in einen dieser Schulbusse gequetscht zu werden, wird mir ganz übel. Und Biscuit wird's bestimmt auch nicht gefallen.«
Als er seinen Namen hört, schaut der riesige Mischling sofort hoch und bellt leise. Dann rollt er sich wieder zusammen und schließt die Augen.
»Siehst du?«, sagt Terrie. »Er ist jetzt schon ganz gestresst.«
»Ihr zwei habt mir immer noch nicht gesagt, wieso wir uns vor diesem Linder-Typen verstecken«, wirft Kyle ein. »Vielleicht hat Mom ihn ja hergeschickt. Die US-Marshals und das FBI arbeiten doch andauernd zusammen. Vielleicht ist er ja gekommen, um zu helfen, die Busse zu dem Konvoi zu eskortieren.«
»Ist er nicht«, sagt Mikellson. »Er ist wegen euch gekommen.«
»Das verstehe ich nicht«, entgegnet Kyle. »Mom ist ein US-Marshal, Stephie ist der Sheriff von Lincoln County, und du lebst mehr oder weniger auch hier.« Kyle zeigt auf Mikellson. »Oder zumindest isst du andauernd hier. Es ist ja nicht gerade so, als ob wir uns vor den Gesetzeshütern verstecken. Wieso machen wir uns dann also wegen eines FBI-Agenten Sorgen? Gehört der nicht zu den Guten?«
»Nein, gehört er nicht«, antwortet Terrie nachdrücklich. »Und ich habe leider auch nicht die Zeit, dir das alles genau zu erklären.«
»Vermutlich hättest du das schon lange tun sollen«, sagt Mikellson leise.
»Du hältst den Mund«, erwidert Terrie und zeigt mit dem Finger auf Mikellson. »Du hast überhaupt keine Ahnung, wie schwierig es war, uns hier zu verstecken.«
»Danke, aber ich habe durchaus eine Ahnung«, antwortet Mikellson. »Denk nicht mal für einen Augenblick, dass ich das nicht weiß, Terrie Morgan.«
»Ja, ja, du weißt es«, meint Terrie nickend. »Tut mir leid, Eric.«
»Also will mir wirklich keiner sagen, wer dieser Typ ist?«, fragt Kyle wütend. »Ich bleibe also mal wieder im Dunklen wie üblich?«
»Ach, jetzt spiel doch nicht die Dramaqueen«, antwortet Terrie. »Du kannst jetzt den Rest der Sachen in den Bronco laden, während ich hier mit Eric rede. Mach das, und dann erzähl ich dir vielleicht nachher alles, wenn wir erst einmal unterwegs sind.«
Die sarkastische Antwort, die er geben will, erstirbt auf Kyles Lippen, als er den Blick seiner Großmutter sieht. Kein guter Zeitpunkt, um sich aufmüpfig aufzuführen.
»Gut«, antwortet Kyle deshalb, steht schnell auf und wirft dabei seinen Stuhl um.
Biscuit springt nun auch bellend von der Couch, den massiven Kiefer weit geöffnet.
»Biscuit!«, ruft Kyle. »Ruhig! Ich war das nur.«
Der Mischling bellt noch einmal, sieht dann zu Kyle und winselt schließlich.
»Na komm schon, Dicker«, ruft Kyle, als er geht, um seine Jacke anzuziehen. »Du kannst mir beim Packen helfen.«
»Behalte ihn aber im Auge«, ermahnt ihn Terrie. »Wir fahren los, sobald der Bronco abfahrbereit ist. Wir haben keine Zeit mehr, ihn zu suchen, wenn er wieder hinter einem Eichhörnchen auf und davon laufen sollte.«
»Ja, ja«, meint Kyle und hört sich schon genauso an, wie seine Großmutter. »Na komm, B.«
Der Junge öffnet die Tür und Biscuit rennt hinaus, direkt auf die Tannen und Kiefern zu, die das Blockhaus umgeben.
»Biscuit! Verdammter Mist! Komm zurück!«, brüllt Kyle, als er die Tür hinter sich zumacht.
Mikellson sieht Terrie an, aber diese hält einen Finger empor. »Sag's nicht.«
»Du hast ihm immer noch nicht erzählt, wer Linder ist?«, fragt Mikellson.
»Ich habe doch gesagt, du sollst es nicht sagen«, antwortet Terrie. »Und ehrlich gesagt war das auch gar nicht meine Idee. Lu war diejenige, die gesagt hat, dass sie es ihm erzählen würde, wenn sie denkt, dass der Junge alt genug dafür sei.«
»Aber Terrie, es ist für eure Sicherheit absolut wichtig, dass ihr alle wisst, wer der Mann ist!«, bricht es aus Mikellson heraus. »Das weißt du doch!«
»Und meine Tochter ebenso!«, fährt Terrie ihn an. »Aber egal, wie oft ich es ihr gegenüber erwähne, sie sagt immer nur, dass sie es ein anderes Mal tun wird.«
»Was meinst du, weshalb er jetzt hier ist?«, fragt Mikellson. »Ein elender Vulkan ist gerade dabei, auszubrechen und den Großteil dieses Landes in metertiefer Asche zu versenken. Scheint mir ein komischer Zeitpunkt zu sein, plötzlich eure Spur aufnehmen zu wollen.«
»Das ist nicht weiter komisch«, sagt Terrie. »Er muss an ein Verzeichnis der Telefonnummern gekommen sein, die Lu angerufen hat.«
»Und was würde ihm das bringen?«, fragt Mikellson verwirrt. »Lu benutzt doch einen Scrambler, wenn sie mit euch redet. Und du rufst sie auch nie auf der Arbeit an. Hat sie nicht aufgepasst und von einem verdammten Regierungsapparat aus angerufen?«
»Sie hat immer aufgepasst, aber Stephie und ich nicht«, erklärt Terrie. »Als die Details über die Evakuierung bekannt wurden und wir herausgefunden haben, dass es ein Lotteriesystem dafür geben wird, welche Zivilisten auf die Schiffe gelassen werden, die von Galveston, New Orleans und Mobile aus ablegen, hat Stephie direkt Lu angerufen, um zu sehen, ob wir die Bevölkerung von Champion nicht auf eins der Militärschiffe schaffen können.«
»Das weiß ich ja«, sagt Mikellson. »Aber wieso sollte ausgerechnet das Linder hierherführen?«
»Lu hatte keine Gelegenheit, einen neuen Scrambler zu beschaffen, als das alles passiert ist«, erklärt Terrie daraufhin. »Die einzige Möglichkeit, sie zu erreichen war, sie auf ihrem normalen Handy anzurufen. Es war ein einfacher Anruf und er hat auch nur fünf Minuten gedauert.« Terrie breitet die Arme aus und zeigt auf die Wände. »Es hat Stephie viel Arbeit gekostet, uns hier ein so sicheres Zuhause zu schaffen. Es wäre ein Understatement zu sagen, dass Lu der Frau einen oder zwei Gefallen schuldet. Stephie ist eben das Risiko eingegangen, sich diesen Gefallen von ihr zu erbitten. Wir haben gedacht und gehofft, dass Linder in diesem Chaos niemals herkommen könnte, selbst wenn er Lus Telefonanrufe immer noch durchgehen würde.«
»Sieht so aus, als hättet ihr falsch gedacht«, sagt Mikellson bitter.
»Ja, scheint so«, antwortet Terrie. »Du musst mir das aber nicht extra unter die Nase reiben.«
»Und wie sieht nun der Plan aus?«, fragt Mikellson. »Wie schmuggeln wir euch beide hier raus, ohne dass Linder es merkt?«
»Ich werde Kyle im Bronco mitnehmen und mit ihm zu Bonner's Ferry fahren«, erklärt Terrie. »Da werden wir dann einfach auf euch warten.«
»Aber dafür musst du mitten durch den Ort fahren, um zum Highway 37 zu kommen«, wirft Mikellson ein. »Wenn er noch da ist, wird er euch garantiert sehen, und ich kann dir sagen, dem Typen entgeht nicht viel.«
»Er kennt doch meinen Bronco gar nicht«, wendet Terrie ein. »Und ich werde auch nicht selber fahren.«
»Wer dann?«, fragt Mikellson und hält inne. »Doch nicht etwa … Kyle? Glaubst du, er wird ihn nicht mehr wiedererkennen?«
»Es ist so viele Jahre her«, meint Terrie. »Jedes Mal, wenn Lu den Jungen sieht, erkennt sie ihn kaum wieder, und das ist alle drei Monate der Fall. Es sollte reichen, dass wir schnell durch den Ort fahren und dann auf den Highway kommen.«
»Das hoffe ich«, seufzt Mikellson. »Für den Jungen hoffe ich es wirklich.«
***
»Du bleibst hier«, knurrt Kyle Biscuit an, als er den Mischling zum Bronco zerrt. »Beweg dich nicht. Keine Eichhörnchenjagd mehr!«
Der Mischling bellt zustimmend und legt sich dann in die Asche am Hinterrad des großen SUVs. Es ist ein klassischer großer Bronco aus dem Jahr 1984, der mit einer extrastarken Federung, einem achtzylindrigen Multikraftstoff Turboladermotor, übergroßen Reifen und verstärkten Stoßstangen ausgestattet ist. Kyle nennt ihn deshalb gerne den Panzer.
Er öffnet nun die Heckklappe und wirft zwei Reisetaschen hinein, dreht sich dann um und geht zur Veranda zurück, um die restlichen Koffer zu holen. Biscuit beobachtet ihn derweil. Sein Fell sträubt sich und er springt nun bellend auf.
»Mann, B!«, brüllt Kyle, der erschrocken einen Luftsprung macht. »Du hast mir einen Wahnsinnsschrecken eingejagt!«
Biscuit bellt und bellt, und Kyle ist schon so weit, dass er zu ihm hinübermarschieren und ihm eins auf die massive Schnauze geben will, als er plötzlich seine Beine zittern spürt und innehält.
Nein, es sind gar nicht seine Beine, es ist der Boden. Die Erde zittert. Dann wankt sie und nach zwei oder drei Sekunden ist es ein richtiges Erdbeben.
»Grandma!«, schreit Kyle panisch. »Grandma!«
Terrie und Mikellson kommen aus dem Blockhaus gerannt und starren die schwankenden Bäume am Haus an.
»Das kann nichts Gutes bedeuten!«, ruft Mikellson über die Geräusche des Erdbebens hinweg.
»Wir müssen sofort jemanden hinschicken!«, ruft Dr. Probst vor Dr. Alexander Bartollis Schreibtisch. Klein, wie sie ist, schlank, dunkelhaarig und mit hellbraunen Augen sieht Dr. Probst alles andere als einschüchternd aus, aber der Ton ihrer Stimme macht ihren Vorgesetzten trotz allem in Sekundenschnelle nervös. »Wir haben einen ganzen Tag lang nichts mehr von Allison oder Bob gehört!«
»Das liegt wahrscheinlich nur an den Empfangsstörungen durch den Vulkan«, antwortet Dr. Bartolli und versucht, sie mit einer lockeren Handbewegung wegzuscheuchen, aber das lässt das Feuer in ihren Augen nur noch mehr auflodern. »Funktionieren die Sensoren denn?«
»Nein«, antwortet Dr. Probst sofort. »Aber …«
»Haben Sie schon versucht, mit den Behörden vor Ort Kontakt aufzunehmen?«
»Es gibt dort keine Behörden vor Ort, und das wissen Sie auch!«, sagt Dr. Probst wütend. »Die gesamte Gegend ist bereits nach Mobile oder Galveston oder einem anderen dieser Orte evakuiert worden. Allison und Bob sind ganz alleine da draußen und es hörte sich nicht so an, als ob der Funkkontakt durch simple Frequenzstörungen ausgefallen ist. Ich habe gehört …«
»Wie jemand schrie, ja, das sagten Sie bereits«, erwidert Dr. Bartolli seufzend. »Und ich muss auch das wieder einer Frequenzstörung zuschreiben. Es war vermutlich einfach nur ein statisches Quietschen, das Sie gehört haben. Bei dem Stress, unter dem wir zurzeit alle stehen, ist das auch kein Wunder.«
Dr. Probst muss ihre ganze Willenskraft dazu aufwenden, nicht über den Schreibtisch zu springen und dem Mann eine Ohrfeige zu verpassen.
»Wenn wir bis morgen nichts von ihnen gehört haben, rufen Sie jemanden an und veranlassen eine Suche«, verkündet Dr. Probst. »Ansonsten werde ich mich selbst auf den Weg dorthin machen.«
»Und wie? Vielleicht mit Ihrem geheimen Spionageflugzeug?«, entgegnet Dr. Bartolli lachend. »Machen Sie einfach Ihre Arbeit, Cheryl. Lassen Sie sich das Militär um die Leute draußen vor Ort kümmern. Ich werde ganz nach Vorschrift eine Meldung einreichen, aber ich werde keine extra Anrufe deshalb machen. Ich gehe jede Wette ein, dass wir schon bald von den beiden hören werden, nämlich sobald sie ein funktionierendes Telefon gefunden haben.«
»Gut«, sagt Dr. Probst knapp, dreht sich abrupt um und stürmt aus dem Büro.
Dr. Bartolli sieht ihr kopfschüttelnd hinterher und widmet sich dann wieder der Arbeit auf seinem Schreibtisch. Er nimmt sich vor, nachher eine Meldung zu machen. Oder gleich am nächsten Morgen. Na ja, irgendwann morgen auf jeden Fall.
***
US-Marshal Lucinda »Lu« Morgan presst gerade ihre Hand gegen die Seite des Busses, als die Welt um sie herum zu beben beginnt. Ihre von einer Sonnenbrille bedeckten Augen suchen die Gegend ab und sehen, wie die anderen US-Marshals sich ebenfalls an den vier Bussen abstützen, auf deren Seitenflächen »Federal Bureau of Prisons« steht. Die Erde bebt gute zwei Minuten lang, bevor sie sich langsam wieder beruhigt.
»Hal! Alles Okay bei dir?«, ruft Lu einem kleinen Muskelpaket von Mann auf der anderen Seite der Tankstelle zu.
»Ich bin okay!«, antwortet US-Marshal Hal Stacks. »Und du?«
»Nur etwas wackelig auf den Beinen«, antwortet Lu. »Talley?«
»Alles prima«, antwortet US-Marshal James Talley vom Bus hinter dem von Hal. Talley, groß, schlaksig und mit tiefschwarzer Haut, rückt sich die Sonnenbrille zurecht, nimmt dann den Benzinschlauch aus dem Tank und hängt ihn wieder an die Pumpe zurück. »Ich bin abfahrbereit.«
»Super«, meint Lu. »Stevie?«
»Alles Eins A, Lu«, antwortet US-Marshal Steven LeDeaux vom Bus direkt hinter dem von Lu. Mit seinen dürren Beinen, über denen ein riesiger Bierbauch hängt, sieht Stevie aus, als würde er dank seines ungleichgewichtigen Körpers jeden Moment vornüberfallen. So manch ein flüchtender Sträfling hatte schon den Fehler begangen, die Geschwindigkeit dieser dürren Beine gewaltig zu unterschätzen.
»Weißt du überhaupt, was das bedeutet, Stevie?«, erkundigt sich Lu lachend.
»Keinen blassen Schimmer«, antwortet Stevie grinsend. »Ist bloß etwas, das meine Tante Jessie immer gesagt hat.«
Lu dreht sich um und sieht zu dem Bus, der vor ihrem steht. »Tony? Alles klar?«
»Alles Okay, Boss«, antwortet US-Marshal Anthony Whipple. Tony ist der Jüngste unter den Marshals und sieht mit seinen blonden Haaren, den blauen Augen und der glatten Haut eher wie ein erfolgreicher Quarterback aus. Er schiebt seine Sonnenbrille hinunter und zwinkert Lu zu.
Sie schiebt ihre Sonnenbrille ebenfalls runter und starrt zurück, während der Winterwind um die Tankstelle peitscht und die Asche und den Schnee durcheinanderwirbelt, der mittlerweile ganz Salt Lake City bedeckt. Tony zwinkert erneut, schiebt seine Brille wieder hoch, zieht dann den Benzinschlauch vom Bus und hängt ihn wieder an die Pumpe zurück. Lu hört daraufhin ein lautes Klicken und macht dasselbe mit ihrem Schlauch, bevor sie ihre Jacke enger um sich zieht und zu dem kleinen Geschäft der Tankstelle geht.
»Wo befinden sich die Toiletten?«, fragt Lu.
Der Kassierer zeigt nach hinten, wobei er wütend auf die Straße vor seiner Tankstelle starrt. Dutzende von Autos stehen an der Straße, wo National Guard Soldaten mit M-16s in der Hand vor dem Eingang der Tankstelle patrouillieren und den Zugang zu dem wertvollen Benzin blockieren.
»Sind Sie da draußen mal langsam fertig?«, fragt der Kassierer wütend. »Ich muss die ganzen Leute auch noch tanken lassen, damit ich hier bald wegkann.«
»Wir haben für fast tausend Dollar getankt«, meint Lu daraufhin. »Das sollte Sie doch eigentlich entschädigen.«
»Es geht mir nicht ums Geld, Lady«, murrt der Kassierer. »Es geht ums Leben.«
Lu verdreht die Augen, geht zur Damentoilette und knipst dort das schwache Licht an. Dann verriegelt sie die Tür und macht ihre Jeans auf, nimmt vorsichtig ihre Pistole aus dem Halfter und legt diese auf das kleine Waschbecken neben der Toilette. Dann erledigt sie ihr Geschäft und geht anschließend zum Händewaschen vor den Spiegel.
Groß und rothaarig wie ihre Mutter und eine natürliche Schönheit, hätte sie, genau wie ihre Mutter ein Model sein können – nur ist ihre offensichtlich schon einmal gebrochene Nase schief zusammengewachsen, und Lu hat sich die Karriereleiter zu ihrem Posten in der Denver-Abteilung der US-Marshals hochkämpfen müssen. Niemand nimmt in ihrem Berufsfeld eine Frau mit ihrem Aussehen ernst. Sofort wird dann nämlich angenommen, dass sie eine Lesbe mit Lippenstift ist, die nur angeheuert worden ist, um der Frauenquote gerecht zu werden. Umso mehr weiß sie es zu schätzen, dass sie sich ihre Crew selbst hatte aussuchen dürfen, als sie den Auftrag erhalten hatte, fünfzig der gefährlichsten Bundesgefangenen vom Hochsicherheitstrakt in Florence, Colorado, quer durch den Westen nach Seattle zu transportieren.
Das Wissen, das die anderen Marshals sie respektieren und ihr vertrauen, hilft ihr angesichts der Tatsache, dass die auf die fünf Busse verteilten fünfzig Männer keinerlei Problem damit hätten, ihr sofort den Kopf abzuschlagen und in ihren Halsstumpf zu scheißen.
Sie bindet sich ihren Pferdeschwanz neu und holt dann einmal tief Luft. Nun ist sie bereit, wieder hinauszugehen und sich auf den Weg nach Coeur d'Alene zu machen.
»Wo ich gerade daran denke«, sagt sie lachend, denn in dem Moment, als sie die Damentoilette verlässt, klingelt ihr Handy. Sie nimmt es von ihrem Gürtel und ihr Herz schlägt ihr sofort bis hoch in die Kehle, als sie die Nummer sieht. »Mom? Mom, was ist passiert? Ist etwas mit Kyle? Ist er verletzt? Wieso rufst du mich auf dieser Nummer an?«
»Immer mit der Ruhe, Sweetheart«, antwortet Terri. »Kyle geht's gut. Wir hatten zwar gerade ein Erdbeben, das uns etwas nervös gemacht hat, aber wir sind beide okay.«
»Ihr habt das auch gespürt?«, fragt Lu alarmiert. »Verdammt, wenn das von Yellowstone kommt, sitzen wir mächtig in der Scheiße.«
Lu hört, wie ihre Mutter wegen der Schimpfwörter einmal tief durchatmet, aber sie wird nicht zurechtgewiesen – es ist nichts, über das sie jetzt noch streiten.
»Pass auf, Lu, der Plan hat sich etwas geändert«, sagt Terrie nun. »Kyle und ich fahren mit dem Bronco, bis wir euch treffen. Wir sind jetzt im Auto auf dem Weg zu Bonner`s Ferry und fahren dann gleich durch Champion.«
»Ihr fahrt?«, fragt Lu irritiert, während sie dem Kassierer zunickt und nach draußen in die kalte Winterluft tritt. »Ist denn einer der Busse kaputt? Oder sind die zu schnell voll gewesen?«
»Nein, an den Bussen liegt es nicht«, erklärt Terrie. »Da läuft alles pünktlich und glatt nach Plan.«
»Okay, woran liegt's dann, Mom?«, fragt Lu aufgeregt. »Du machst mir langsam Angst.«
Lu hebt eine Hand und wirbelt mit den Fingern durch die Luft. Hal sieht es, dreht sich um und pfeift laut. Alle Gefängniswärter, die die Busse zur Verstärkung begleiten, laufen jetzt mit den US-Marshals zu ihren Fahrzeugen.
»Ich will dir auf keinen Fall Angst einjagen, okay«, sagt Terrie. »Versprich mir, dass du keine Angst bekommst!«
Lu kann Kyles Stimme im Hintergrund hören, aber Terrie sagt ihm, dass er still sein und fahren soll.
»Verdammt noch mal, Mom! Jetzt spuck's endlich aus!«, ruft Lu entnervt.
Talley sieht sie an und runzelt die Stirn, aber Lu schüttelt nur den Kopf und zeigt auf seinen Bus. Er springt mit zwei Gefängniswärtern hinein, und die Bustüren schließen und verriegeln sich daraufhin hinter ihnen. Lu wartet darauf, dass ihre zwei Wärter ebenfalls in den Bus steigen, und folgt ihnen sofort hinein. Drinnen sitzt der Fahrer sicher in seinem Stahlkäfig, hinten noch zwei Wärter ebenfalls in einem Stahlkäfig am Ende des Busses, und zehn Insassen sind in der Mitte des Fahrzeugs mit Handschellen an ihre Sitze gefesselt. Lu setzt sich neben die zwei Wärter, die mit ihr den Bus bestiegen haben, und starrt durch den Stahldraht hindurch, der keine dreißig Zentimeter vor ihrem Gesicht hängt.
Alle Augen sind nun auf sie gerichtet und sie muss sich anstrengen, nicht unwillkürlich zu erschaudern.
»Er hat Champion gefunden«, sagt Terrie mit ruhiger und kühler Stimme. »Uns hat er zwar nicht aufgespürt, aber er ist definitiv hier.«
Lu verliert ihren Kampf gegen das Erschaudern und beginnt zu zittern. Einer der Insassen fängt ihren Blick auf und lächelt. Sie schiebt ihre Sonnenbrille hinunter, starrt ihn wütend an und zeigt ihm den Mittelfinger. Sein Lächeln wird daraufhin nur noch breiter.
Es hupt laut und der Fahrer sieht über seine Schulter zu Lu.
»Sind wir abfahrbereit, Marshal?«, fragt der Fahrer daraufhin.
»Ja«, antwortet Lu. »Wir sind bereit. Fahren Sie los.« Sie wendet ihre Aufmerksamkeit wieder dem Telefonanruf zu. »Pass auf, Mom, ich werde dich zurückrufen müssen. In spätestens fünfzehn Minuten sollte es klappen. Ich muss nur sichergehen, dass wir zurück auf die I-15 kommen und zu euch unterwegs sind.«
»Ich verstehe, Sweetheart«, antwortet Terrie. »Ich kenne das ja. Mach du nur deinen Job und sei dir sicher, dass ich meinen mache. Ich werde den Mann niemals an unseren Jungen heranlassen, hörst du?«
»Ich höre«, erwidert Lu. »Danke, Mom.«