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Eine Frau springt in den Tod. Karen Nichols war jung, erfolgreich und bis vor Kurzem noch Patrick Kenzies Klientin. Ein harmloser Fall von Stalking, um den Kenzie nur wenig Aufhebens machte. Nun packt ihn das schlechte Gewissen, denn vielleicht hätte er Karens Tod verhindern können, hätte er sorgfältiger ermittelt. Doch sein Gegner ist ein genialer Psychopath, der selbst Kenzie das Fürchten lehrt. In der Neuübersetzung von Peter Torberg.
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Seitenzahl: 519
Dennis Lehane
Ein Fall für Kenzie & Gennaro
Roman
Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg
Diogenes
Gewidmet meinen Freunden
John Dempsey, Chris Mullen und Susan Hayes,
die mir erlaubten, ein paar ihrer besten Sätze zu stehlen, ohne mich zu verklagen.
Und Andre, der zutiefst vermisst wird.
Ich hörte die uralten Männer sagen:
»Alles, was schön ist, wird fortgetragen
Vom Wasser.«
W.B. Yeats, Die Gedichte, Luchterhand, 2005
I heard the old, old men say,
»All that’s beautiful drifts away
Like the waters.«
W.B. Yeats
Im Traum habe ich einen Sohn. Er ist etwa fünf, spricht und denkt aber wie ein Fünfzehnjähriger.
Er sitzt fest angeschnallt neben mir, seine Füße reichen kaum bis zur Kante des Beifahrersitzes. Das Auto ist riesig und alt, mit einem Lenkrad so groß wie ein Wagenrad. Wir fahren durch einen matt chromfarbenen, späten Dezembermorgen. Wir sind irgendwo auf dem Land südlich von Massachusetts, aber nördlich der Mason-Dixon-Linie, Delaware vielleicht oder südliches New Jersey, rot-weiß karierte Getreidesilos ragen in der Ferne aus abgeernteten, gepflügten Äckern, die unter dem Schnee der letzten Woche blass wie Zeitungspapier daliegen.
Um uns herum nichts als Felder und Silos, ein in Stille erstarrtes Windrad, endlose schwarze, eisglänzende Telefondrähte an Masten. Kein Auto weit und breit, kein Mensch. Nur mein Sohn und ich und die asphaltgraue Straße, die die gefrorenen Weizenfelder durchschneidet.
»Patrick«, sagt mein Sohn.
»Ja?«
»Heute ist ein schöner Tag.«
Ich schaue hinaus in die ungeheure Weite des einsamen Morgens. Weit draußen hinter dem letzten Silo steigt ein trübes Rauchfähnchen aus einem Schornstein auf. Ich sehe das Gebäude nicht, aber ich spüre die Wärme des Hauses. Ich rieche das Essen im Ofen, sehe die freiliegenden Kirschholzbalken über der honigfarbenen Holzküche. Am Griff der Backofentür hängt eine Kochschürze. Ich spüre, wie schön es an einem stillen Dezembermorgen dort sein muss.
Ich schaue meinen Sohn an. »Ja, das stimmt«, antworte ich.
»Wir fahren den ganzen Tag. Wir fahren die ganze Nacht. Wir fahren immer weiter.«
»Genau.«
Mein Sohn schaut zum Fenster hinaus. »Dad«, sagt er.
»Ja?«
»Wir halten niemals an.«
Ich schaue zu ihm hinüber; er schaut mich aus meinen eigenen Augen an.
»Okay. Wir halten niemals an.«
Er legt seine Hand auf meine. »Wenn wir anhalten, geht uns die Luft aus.«
»Ja.«
»Und wenn uns die Luft ausgeht, sterben wir.«
»Genau.«
»Ich will aber nicht sterben, Dad.«
Ich streiche ihm über das weiche Haar. »Ich auch nicht.«
»Deshalb halten wir nie wieder an.«
»Nein, mein Freund.« Ich lächle ihn an. Ich rieche seine Haut, sein Haar, der Duft eines Neugeborenen am Körper eines Fünfjährigen. »Wir halten nie wieder an.«
»Gut.«
Er lehnt sich zurück und schläft mit der Wange an meinem Handrücken ein.
Das Asphaltband zieht sich durch die schneebestäubten Felder, und meine Hand ruht leicht, aber fest auf dem Lenkrad. Endlose Meilen weit liegt die flache, gerade Straße vor mir. Wispernd wirbelt der Wind den trockenen Schnee von den Feldern und lässt ihn in den Rissen im Teer vor dem Kühler des Wagens tanzen.
Ich halte nie wieder an. Ich steige nie wieder aus. Das Benzin geht niemals zur Neige. Ich werde nie wieder hungrig sein. Hier ist es warm. Mein Sohn ist bei mir. Er ist in Sicherheit. Ich bin in Sicherheit. Ich werde nie wieder anhalten. Ich werde niemals müde. Ich halte niemals an.
Vor mir die endlose Straße.
Mein Sohn nimmt den Kopf von meiner Hand und fragt: »Wo ist Mom?«
»Ich weiß nicht.«
»Aber ist alles in Ordnung?« Er schaut mich an.
»Alles in Ordnung«, antworte ich. »Alles ist gut. Schlaf ruhig weiter.«
Mein Sohn schläft wieder ein. Ich fahre weiter.
Und als ich aufwache, sind wir beide verschwunden.
Als ich Karen Nichols das erste Mal begegnete, kam sie mir vor wie eine Frau, die sogar ihre Socken bügelt.
Sie war blond und zierlich und stieg aus einem neuen irischgrünen VW Beetle, als Bubba und ich gerade mit unseren Morgenkaffees in der Hand die Straße zur St. Bartholomew’s Church überquerten. Es war Februar, doch in diesem Jahr hatte der Winter seinen Einsatz verpasst. Bis auf einen kräftigen Schneeeinbruch und ein paar Tage mit eisigen Temperaturen war es fast mild gewesen. Heute waren es über fünf Grad Celsius, und das am Vormittag. Man kann ja über die Erderwärmung sagen, was man will, aber solange ich nicht Schnee schippen muss, habe ich nichts dagegen.
Karen Nichols beschirmte sich die Augen gegen die Morgensonne und lächelte mich unsicher an.
»Mr. Kenzie?«
Ich schenkte ihr mein allerbravstes »Ich habe den Teller leer gegessen und liebe meine Ma«-Lächeln und hielt ihr die Hand hin. »Miss Nichols?«
Aus einem unerfindlichen Grund lachte sie. »Karen. Ich bin früh dran.«
Sie nahm meine Hand. Ihre fühlte sich so geschmeidig und weich an, als würde sie in einem Seidenhandschuh stecken. »Ich bin Patrick. Das ist Mr. Rogowski.«
Bubba brummte und trank von seinem Kaffee.
Karen Nichols ließ schnell meine Hand los. Wahrscheinlich hatte sie Angst, sie auch Bubba geben zu müssen. Und sie möglicherweise nicht wiederzubekommen.
Sie trug eine braune Wildlederjacke, die ihr bis zum Oberschenkel reichte, darunter einen dunkelgrauen Strickpulli, makellose Bluejeans und strahlend weiße Reeboks. Alles an ihrer Aufmachung machte den Eindruck, als gäbe es in der Welt keine Falten, Flecken oder Staubflusen.
Sie legte sich ihre zarten Finger an den glatten Hals.
»Zwei echte Privatdetektive. Wow.« Wieder lachte sie. Ihre Stupsnase kräuselte sich, und Lachfältchen bildeten sich um ihre sanften blauen Augen.
»Ich bin der Privatdetektiv«, entgegnete ich. »Er hängt hier nur mit mir rum.«
Bubba brummte wieder und verpasste mir einen Tritt in den Hintern.
»Sitz, Junge«, befahl ich. »Bei Fuß.«
Bubba trank seinen Kaffee.
Karen Nichols machte ein Gesicht, als würde sie es bereuen, hergekommen zu sein. Ich entschied, sie nicht mit in mein Büro im Glockenturm zu nehmen. Wenn jemand unsicher war, mich anzuheuern, dann war der Glockenturm erfahrungsgemäß nicht gerade die beste PR.
Es war Samstag, keine Schule, also gingen Karen Nichols, Bubba und ich zu einer Bank auf dem Schulhof hinüber.
Ich setzte mich. Karen Nichols benutzte ein blütenweißes Taschentuch, um die Bank abzuwischen, und setzte sich dazu.
Stirnrunzelnd betrachtete Bubba erst die Bank, sah mich dann an, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden vor uns und schaute erwartungsvoll hoch.
»Braver Hund«, sagte ich.
Bubba warf mir einen Blick zu, der deutlich verriet, dass ich dafür bezahlen würde, sobald wir nicht mehr in feiner Gesellschaft waren.
»Miss Nichols«, sagte ich, »wie haben Sie von mir erfahren?«
Sie löste den Blick von Bubba und sah mich mit großen Augen völlig verwirrt an. Ihre Frisur erinnerte mich an Bilder aus dem Berlin der Zwanziger. Das kurze blonde Haar lag glatt am Kopf an und war hinter dem linken Ohr mit einer schwarzen Spange mit einem aufgemalten Skarabäus fixiert, dabei würde es sich nicht mal hinter einem Flugzeugtriebwerk bewegen.
Dann klärte sich ihr Blick, und sie gab wieder dieses kurze nervöse Lachen von sich. »Von meinem Freund.«
»Und der heißt …«, fragte ich und tippte auf Tad, Ty oder Hunter.
»David Wetterau.«
So viel zu meinen hellseherischen Fähigkeiten. »Tut mir leid, der Name sagt mir nichts.«
»Er hat jemanden getroffen, der mal mit Ihnen zusammengearbeitet hat. Eine Frau?«
Bubba hob den Kopf und sah mich wütend an. Er gab mir allein die Schuld dafür, dass Angie unsere Partnerschaft aufgekündigt hatte, dass sie weggezogen war, sich einen Honda gekauft hatte, Hosenanzüge von Anne Klein trug und mit uns nichts mehr zu tun haben wollte.
»Angela Gennaro?«, fragte ich Karen Nichols.
»Ja.« Sie lächelte. »So heißt sie.«
Bubba brummte erneut. Nicht mehr lange, und er würde den Mond anheulen.
»Und wozu brauchen Sie einen Privatdetektiv, Miss Nichols?«
»Karen, bitte.« Sie drehte sich zu mir um und strich sich eine imaginäre Haarsträhne hinters Ohr.
»Karen. Wozu brauchen Sie einen Detektiv?«
Sie lächelte traurig und senkte kurz den Blick zu Boden. »Es gibt da einen Mann in meinem Fitnessstudio …«
Ich nickte.
Sie schluckte. Sie hatte wohl gehofft, dass ich alles Weitere aus dem einen Satz ableiten würde. Mit Sicherheit würde sie mir gleich etwas Unangenehmes erzählen. Mit noch größerer Sicherheit war sie bislang eher selten mit unangenehmen Dingen konfrontiert worden.
»Er hat sich an mich rangemacht und ist mir bis auf den Parkplatz gefolgt. Zu Anfang war das einfach nur … na ja, unangenehm.« Sie hob den Kopf und sah mich verständnisheischend an. »Doch dann wurde es immer schlimmer. Er fing an, mich zu Hause anzurufen. Im Fitnessstudio ging ich ihm möglichst aus dem Weg, trotzdem habe ich ihn ein paarmal in seinem Auto vor meinem Haus gesehen. Schließlich hatte David genug davon, er ist rausgegangen und hat ihn zur Rede gestellt. Doch der Mann hat alles abgestritten und David bedroht.« Sie blinzelte und rang die Hände. »David macht körperlich nicht gerade viel her.«
Ich nickte.
»Cody – so heißt er, Cody Falk – hat David nur ausgelacht und mich am selben Abend schon wieder angerufen.«
Cody. Ich hasste ihn schon aus Prinzip.
»Er rief an und sagte, er wisse doch, wie sehr ich es wolle und dass ich wahrscheinlich noch nie so richtig gut, gut …«
»Gefickt«, sagte Bubba.
Sie zuckte zusammen, warf ihm einen Blick zu und sah dann schnell wieder mich an. »Ja. Noch nie im Leben richtig … na ja. Und er wisse, dass ich es mir heimlich wünschen würde. Ich habe ihm folgende Notiz hinter den Scheibenwischer geklemmt. Ich weiß, das war dumm von mir, aber … Ich habe es eben getan.«
Sie griff in ihre Handtasche und zog ein verknittertes Stück violettes Papier heraus. Mit makelloser Handschrift hatte sie geschrieben:
Mr. Falk,
lassen Sie mich bitte in Frieden.
Karen Nichols
»Als ich das nächste Mal im Fitnessstudio war«, fuhr sie fort, »kam ich zum Auto zurück, und er hatte mir den Zettel genau so hinter den Scheibenwischer geklemmt wie ich bei ihm. Wenn Sie ihn umdrehen, Mr. Kenzie, dann sehen Sie, was er geschrieben hat.« Sie deutete auf das Stück Papier in meiner Hand.
Ich drehte ihn um. Cody Falk hatte auf die Rückseite ein einziges Wort geschrieben:
Nein.
So langsam wurde mir dieser Mistkerl richtig unsympathisch.
»Und gestern«, ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie schluckte ein paarmal, und ich sah den Puls an ihrem weichen weißen Hals zittern.
Ich legte meine Hand auf ihre, und sie griff danach.
»Was hat er getan?«, fragte ich.
Sie atmete vernehmlich ein. »Er hat mutwillig mein Auto beschädigt.«
Bubba und ich schauten uns den glänzend grünen Beetle am Schulhoftor zweimal an. Er sah aus wie frisch vom Autohändler und roch innendrin wahrscheinlich wie neu.
»Den Wagen da?«, fragte ich.
»Was?« Sie folgte meinem Blick. »Oh, nein, nein. Das ist Davids Auto.«
»Ein Kerl?«, fragte Bubba. »Ein Kerl fährt so ein Auto?«
Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf.
Bubba schaute finster, sah auf seine Kampfstiefel und zog sie sich auf die Knie.
Karen schüttelte den Kopf, als wolle sie sich sammeln. »Ich fahre einen Corolla. Ich wollte gern einen Camry, aber den konnten wir uns nicht leisten. David hat eine neue Firma gegründet und wir beide müssen noch unsere Studiendarlehen abzahlen, deshalb bekam ich einen Corolla. Doch der ist jetzt hin. Er hat Säure darübergekippt. Er hat den Kühler durchlöchert. Und die Autowerkstatt meint, er habe Sirup in den Motor geschüttet.«
»Haben Sie es der Polizei gemeldet?«
Sie nickte und zitterte am ganzen Leib. »Es gibt keinen Beweis dafür, dass er es war. Er hat der Polizei gesagt, er sei in der Nacht im Kino gewesen, und es gibt Zeugen, die ihn dort gesehen haben. Er …« Ihr Gesicht fiel in sich zusammen, und sie wurde rot. »Sie können ihm nichts nachweisen, und die Versicherung kommt für den Schaden nicht auf.«
Bubba hob den Kopf, legte ihn schräg und sah mich an.
»Warum nicht?«, fragte ich.
»Weil sie meine letzte Zahlung nicht erhalten haben. Dabei habe ich … ich habe sie beglichen. Vor über drei Wochen. Sie sagen, sie hätten eine Mahnung geschickt, aber die habe ich nie erhalten. Und, und …« Sie ließ den Kopf sinken, und Tränen fielen ihr auf die Knie.
Ich war mir ziemlich sicher, dass sie einen Haufen Stofftiere daheim hatte. An ihrem kaputten Corolla klebte entweder ein Smiley oder ein Jesus-Fisch. Sie las die Romane von John Grisham, hörte sich Soft-Rock an, liebte Brautpartys und hatte noch nie einen Film von Spike Lee gesehen.
Und sie hatte ganz gewiss nicht damit gerechnet, dass ihr jemals so etwas zustoßen würde.
»Karen«, fragte ich leise, »wo sind Sie denn versichert?«
Sie hob den Kopf und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort. »State Mutual.«
»Und von welchem Postamt aus haben Sie den Scheck geschickt?«
»Na ja, ich wohne in Newton Upper Falls«, antwortete sie, »aber …« Sie schaute auf ihre fleckenlosen weißen Sneakers hinab, als würde sie sich schämen. »Mein Freund wohnt in Back Bay, da bin ich öfter.«
Bei ihr klang es, als sei das eine Sünde, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, wo denn solche Menschen wie sie gezüchtet wurden, ob es Sämlinge gab und ob ich mir einen davon besorgen könnte, falls ich je eine Tochter bekommen wollte.
»Haben Sie jemals zuvor eine Zahlung versäumt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Noch nie.«
»Und seit wann sind Sie dort versichert?«
»Seit meinem Uni-Abschluss. Sieben Jahre.«
»Wo wohnt Cody Falk?«
Sie drückte die Handballen sacht gegen ihre Augen, um sicherzugehen, dass keine Tränen mehr kamen. Sie trug kein Make-up, es war also nichts verschmiert. Sie war so unaufdringlich hübsch wie die Frauen in der Werbung für medizinische Hautpflege.
»Ich weiß nicht. Aber er ist jeden Abend gegen sieben im Fitnessstudio.«
»In welchem Studio?«
»Im Mount Auburn Club in Watertown.« Sie biss sich auf die Unterlippe und versuchte dann ihr perlweißes Lächeln. »Ich komme mir so albern vor.«
»Miss Nichols«, sagte ich, »Sie sollten sich mit solchen Leuten wie Cody Falk nicht abgeben müssen. Niemand sollte das. Er ist einfach nur ein schlechter Mensch, Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Das ist ganz allein er.«
»Wirklich?« Sie schaffte ein richtiges Lächeln, doch in ihrem Blick lagen noch Furcht und Verwirrung.
»Ja, wirklich. Er ist hier der Böse. Es macht ihm Spaß, anderen Menschen Angst einzujagen.«
»Das stimmt.« Sie nickte. »Das sieht man ihm an den Augen an. Eines Abends auf dem Parkplatz … Je unbehaglicher ich mich fühlte, desto mehr schien er sich daran zu ergötzen.«
Bubba kicherte. »Unbehaglich? Warten Sie erst mal ab, bis wir Cody einen Besuch abgestattet haben.«
Karen Nichols sah Bubba an, und für einen kurzen Augenblick schien sie Cody Falk zu bemitleiden.
Vom Büro aus rief ich meinen Anwalt Cheswick Hartman an.
Karen Nichols war im VW ihres Freundes davongefahren. Ich hatte ihr geraten, umgehend zu ihrer Versicherung zu fahren und einen Ersatzscheck einzureichen. Als sie entgegnete, die Versicherung würde die Annahme verweigern, versicherte ich ihr, dass sie es sich bis zu ihrem Eintreffen dort anders überlegen würde. Dann überlegte sie laut, ob sie sich meine Dienste überhaupt würde leisten können, worauf ich erwiderte, wenn sie sich einen Tag leisten könne, dann sei das in Ordnung, denn länger würde ich nicht brauchen.
»Einen Tag?«
»Einen Tag«, bestätigte ich.
»Und was ist mit Cody?«
»Von dem werden Sie nie wieder hören.« Ich klappte ihre Autotür zu, sie fuhr los und winkte mir noch einmal zu, als sie an die erste Ampel kam.
»Schlag mal im Wörterbuch unter ›niedlich‹ nach«, sagte ich zu Bubba, als wir in meinem Büro saßen. »Wahrscheinlich ist neben dem Eintrag ein Foto von Karen Nichols.«
Bubba besah sich den kleinen Bücherstapel auf meinem Fensterbrett. »Und woran erkenne ich, welches davon das Wörterbuch ist?«
Cheswick hob ab, und ich erzählte ihm von Karen Nichols’ Problem mit ihrer Versicherung.
»Nie eine Zahlung vergessen?«
»Nie.«
»Kein Problem. Ein Corolla, hast du gesagt?«
»Hm-hm.«
»Was kostet der, fünfundzwanzigtausend?«
»Eher vierzehntausend.«
Cheswick kicherte. »So billige Autos gibt’s?«
Cheswick besaß einen Bentley, einen Mercedes und zwei Range Rover, soweit ich wusste. Und wenn er sich unters Volk mischen wollte, dann fuhr er einen Lexus.
»Sie werden zahlen«, sagte er.
»Das haben sie bereits abgelehnt«, entgegnete ich, nur um ihn zu ärgern.
»Um sich mit mir anzulegen? Die wissen genau, dass sie schon mal fünfzigtausend beiseitelegen können, wenn ich nicht zufrieden bin. Sie werden zahlen.«
Ich legte auf, und Bubba fragte: »Und was hat er gesagt?«
»Die werden zahlen.«
Er nickte. »Cody auch, Mann. Cody auch.«
Bubba verschwand in sein Lagerhaus, um ein paar Geschäfte abzuwickeln, ich rief Devin Amronklin an, einen Detective der Mordkommission, der zu den wenigen Polizisten in dieser Stadt gehörte, die noch mit mir sprachen.
»Mordkommission.«
»Und jetzt noch mal so, als ob du es wirklich so meinst, Baby.«
»Wenn das nicht der Mann ist, der beim Boston Police Department auf Platz eins der Liste mit den unerwünschten Personen steht. Und, bist du in letzter Zeit mal angehalten worden?«
»Nein.«
»Das sollte besser so bleiben. Du wärst erstaunt, was manche Jungs hier in deinem Kofferraum finden wollen.«
Ich schloss kurz die Augen. Ganz oben auf der schwarzen Liste der Polizei zu stehen war nicht, wo ich mich zum gegebenen Zeitpunkt hatte befinden wollen.
»Du kannst aber auch nicht sonderlich beliebt sein«, erwiderte ich. »Schließlich hast du einem Kollegen die Handschellen angelegt.«
»Mich haben sie eh noch nie gemocht«, meinte Devin, »aber die meisten von denen haben Angst vor mir, das ist genauso gut. Du hingegen bist ein stadtbekannter Waschlappen.«
»Stadtbekannt, hm?«
»Was gibt’s?«
»Schau doch mal in den Akten nach einem Cody Falk. Vorstrafen, alles, was mit Stalken zu tun hat.«
»Und was kriege ich dafür?«
»Ewige Freundschaft?«
»Eine meiner Nichten«, sagte er, »wünscht sich zum Geburtstag die ganze Sammlung Beanie Babies.«
»Und du willst nicht in einen Spielzeugladen gehen.«
»Und ich zahle immer noch ordentlich Alimente für mein eigenes Kind, das kein Wort mit mir reden will.«
»Also möchtest du, dass ich besagte Beanie Babies kaufe.«
»Zehn sollten reichen.«
»Zehn?«, entgegnete ich. »Du bist doch von –«
»Falk mit ›F‹?«
»Wie in Firlefanz«, sagte ich und legte auf.
Devin rief nach einer Stunde zurück und wies mich an, ihm am kommenden Abend die Beanie Babies in seine Wohnung zu bringen.
»Cody Falk, dreiunddreißig. Keine Vorstrafen.«
»Aber –«
»Aber«, fuhr Devin fort, »eine Verhaftung wegen Verletzung eines Kontaktverbots zu einer gewissen Bronwyn Blythe. Die Anklage wurde fallen gelassen. Verhaftung wegen tätlichen Angriffs auf Sara Little. Die Anklage wurde fallen gelassen, nachdem Miss Little sich weigerte auszusagen und in einen anderen Bundesstaat umzog. Verdächtiger im Fall der Vergewaltigung einer gewissen Anne Bernstein, wurde zum Verhör vorgeladen. Anklage wurde nicht erhoben, da Miss Bernstein sich weigerte, Klage einzureichen, sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen oder den Angreifer zu identifizieren.«
»Netter Bursche«, sagte ich.
»Der reinste Sonnenschein, ja.«
»Das war’s?«
»Na ja, er hat ein paar Jugendstrafen, aber die sind unter Verschluss.«
»Natürlich.«
»Belästigt er wieder jemanden?«
»Vielleicht«, meinte ich ausweichend.
»Zieh Handschuhe an«, sagte Devin und legte auf.
Cody Falk fuhr einen perlgrauen Audi Quattro; gegen halb zehn an diesem Abend beobachteten wir ihn, als er den Mount Auburn Club verließ, die noch feuchten Haare frisch gekämmt. Der Griff eines Tennisschlägers ragte aus seiner Sporttasche. Er trug eine weiche schwarze Lederjacke über einer cremefarbenen Leinenweste, ein weißes, bis oben zugeknöpftes Hemd und ausgewaschene Jeans. Er war sonnengebräunt. Und er bewegte sich so, als würde er erwarten, dass man ihm aus dem Weg ging.
»Ich hasse diesen Burschen«, sagte ich zu Bubba. »Dabei kenne ich ihn nicht mal.«
»Hass ist cool«, meinte Bubba. »Kostet nichts.«
Codys Audi piepte zweimal, als er die Fernbedienung an seinem Schlüsselbund benutzte, um die Alarmanlage auszuschalten und den Kofferraum zu öffnen.
»Wenn du mich nur gelassen hättest«, sagte Bubba, »dann wäre er jetzt in die Luft geflogen.«
Bubba hatte ein Stück C4 an den Motorblock kleben und mit der Alarmanlage des Audis verbinden wollen. C4. Das hätte halb Watertown in Schutt und Asche gelegt und den Mount Auburn Club irgendwo nach Rhode Island gesprengt. Bubba verstand nicht, wieso das keine gute Idee war.
»Man bringt nicht einfach jemanden um, nur weil er den Wagen einer Frau demoliert hat.«
»Ach ja?«, entgegnete er. »Wo steht das geschrieben?«
Ich muss zugeben, dass ich darauf keine Antwort wusste.
»Und außerdem«, fuhr Bubba fort, »wenn er die Gelegenheit dazu hat, dann wird er sie vergewaltigen, das weißt du.«
Ich nickte.
»Ich hasse Vergewaltiger«, sagte Bubba.
»Ich auch.«
»Wär doch cool, wenn er nie wieder die Gelegenheit dazu hätte.«
Ich drehte mich zu ihm um. »Wir bringen ihn nicht um.«
Bubba zuckte mit den Schultern.
Cody Falk machte den Kofferraum zu und blieb einen Augenblick daneben stehen, schaute zu den Tennisplätzen hinüber, die an den Parkplatz grenzten, und reckte das Kinn. Es hatte den Anschein, als würde er posieren, und mit seinem dichten dunklen Haar, den kantigen Gesichtszügen, seinem sorgfältig trainierten Oberkörper und der weichen, teuren Kleidung hätte er leicht als Model durchgehen können. Er schien sich bewusst zu sein, dass er beobachtet wurde; wahrscheinlich glaubte er, sowieso stets aus Bewunderung oder Neid beobachtet zu werden. Das hier war Cody Falks Welt, wir waren darin nur Staffage.
Cody verließ den Parkplatz in seinem Wagen und bog nach rechts ab; wir folgten ihm durch Watertown und um Cambridge herum. An der Concord Street bog er nach links ab und fuhr nach Belmont, einem der schickeren unter unseren schicken Vororten.
»Warum ist die Golden Gate Bridge rot?« Bubba gähnte in die Faust und schaute zum Fenster hinaus.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Das hast du letztens auch schon gesagt.«
»Und?«
»Und ich wünsche mir, dass mal jemand mit einer plausiblen Antwort daherkommt. Das geht mir auf den Sack.«
Wir verließen die Hauptstraße und folgten Cody Falk in eine rauchbraune Gegend mit großen Eichen und schokoladenfarbenen Häusern im Tudorstil; die untergegangene Sonne hatte einen tiefen Bronzeton hinterlassen, die den spätwinterlichen Straßen einen herbstlichen Glanz verlieh, einen Hauch exklusiver Leichtigkeit, ererbten Reichtums in Privatbibliotheken mit bleiverglasten Fenstern, voll von dunklem Teakholz und zarten Wandteppichen.
»Ein Glück, dass wir den Porsche genommen haben«, sagte Bubba.
»Ach, glaubst du, der Crown Victoria hätte nicht hierher gepasst?«
Mein Porsche ist ein Roadster, Baujahr 1963. Ich hatte vor zehn Jahren kaum mehr als das Chassis gekauft und fünf Jahre damit verbracht, Ersatzteile zu kaufen und den Wagen zu restaurieren. Ich bin nicht in ihn vernarrt, aber ich muss zugeben, wenn ich hinter dem Lenkrad sitze, dann komme ich mir vor wie der coolste Typ in ganz Boston.
Vielleicht in der ganzen Welt. Angie meinte immer, das komme daher, weil ich noch erwachsen werden müsse. Angie hatte wahrscheinlich recht, andererseits hatte sie bis vor Kurzem einen Kombi gefahren.
Cody Falk bog in eine kleine Einfahrt neben einem großen, mit Stuck versehenen Haus im Kolonialstil, ich schaltete das Licht aus und folgte ihm, während das Garagentor surrend aufging. Selbst bei geschlossenen Scheiben hörte ich den Bass seiner Autolautsprecher wummern, deshalb bemerkte er nicht, als wir direkt hinter ihm anhielten. Kurz vor der Garage schaltete ich den Motor aus. Falk stieg aus dem Audi, wir aus dem Porsche, das Garagentor schloss sich langsam wieder. Er machte den Kofferraum auf, Bubba und ich tauchten unter dem Tor hindurch.
Falk sprang zurück, als er mich sah, und hielt die Hände vor sich, als würde er uns damit verscheuchen wollen. Dann verengte er die Augen zu Schlitzen. Ich bin nicht sonderlich groß; Cody hingegen schon, außerdem war er fit und muskulös. Seine Angst vor einem Fremden in seiner eigenen Garage wich bereits seinem Kalkül, er musterte mich von oben bis unten und bemerkte, dass ich keine Waffe hatte.
Dann klappte Bubba die Kofferraumhaube zu, hinter der er gestanden hatte, und Cody schnappte nach Luft. So reagieren die meisten bei Bubbas Anblick. Er hat das Gesicht eines verwirrten Zweijährigen – so als hätten seine Gesichtszüge in demselben Augenblick aufgehört sich zu entwickeln wie sein Gehirn und sein Gewissen – auf einem Körper, der mich an einen Güterwagen mit Gliedmaßen erinnerte.
»Wer zum Teufel …«
Bubba hatte Codys Tennisschläger aus der Tasche genommen und ließ ihn leicht in der Hand kreisen. »Warum ist die Golden Gate Bridge rot?«, fragte er Cody.
Ich sah Bubba an und verdrehte die Augen.
»Was? Woher zum Teufel soll ich das wissen?«
Bubba zuckte mit den Schultern. Dann schmetterte er den Tennisschläger gegen den Kofferraum des Audi und hinterließ in der Mitte eine zwanzig Zentimeter lange Delle.
»Cody«, sagte ich, als das Garagentor sich krachend hinter mir schloss, »du sagst kein Wort, es sei denn, ich stelle dir eine direkte Frage. Haben wir uns verstanden?«
Er starrte mich an.
»Das war eine direkte Frage, Cody.«
»Ähm, ja, verstanden.« Cody warf Bubba einen Blick zu und schien zu schrumpfen.
Bubba nahm die Hülle vom Tennisschläger und ließ sie auf den Boden fallen.
»Bitte dreschen Sie nicht wieder auf den Wagen ein«, sagte Cody.
Bubba hob beruhigend eine Hand und nickte. Dann setzte er zu einer ziemlich eleganten Rückhand an und drosch auf die Heckscheibe des Audi ein. Das Glas gab ein lautes Knacken von sich, bevor es auf den Rücksitz rieselte.
»Du meine Güte!«
»Was hab ich gesagt, Cody?«
»Aber er hat gerade meine –«
Bubba warf den Tennisschläger wie einen Tomahawk, traf Cody Falk an der Stirn und donnerte ihn gegen die Garagenwand. Cody sackte zusammen, Blut floss ihm aus der Platzwunde über der rechten Augenbraue, und er schien den Tränen nah.
Ich zerrte ihn an den Haaren hoch und knallte ihn mit dem Rücken gegen die Fahrertür.
»Womit verdienst du deinen Lebensunterhalt, Cody?«
»Ich … was?«
»Was arbeitest du?«
»Ich bin Gastronom.«
»Gas… was?«, fragte Bubba.
Ich schaute über die Schulter zu ihm hin. »Ihm gehören Gaststätten.«
»Aha.«
»Welche?«, fragte ich Cody.
»Das Boatyard in Nahant. Mir gehört das Flagstaff in der Innenstadt und ein Anteil am Tremont Street Grill, das Fours in Brookline. Ich … ich …«
»Schsch«, machte ich. »Jemand im Haus?«
»Was?« Er sah sich aufgeschreckt um. »Nein. Nein. Ich bin Single.«
Ich hob Cody auf die Füße. »Cody, du schikanierst gern Frauen. Und manchmal vergewaltigst du sie und prügelst sie, wenn sie nicht mitspielen.«
Codys Blick verdüsterte sich, und ein dicker Blutstropfen rann ihm über den Nasenrücken. »Nein, tu ich nicht. Wer –«
Ich versetzte der Wunde auf seiner Stirn einen Schlag mit der Rückhand, und er schrie auf.
»Still, Cody. Still. Wenn du jemals wieder eine Frau belästigst – egal, welche –, dann fackeln wir deine Läden ab und sorgen dafür, dass du den Rest deines Lebens im Rollstuhl verbringst. Hast du verstanden?«
Irgendetwas von dem, was ich über Frauen gesagt hatte, brachte Cody auf einen dummen Gedanken. Vielleicht, dass ich ihm seinen Spaß verbieten wollte. Wie auch immer, jedenfalls schüttelte er den Kopf, und sein Kiefer mahlte. Ein raubtierhaftes Vergnügen blitzte in seinen Augen auf, so als hätte er meinen wunden Punkt gefunden: Rücksicht auf das »schwache« Geschlecht.
»Hm. Tja«, machte Cody. »Ich glaube, das kann ich nicht machen.«
Ich trat beiseite, Bubba kam um den Wagen herum, zog eine .22er aus der Manteltasche, schraubte den Schalldämpfer an, zielte mitten auf Cody Falks Gesicht und drückte ab.
Der Hahn traf auf ein leeres Patronenlager, doch das schien Cody nicht zu bemerken. Er schloss die Augen, schrie: »Nein!«, und fiel auf den Hintern.
Als er die Augen wieder öffnete, bauten wir uns über ihm auf. Er fasste sich an die Nase und wirkte überrascht, dass sie noch dran war.
»Was ist passiert?«, fragte ich Bubba.
»Keine Ahnung. Ich hab sie geladen.«
»Versuch’s noch mal.«
»Klar.«
Cody streckte die Hände vor sich aus. »Nein!«
Bubba richtete den Lauf auf Codys Brust und drückte erneut ab.
Wieder klickte es nur trocken.
Cody ließ sich zu Boden fallen, presste wieder die Augen zu und verzerrte das Gesicht zu einer gummihaften Schreckensmaske. Tränen schossen ihm unter den Augenlidern hervor, und von dem sich ausbreitenden Fleck am linken Hosenbein stieg beißender Uringestank auf.
»Verdammt«, fluchte Bubba. Er hob die Waffe, schaute sie böse an und richtete sie wieder nach unten, als Cody ein Auge öffnete.
Er drückte es schnell wieder zu, als Bubba ein drittes Mal abdrückte und wieder nur ein leeres Patronenlager traf.
»Hast du das Ding auf dem Flohmarkt gekauft?«, fragte ich.
»Schnauze. Wird schon funktionieren.« Mit einer schnellen Handbewegung ließ Bubba den Zylinder ausklappen. Das goldene Auge einer Kugel starrte uns an, ansonsten war der Kreis kleiner schwarzer Löcher leer. »Siehste? Eine Kugel ist drin.«
»Eine«, sagte ich.
»Reicht doch.«
Cody sprang plötzlich vom Boden auf.
Ich hob den Fuß, trat ihm gegen die Brust und warf ihn wieder zu Boden.
Bubba klappte den Zylinder zu und richtete die Waffe auf Cody. Es klickte, und Cody schrie. Bubba feuerte ein zweites Mal, ohne dass es knallte, und Cody gab ein irres Geräusch von sich, das gleichzeitiges Lachen und Weinen war.
Er legte die Hände vor die Augen und winselte: »Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein«, dann lachte und weinte er wieder.
»Sechs ist die Glückszahl«, sagte Bubba.
Cody sah in den Lauf des Schalldämpfers und drückte den Hinterkopf gegen den Betonboden. Er hatte den Mund weit aufgerissen, so als würde er schreien, doch alles, was zustande kam, war nur ein leises, hohes: »Nein, nein, nein.«
Ich kauerte mich neben ihn und riss sein rechtes Ohr an meinen Mund.
»Ich hasse Menschen, die Frauen schlecht behandeln, Cody. Abgrundtief. Ich ertappe mich dann immer bei dem Gedanken: Was, wenn das meine Schwester wäre? Meine Mutter? Verstehst du?«
Cody versuchte, sein Ohr aus meinem Griff zu befreien, doch ich hielt es fest. Er verdrehte die Augen und blies die Wangen auf.
»Schau mich an.«
Cody zwang seine Augen wieder nach vorn und schaute mir ins Gesicht.
»Wenn die Versicherung nicht für ihren Wagen aufkommt, Cody, dann schneien wir mit der Rechnung herein.«
Die Panik in seinem Blick wich Klarheit. »Ich habe das Auto von dieser Schlampe nicht angerührt.«
»Bubba.«
Bubba zielte auf Codys Kopf.
»Nein! Hören Sie, hören Sie. Ich … ich … Karen Nichols, richtig?«
Mit einer Handbewegung hielt ich Bubba zurück.
»Okay, ich, na ja, ich habe sie ein wenig gestalkt, sagt man wohl. Nur ein Spiel. Nur ein Spiel. Aber das mit ihrem Auto, das war ich nicht. Ich würde niemals –«
Ich verpasste ihm einen Schlag in die Magengrube. Der Inhalt seiner Lungen entwich, und er klappte den Mund mehrmals auf und zu, um Luft zu kriegen.
»Okay, Cody. Nur ein Spiel. Die letzten Spielminuten. Damit du es kapierst: Wenn ich mitbekomme, dass irgendwo in der Stadt eine Frau gestalkt wird – ganz gleich, wer. Wenn ich höre, dass irgendwo in der Stadt eine Frau vergewaltigt wird oder auch nur einen Scheißtag hat, Cody, dann muss ich davon ausgehen, dass du das warst. Und dann kommen wir zurück.«
»Und setzen deinen Arsch in einen Rollstuhl«, sagte Bubba.
Ein Luftstoß schoss aus Cody Falks Lungen, als er endlich wieder atmen konnte.
»Hast du das verstanden, Cody?«
»Ich habe verstanden«, brachte er heraus.
Ich sah Bubba an. Der zuckte mit den Schultern. Ich nickte.
Bubba schraubte den Schalldämpfer von der .22er. Er steckte die Waffe in die eine und den Schalldämpfer in die andere Manteltasche. Dann ging er zur Wand und hob den Tennisschläger auf. Er kehrte zurück zu Cody Falk.
»Du solltest wissen, wie ernst wir es meinen, Cody«, sagte ich.
»Ich weiß es! Ich weiß es!«, kreischte er.
»Glaubst du, er weiß es?«, fragte ich Bubba.
»Denke schon«, antwortete Bubba.
Ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr Codys Mund, und er sah Bubba mit einer Dankbarkeit an, die schon fast peinlich wirkte.
Bubba lächelte und schmetterte den Tennisschläger zwischen Cody Falks Beine.
Cody schoss auf, als stünde das untere Ende seiner Wirbelsäule in Flammen. Der lauteste Hickser der Welt entfuhr ihm, er legte sich die Arme um den Unterleib und kotzte.
»Tja, man kann sich halt nie wirklich sicher sein, oder?«, sagte Bubba und schleuderte den Tennisschläger über die Motorhaube des Wagens.
Ich beobachtete, wie Cody mit den Schmerzblitzen kämpfte, die ihm durch den Körper schossen, seine Eingeweide packten, seinen Brustkorb, seine Lungen. Schweiß rann ihm übers Gesicht wie ein sommerlicher Schauer.
Bubba öffnete die kleine Holztür in der Garage.
Cody drehte den Kopf in meine Richtung; seine Grimasse erinnerte mich an das Grinsen eines Totenkopfs.
Ich schaute ihm in die Augen, um zu sehen, ob die Angst sich in Wut verwandelte und die Verletzlichkeit der lässigen Überheblichkeit des geborenen Beutegreifers wich. Ich wartete, um jenen Blick zu sehen, den Karen Nichols auf dem Parkplatz gesehen hatte, denselben, den ich bemerkt hatte, bevor Bubba das erste Mal abgedrückt hatte.
Ich wartete noch etwas länger.
Der Schmerz ließ nach, die Grimasse beruhigte sich ein wenig, die Haut am Haaransatz entspannte sich, und sein Atem nahm einen halbwegs regelmäßigen Rhythmus an. Die Angst aber blieb. Sie hatte sich tief eingegraben, und ich wusste, es würde einige Nächte dauern, bevor er wieder mehr als ein, zwei Stunden schlafen würde, und einen Monat, bevor er das Garagentor hinter sich zumachte, solange er noch drin war. Für lange, lange Zeit würde er mindestens einmal am Tag über die Schulter nach Bubba und mir Ausschau halten. Cody Falk, da war ich mir sicher, würde den Rest seines Lebens in Angst und Schrecken verbringen.
Ich griff in die Manteltasche und zog den Zettel hervor, den Karen Nichols an seinen Wagen gesteckt hatte. Ich zerknüllte ihn.
»Cody«, flüsterte ich.
Er riss die Augen auf.
»Beim nächsten Mal gehen die Lichter einfach aus.« Ich hob sein Kinn mit den Fingern. »Hast du verstanden? Du wirst uns nicht kommen hören oder sehen.«
Ich stopfte ihm das zerknüllte Stück Papier in den Mund. Er riss die Augen auf und versuchte, nicht zu würgen. Ich gab ihm einen Klaps unters Kinn, und er machte den Mund zu.
Ich stand auf, ging zur Tür und drehte mich nicht noch einmal um.
»Und dann bist du tot, Cody. Einfach tot.«
Eine Woche nachdem wir uns um Cody Falk gekümmert hatten, erhielt ich einen auf mich ausgestellten Scheck, auf dem Karen Nichols in das O des Nachnamens ein Smiley gezeichnet hatte; der Scheck war mit gelben Entchen umrahmt, dazu gab es eine Karte mit der Aufschrift: »Danke! Sie sind einfach der Beste!«
Angesichts dessen, was dann geschah, würde ich gern behaupten, dass ich bis zu jenem Morgen sechs Monate später nie wieder von ihr hörte. Doch in Wahrheit rief sie ein paar Wochen nach dem Scheck bei mir an.
Sie hatte auf den Anrufbeantworter gesprochen. Ich hatte die Nachricht eine Stunde später abgehört, als ich kam, um meine Sonnenbrille zu holen. Das Büro war in jener Woche geschlossen gewesen, weil ich zusammen mit Vanessa Moore, einer Verteidigerin, die ebenso wenig Interesse an einer ernsthaften Beziehung hatte wie ich, auf die Bahamas fliegen wollte. Sie mochte Strände, Daiquiris, Sloe Gin Fizz und mittägliche Schäferstündchen, gefolgt von nachmittäglichen Massagen. In Geschäftskleidung sah sie zum Anbeißen aus, im Bikini blieb einem fast das Herz stehen, und sie war zu dem Zeitpunkt die einzige Person, die ich kannte, welche ebenso oberflächlich war wie ich. Für ein, zwei Monate passten wir also prima zusammen.
Ich entdeckte meine Sonnenbrille in einer der unteren Schreibtischschubladen, während Karen Nichols’ Stimme blechern aus dem Lautsprecher drang. Ich brauchte einen Augenblick, um sie zu erkennen, aber nicht, weil ich vergessen hätte, wie sie sich anhörte, sondern weil sie so anders klang. Heiser, müde und abgekämpft.
»Hey, Mr. Kenzie. Hier spricht Karen. Sie, ähm, Sie haben mir vor ungefähr einem Monat mal geholfen, vielleicht auch sechs Wochen. Ja, also, ähm, rufen Sie mich zurück. Ich, ähm, möchte etwas mit Ihnen besprechen.« Pause. »Okay, also, ähm, rufen Sie mich einfach zurück.« Dann hinterließ sie ihre Telefonnummer.
Vanessa drückte draußen im Auto auf die Hupe.
Unser Flieger ging in einer Stunde, der Verkehr würde mörderisch sein, und Vanessa konnte etwas mit ihren Hüften und Wadenmuskeln, das wahrscheinlich in den meisten Ländern der westlichen Welt unter Strafe stand.
Ich streckte die Hand nach der Wiedergabetaste aus, Vanessa hupte erneut lauter und länger, und mein Finger sprang aus Versehen auf die Löschtaste. Ich weiß, was Freud zu diesem Irrtum gesagt hätte, vielleicht zu Recht. Aber ich hatte Karens Nummer irgendwo, ich würde in einer Woche zurück sein und anrufen. Die Klienten mussten begreifen, dass ich auch noch ein Privatleben hatte.
Also kümmerte ich mich um mein Privatleben, überließ Karen Nichols ihrem und vergaß natürlich zurückzurufen.
Als ich Monate später von ihr im Radio hörte, war ich gerade mit Tony Traverna, einem Kautionsflüchtling, den jene, die ihn kannten, für den besten Safeknacker in Boston und den dümmsten Menschen im Universum hielten, auf der Rückfahrt von Maine.
Tony T war zu dumm, ein Loch in den Schnee zu pinkeln. In einem Raum voller Pferdemist würde er nach vierundzwanzig Stunden immer noch nach dem Pferd suchen. Tony T glaubte, ein Viertel sei mehr als ein Drittel, und einmal hatte er sogar gefragt, an welchem Abend Saturday Night Live im Fernsehen lief.
Auch die letzten Male, als Tony sich verdrückt hatte, war er nach Maine verduftet. Mit dem Auto, obwohl er keinen Führerschein hatte. Tony hatte nie einen gehabt, weil er den schriftlichen Test nicht bestanden hatte. Neun Mal. Allerdings konnte er Auto fahren, und seine Inselbegabung sorgte dafür, dass das Schloss, das er nicht knacken konnte, erst noch erfunden werden musste. Also klaute er ein Auto und fuhr die drei Stunden zur Anglerhütte seines verstorbenen Vaters in Maine. Unterwegs kaufte er sich immer ein paar Kisten Heineken und ein paar Flaschen Bacardi, denn zu der Tatsache, dass Tony T das kleinste Gehirn der Welt besaß, kam seine feste Überzeugung, die härteste Leber der Welt zu haben; also machte er es sich in der Hütte bequem, schaute sich auf Nickelodeon die Cartoons an und wartete, bis ihn jemand holte.
Tony Traverna hatte im Laufe der Jahre ordentlich Geld gemacht, und selbst wenn man die Kohle berücksichtigte, die er für Alkohol ausgab und für Nutten, die sich wie Squaws verkleiden und ihn »Trigger« nennen sollten (nach Roy Rogers’ Pferd), musste man davon ausgehen, dass er noch irgendwo ein ordentliches Sümmchen gebunkert hatte. Zumindest genug für ein Flugticket. Doch statt auf die Kaution zu pfeifen und nach Florida oder Alaska oder sonstwohin zu verduften, fuhr Tony immer nach Maine. Vielleicht hatte er Flugangst, wie mal jemand vermutete. Oder aber er wusste nicht, was Flugzeuge sind.
Mo Bags hatte für Tony T gebürgt. Bags war ein Ex-Bulle und hauptberuflicher Mistkerl, der Tony höchstpersönlich mit Mace und Elektroschocker, Totschläger und Nunchakus gejagt hätte, wenn er nicht jüngst einen Gichtanfall gehabt hätte, der wie Feuer in seiner rechten Hüfte brannte, sobald er einen Wagen auch nur zwanzig Meilen weit fuhr. Außerdem kannten Tony und ich uns schon lange. Mo wusste, dass ich ihn problemlos finden und Tony nicht weglaufen würde. Die Kaution für Tony hatte seine Freundin Jill Dermott hinterlegt. Jill war die neueste in einer langen Reihe von Frauen, die ihn angeschaut hatten und von der Idee besessen waren, diesen Kerl bemuttern zu müssen. So war es Tony den Großteil seines Lebens gegangen, zumindest in dem Teil, den ich kannte. Tony betrat eine Bar (und er betrat ja stets eine Bar), setzte sich und redete mit dem Barkeeper oder jemandem auf dem Platz neben ihm, und eine halbe Stunde später drängten sich die unverheirateten (und ein paar der verheirateten) Frauen um ihn, spendierten ihm Drinks, lauschten seiner langsamen, hellen Stimme und fanden, dass diesem Jungen nichts anderes fehlte als Pflege, Liebe und vielleicht ein paar Kurse an der Abendschule.
Tony hatte ein kleines, aber offenes, vertrauenerweckendes Gesicht. Traurig blickende Mandelaugen über einer krummen Nase und einem noch krummeren Grinsen, das dauerhaft seine Mundwinkel verzog – he, mein Freund, ich weiß genau, was du meinst, aber was kann man schon machen, außer eine Runde zu schmeißen und neuen und alten Freunden seine Geschichte zu erzählen?
Wenn Tony sich mit dem Gesicht entschlossen hätte, Hochstapler zu werden, dann wäre er gut dabei gefahren. Aber letztlich war Tony nicht klug genug, um so etwas durchzuziehen, und vielleicht war er auch einfach zu freundlich. Tony mochte die Menschen. Sie verwirrten ihn zwar, wie ihn fast alles verwirrte, aber er mochte sie von Grund auf. Unglücklicherweise mochte er auch Safes. Sehr. Vielleicht ein kleines bisschen mehr als die Menschen. Er konnte eine Feder auf dem Mond zu Boden fallen hören, und seine Finger waren so flink, dass er den Zauberwürfel mit einer Hand löste, ohne hinzuschauen. In seinen achtundzwanzig Erdenjahren hatte Tony so viele Safes geknackt, dass jedes Mal, wenn mal wieder eine leere Hülle anstelle eines Banktresors zurückgeblieben war, die Polizei sofort zu Tonys Wohnung in Southie fuhr, ohne bei Dunkin’ Donuts zu halten, und die Richter schneller Durchsuchungsbefehle ausstellten, als die meisten von uns brauchten, um einen Scheck zu schreiben.
Tonys eigentliches Problem, zumindest wenn es um Gesetze ging, waren aber nicht die Tresore und auch nicht seine Dummheit (auch wenn sie es nicht besser machte); es war der Alkohol. Bis auf zwei Fälle gingen seine Haftstrafen alle auf Alkohol am Steuer zurück, auch die jüngste – er war um drei Uhr früh auf der nach Süden führenden Spur der Northern Avenue nach Norden gefahren, hatte sich der Verhaftung widersetzt (indem er einfach weiterfuhr), hatte mutwillig fremdes Eigentum beschädigt (indem er einen Unfall baute) und Fahrerflucht begangen (indem er einen Telefonmast hinaufgeklettert war in der Hoffnung, die Bullen würden ihn in einer dunklen Nacht nicht sieben Meter über dem Unfallfahrzeug entdecken).
Als ich die Anglerhütte betrat, schaute Tony mit einem Gesichtsausdruck vom Boden auf, der besagte: Wo hast du dich so lange rumgetrieben? Er seufzte, schaltete mit der Fernbedienung Rugrats aus, dann stand er unsicher auf und klatschte sich ein paarmal auf die Oberschenkel, um das Blut darin wieder in Bewegung zu bringen.
»Hey, Patrick. Hat Mo dich geschickt?«
Ich nickte.
Tony sah sich nach seinen Schuhen um und fand sie unter einem Kissen auf dem Boden. »Bier?«
Ich sah mich in der Hütte um. In den anderthalb Tagen seines Aufenthalts hier hatte Tony es geschafft, alle Fensterbretter mit leeren Heineken-Flaschen zu dekorieren. Das grüne Glas fing die Sonne ein, die vom See reflektiert wurde, und spiegelte das Licht in winzigen Strahlen in den Raum, sodass die ganze Hütte so smaragdgrün leuchtete wie eine Kneipe am St. Patrick’s Day.
»Nein danke, Tony. Ich versuche, meinen Bierkonsum zum Frühstück einzuschränken.«
»Aus religiösen Gründen?«
»Kann man so sagen.«
Er hob einen Knöchel bis an die Hüfte und hopste auf dem anderen Fuß umher, während er versuchte, sich einen Schuh anzuziehen. »Legst du mir Handschellen an?«
»Haust du ab?«
Er bekam das mit dem Schuh irgendwie hin und stolperte, als er den Fuß zu Boden fallen ließ. »Nee, Mann. Das weißt du doch.«
Ich nickte. »Also keine Handschellen.«
Er lächelte mich dankbar an und begann dann das Gehopse mit dem anderen Schuh. Er schaffte es, dann stolperte er rückwärts gegen die Couch und fiel ganz außer Atem auf den Hintern. Tonys Schuhe hatten keine Schnürsenkel, sondern Klettverschlüsse. Man erzählt sich, dass – Ich muss, glaube ich, nicht weitersprechen. Tony zog die Klettverschlüsse zu und stand auf.
Ich wartete, bis er ein paar Wechselklamotten, seinen Game Boy und ein paar Comicbücher für die Fahrt gepackt hatte. An der Tür blieb er stehen und schaute hoffnungsvoll in Richtung Kühlschrank.
»Darf ich mir ein Bierchen für die Fahrt mitnehmen?«
Ich sah nicht, was es auf dem Weg ins Gefängnis schaden konnte, ein Bier dabeizuhaben. »Klar.«
Tony machte den Kühlschrank auf und zog einen Zwölferpack heraus.
»Nur für den Fall«, sagte er, als wir die Hütte verließen, »dass es voll wird unterwegs.«
Wie sich herausstellte, wurde es tatsächlich voll – kurze Abschnitte außerhalb von Lewiston, dann bei Portland und den Küstenstädtchen Kennebunkport und Ogunquit. Der laue Sommermorgen verwandelte sich in einen sengend heißen Tag, und unter der hoch stehenden Sonne flackerten Bäume, Straßen und Autos blass, hart und zornig.
Tony saß auf der Rückbank des schwarzen Jeep Cherokee, Baujahr ’91, den ich gekauft hatte, nachdem im Frühling der Motor meines Crown Victoria den Geist aufgegeben hatte. Der Cherokee war bestens geeignet für die gelegentliche Kopfgeldjagd, da er zwischen den Sitzen ein Stahlgitter und im Kofferraum ein Campingbett hatte. Tony saß hinter dem Gitter und lehnte sich auf dem Plastiksitz über dem Reserverad zurück. Die Beine hatte er ausgestreckt wie eine Katze auf einem sonnendurchfluteten Fensterbrett. Er öffnete das dritte Frühnachmittagsbier und rülpste noch vom zweiten.
»Entschuldige dich gefälligst, Mann.«
Tony sah meinen Blick im Rückspiegel. »Entschuldigung. Wusste nicht, dass du solchen Wert legst auf, ähm …«
»Anstand?«
»Ja, das.«
»Wenn ich dich in meinem Auto rülpsen lasse, Tony, dann findest du es vielleicht auch okay, hier drin zu pinkeln.«
»Mach ich nicht, Mann. Aber wär gut gewesen, eine große Tasse oder so was mitzunehmen.«
»Bei der nächsten Abfahrt halten wir an.«
»Du bist in Ordnung, Patrick.«
»Ja, ja, ich bin ein prima Kerl.«
Tatsächlich hielten wir in Maine mehrmals an und noch einmal in New Hampshire. Das kommt davon, wenn man einen alkoholabhängigen Kautionsflüchtigen mit einem Zwölferpack ins Auto lässt, aber um die Wahrheit zu sagen, machte es mir nicht sonderlich viel aus. Ich mochte Tonys Gesellschaft in etwa so, wie man einen Nachmittag mit dem zwölfjährigen Neffen mochte, der ein wenig schwer von Begriff, dafür aber durchweg gutmütig ist.
Irgendwo unterwegs hörte Tonys Game Boy auf zu blinken und zu piepen, und ich sah im Rückspiegel, dass er eingeschlafen war und leise schnarchte; seine Lippen flatterten leicht, und ein Fuß wedelte hin und her wie ein Hundeschwanz.
Wir waren gerade nach Massachusetts gekommen, und ich hatte den Sendersuchknopf an meinem Autoradio gedrückt und mein Glück versucht, WFNX reinzukriegen, obwohl ich noch ein gutes Stück von der schwachen Sendeanlage entfernt war, als Karen Nichols’ Name aus dem statischen Rauschen auftauchte. Die Zahlen auf der LED-Anzeige rasten weiter und hielten nur kurz bei einem schwachen Signal von 99,6 MHz: »… handelt es sich um Karen Nichols aus Newton, die offenbar von der Aussichtsplattform des Custom House gesprungen …«
Die Sendersuche lief weiter und sprang auf 100,7 MHz.
Ich griff nach dem manuellen Sendersuchknopf, wobei der Wagen ein wenig schlingerte, und drehte zurück auf 99,6 MHz.
Hinten wachte Tony auf und fragte: »Is was?«
»Schsch.« Ich hob einen Finger.
»… wie ein Polizeisprecher mitteilte. Wie Miss Nichols auf die Aussichtsplattform des Custom House gelangte, ist noch nicht bekannt. Und nun zum Wetter. Unser Meteorologe Gil Hutton warnt vor zunehmender Hitze …«
Tony rieb sich die Augen. »Ein irres Ding, was?«
»Hast du davon gewusst?«
Er gähnte. »Kam heute Morgen in den Fernsehnachrichten. Das Mädchen hat nackt nen Kopfsprung vom Custom House gemacht und vergessen, dass die Schwerkraft tödlich ist, Mann. Die Schwerkraft bringt einen nämlich um, weißt du?«
»Halt die Schnauze, Tony.«
Er schreckte zurück, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst, wandte sich ab und nahm sich noch ein Bier.
Es mochte noch eine andere Karen Nichols in Newton geben. Mehrere sogar. Ein ganz normaler amerikanischer Allerweltsname. So langweilig und weit verbreitet wie Mike Smith oder Ann Adams.
Doch in meiner Magengrube machte sich ein kaltes Gefühl breit, das mir sagte, dass es sich bei der Karen Nichols, die von der Aussichtsplattform des Custom House gesprungen war, um dieselbe handelte, der ich vor sechs Monaten begegnet war. Diejenige, die ihre Socken bügelte und Stofftiere sammelte.
Diese Karen Nichols hatte auf mich nicht den Eindruck einer Frau gemacht, die nackt von einem Gebäude springt. Und trotzdem wusste ich es. Ich wusste es einfach.
»Tony?«
Er sah mich mit dem wunden Blick eines pitschnassen Hamsters an. »Ja?«
»Tut mir leid, dass ich dich angeschnauzt habe.«
»Schon okay.« Er trank einen Schluck und sah mich weiter argwöhnisch an.
»Die Frau, die da gesprungen ist«, fuhr ich fort, ohne zu wissen, warum ich mich einem Kerl wie Tony gegenüber erklären musste, »ich habe sie vielleicht gekannt.«
»Oh, Shit, Mann. Tut mir leid. Also, die Menschen manchmal, ehrlich, oder?«
Ich sah auf den in der grellen Sonne metallisch blau glänzenden Highway hinaus. Obwohl die Klimaanlage auf vollen Touren lief, konnte ich spüren, wie mir die Hitze im Nacken wie Nadeln pikte.
Tony hatte feuchte Augen, und das Lächeln auf seinen Lippen war zu groß und zu breit. »Manchmal macht einen das fertig, Mann. Verstehst du?«
»Der Alkohol?«
Er schüttelte den Kopf. »Wie bei deiner Freundin, die gesprungen ist«, er richtete sich auf und kam ans Gitter, »das ist so, also, ich bin mal mit nem Kumpel auf dem seinem Segelboot rausgefahren. Ich kann nicht schwimmen, aber ich fahr mit nem Boot raus. Und dann sind wir in einen Sturm geraten, ich schwör dir, und das Boot, das neigt sich ganz nach links und dann ganz nach rechts, und die scheiß Wellen sehen aus wie riesige Straßen, die sich von allen Seiten auf uns zuschlängeln. Ich hab eine scheiß Angst, klar, denn wenn ich reinfalle, dann war’s das. Aber dann hab ich mich, ich weiß nicht, wie ich sagen soll, ich war zufrieden, okay? Ich hab gedacht: ›Prima. Alle meine Fragen werden beantwortet. Schluss mit dem Rumgegrübel, wie und wann und warum ich sterbe. Ich sterbe. Jetzt. Was für eine Erleichterung.‹ Kennst du das?«
Ich schaute ihm über die Schulter ins Gesicht, das er gegen die kleinen quadratischen Löcher zwischen den Stahldrähten presste, sodass die Haut seiner Wangen durch die Löcher drückte und sie ausfüllte wie weiche weiße Kastanien.
»Ein Mal«, antwortete ich.
»Echt?« Er riss die Augen auf und lehnte sich etwas zurück. »Wann?«
»Ein Kerl zielte mit einer Schrotflinte auf mich. Ich war mir eigentlich sicher, dass er abdrückt.«
»Und eine Sekunde lang«, Tony bildete zwischen Daumen und Zeigefinger einen winzigen Spalt, »nur eine Sekunde hast du gedacht, das könnte doch cool sein. Richtig?«
Ich lächelte ihn im Rückspiegel an. »Vielleicht, so was Ähnliches jedenfalls. Ich weiß es nicht mehr.«
Tony lehnte sich zurück. »So hab ich mich auf diesem Boot gefühlt. Und vielleicht ging es deiner Freundin letzte Nacht auch so. ›Wow, ich bin noch nie geflogen. Ich versuch’s mal.‹ Weißt du, was ich meine?«
»Eigentlich nicht, nein.« Ich schaute wieder in den Rückspiegel. »Tony, warum bist du eigentlich auf das Segelboot gestiegen?«
Er rieb sich das Kinn. »Weil ich nicht schwimmen kann«, antwortete er schulterzuckend.
Wir hatten das Ziel unserer Reise fast erreicht, dennoch schien die Straße vor mir endlos, und das Gewicht der letzten fünfzig Kilometer hing mir hinter den Augen wie ein stählernes Pendel.
»Na, komm schon«, sagte ich. »Ernsthaft.«
Tony reckte das Kinn und verzog angestrengt das Gesicht beim Denken.
»Das Nichtwissen«, sagte er und rülpste.
»Was?«
»Na, warum ich auf das Boot gestiegen bin. Das Nichtwissen – all diese Ungewissheit in diesem verfluchten Leben. Das macht einen fertig. Macht einen verrückt. Du willst es einfach wissen.«
»Obwohl du nicht fliegen kannst?«
Tony lächelte. »Weil du nicht fliegen kannst.«
Er patschte mit der Handfläche gegen das Gitter zwischen uns, rülpste, entschuldigte sich, rollte sich auf dem Boden zusammen und sang ganz leise die Erkennungsmelodie von Familie Feuerstein.
Als wir Boston erreichten, schnarchte er schon wieder.
Als ich zusammen mit Tony Traverna durch Mo Bags’ Bürotür trat, schaute Mo von seinem Fleischbällchen-Bratwurst-Baguettesandwich auf und sagte: »He, du Arschloch! Wie geht’s denn so?«
Ich war mir ziemlich sicher, dass er damit Tony meinte, aber bei Mo weiß man das manchmal nicht so genau.
Er ließ das Sandwich auf den Teller fallen, wischte sich die fettigen Finger und den Mund mit einer Serviette ab und kam um den Schreibtisch herum, als ich Tony in einen Sessel plumpsen ließ.
»Hey, Mo«, sagte Tony.
»Nichts ›Hey, Mo‹, du Penner. Handgelenk her.«
»Mo«, sagte ich, »komm schon.«
»Was denn?« Mo legte Tony am linken Handgelenk eine Handschelle an und machte sie an der Armlehne fest.
»Wie geht’s der Gicht?« Tony wirkte ernstlich besorgt.
»Besser als dir, du Blödmann. Besser als dir.«
»Gut zu hören.« Tony rülpste.
Mo sah mich aus Augenschlitzen an. »Ist er besoffen?«
»Keine Ahnung.« Ich entdeckte ein Exemplar der Tribune auf Mos Ledersofa. »Tony, bist du besoffen?«
»Nee, Mann. Hey, Mo, ich müsste mal aufs Klo.«
»Dieser Kerl ist besoffen«, sagte Mo.
Ich nahm den Sportteil von den gefalteten Zeitungsseiten und stieß darunter auf die Titelseite. Karen Nichols hatte es in die Schlagzeilen geschafft: FRAUSPRINGTVOMCUSTOMHOUSE. Neben dem Artikel war ein Farbfoto des Custom House bei Nacht abgebildet.
»Der Kerl ist sturzbesoffen«, sagte Mo. »Kenzie?«
Wieder rülpste Tony und sang dann: »Raindrops Keep Fallin ’on My Head.«
»Na gut. Er ist betrunken«, sagte ich. »Wo bleibt mein Geld?«
»Du lässt ihn trinken?« Mo röchelte, als würde ihm ein Stück Hackfleisch im Hals stecken.
Ich nahm die Zeitung und las den Artikel. »Mo.«
Tony hörte den Ton in meiner Stimme und hörte auf zu singen.
Mo war allerdings zu aufgebracht, um es zu bemerken. »Ich kapier das nicht, Kenzie. Ich kapier solche Leute wie dich einfach nicht. Ihr ruiniert meinen Ruf.«
»Der ist doch schon ruiniert«, sagte ich. »Zahl mich aus.«
In dem Artikel stand: »Gestern Nacht sprang eine offenbar verzweifelte Frau von der Aussichtsplattform eines der beliebtesten Monumente der Stadt in den Tod.«
Mo fragte Tony: »Glaubst du diesem Kerl etwa?«
»Klar.«
»Halt die Schnauze, Mistkerl. Mit dir redet keiner.«
»Ich muss mal aufs Klo.«
»Was hab ich gesagt?« Mo schnaufte durch die Nase, trat hinter Tony und verpasste ihm eine Kopfnuss.
»Tony«, sagte ich, »gleich hinter dem Sofa durch die Tür da.«
Mo lachte. »Soll er vielleicht den Sessel mitnehmen?«
Mit einem Schnappen löste Tony die Handschelle um sein Handgelenk und ging ins Bad.
»He!«, sagte Mo.
Tony warf einen Blick zurück. »Ich muss mal, Mann.«
»Karen Nichols«, fuhr der Artikel fort, »legte Brieftasche und Kleidung auf der Plattform ab, bevor sie in den Tod sprang …«
Ein halbes Pfund Schinken klatschte mir auf die Schulter, ich drehte mich um und sah, wie Mo seine Hand zurückzog.
»Was zum Henker hast du gemacht, Kenzie?«
Ich wandte mich wieder der Zeitung zu. »Mein Geld, Mo.«
»Gehst du mit diesem Trottel aus? Spendierst du ihm ein paar Biere, um ihn in Stimmung zu bringen?«
Die Aussichtsplattform des Custom House befindet sich im fünfundzwanzigsten Stockwerk. Im Fallen würde man wohl Beacon Hill, das Government Center, die Hochhäuser im Bankenviertel und schließlich Faneuil Hall und Quincy Market sehen. Dies alles in ein, zwei Sekunden – eine Mischung aus Ziegeln, Glas und gelbem Licht, bevor man auf dem Kopfsteinpflaster landet. Ein Teil würde wieder abprallen, der andere Teil nicht.
»Hast du mich gehört, Kenzie?« Wieder schlug Mo zu.
Ich wich dem Schlag aus, ließ die Zeitung fallen und packte ihn mit der rechten Hand an der Kehle. Ich drückte ihn gegen den Schreibtisch, bis er auf dem Rücken lag.
Tony kam aus dem Bad und sagte nur: »He, Scheiße. Wow.«
»In welcher Schublade?«, fragte ich Mo.
Seine hervortretenden Augen schauten mich fragend an.
»In welcher Schublade ist mein Geld, Mo?« Ich lockerte meinen Griff an seiner Kehle ein wenig.
»Mittlere Schublade.«
»Es ist hoffentlich kein Scheck.«
»Nein, nein. In bar.«
Ich ließ ihn los, und er blieb keuchend liegen, während ich um den Schreibtisch trat, die Schublade aufzog und mein mit einem Gummiband zusammengehaltenes Geld fand.
Tony setzte sich in den Sessel und legte sich die Handschellen wieder an.
Mo setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Er rieb sich die Kehle und würgte wie eine Katze, die einen Haarball ausspucken will.
Ich trat wieder um den Schreibtisch und hob die Zeitung vom Boden auf.
Mos winzige Augen verdüsterten sich vor Verbitterung.
Ich strich die Seiten glatt, faltete die Zeitung zusammen und schob sie mir unter den Arm.
»Mo«, sagte ich, »du hast eine Zuhälterknarre im Holster an deinem linken Knöchel und einen Totschläger in der hinteren Hosentasche.«
Mos Augen wurden noch kleiner.
»Greif nach einem davon, und ich zeige dir im Detail, wie mies meine Laune heute ist.«
Mo hustete und wandte den Blick ab. Dann krächzte er: »Dein Name ist in diesem Geschäft erledigt.«
»Ach herrje«, sagte ich. »Gott sei’s geklagt.«
»Du wirst schon sehen«, sagte Mo. »Du wirst schon sehen. Ohne Gennaro brauchst du jeden Cent, den du kriegen kannst, hab ich gehört. Spätestens nächsten Winter wirst du mich um Arbeit anflehen. Anflehen.«
Ich schaute zu Tony hinüber. »Alles okay?«
Er reckte einen Daumen in die Höhe.
»Im Gefängnis Nashua Street«, sagte ich ihm, »gibt es einen Wachmann namens Bill Kuzmich. Sag ihm, du bist ein Freund von mir, dann passt er auf dich auf.«
»Cool«, sagte Tony. »Glaubst du, er bringt mir ab und zu mal n Bier vorbei?«
»Na klar, Tony. Ganz sicher.«
Draußen im Wagen vor Mo Bags’ Kautionsbüro auf der Ocean Street in Chinatown las ich die Zeitung in Ruhe. Es stand nicht viel mehr in dem Artikel, als ich schon aus dem Radio erfahren hatte, aber daneben fand sich ein Bild von Karen Nichols’ Führerscheinfoto.
Es handelte sich um eben jene Karen Nichols, die mich vor sechs Monaten angeheuert hatte. Auf dem Foto wirkte sie so strahlend unschuldig wie an dem Tag, als ich sie kennengelernt hatte, und sie lächelte in die Kamera, als hätte die Fotografin ihr gesagt, was für ein hübsches Kleid sie anhätte und was für nette Schuhe.
Sie hatte das Custom House am Nachmittag betreten, war zur Aussichtsplattform hinaufgefahren und hatte sogar mit jemandem im Büro des Maklers über die neuartigen Timesharing-Angebote gesprochen, die es nun gab, nachdem der Staat beschlossen hatte, das historische Gebäude an die Marriott Corporation zu verkaufen. Die Maklerin, eine gewisse Mary Hughes, erinnerte sich daran, dass Karen sich hinsichtlich ihrer Arbeit vage ausgedrückt und etwas zerstreut gewirkt hatte.
Als gegen siebzehn Uhr die Aussichtsplattform geschlossen wurde und nur noch für Mieter mit Code schlüsselfrei zugänglich war, hatte sich Karen irgendwo versteckt und war dann gegen einundzwanzig Uhr gesprungen.
Vier Stunden lang war sie allein dort oben gewesen, fünfundzwanzig Stockwerke über dem blauen Beton, und hatte überlegt, ob sie es nun tun sollte oder nicht. Ich fragte mich, ob sie in einer Ecke gehockt oder umhergewandert war, ob sie auf die Stadt hinaus, in die Lichter oder in den Himmel geschaut hatte. Wie viel von ihrem Leben, den Höhepunkten, Tiefen und plötzlichen Richtungsänderungen hatte sie im Geiste durchlebt? An welcher Stelle war alles darauf zugelaufen, dass sie die Beine über die eins vierzig hohe Balustrade geschwungen hatte und in die schwarze Leere hinausgetreten war?
Ich legte die Zeitung auf den Beifahrersitz und schloss kurz die Augen.
Hinter meinen Lidern fiel sie. Blass und dünn vor dem Nachthimmel stürzte sie hinab, und der beigefarbene Sandstein des Custom House huschte an ihr vorbei.
Ich schlug die Augen auf und sah zwei Medizinstudenten von der Tufts University in weißen Laborkitteln, die hektisch an ihren Zigaretten zogen und die Ocean Avenue entlangeilten.
Mein Blick fiel auf das Ladenschild von MOBAGS’KAUTIONSBÜRO, und ich fragte mich, wie ich nur auf diese Nummer mit dem harten Typen gekommen war. Mein ganzes Leben lang hatte ich mich darum bemüht, mich von diesem Machogehabe fernzuhalten. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich mich bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung im Griff hatte, was genügte, denn aufgrund meiner Herkunft war ich mir ebenso sicher, dass es immer jemanden gab, der noch verrückter, taffer, böser und schneller war als ich. Was er auch nur zu gern beweisen würde. Viele von den Jungs, die ich aus Kindertagen kannte, waren gestorben oder saßen im Knast, weil sie der Welt zeigen mussten, was für harte Kerle sie doch waren; einer war gar vom Hals abwärts gelähmt. Doch meiner Erfahrung nach ist die Welt wie Las Vegas: Ein- oder zweimal geht man als Sieger hinaus, aber wenn man zu oft an den Spieltisch zurückkehrt und die Würfel rollen lässt, dann wird dir die Welt schon zeigen, wo dein Platz ist, und dir die Brieftasche nehmen, die Zukunft oder beides.
Karen Nichols’ Tod ging mir an die Nieren, das war die eine Seite. Doch davon abgesehen war mir im vergangenen Jahr langsam aufgegangen, dass ich meine Freude an diesem Beruf verloren hatte. Ich war es leid, Versicherungsbetrüger aufzuspüren und zu fotografieren, Männer zu observieren, die mit knochigen Vorzeigepüppchen herummachten, und Frauen, die mit ihren argentinischen Tennislehrern mehr als nur Aufschläge übten. Ich war die Menschen leid, glaube ich – ihre vorhersehbaren Laster, ihre vorhersehbaren Bedürfnisse, Wünsche und schlummernden Begierden. Die jämmerliche Dummheit der ganzen Art. Und ohne Angie, die zusammen mit mir die Augen verdrehen würde, um dem ganzen zerlumpten Schauspiel noch einen hämischen Kommentar hinzuzufügen, war es einfach nicht mehr witzig.
Karen Nichols’ hoffnungsvolles Gesicht mit dem Abschlussballköniginnenlächeln sah mich vom Beifahrersitz aus an, weiße Zähne, gute Gesundheit und glückselige Ahnungslosigkeit.