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Hochmut, Paranoia und Verrat bringen Tinus Geving an seine Grenzen
Der spannende Ermittler-Thriller zum Mitfiebern
Tinus Geving, dem nach seiner Rückkehr aus Spanien das Karriereende droht, wird vor einem Maulwurf in den Reihen von EUROPOL gewarnt: Laurits Pedersen, stellvertretender Direktor und Gevings Vorgesetzter. Zeitgleich werden in Den Haag zwei hochrangige dänische Geheimdienstmitarbeiter ermordet aufgefunden und Geving muss plötzlich mit seinem einstigen Widersacher Thijs de Groot zusammenarbeiten, der ausgerechnet Laurits Pedersen für den Mord verdächtigt. Als dann ein verheerender Anschlag das EUROPOL-Hauptquartier erschüttert, ist Kriminalhauptkommissar Geving gezwungen, Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Drahtzieher aufzunehmen. Zwischen all den Ereignissen scheint es nur eine Gemeinsamkeit zu geben: Pedersens dunkle Vergangenheit …
Erste Leser:innenstimmen
„Schlüssig konstruierter Kriminalfall, brillanter Ermittler, fesselnder Schreibstil – einfach rundum gelungen!“
„Fans von Polit-Thrillern sei die Reihe unbedingt ans Herz gelegt!“
„Ein durchweg spannender, hervorragend recherchierter und lesenswerter Thriller.“
„Arvid Heubner hat mich sofort wieder an die Seiten gefesselt …“
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Seitenzahl: 601
Tinus Geving, dem nach seiner Rückkehr aus Spanien das Karriereende droht, wird vor einem Maulwurf in den Reihen von EUROPOL gewarnt: Laurits Pedersen, stellvertretender Direktor und Gevings Vorgesetzter. Zeitgleich werden in Den Haag zwei hochrangige dänische Geheimdienstmitarbeiter ermordet aufgefunden und Geving muss plötzlich mit seinem einstigen Widersacher Thijs de Groot zusammenarbeiten, der ausgerechnet Laurits Pedersen für den Mord verdächtigt. Als dann ein verheerender Anschlag das EUROPOL-Hauptquartier erschüttert, ist Kriminalhauptkommissar Geving gezwungen, Ermittlungen gegen den mutmaßlichen Drahtzieher aufzunehmen. Zwischen all den Ereignissen scheint es nur eine Gemeinsamkeit zu geben: Pedersens dunkle Vergangenheit …
Erstausgabe August 2022
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-655-0 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-964-3
Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Sean Pavone stock.adobe.com: © peangdao , © trahko neo-stock.com: © Tom Parsons Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim
E-Book-Version 02.02.2024, 15:51:32.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Dies ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist, vielleicht, das Ende des Anfangs.
Winston Churchill
Leidschendam
11:58 Uhr
Der Mann, der an zahlreiche Apparate und Schläuche angeschlossen war, schien um Jahre gealtert. Das Blond seiner Haare war verschwunden, einem gespenstischen Weiß gewichen. Die Haut dünn wie Papier, beinahe durchsichtig. Vom einst stattlichen Dänen war nur ein Schatten übrig geblieben.
„Kriminalhauptkommissar Geving“, sagte er, „ich habe mich schon gefragt, wann Sie kommen würden.“
„Ihre Büroleiterin hat sich nach Ihnen erkundigt.“
„Sie sind jetzt Kalif anstelle des Kalifen.“
„Es bereitet mir kein Vergnügen, Sie so wehrlos zu sehen, Pedersen. Immerhin, die Ärzte prognostizieren Ihre schnelle Genesung.“
Laurits Pedersen verzog das Gesicht nur leicht.
„Sie sind kein guter Heuchler.“ Er musste angestrengt schlucken, bevor er weitersprechen konnte. „Natürlich genießen Sie es, mich in der Hand zu haben. Nach allem, was ich Ihnen angetan habe.“
Tinus Geving verneinte kaum merklich. „Mich macht vor allen Dingen wütend, dass sich ein Mann, den ich geachtet und respektiert habe, als Verräter entpuppt. Angesichts der Beweislage habe ich offizielle Ermittlungen gegen Sie eingeleitet.“
Wieder das angedeutete Grinsen. „Sie glauben, etwas zu wissen. In Wahrheit haben Sie nur die Spitze des Eisbergs gesehen.“
ul. Floriańska 45
Krakau
22:57 Uhr
Manchmal ließ sich die Sommerhitze in Krakau nur schwer ertragen. Die junge Frau, die auf den Decknamen Smilla hörte, war die polnischen Sommer seit den Tagen ihrer Kindheit gewohnt. Ob die heranbrechende Nacht, die kürzeste des Jahres, etwas Abkühlung mit sich bringen würde?
Es war eine besondere Nacht. Johannisnacht. Das Fest der Kränze. Zur Sommersonnenwende waren die Restaurants, Bars und Cafés der Altstadt noch besser besucht als üblich. Eine knisternde Atmosphäre. Die Erwartung eines großen Spektakels. Zahlreiche Open-Air-Konzerte am Flussufer, auf dem Krakauer Ring und den Plätzen der Stadt lockten Tausende Besucher von nah und fern an. Die Weichsel war ein in Kerzenlicht getauchtes Meer aus Blumenkränzen. Alle fieberten dem magischen Moment entgegen. Noch eine Stunde bis Mitternacht. Eine Stunde bis zum imposanten Feuerwerk auf dem Wawel.
Smilla saß im berühmtesten Café der Stadt. Da würde sie am wenigsten auffallen. Für ihre Umgebung sah es so aus, als wäre sie, die Halbpolin, in ein Telefongespräch vertieft. Niemand bemerkte den unauffälligen Knopf, den sie im rechten Ohr trug. Smilla war nicht zum Vergnügen hier.
„Meldung von Team eins. Tinkerbell und Mamba auf Standby. Areal gesichert.“
„Meldung von Team zwei. Sherpa und Lotus auf Standby. Ziel im Visier.“
„Smilla hier“, sagte sie leise und nippte an ihrem Espresso. „Die Luft ist rein, und ich langweile mich zu Tode.“
„War das ein Standby?“ Die Frage kam aus Team eins. Von Tinkerbell, genauer gesagt.
Smilla verdrehte die Augen. „Ja. Deadhead auf Standby. Ich bin immer auf Standby.“
„Oh, die Eiskönigin beschwert sich. Mal wieder.“
Idiot! Sie konnte es nicht ausstehen, wenn sie so genannt wurde. Die anderen ließen sie permanent spüren, dass sie der Schützling des Chefs war und in Krakau eigentlich nichts zu suchen hatte.
„Leute, vertragt euch“, ermahnte sie eine neue Stimme im Kommunikationskanal. Silas Ravn.
„Silas! Wie schön, dass du es zu unserer kleinen Vorstellung geschafft hast. Leider bin ich nur in einer Nebenrolle besetzt. Der Alte hat dafür gesorgt. Wie ist die Stimmung bei euch?“
„Ähm … unterkühlt.“
„Unterkühlt, weil der Alte mithört. Und der Alte hat gute Gründe für die Teamaufstellung.“
Erwischt! Sie hatte nicht ahnen können, dass der Chef des PET schon zugeschaltet war. Laurits Pedersen würde ihr vergeben, ganz sicher. „Leute, wenn ich eh nichts zu tun habe, könnte ich auch direkt zu Cocktails übergehen.“
„Tut mir leid, Smilla, du kennst die Einsatzregeln“, sagte Laurits Pedersen. „Betrinken könnt ihr euch, wenn alles vorbei ist.“
Jaja! Sie kannte die Einsatzregeln in- und auswendig. Aber was sie sagte, stimmte. Ihr Job war nahezu erledigt. Für sie gab es nichts mehr zu tun. Als jüngstes Mitglied eines fünfköpfigen Infiltrationsteams befand sie sich seit zwei Wochen in der Stadt. Ihre Teamkollegen waren erst am Vorabend angereist. Per Bahn, mit dem Flugzeug, mit dem Auto, auf unterschiedlichen Routen. Sie kannte die Stadt, sie beherrschte die Sprache fließend. Aus diesem Grund hatte der dänische Inlandsgeheimdienst PET sie für die Position des Deadhead ausgewählt. Smilla war Feldagentin und für das Gelingen der Operation, die etwas martialisch auf den Namen Dreadnought getauft worden war, von entscheidender Bedeutung. Ihre Aufgabe als Deadhead ließ sich in exakt einem Wort zusammenfassen: Desinformation. Smilla war das personifizierte Ablenkungsmanöver. Unter einer Tarnidentität sollte sie den Kongress einer Partei beobachten, die halb Europa Kopfzerbrechen bereitete und sich anschickte, nach der Macht im Land zu greifen. Eine Partei, deren führendes Mitglied ihr Informant war. Es sollte so aussehen, als würde der PET Henryk Tomaszewski beschatten, derzeit Gastprofessor in Kopenhagen. Die eigentliche Operation fand an einem anderen Ort statt.
„Genießt du den lauen Sommerabend?“, fragte Silas Ravn, zuständiger Einsatzleiter in der Zentrale.
„Von wegen, lauer Sommerabend. Sechsunddreißig Grad und es wird noch heißer. Was sagt das Thermometer in Søborg?“ In Søborg, einem Vorort etwa zehn Kilometer von Kopenhagen entfernt, war das Hauptquartier des PET beheimatet.
„Siebzehn Grad bei leicht gehendem Nieselregen. Wie ist die Aussicht?“
„Bestens. Viele Grüße vom Wianki-Festival.“
„Lass dich nicht von einem liebestollen Jüngling abschleppen. Heute Nacht ist alles möglich!“
„Ich denke gar nicht daran.“ Smilla genoss die Aussicht. Sie interessierte sich nicht für junge Männer, sondern für die Bilder, die auf ihr verschlüsseltes Telefon übertragen wurden. Aufnahmen der Überwachungsdrohne, die zeigten, wie beide Einsatzteams auf ein stillgelegtes Werksgelände vorrückten.
Die Glocken schlugen, es war elf Uhr nachts. Das Trompetensignal vom Turm der Marienkirche ertönte, die Menschen auf dem Rynek applaudierten.
Smilla blieb nur noch eine Aufgabe.
Klausdalsbrovej 1
Søborg
23:01 Uhr
„Alle Schäfchen im Trockenen.“ Smilla bestätigte die volle Einsatzbereitschaft von Dreadnought.
Dreadnought. Fürchtenichts. Die Idee für den Tarnnamen dieser Operation hatten sie Silas Ravns Leidenschaft für die Geschichte der Seekriegsführung zu verdanken. Ravn kam aus einer Familie von stolzen Marineoffizieren, hatte selbst dort gedient, bevor er den Reihen des PET beigetreten war. Dreadnought bezeichnete in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen neuen Typ von Schlachtschiff, der dank überlegener Technik mit einem einzigen gezielten Schlag die Feuerkraft seiner Gegner ausschalten konnte.
Laurits Pedersen, Chef des dänischen Inlandsgeheimdienstes PET, schmunzelte. Nichts anderes würden sie heute Nacht tun. Mit einer einzigen gezielten Aktion zogen sie eine Menge Feuerkraft aus dem Verkehr. Sie würden furchtlos sein. Smilla würde furchtlos sein. Ihr erster Einsatz.
Dank detaillierter Informationen ihrer Quelle hatten sie eine Lieferung von Waffen aus alten NATO-Beständen zurückverfolgen können, die in Dänemark für den Transport über die Ostsee verladen worden war und nun in Polen auf den Weitertransport in die Ukraine wartete. Sie wussten das deshalb so genau, weil im Hafen von Odessa vor wenigen Tagen eine Ladung an Material freigegeben worden war, die in engem Zusammenhang mit der von ihnen verfolgten Lieferung stehen dürfte.
Die Spatzen pfiffen es von den Dächern, die derzeitige Regierung in Kiew hatte Probleme, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Ihre Vermutung war, dass sich irgendwer dort auf einen Bürgerkrieg vorbereitete. Besorgniserregend für Europa, besorgniserregend für Dänemarks Sicherheit. Der Käufer agierte über eine in Kopenhagen aktive Zelle der rechtsextremen Pamięc, einer polnischen Gruppierung, die kaum über Organisation und finanzielle Mittel verfügen konnte, in den internationalen Waffenhandel verstrickt zu sein. Die Missionsparameter von Dreadnought waren simpel. Sie würden die Waffenlieferung stoppen, um so an die Hintermänner des mysteriösen Deals zu gelangen. Es galt als ausgemacht, dass Pamięc in diesem Geschäft nur als Strohmann agierte.
Vor etwa einer Stunde war das Justizministerium vom Büro der Premierministerin über Dreadnought in Kenntnis gesetzt worden. Damit hatte Laurits Pedersen freie Hand.
Mit ihm in der Operationszentrale anwesend waren nur sein Stellvertreter Jonas Nygaard und der Einsatzleiter Silas Ravn. Sie kannten sich seit Jahren, vertrauten einander blind. Den Kreis der Mitwisser hielten sie bewusst klein.
Ravn überzeugte sich ein letztes Mal von der einwandfreien Übertragung der Bilder des alten Industriegeländes in den Vororten von Krakau, die auf die Monitore geworfen wurden. Er gab sein Okay.
Pedersen wollte gerade den Einsatzbefehl erteilen, als die Tür zur Operationszentrale aufflog und Asger Berg, Ständiger Sekretär im Justizministerium, hereinstürmte.
„Was soll das hier werden?“, verlangte er zu erfahren.
„Guten Abend, Berg“, begrüßte Laurits Pedersen den aufgebrachten Eindringling mit nonchalanter Höflichkeit. „Wir haben uns schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis Sie hier aufkreuzen.“
„Sind Sie alle jetzt vollkommen wahnsinnig geworden?“ Der Ständige Sekretär war nicht zu Späßen aufgelegt.
Pedersen verneinte. „Das Briefing kennen Sie. Wir stehen kurz vor der Aushebung eines Waffenhändlerrings und sind startklar.“
Man hätte ihn und Berg für Brüder halten können. Die Ähnlichkeiten allerdings beschränkten sich auf das Äußere. Sie hassten einander wie die Pest. Laurits Pedersen hielt den Ständigen Sekretär für einen Bürokraten ohne Fantasie. Berg neidete ihm offensichtlich die Position, die er sich vor einigen Jahren selbst erhofft hatte. Seitdem legte er ihnen bei jeder sich bietenden Gelegenheit Steine in den Weg. Und das war nur eine weitere dieser Gelegenheiten.
Berg musste es besonders eilig gehabt haben. Er setzte sich, rang nach Luft, bevor er weitersprechen konnte. „Ich habe das Briefing gelesen und verstanden. Was ich nicht verstehe, seit wann machen wir uns von Rechtsextremisten abhängig?“
Damit konnte nur ihr Informant Henryk Tomaszewski gemeint sein. Gastdozent an der Universität von Kopenhagen und während seines Studiums für kurze Zeit Mitglied bei Pamięc.
Pedersen versuchte, Berg zu beruhigen. „All das liegt Jahre zurück.“
Der Spitzenbeamte sprang auf. Berg war nicht zu beruhigen, denn er wollte sich nicht beruhigen. „Sie waren lange genug bei der Polizei, um zu wissen, dass man sein Schicksal nicht in die Hände einer einzigen Quelle legt!“
„In diesem Fall bleibt uns keine Wahl.“ Laurits Pedersen stand zu seiner Entscheidung. „Wir haben die Autorisierung der Premierministerin.“
„Die Autorisierung der Premierministerin?“, wiederholte Berg spöttisch. „Das Mädchen will nur die nächste Wahl gewinnen, die sie voreilig losgetreten hat.“
Jonas Nygaard ging dazwischen. „Sie sollten aufpassen, wie Sie über die Dame sprechen!“
Laurits Pedersen gab seinem Stellvertreter stumm zu verstehen, dass er die Situation im Griff hatte, bevor er sich Berg widmete. „Die amtierende Premierministerin, die auch Ihre Vorgesetzte ist, hat einen Befehl erteilt!“
„Gegen meinen ausdrücklichen Rat“, betonte der Beamte. „Ich bitte, das festzuhalten.“
Pedersen hatte genug von ihm. „Dann machen Sie sich eine Aktennotiz. Wenn Sie uns jetzt entschuldigen, wir haben zu arbeiten.“
Damit war die Diskussion beendet.
Berg stand noch für einige Sekunden ratlos herum, musterte Ravn und Nygaard. Keiner von beiden wollte sich auf seine Seite schlagen. „Ihr Spiel, Ihr Risiko.“
Er verließ die Zentrale und knallte die Tür hinter sich zu.
Angespannt atmete Nygaard aus. Er trat näher an Laurits Pedersen heran, sprach leise. „Du magst ihn nicht. Ich verstehe das. Aber er hat recht.“
Pedersen wusste, dass sie sich mit Dreadnought auf gefährliches Terrain begaben. Das war definitiv nicht mehr die Zeit für moralische Bedenken. Es hatte sie Monate der Vorbereitung gekostet. So kurz vor dem Ziel würden sie nicht aufgeben.
Ohne weitere Verzögerung aktivierte er sein Headset und gab den Einsatzbefehl. „Laurits Pedersen an Team zwei. Freigabe erteilt. Vorrücken!“
Nowa Huta
23:12 Uhr
Team eins lag auf einer leichten Anhöhe. Durchs Fernglas beobachteten sie, wie sich Sherpa und Lotus mit gezogenen Waffen den Transportern näherten.
Sherpa gab einen ersten Statusreport. „Die Fahrzeuge sind unbewacht. Es ist ruhig. Zu ruhig.“
„Mir gefällt das nicht“, sagte Tinkerbell, der mitverfolgte, wie Team zwei die Fahrzeuge auf eventuelle Sprengfallen scannte. „Zwei Transporterladungen im Wert von mehreren Millionen Euro. Vollkommen ungesichert?“
Mamba schien mit demselben Gedanken gespielt zu haben. „Ja, das ist zu einfach.“
„Vielleicht wussten sie, dass wir kommen, und haben sich abgesetzt.“ Eine andere Möglichkeit fiel ihm nicht ein.
Team zwei öffnete die Hecktüren zu den Transportern.
„Alle Waffen scheinen da zu sein“, sagte Sherpa.
ul. Floriańska 45
Krakau
23:14 Uhr
Smilla hatte dieses ungute Gefühl in der Magengegend seit Sherpas erster Statusmeldung. Sie waren auf minimalen, gut vorbereiteten Widerstand gefasst gewesen. Aber keine Menschenseele vor Ort. Nur die Einsatzteams.
Ihre Ahnung bestätigte sich, als eine Pushnachricht auf dem Telefondisplay erschien. Die Onlinemeldung eines katholischen Fernsehsenders: Polen unter dänischer Kontrolle? – Regierung in Warschau duldet illegale Anti-Terror-Operation.
Die Verfasser des Artikels waren erstaunlich gut informiert, sprachen von Krakau als möglichem Einsatzort einer bevorstehenden Aushebung.
Anscheinend war sie nicht die Einzige, die es schon mitbekommen hatte. Smilla schaute sich um. An den Nachbartischen blickten die Leute irritiert auf ihre Telefone und Tablets. Sie begannen zu tuscheln.
Eilig bezahlte sie die Rechnung und brach auf. Außer Reichweite des Cafés warnte sie die anderen.
Smilla hatte als Deadhead noch eine andere Aufgabe. Im Notfall würde sie die Evakuierung und Extraktion der ganzen Gruppe einleiten müssen. Binnen Minuten nach Beginn von Dreadnought hatten sie sich dem Notfall mit atemberaubender Schnelligkeit genähert.
Klausdalsbrovej 1
Søborg
23:15 Uhr
So weit, so gut, dachte Laurits Pedersen. Jonas Nygaard und Silas Ravn gingen ihrer Arbeit nach. Ruhig und routiniert. Sie blieben selbst dann ruhig, als der erste Zwischenbericht eintraf. Sie hatten zumindest mit schwachem Widerstand gerechnet. Dass die Waffentransporte vollkommen unbewacht waren, erforderte zwar ihr Augenmerk, mehr aber auch nicht. Wenn sich Pamięc derart unvorsichtig verhielt, konnte er damit leben. Aus seiner Sicht war etwaiger Alarmismus unangebracht. Pedersen mischte sich nicht in die Arbeit seiner Feldagenten vor Ort ein. Die kannten die Lage besser als jeder von ihnen. Als Chef des PET führte er so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Das war schon immer seine Devise gewesen. Er hatte seine besten Leute entsandt und vertraute ihnen. Und wann verlief eine Operation jemals wie geplant?
Von einer Sekunde auf die andere wurde ihre Routine erschüttert, als sich Smilla einschaltete. „Leute, die verarschen uns hier.“
Jonas Nygaard runzelte die Stirn.
„Was meinst du?“, fragte Ravn.
Smilla klang etwas außer Atem, sie schien es eilig zu haben. „Es gibt ein Problem. Ich habe dir gerade einen Link geschickt.“
Der Einsatzleiter öffnete einen Online-Artikel, den er umgehend durch die Übersetzungsmatrix laufen ließ.
Nygaard schüttelte ungläubig den Kopf. „Das kann nicht sein.“
Sprachlos lasen sie die Überschrift.
Polen unter dänischer Kontrolle? – Regierung in Warschau duldet illegale Anti-Terror-Operation.
Ravn fand als Erster die Sprache wieder und sah nicht glücklich aus. „Das ist eine Falle!“
Sein Stellvertreter reagierte schnell. „Nygaard an Team eins und zwei. Irgendwelche ungewöhnlichen Aktivitäten? Report!“
Lotus von Team zwei erstattete sofort Meldung. „Keine Aktivitäten.“
Dann zwei kurze Geräusche, die wie schallgedämpfte Schüsse klangen.
„Team eins, euer Status?“, rief Pedersen.
Team eins antwortete nicht. Nygaard und Ravn sahen ihn entsetzt an.
Nowa Huta
23:17 Uhr
Tinkerbell und Mamba hatten die Kommunikation zwischen Smilla und der Zentrale mit angehört. Hier blieb jedoch alles ruhig.
„Na, Leute. Wie geht’s denn so?“
Tinkerbell und Mamba fuhren erschrocken herum. Sie waren so auf das vor ihnen liegende Einsatzgebiet fixiert gewesen, dass sie ihre Rücken außer Acht gelassen hatten. Zwei Männer standen plötzlich hinter ihnen. Ein langer hagerer Typ mit dem Gesichtsausdruck eines Psychopathen und ein kleinerer untersetzter mit Schlägervisage.
„Wer seid ihr?“ Tinkerbell tastete für die Neuankömmlinge nicht sichtbar nach seiner Pistole.
„Euer … Back-up-Team“, antwortete der lange Dürre auf Dänisch mit starkem Akzent. „Schöne Grüße von Laurits Pedersen …“
Tinkerbell und Mamba waren schnell, aber nicht schnell genug.
„Team eins, euer Status?“ Laurits Pedersen bekam auf seine Frage keine Antwort mehr.
Sherpa und Lotus wussten sofort, dass Team eins ausgeschaltet worden war. Keine Zeit für emotionale Reaktionen, sie agierten automatisch.
„Wir bringen die Ladung in Sicherheit“, schlug Sherpa vor.
„Negativ, ihr seid kompromittiert“, entgegnete ein hörbar aufgebrachter Silas Ravn. „Mission abbrechen. Ich wiederhole: Mission abbrechen!“
Sherpa saß im Cockpit eines der beiden Transporter. Erst jetzt fiel ihm das kleine Gerät auf, das an der Mittelkonsole befestigt war. Nicht größer als ein Kugelschreiber. Plötzlich aktivierte es sich mit einem grünen Lichtimpuls.
„O verdammt …“, war das Letzte, was er noch sagen konnte.
Dann wurde alles um ihn herum schwarz.
Klausdalsbrovej 1
Søborg
23:17 Uhr
Die Ereignisse überstürzten sich. Ein lauter Burst ließ sie zusammenzucken. Die Kommunikation brach zusammen, die Bildschirme übermittelten nur noch ein Rauschen.
Frustriert schlug Silas Ravn auf die Kontrollpulte ein. „Ich bekomme nichts mehr rein! Weder von Team eins noch von Team zwei!“
„Was ist mit der Überwachungsdrohne?“, erkundigte sich Jonas Nygaard.
„Keine Kontrolle mehr!“ Ravn fuhr sich durchs Haar.
Laurits Pedersen stand wie betäubt da. Was passierte hier?
Ravns Finger rasten in atemberaubender Schnelligkeit über die Tastaturen. Er überflog Statusmeldungen und Codezeilen. „Keine Kommunikation, kein Netz, kein Signal in einem Radius von einem halben Kilometer um das Einsatzareal.“
„Eine EMP-Bombe?“, fragte Laurits Pedersen.
Der Einsatzleiter konnte das mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. „Der hätte auch alle Stromrelais in Mitleidenschaft gezogen. Ich vermute, es war ein Blink.“
Pedersen war über die neueste Entwicklung auf dem Gebiet der Cyberabwehr im Bild. Sogenannte Blinks stießen Störimpulse aus, die sich auf alle Frequenzen von Mobilfunk und GPS legten, diese unterdrückten. Keine Kommunikation, keine Navigation. Die Überwachungsdrohne war damit unbrauchbar. Dänemark arbeitete an solchen Geräten, bisher mit begrenztem Erfolg.
Silas Ravn hatte weitere üble Neuigkeiten. „Nachricht aus der Kommunikationszentrale. Die polnische Polizei hat einen Notruf erhalten. Die haben ihn zu uns zurückverfolgt.“
„Zu uns?“, fragte Nygaard. „Ich kapier überhaupt nichts mehr.“
Krakau
23:18 Uhr
Smilla vernahm die beiden Schüsse, während sie durch die Fußgängerzone der Altstadt lief. Tinkerbell und Mamba waren tot. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Sie kämpfte mit den Tränen.
Sie bekam noch mit, wie Team zwei wenigstens die Transporter in Sicherheit zu bringen versuchte, als die Kommunikation zusammenbrach und mit ihr fast Smilla. Das schmerzhafte Kreischen der Rückkopplung traf sie unvorbereitet, erschütterte ihren Gleichgewichtssinn. Sie strauchelte, beinahe wäre sie gefallen.
Ein älterer Passant fing sie gerade noch rechtzeitig auf. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Geht schon. Danke.“ Smilla machte sich los, lief schleunigst weiter. Keine Zeit für Erklärungen. Wahrscheinlich dachte er, sie wäre betrunken. Als sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, erkundigte sie sich bei der Operationszentrale. „Was, verdammt noch mal, ist los? Bin jetzt noch halb taub von dem Burst!“
Sie hoffte inständig, dass ihr noch jemand zuhörte. Ein Stoßseufzer der Erleichterung entfuhr ihr, als Ravn tatsächlich antwortete. „Mit unseren Systemen ist alles in Ordnung.“
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Smilla hatte Angst. Ihre Kritiker hatten recht gehabt, sie war noch nicht so weit.
Laurits Pedersens Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Smilla, leite umgehende Evakuierung ein!“
Sie versuchte sich zu konzentrieren, versuchte, ihre Fassung wiederzufinden. Evakuierung. Die Einsatzbestimmungen sahen dieses Protokoll vor. Keine Nachricht von Team zwei. Was war mit Sherpa und Lotus? Sie konnte sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.
„Negativ“, antwortete sie grimmig. „Ich gehe nicht ohne meine Kollegen!“
Endlich! Smilla war bei ihrem Wagen angelangt, den sie am Ring abgestellt hatte. Sie öffnete die Heckklappe des Kofferraums, schaute sich um. Kein Mensch in Sicht. Ravn erzählte irgendwas von einem Notruf, als sie die Bodenabdeckung öffnete, hinter der man ein Reserverad vermuten könnte, die in diesem Fall jedoch eine Drohne freigab, ähnlich derjenigen, die nicht mehr sendete. Sie hob das Gerät aus dem Kofferraum, stellte es auf dem Asphalt ab. Hektisch atmend, mit zitternden Händen, gab sie per Telefon den Aktivierungsbefehl ein, die Drohne erhob sich in die Luft.
Zum Glück hatte sie auf die Cocktails verzichtet. Eine der Regeln im Konspirativen Fahrsicherheitstraining lautete: Kein Alkohol am Steuer!
Smilla stieg in den BMW.
„Einsatzdrohne aktiviert. Übertragung folgt“, bestätigte sie. „Wir sind wieder im Spiel, und ich bin auf dem Weg.“
„Nimm doch Vernunft an!“, beschwor Pedersen sie.
Smilla wollte das jetzt nicht mit ihm diskutieren. Sie war die einzig verbliebene Feldagentin. Sie traf die Entscheidungen. „Silas, lotse mich durch den Verkehr, verstanden?“
Klausdalsbrovej 1
Søborg
23:26 Uhr
Die Drohne war mit der Steuerung von Smillas Wagen verbunden und übertrug einwandfrei. Gebannt verfolgten sie auf den Monitoren, wie ihre einzig verbliebene Feldagentin – die einzige Überlebende, wie Laurits Pedersen zu ahnen begann – durch die Straßen Krakaus raste. Direkt hinein in die Lebensgefahr. Silas Ravn lenkte sie an zahlreichen Polizeikontrollen vorbei. Manchmal nur haarscharf, auf Ausweichrouten. Nach dem Blackout waren alle verfügbaren Einsatzkräfte auf den Beinen.
Zumindest für den Moment hatte sich die Lage etwas entspannt, aber als Chef des PET musste er bereits an die Folgen denken. Er war verantwortlich für dieses Desaster.
Pedersen griff zum Telefon, ließ sich mit der Sommerresidenz in Marienborg verbinden. Der diensthabende Beamte des Personenschutzes nahm seinen Anruf entgegen.
„Laurits Pedersen hier. Geben Sie mir die Premierministerin.“ Er wusste, dass sie seit der Scheidung von ihrem Mann die meisten Wochenenden mit den beiden Kindern dort verbrachte.
„Die Premierministerin ist erst am späten Abend von einer Wahlkampfveranstaltung zurückgekehrt und sofort zu Bett gegangen“, bedauerte der Sicherheitsbeamte.
„Dann wecken Sie sie halt auf!“
Nowa Huta
23:56 Uhr
Smilla kam zu spät. Sie fand Tinkerbells und Mambas Leichen in einer Böschung. Sherpa und Lotus hatte man im Staub liegen lassen, dort wo vorher die Transporter gestanden haben mochten.
„Die sind mit den Waffen über alle Berge!“ Ihre Tränen konnte sie nicht länger unterdrücken. „Sie sind tot. Alle. Sie sind alle tot!“
Plötzliche Explosionen, der Schreck fuhr ihr durch die Glieder. Nein, Knallkörpergeräusche. Das Feuerwerk … Sie erhob sich. Hatte jemand etwas gesagt?
„Du musst da sofort verschwinden!“ Es war Ravn.
Er lebte noch. Ravn war in Søborg. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie starrte in die leeren, vorwurfsvollen Augen von Sherpa und Lotus.
„Ihre Leichen“, schluchzte sie. „Wir können sie nicht hier liegen lassen.“
Von irgendwoher ertönten Polizeisirenen.
„Rückzug und sofortige Evakuierung. Ich befehle es!“ Diesmal Laurits Pedersen.
Sie nahm ihn nur wie durch Watte wahr, sah in die erstarrten Gesichter der Toten. „Ich verstehe nicht … Ich kann nicht …“
Die Polizeisirenen wurden lauter.
„Verschwinde, jetzt sofort!“ Er schrie sie förmlich an. „Jadwiga, raus da!“
Klausdalsbrovej 1
Søborg
0:07 Uhr
Es war vorbei. Aus.
Silas Ravn riss sich das Headset vom Kopf, rieb sich die Augen.
„O mein Gott … Was haben wir getan?“ Er stand unter Schock, starrte auf schwarze Bildschirme.
Dann Stille. Totenstille.
Jonas Nygaard kehrte zurück, sah leichenblass aus. „Die Premierministerin ist auf dem Weg. Sie hat mit ihrem polnischen Amtskollegen telefoniert, der sie darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass die sofortige Ausweisung unseres Botschafters verfügt wurde.“
Es hatte also begonnen.
„Ich verstehe das nicht.“ Laurits Pedersen sprach mehr zu sich selbst. „Alles war in Ordnung. Wie konnte es dazu kommen?“
Kraftlos ließ er sich auf einen Stuhl fallen. Er fühlte sich müde, alt, verbraucht. Er war gescheitert.
„Der Notruf“, sagte sein Stellvertreter leise.
Pedersen verstand nicht. „Was?“
„Der Notruf. Die Kommunikationszentrale hat’s bestätigt. Er kam aus unserem Haus. Es gibt ein Leck.“
Er ließ alle Luft aus seinem Brustkorb entweichen. „Du meinst …?“
Jonas Nygaard funkelte ihn böse an. „Wir haben einen Verräter in unseren Reihen.“
Zum Abschluss ihrer Untersuchungen kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass sich die Ereignisse der Nacht vom 23. auf den 24. Juni dieses Jahres, einer Geheimdienstoperation, die der PET unter dem Tarnnamen Dreadnought führte, in der Gesamtbetrachtung auf zwei wesentliche Umstände zurückführen lassen. 1. Eine grobe bis fahrlässige Fehleinschätzung der Lage durch die Führung des PET, mangelnde Kompetenzen und fehlende Sorgfalt in der Ausführung durch die operativen Kräfte, der totale Zusammenbruch der notwendigen Kommandostruktur. 2. Fehlende Transparenz und grobe Verletzung von Amtspflichten im Büro der Premierministerin, Missachtung demokratischer Kontrolle, Missachtung internationalen Rechts.
Zu Punkt 1: Die Angaben des befragten Zeugen T. führten zur Planung und letztendlichen Ausführung von Dreadnought. Seitens des Justizministeriums lag ein aktenkundiger Vermerk vor, wonach T. als nicht zuverlässig einzuschätzen sei. Es wäre durchaus im Rahmen der Befugnisse des PET-Chefs Laurits Pedersen gewesen, zu einer anderen Einschätzung der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu gelangen. Jedoch hätte das allgemein übliche Vorgehen es vorgesehen, die Angaben des Zeugen T. durch mindestens eine unabhängige Quelle zu verifizieren. Dieser Sorgfaltspflicht ist der für die Ausführung von Dreadnought Hauptverantwortliche entweder bewusst fahrlässig oder vorsätzlich nicht nachgekommen.
Die der Kommission zur Verfügung gestellten Abschriften von Kommunikationsprotokollen aus der fraglichen Nacht belegen, dass die Einsatzteams nicht ansatzweise auf etwaige Schwierigkeiten vorbereitet gewesen waren. Eines der beiden Kommandos wurde nur Minuten nach Beginn der Operation aufgrund schierer Unaufmerksamkeit von anscheinend feindlichen Agenten aufgerieben. Außer Acht gelassen werden darf auch nicht die Rolle der einzig überlebenden Feldagentin S., die nicht nur mehrere Anweisungen des zuständigen Einsatzleiters Silas Ravn missachtet, sondern die Ausführung direkter Befehle ihres obersten Vorgesetzten Laurits Pedersen verweigert hat. S. ist von jeder Schuld und Verantwortung freizusprechen. Auch aus dem Grund, weil sie aufgrund mangelnder Qualifikation gar nicht erst hätte eingesetzt werden dürfen. Entsprechende Hinweise ihrer Ausbilder, gerade im Hinblick auf ihre psychische Belastbarkeit, blieben unbeachtet. Wie der zuständige Einsatzleiter Silas Ravn sie dennoch hat auswählen können, bleibt ein Rätsel, in diesem Punkt konnte er nicht zur Aufklärung beitragen.
Am Ende war das Einsatzteam nicht nur personell fehlbesetzt, es war obendrein technisch schlecht ausgestattet, auf einen Kommunikationsblackout – wie in dieser Nacht geschehen – nicht vorbereitet. Redundanzen, auf die man im Vorfeld aufgrund des geringen Umfangs der Operation bewusst verzichtet hat, wie Jonas Nygaard, der stellvertretende Chef des PET, vor dem Gremium eingestehen musste. Eine Fehleinschätzung, die zeitweise zum Komplettzusammenbruch der dringend notwendigen Befehlskette vor Ort führte.
Zu Punkt 2: Die Vorfälle der Nacht vom 23. auf den 24. Juni können nicht bewertet werden, ohne das Vorgehen der zu diesem Zeitpunkt amtierenden Premierministerin genauer zu durchleuchten.
In der Befragung gab sie an, dass Laurits Pedersen – basierend auf den Informationen des Zeugen T. und seinen Umgang mit ihm – an sie herangetreten sei. Sie wusste von der Bedenklichkeitserklärung durch das Justizministerium, autorisierte dennoch vorbehaltlos und ohne weitere Rücksprache mit ihrer Regierung die Durchführung von Dreadnought. Die Premierministerin gab zu Protokoll, in der Überzeugung gehandelt zu haben, eine drohende Gefahr sowohl für die nationale als auch für die europäische Sicherheit abzuwenden.
Das für die Beaufsichtigung des PET zuständige Justizministerium ist erst am Abend des Vorfalls von ihrem Büro über Dreadnought in Kenntnis gesetzt worden. Das parlamentarische Kontrollgremium für die Arbeit der Nachrichtendienste erfuhr sogar erst im Laufe des 24. Juni und damit nach Scheitern der Operation von den genauen Umständen.
Hätte sich die Premierministerin im Vorfeld die erforderliche Beratung geholt, wäre ihr unmissverständlich mitgeteilt worden, dass der Inlandsgeheimdienst auf polnischem Staatsgebiet schlichtweg nichts zu suchen hat. Die Durchführung von Dreadnought, so überhaupt zulässig, hätte in die Hände des Auslandsnachrichtendiensts gehört. Unabhängig davon wäre es ihre Aufgabe gewesen, die polnische Regierung zumindest über den bevorstehenden Einsatz zu informieren und um Kooperation zu bitten. All das wurde erwiesenermaßen unterlassen, weil man es vorzog, den Angaben einer einzigen Quelle zu vertrauen, statt sich auf mehreren Ebenen abzusichern. Mithin hat die Premierministerin die unerlaubte Einmischung in die Belange einer befreundeten Nation billigend in Kauf genommen.
In der Gesamtbetrachtung lässt sich ein erschreckendes Maß an Blauäugigkeit, Leichtsinn, Selbstüberschätzung bis hin zur Arroganz bei allen in Verantwortung stehenden Personen feststellen. Sie haben unkontrolliert, einer Verschwörung ähnlich, als Ankläger, Staatsanwalt und Richter gehandelt, mögliche Folgen nicht bedacht und das daraus resultierende Desaster damit persönlich verschuldet und voll zu verantworten.
Das Scheitern der Operation Dreadnought zog den Tod von vier Feldagenten nach sich. Die losgetretene öffentliche Debatte näherte die Furcht vor einem „tiefen Staat“, der ohne Rücksicht auf Verluste handelt. Nicht nur das Vertrauen in unsere Institutionen wurde nachhaltig erschüttert. Schwerer wiegt der Vertrauensverlust in ganz Dänemark als international verlässlicher Partner. In Folge des Zwischenfalls hat Polen alle diplomatischen Beziehungen mit Dänemark bis auf Weiteres auf Eis gelegt.
Am Ende stellt sich die Frage nach den Konsequenzen. In erster Linie haben sich alle Beteiligten bereits selbst bestraft. Laurits Pedersen, Jonas Nygaard und Silas Ravn sind von ihren Posten zurückgetreten, die Premierministerin wurde abgewählt.
In Anbetracht der Umstände sowie der zahlreichen Verdienste aller Beteiligten empfiehlt die Kommission dem Premierminister und seiner Regierung daher, auf eine strafrechtliche Verfolgung bis hin zur Anklage auch im Interesse der nationalen Sicherheit zu verzichten. Das spricht die Verantwortlichen nicht von Schuld frei, sie alle werden damit leben müssen, vier Menschen sinnlos in den Tod geschickt zu haben. Aber es liegt im übergeordneten Interesse Dänemarks, diesen Skandal jetzt zu beenden und verlorenes Vertrauen – national wie international – zurückzugewinnen.
Weiterhin empfiehlt die Kommission den Umbau der Nachrichtendienste unter parlamentarischer Aufsicht.
Der Bericht wird als STRENG GEHEIM eingestuft. Jede Veröffentlichung, auch in Teilen, ist bei Strafe verboten.
Asger Berg
Ständiger Sekretär im Justizministerium
Koekoekslaan 7
Wassenaar
10:37 Uhr
Ein Kuckuck rief in den Weiten. Der Frühling nahte. Agent Thijs de Groot stand eine Weile in der Auffahrt und lauschte dem Gesang der Vögel. Er konnte sie genau auseinanderhalten. Das plätschernde „Tüli-tri-tri-ti“ der Gartenrotschwänze vom metallisch reinen „Tsi-da, tsi-da, tsi-da“ der Kohlmeisen und den Flötenkonzerten der Amseln. Die meisten Menschen hätten ihm eine solche Leidenschaft nicht zugetraut, einschließlich seiner beiden Ex-Frauen. Thijs de Groot war passionierter Ornithologe. Irgendein Hobby musste schließlich jeder haben. Abseits des Dienstes genoss er die Ruhe und das Vogelgezwitscher.
Hier war es sehr ruhig. So lebten also die oberen Zehntausend der Hauptstadt. In einer Waldsiedlung mit schmalen Alleen, die Villen und Herrenhäuser hinter hohen Hecken aus Buchs oder Liguster versteckt.
„Wir wären dann so weit.“ Agent Zakaria Saleem riss ihn aus seinen Tagträumen.
Obwohl zwanzig Jahre jünger, bekleidete sein neuer Kollege denselben Dienstrang wie er, was entweder für dessen Engagement oder gegen de Groots ruppige Art sprach. Möglicherweise war er einfach nur besser angezogen. Der taubenblaue Anzug saß wie angegossen. Wahrscheinlich maßgeschneidert.
„Also, was ist so wichtig, dass man mich damit behelligen muss?“, grummelte de Groot missgestimmt. „Obendrein in meinem Urlaub? Ich hatte noch eine verdammte Woche Urlaub!“
Er folgte dem jüngeren Ermittler in die rote Backsteinvilla aus den 1920er-Jahren. Das Reetdach hatte zur Wetterseite hin feuchtgrünes Moos angesetzt. Bereits beim Eintreten fielen ihm die zahlreichen Überwachungskameras auf.
„Männliche Leiche, Mitte vierzig. Jonas Nygaard, dänischer Staatsbürger“, erstattete Zakaria Saleem Bericht. „War als Kulturattaché an deren Botschaft akkreditiert.“
„Wollt ihr mich verarschen?“ De Groots üble Laune erreichte ihren vorläufigen Tiefpunkt. Er hatte sich halb damit abgefunden, seinen Nachmittag ans Bein zu binden. Der Tod eines ausländischen Diplomaten jedoch würde ihm den Rest seines Urlaubs versauen. Ob Adriaen Mulder deswegen ausgerechnet ihn geschickt hatte? Der alte Sack schien ihm die Nummer in Rotterdam nicht vergeben zu haben.
„Der Tote war Kulturattaché“, stellte Agent Saleem klar. „Die Botschaft hat seine Identität bestätigt. Jonas Nygaard ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Sie haben ihn telefonisch nicht erreichen können und daher seine Haushälterin informiert. Die hatte ihren freien Tag.“
„Ich verstehe ihre Frustration“, bemerkte Thijs de Groot sarkastisch. „Und weiter?“
„Sie hat nach dem Rechten gesehen und ihn gegen neun Uhr gefunden, da war er bereits tot. Im Anschluss alarmierte sie sofort die dänische Botschaft, die wiederum mit uns in Kontakt getreten ist.“
Im Hausinneren gab es weitere Überwachungskameras. Ein bisschen viel Aufwand für einen zweitklassigen Diplomaten. „Haben die irgendetwas Brauchbares aufgezeichnet?“
„Äh. Dazu kommen wir noch.“
Saleems Zögern verriet de Groot die Antwort jetzt schon.
Sie betraten ein dunkel getäfeltes Arbeitszimmer mit schweren grünen Teppichen, Gobelins und Polstermöbeln. Vor einem geöffneten und ausgeräumten Safe lag ihr Toter. Etwa ein Meter achtzig groß, stämmige Statur. Im Raum stand kalter Zigarrengeruch. Wenigstens schien der Verblichene bis zum Moment seines unseligen Dahinscheidens auf nichts verzichtet zu haben.
Mit der Leiche war de Groots nächste Überraschung des Tages beschäftigt.
„Lieke Brouwer! Wie klein die Welt ist.“ Ausgerechnet die Rechtsmedizinerin, die er nicht ausstehen konnte. Der Korpschef musste eine ans Sadistische grenzende Scheißwut auf ihn haben.
Die Frau blickte entgeistert auf. „Thijs de Groot in voller Pracht und Schönheit. Versetzt worden, wie?“
Wenigstens beruhte die Abneigung auf Gegenseitigkeit.
„Keine gute Tat bleibt ungesühnt.“
Verständnisloses Kopfschütteln. „Also, ich mach’s kurz. Du magst ja meine langen Ausführungen nicht.“
Lieke Brouwer hatte keine sichtbaren äußeren Verletzungen feststellen können, die den Schluss zuließen, dass sich das Opfer zur Wehr gesetzt hatte. Eine Verletzung gab es dann doch. Sie verwies auf ein dunkelblau eingefärbtes Hämatom im Hals- und Nackenbereich. Die Ärztin drehte den Kopf des Toten hin und her, erwähnte eine abnorme Beweglichkeit der Occipito-Cervical-Region. Sie konnte ohne Weiteres bestätigen, dass die Dens axis zwischen Atlas- und Epistropheuswirbel durchtrennt worden war, was zur Zerstörung des Atem- und Kreislaufzentrums und in der Folge zum sofortigen Tod vergleichbar einer Enthauptung geführt hatte. Diese Verletzung konnte sich der Tote aus ihrer Sicht unmöglich selbst zugefügt haben. Mit anderen Worten, Jonas Nygaard war das Genick gebrochen worden.
„Sehr professionell ausgeführt“, wie sie hinzufügte. „So etwas sieht man nicht alle Tage.“
„Kannst du schon etwas zum ungefähren Todeszeitpunkt sagen?“, fragte de Groot.
„Bei annähernd gleichgebliebener Raumtemperatur dürfte er entweder in der Nacht oder am späten Abend ums Leben gekommen sein.“
Thijs de Groot schaute sich im Arbeitszimmer um. Der geleerte Safe … „Ob er einen Einbrecher überrascht hat?“
„Die Türen weisen keinerlei Spuren eines gewaltsamen Eindringens auf“, warf Agent Saleem ein. „Die Haushälterin gab an, alles ordnungsgemäß verschlossen vorgefunden zu haben.“
„Was nicht heißt, dass hier alles ordnungsgemäß war.“
„Die Alarmanlage war scharf. Jonas Nygaard muss seinen Mörder gekannt und aus freien Stücken ins Haus gelassen haben. Das eigentlich Merkwürdige folgt erst noch.“ Saleem ging zum Schreibtisch, auf dem ein Monitor stand. „Alle Kameras auf dem Grundstück sind deaktiviert. Die Bilder wurden normalerweise hierher überspielt. Aber“, er zeigte ihm das Rechnergehäuse, „die Festplatte fehlt.“
De Groot strich sich nachdenklich übers unrasierte Kinn. „Wäre doch interessant, herauszufinden, ob die Botschaft für Nygaards Sicherheit verantwortlich war oder ob er privat vorgesorgt hat. Vielleicht verfügen die über so was wie Back-up-Dateien.“
Sein neuer Kollege machte sich eifrig Notizen auf dem Tablet. Einer dieser Technikfreaks. Thijs de Groot vertraute eher auf Stift, Papier und seinen gesunden Menschenverstand. Der hatte ihn mit Ausnahme dieses einen phänomenalen Fehlschlags nie im Stich gelassen. Er begutachtete intensiv die Tür des Tresors.
„Zugang nur über Zahlencode und Fingerabdruckscanner“, stellte er fest. Hier waren sicherlich nicht die Pläne fürs nächste Begegnungsfestival entwendet worden.
„Der Safe wurde bestimmt erst nach Nygaards Tod geöffnet“, meinte Saleem. „Dazu brauchte der Täter kaum seine Einwilligung, nur einen Fingerabdruck.“
„Und die passende Zahlenkombination“, ergänzte de Groot.
„Nicht zwingend. Die Kombination kann man überlisten, wenn man über die entsprechenden Kenntnisse und das richtige Equipment verfügt. Und die Spurensicherung hat das ganze Haus durchsucht, allerdings kein Mobiltelefon finden können.“
„Wer immer hierfür infrage kommt, wusste genau, wonach er zu suchen und wie er seine Spuren zu verwischen hatte. Womit wir bei möglichen Verdächtigen wären. Was ist mit der Haushälterin?“
Saleem verneinte. „Ein Ding der Unmöglichkeit. Die Botschaft überprüft das Dienstpersonal ihrer Mitarbeiter auf Herz und Nieren. Für den fraglichen Tatzeitpunkt hat die Frau außerdem ein Alibi. Sie war auf einer Familienfeier, ihre Rückkehr erst für den späten Nachmittag vorgesehen.“
„Sie hätte ihm diese Verletzung niemals zufügen können“, meinte Lieke Brouwer. „Die Frau ist klein und zierlich. Wir sind ihr begegnet. Um einem Menschen das Genick zu brechen, braucht es Kraft und Training. Wie hätte sie den Toten auch bewegen sollen, um den Tresor zu öffnen?“
Thijs de Groot mochte die blöde Ziege zwar nicht leiden, aber ihre Erklärungen galten ausnahmslos als zuverlässig und einleuchtend. Das machte es für ihn nicht besser, denn nun hatten sie einen Toten, keinen Tatverdächtigen, vom Motiv ganz zu schweigen! Er musste sich einen lauten Fluch verkneifen.
„Kulturattaché, he?“, sagte er stattdessen. „Warum hat die Botschaft dann niemanden geschickt?“
Sein neuer Kollege zuckte mit den Schultern. „Die wollen unseren vorläufigen Ermittlungsbericht abwarten, um sich nicht unnötig einzumischen. Nygaard war vielleicht nicht wichtig genug.“
War de Groot bis vor wenigen Minuten noch wenig amüsiert über die ihnen aufgetragene Zeitverschwendung, so setzte sich das Räderwerk in seinem Kopf langsam in Bewegung.
„Nee, die wollen uns glauben lassen, er wäre nicht wichtig genug. Ein toter Kulturattaché, ein leerer Tresor, keine brauchbare Spur. Sollten da nicht alle Alarmglocken schrillen?“ Erst jetzt fiel ihm der Aschenbecher auf dem Kaminsims auf, in dem drei Zigarrenstummel lagen. „Lasst die auf mögliche DNA-Spuren untersuchen. Vielleicht werden wir daraus schlauer.“
Die Rechtsmedizinerin nickte seine Anweisung ab. „Wenn es das Werk eines Profis ist, wird sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts finden lassen.“
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Saleem einigermaßen ratlos.
Thijs de Groot lief im Raum auf und ab. Er hatte keinen blassen Schimmer. Die Dänen hielten sich auffällig zurück. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, erneut in ein extra für ihn bereitgestelltes Fettnäpfchen zu treten. Ja, er hatte einen Fehler begangen. Aber er war nicht so blöd, diesen Fehler zu wiederholen.
„Ich informiere mal Europol“, entschied er.
Zakaria Saleem musterte ihn irritiert. „Europol? Wieso?“
„Erfahrung …“
„Er will damit sagen, dass er sich bei seinem letzten Fall die Finger verbrannt hat“, erklärte Lieke Brouwer. Die Schadenfreude war nicht zu überhören.
„Der tote Norweger, jaja. Dass du immer noch in diese offene Wunde stoßen musst!“
Die Rechtsmedizinerin grinste ihn herausfordernd an. „In offene Wunden zu stoßen, ist mein Job.“
Er hatte alles gesehen, was er sehen musste, wollte sich von ihr die Laune nicht zusätzlich vermiesen lassen. „Dann mach deinen Job, und gib mir Bescheid, sobald du etwas hast. Schönen Tag noch.“
Kurz darauf marschierten sie die Auffahrt des Anwesens hinunter, als de Groot beinahe mit einer älteren Frau kollidierte.
„Ist etwas mit Herrn Nygaard?“, fragte sie interessiert.
„Wer will das wissen?“, blaffte er.
„O Verzeihung.“ Sie blieb die Freundlichkeit in Person. „Eleonor Zwaan mein Name. Ich bin die Nachbarin. Ist dort etwa eingebrochen worden? Hach, die Jugend heutzutage! Man ist in seinen eigenen vier Wänden nicht mehr sicher.“
„Haben die Kollegen Sie noch nicht befragt?“
„Wieso? Ich weiß doch gar nicht, was los ist.“ Sie pfiff ihren herumstromernden Hund zurück. „Wir drehen morgens immer eine große Runde.“
„Herr Nygaard ist bedauerlicherweise tot. Können Sie irgendwelche Angaben dazu machen?“
„Tot?“ Ihr wich die Farbe aus dem Gesicht. „Er war immer so höflich und korrekt. Also, ich brauche erst mal einen Schnaps.“
Eleonor Zwaan bat ihn und Saleem in ihr Haus. Ein Museum, das seit Jahrzehnten keine Modernisierung mehr erfahren hatte und in dem es nach Mottenkugeln roch. Sie servierte Tee im Wohnzimmer. Auf den Schnaps mussten sie verzichten, für Zakaria Saleem stand Alkohol aufgrund seiner pakistanischen Wurzeln ohnehin nicht zur Debatte. Der Hund war eine schwarze deutsche Dogge, die mehr oder weniger auf den Namen Claus hörte und de Groot böse ankläffte. Er konnte sich ein Lachen kaum verkneifen, die alte Frau musste die Deutschen wirklich hassen.
„Aus! Ein unmögliches Benehmen ist das heute wieder.“
Saleem kam direkt zur Sache. „Haben Sie Herrn Nygaard gestern noch gesehen?“
Eleonor Zwaan nickte vorsichtig. „Gestern Abend. In Begleitung eines anderen Herrn. Sie schienen sich über irgendetwas gestritten zu haben. So genau weiß ich es nicht, ich verstehe kein Schwedisch.“
„Der Mann war Däne“, korrigierte er sie.
„Däne! Nein, so was.“
„Als Sie den beiden begegnet sind, war Herr Nygaard demnach wohlauf?“, vergewisserte sich de Groot.
„Aber ja, er hat noch freundlich zu mir rüber gewunken. Claus musste kurz vor die Tür.“
„Wann war das ungefähr?“
„Also, ich gehe immer um zehn Uhr abends zu Bett. Ein langer und ausgiebiger Schlaf hält jung, müssen Sie wissen.“
De Groot verlor langsam die Geduld, Claus machte sich gerade an seinem Hosenbein zu schaffen. „Noch einmal, wann war das ungefähr?“
„Ich wollte danach zu Bett gehen …“
„… denn ein langer Schlaf hält jung. Danke! Wann?“
„So gegen neun?“, antwortete sie unsicher.
„Können Sie den anderen Mann beschreiben?“, ging Agent Saleem dazwischen.
Die Nachbarin kramte in ihrem Gedächtnis. „Groß. Sogar größer als Herr Nygaard. Er hatte eine hohe Stirn und helles Haar. Es tut mir leid, genauer kann ich es nicht sagen. War ja schon dunkel.“
„Ist Ihnen sonst noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Ja, sie schienen gestritten zu haben. Aber ich verstehe kein Schwedisch“, wiederholte sie.
Thijs de Groot biss sich auf die Zunge, während Claus ihm die Schuhe vollsabberte. Däne! Jonas Nygaard war Däne! „Und sonst nichts weiter?“
„Nein“, sagte Eleonor Zwaan. „Als wir zurückkamen, bin ich sofort zu Bett.“
Puh! Sie hatten es hinter sich. „Danke, vorerst keine weiteren Fragen.“
„Das mit Herrn Nygaard tut mir sehr leid. Richten Sie ihm meine Grüße und baldige Genesung aus.“
„Ja“ war das Einzige, was de Groot darauf noch erwidern konnte.
Sie wandten sich zum Gehen, da fragte die alte Dame Saleem: „Sind Sie mit den Expeditionstruppen eingetroffen?“ Sie hatte ihn die ganze Zeit über schon so merkwürdig angestarrt.
Ihm entglitten die Gesichtszüge. „Nein, gnädige Frau. Ich bin hier geboren.“ Beim Hinausgehen flüsterte er de Groot zu: „Die alte Schachtel hat doch nicht mehr alle an der Klingel. Wahrscheinlich glaubt sie, Königin Juliana sitzt noch auf dem Thron.“
Die Nebel der Erinnerung spielten ihre Streiche mit Eleonor Zwaan. Sie alle würden einmal in dieses Alter kommen. Thijs de Groot hatte jetzt schon manchmal Gedächtnislücken, wenngleich aus ganz anderen Gründen der Benebelung. In der Tat schien sie nicht die zuverlässigste Zeugin zu sein.
„Und doch“, hielt er dagegen, „hat sie uns ein Ereignis beschrieben, das unmöglich ihrer Fantasie entsprungen sein kann. Dieser Streit … Damit hätten wir zumindest einen Anhaltspunkt, meinst du nicht?“
„Ich weiß nicht.“
„Ich schon. Schicke einen Zeichner zu ihr. Wir brauchen eine genauere Personenbeschreibung.“ Er straffte sich. „Ich fühle jetzt Europol auf den Zahn.“
Auch de Groot hegte keine besondere Leidenschaft für die Deutschen im Allgemeinen und für einen Deutschen im Speziellen: Tinus Geving, Kriminalhauptkommissar mit Halbgottkomplex.
Eisenhowerlaan 73
Den Haag
15:06 Uhr
Thijs de Groot war kein Mann der Förmlichkeiten. Jeder Gedanke an ein irgendwie geschmeidiges Auftreten war ihm zuwider, was einer der Gründe sein mochte, warum er es in seinen Dienstjahren nicht allzu weit gebracht hatte. Trotzdem durfte er sich seit seiner Versetzung mit den Sesselfurzern und sogenannten Spitzenbürokraten Den Haags herumschlagen.
Allein dieser Termin verursachte ihm Magenkrämpfe. Er hatte sich eigentlich nur telefonisch rückversichern wollen, Europol bestand auf einer persönlichen Vorladung. Zumindest erschien es ihm wie eine Vorladung, als er den einschüchternden festungsartigen grauen Neubau des Hauptquartiers betrat. Was hatten sich die Architekten nur dabei gedacht? Sie wollten wohl das – aus Sicht de Groots durch wenige Taten belegte – Selbstbewusstsein der Superbehörde in Stein meißeln. Er hatte Probleme mit dieser übergeordneten Autorität. Die hatte ihm seinen letzten Fall aus der Hand gerissen, ihn in seiner eigenen Autorität beschnitten.
Bereits die Arroganz des Typen, bei dem er sich am Einlass auszuweisen hatte. Er führte ihn durchs Gebäude ins „innere Heiligtum“, wie er es nannte. Spinner! Beim Gang durch die Foyers und Flure registrierte de Groot mit Belustigung, dass die Schwachköpfe von Architekten den Brutalismus des Äußeren nicht im Inneren durchgehalten hatten. Hohe und helle Decken mit Oberlichtern, von denen abstrakte Kunstentgleisungen herabhingen, die aussahen wie ausgelutschte Kondome, sorgten für eine gesichtslos scheinfreundliche, gedämpfte Atmosphäre. Von sprechenden Maßanzügen wurde er beäugt wie ein niederes Insekt. Thijs de Groot kam sich vor wie eine der Romangestalten aus Louis Aragons Karwoche, am ehesten wie Oberst Fabvier, der beim Betreten der Gemächer des Königs die Bekanntschaft mit Fouchés Geheimpolizei machen musste. Sein neuer Kollege hätte perfekt in diese Welt gepasst, was bei de Groot die Frage aufwarf, warum er ihn nicht geschickt hatte. Wahrscheinlich, weil er dem Neuling nicht traute.
Sie fuhren mit einem vollverglasten Fahrstuhl in die oberste Etage. Dort übergab der Einlassbeamte ihn an eine Vorzimmerdame. Er hatte das Schild an der Bürotür gelesen und wusste, wo er sich befand. Das war das Büro des Deputy Director Laurits Pedersen! Warum hatte ein solch hohes Tier Interesse an seiner Mordermittlung? Pedersens Assistentin ließ ihn ohne Wartezeit zu ihrem Chef vor. Der blickte auf, schien sich an ihn zu erinnern.
„Agent Thijs de Groot, Polizeibezirk Den Haag. Wir sind uns während der Bondevik-Ermittlungen kurz begegnet.“
„Ja natürlich.“ Der Deputy Director bat ihn, Platz zu nehmen. „Das kleine Geplänkel mit Kriminalhauptkommissar Geving und Lieutenant Lambert.“
De Groot fühlte sich in Pedersens Gegenwart unwohl. Die schiere Präsenz des Dänen schüchterte sogar einen gestandenen Bullen wie ihn ein. Er hatte erlebt, wie kaltblütig der Mann sein konnte. De Groot räusperte sich.
„Eigentlich habe ich geglaubt, mit Kriminalhauptkommissar Geving sprechen zu können“, sagte er entschuldigend.
„Der … ist unabkömmlich“, entgegnete der Deputy Director. „Wie kann ich helfen?“ Die Wortwahl ließ darauf schließen, dass der Fall Bondevik auch für seine deutsche Nemesis Konsequenzen gehabt haben musste.
De Groot rutschte unruhig auf der Vorderkante seines Stuhls hin und her, suchte nach den passenden Worten.
„Um die Irritationen vom letzten Mal zu vermeiden und aus Respekt vor Ihrer eventuellen Ermittlungshoheit …“ Hatte er das wirklich gesagt? So viel Katzbuckelei brachte ihn zum Kotzen. „Wir ermitteln in einem Mordfall, über den ich Sie in Kenntnis setzen möchte.“ In wenigen Sätzen breitete er vor dem Deputy Director die Ereignisse des Vormittags aus. Er berichtete, dass man dem Opfer das Genick gebrochen habe, Unterlagen entwendet worden seien, nichts auf einen Einbruch, dafür auf das Werk eines Profis hinweise, das Opfer seinen Mörder vermutlich gekannt habe. „Bei dem Toten handelt es sich um Jonas Nygaard, dänischer Kulturattaché.“
Ein Schatten huschte über Laurits Pedersens bis dahin teilnahmsloses Gesicht. „Jonas! Das ist …“ Er hielt inne, fand aber schnell zu seiner professionellen Distanz zurück. „Das ist ein Schock.“
De Groot war Pedersens Reaktion nicht entgangen. „Sie kannten sich?“
„Er war Stellvertreter während meiner Zeit als Chef des Inlandsgeheimdienstes. Wir haben am Freitag noch miteinander telefoniert. Ich dachte, er hätte die Osterfeiertage bei seiner Familie verbracht. Hat man sie schon informiert?“
„Ich vermute, die Botschaft hat sich darum gekümmert.“ Thijs de Groot hatte sich nicht getäuscht. Nygaard war ein Geheimdienstmann. Noch mehr überraschte ihn, dass Laurits Pedersen einst sein Chef gewesen war. „Sie sagten, Sie und der Tote kannten einander?“
Der Däne nickte. „Jonas Nygaard war für drei Jahre meine rechte Hand. Wir sind gemeinsam beim PET ausgeschieden. Er ist dem diplomatischen Dienst beigetreten, ich bin zu Europol gegangen.“
Die beiden hatten am Tag von Nygaards Tod noch miteinander telefoniert. Sie waren also nicht nur Kollegen, sondern wahrscheinlich Freunde gewesen. Dennoch spürte de Groot, dass Pedersen ihm etwas verschwieg. Solche Leute gaben Informationen nur scheibchenweise preis. Die gute alte Salamitaktik.
„Am Tatort sind Akten verschwunden“, sagte er. „Haben Sie eine Ahnung, womit das zusammenhängen könnte?“
„Als Kulturattaché hatte er keinen Zugriff auf vertrauliche Akten. Ich kann es mir nicht erklären.“
„Hatte Nygaard irgendwelche Feinde?“
„Mit Sicherheit.“
Thijs de Groot konnte das emotionslose Pokerface des Deputy Director nicht ergründen. Der hatte gerade vom gewaltsamen Ableben eines engen Vertrauten erfahren, gab allerdings schon wieder einsilbige Antworten. Typisch! De Groot beschloss, noch ein Weilchen in seiner Vermutung herumzustochern. „Wollen Sie eventuell näher ins Detail gehen?“
„Hängt ganz davon ab.“ Ein leichtes Grinsen ging über Pedersens Gesicht. Er wollte ihn auf die Probe stellen. Das war krank!
„Wovon?“, fragte de Groot leicht ungeduldig.
„Ob Sie über die nötige Sicherheitsfreigabe verfügen.“
De Groot hätte platzen können. Seine Hände krallten sich an den Armlehnen des Stuhls fest, er musste sich beherrschen. „Haben Sie vielleicht gemeinsame Feinde?“
Laurits Pedersen musste lachen, es klang wie ein Meckern.
„Niemand scheidet aus dem Geheimdienst aus, ohne sich Feinde gemacht zu haben. Das gehört nun einmal zum Job.“ Er atmete tief durch. „Ich weiß Ihre Kooperation in dieser Sache sehr zu schätzen, doch die Ermittlungen sind Ihre Angelegenheit und die der dänischen Behörden. Mit uns hat das nichts zu tun.“
Er traute seinen Ohren nicht.
„Wir haben also kein Problem?“ Lieber auf Nummer sicher gehen.
„Nein. Danke.“ Damit erklärte der Deputy Director das Gespräch für beendet.
„Tja dann.“ Thijs de Groot erhob sich schwer. „Auf Wiedersehen.“
Er war schon an der Tür, als Laurits Pedersen ihn zurückrief. „Agent de Groot, es mag wie persönliche Befangenheit erscheinen, aber ich gebe Ihnen einen guten Rat. Diese Art von Ermittlungen macht Sie schnell zur Zielscheibe. Nehmen Sie sich in Acht vor Ihren ärgsten Feinden, denn die kommen möglicherweise in der Gestalt von Freunden daher.“
De Groot musste lange über diese letzten Sätze nachdenken. Auch abends in der Kneipe, beim vierten Bier. Wohin sollte er sonst? Zu Hause erwarteten ihn nichts als gähnende Leere und Einsamkeit. Lieke Brouwer hatte ihm per E-Mail ihren Obduktionsbericht geschickt. Keine Überraschungen, ihre erste Tatortanalyse behielt Gültigkeit. Im Bierdunst kam de Groot schließlich die Erleuchtung. Der Däne hatte damit mehr gesagt als während der kompletten Befragung. Es war eine Warnung gewesen. Eine Warnung, die verriet, warum Europol bei einem toten norwegischen Staatsanwalt auf Basis eines bloßen Verdachts eingesprungen war, sich in diesem Fall bei ähnlicher Sachlage jedoch zurückhielt. Der Subtext von Pedersens Botschaft schien eindeutig. Das war keine simple Mordermittlung mehr. Im Hintergrund spielten sich ganz andere Dinge ab. Würde er Zakaria Saleem über seinen Verdacht informieren? Nehmen Sie sich in Acht vor Ihren ärgsten Feinden, denn die kommen möglicherweise in der Gestalt von Freunden daher. Thijs de Groot beschloss, dieses Geheimnis vorerst für sich zu behalten. Er wurde nämlich den Eindruck nicht los, dass Adriaen Mulder ihm einen Aufpasser zur Seite gestellt hatte.
Burgemeester Patijnlaan 35
Den Haag
8:30 Uhr
An diesem regnerischen Morgen hatte er sich mit einem üblen Kater aus dem Bett geschält. Das letzte Bier musste schlecht gewesen sein. Immerhin war er pünktlich zum Dienst erschienen. Neues Spiel, neues Glück. Von nun an wollte Thijs de Groot immer pünktlich zum Dienst erscheinen. Also häufiger. Na ja, immer mal wieder. Machte einen guten Eindruck. Je nachdem, wie Laune und Konstitution es zuließen. Für die allernötigste Körperpflege war Zeit gewesen, mehr nicht. Rasieren? Wozu? Nirgendwo stand geschrieben, dass er frisch rasiert zur Arbeit zu kommen hatte.
Er atmete auf, als er das Großraumbüro seiner Einheit betrat. Obwohl de Groot erst seit knapp zwei Wochen hier war, kein Schwein kannte und nicht das allergrößte Bedürfnis danach verspürte, seine neuen Kollegen kennenzulernen, fühlte er sich bereits wie zu Hause. Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Dort hatte definitiv die alte Gewohnheit Einzug gehalten. Aktenstapel über Aktenstapel bildeten einen ansehnlichen Turm. Vielleicht sollte er einige dieser Akten tatsächlich einmal schließen. Andererseits, kein Hahn krähte danach. Er hasste Papierkram und die damit verbundene Ordnung. Im Prinzip war er ein anarchistischer Chaot, schon immer gewesen.
Ihm brummte der Schädel. In seinen unaufgeräumten Schreibtischschubladen wühlte er nach einer Schmerztablette, der Kater musste bekämpft werden. Vorher brauchte ihn niemand anzusprechen. Er wurde fündig, riss die Verpackung auf, ließ die Tablette in den Pott mit pechschwarzem Kaffee fallen, wo sie sich sprudelnd auflöste. Die deutlich effektivere Lösung. Von zu viel Flüssigkeit musste er ständig pissen. De Groot nahm einen Schluck und schüttelte sich vor Ekel. Die Plörre schmeckte genauso beschissen wie die in Rotterdam. Wenigstens war er nun wach.
Jetzt bemerkte er endlich, dass ihm gegenüber Agent Zakaria Saleem an seinem Arbeitsplatz saß. Der war noch eher erschienen, hatte beste Laune und sah aus wie aus dem Ei gepellt.
„Guten Morgen!“, begrüßte Saleem ihn mit einem strahlenden Lächeln.
„Morgen …“, brummte de Groot zurück. Er hätte ihm am liebsten die gute Laune aus der Visage geprügelt.
Saleem warf ihm mehrere Ausdrucke auf den Aktenberg. „Was ist das?“
De Groot machte sich nicht die Mühe, darauf zu schauen. Sein jüngerer Kollege schien vor Stolz zu platzen. Kein Grund, ihn zurückzuhalten.
„Das sind die Verbindungsdaten aus Jonas Nygaards Haus. Mobil und Festnetz.“
„Ja und?“
„Niemand dabei, der mit der Mordnacht in Verbindung steht.“ Zakaria Saleem hatte mit Textmarker eine Nummer hervorgehoben. „Bis auf eine Verbindung, die wir nicht zuordnen können. Anruf vom 1. April um 10:37 Uhr.“
Wenigstens in diesem Punkt war de Groot schlauer als sein Kollege. „Die Nummer gehört zu Laurits Pedersen.“
„Deputy Director von Europol?“, fragte Saleem erstaunt.
„Er und Nygaard kannten sich. Daher das Telefonat.“
„Natürlich. Beide waren beim PET.“ Das also hatte der Schlauberger auch schon herausgefunden. „Woher weißt du das?“ So viel Wissbegierde traute Saleem seinem erfahreneren Kollegen offenbar nicht zu.
Thijs de Groot ging die Dienstbeflissenheit gehörig auf den Geist. Er hatte Kopfschmerzen und noch nichts gegessen. „Mensch, Junge! Ich habe gestern mit ihm gesprochen. Face to face, verstanden? Ich brauche kein verdammtes Internet dafür.“
„Interessant“, bemerkte Saleem. „Was hat er sonst noch erzählt?“
De Groot dachte an Pedersens mahnende Worte und hielt die Klappe. „Was ist mit der Personenbeschreibung von Eleonor Zwaan? Gibt’s da was Neues?“
„Der Zeichner ist heute um elf Uhr bei ihr.“
„Was denn?“ De Groot wurde sauer. „Ich habe dir gesagt, dass du das gestern veranlassen solltest. Was seid ihr nur für ein lahmer Haufen? Die hat bestimmt schon vergessen, was sie uns erzählt hat. So etwas erledigt man zeitnah. Zeitnah! Schon mal davon gehört?“
„Der zuständige Beamte war leider zu einem anderen Fall hinzugezogen worden, eher ging es nicht“, sagte Saleem. „Sind wir denn schon mit den Kameraaufzeichnungen weiter?“
In diesem Moment klingelte de Groots Dienstapparat. Er nahm ab, bellte ein „Ja!“ in den Hörer. Er lauschte, murmelte „Verstanden“, legte auf.
„Die Frage kannst du denen gleich selbst stellen. Das war die dänische Botschaft. Um zehn Uhr sollen wir da sein.“ Er scheuchte seinen Kollegen hoch. „Na los! Ich will irgendwann mal Feierabend machen.“
Koninginnegracht 30
Den Haag
10:00 Uhr
Ihre Waffen, Dienstmarken und Telefone mussten die Thijs de Groot und Zakaria Saleem beim dafür zuständigen Sicherheitsbeamten abgeben. Auf exterritorialem Gebiet waren sie als Niederländer nur Gäste. Und nicht unbedingt geschätzte Gäste, wie de Groot annehmen durfte. Der zweite unterkühlte Empfang. In diesem Fall galt das Misstrauen nicht ihm, sondern seinem Kollegen. Er hatte fast Mitleid mit dem Jungen. Der konnte sich strecken, so viel er wollte, er würde nie einer von ihnen sein.
Man ließ sie im Unklaren darüber, wer sie eigentlich einbestellt hatte. Sie wurden in ein leer stehendes, klinisch reines Dienstzimmer geführt.
Dort lehnte ein Mann lässig am Schreibtisch, der Laurits Pedersen in vielerlei Hinsicht ähnelte. „Die Herren de Groot und Saleem. Sie müssen den Ort unserer Unterredung entschuldigen, die Botschaft bietet nicht allzu viel Platz. Bezeichnenderweise war das das Büro von Jonas Nygaard.“
Die Botschaft war in einem gesichtslosen Neubau untergebracht, nicht größer als ein Wohnblock für sechs Mietparteien. De Groot sah sich im Büro um. So schnell konnte ein Menschenleben zu den Akten gelegt werden.
„Sie haben keine Zeit verloren, hier für Ordnung zu sorgen. Sind Sie dann sein Nachfolger?“
„Mitnichten, Agent de Groot.“ Der unbekannte Däne lachte makaber. „Asger Berg, Chef des dänischen Inlandsgeheimdienstes PET.“
Thijs de Groot hätte sich am liebsten kneifen wollen, das konnte nicht wahr sein! Sie hatten nicht irgendeine von diesen Kellerasseln ans Tageslicht gelockt, sondern die oberste Kellerassel. Er bemühte erst gar nicht die üblichen Höflichkeitsfloskeln des diplomatischen Parketts. „Wie kommen wir zu der Ehre?“
Asger Berg wurde schlagartig ernst. „Wir nehmen die Sicherheit unserer Botschaftsmitarbeiter nicht auf die leichte Schulter.“
De Groot dachte an seine Unterhaltung mit Laurits Pedersen zurück. Der PET nahm vor allen Dingen die Sicherstellung der Unterlagen von Botschaftsmitarbeitern nicht auf die leichte Schulter, was in ihm den Verdacht weckte, Asger Berg hätte hier persönlich für Ordnung gesorgt.
„Offenbar ist Ihnen da was entgangen“, brummte er, „sonst wäre Jonas Nygaard nämlich noch am Leben.“
Der PET-Chef studierte sein Gegenüber von Kopf bis Fuß, wahrscheinlich war er auf der Suche nach etwaigen Schwachstellen. Thijs de Groot brachte das nicht aus der Ruhe, er kannte seine Macken und war daher nicht so leicht zu erpressen.
„Ich gebe Ihnen recht“, gestand Berg schließlich. „Leider haben wir nicht die nötigen Ressourcen, alle Mitarbeiter rund um die Uhr zu betreuen.“
Betreuung – ein Euphemismus für Überwachung!
„Weil wir gerade dabei sind“, sagte Zakaria Saleem. „Herr Nygaards Anwesen wurde videoüberwacht, aber alle Aufzeichnungen der Tatnacht sind aus dem Haus verschwunden. Verfügt die Botschaft über ein Back-up-System? Wir würden Ihre Hilfe sehr zu schätzen wissen.“
„Leider nein“, antwortete Berg. „Herr Nygaard hatte eine Privatfirma mit der Aufrüstung seines Grundstücks beauftragt. Ein geschlossenes System, auf das wir keinen Zugriff haben. Über seine Vorkehrungen hat er die Botschaft nicht informiert. Ich bin genauso überrascht wie Sie.“
Saleem schien ihm die Begründung nicht ganz abzukaufen. „Seine … Vorkehrungen deuten doch darauf hin, dass er sich von irgendjemand bedroht gefühlt haben musste.“
„So kann man das sehen.“
Thijs de Groot hob die Hand, um zu unterbrechen. „Nur damit ich das richtig verstehe. Sie fühlen sich für die Sicherheit der Botschaftsmitarbeiter verantwortlich. Jonas Nygaard war Botschaftsmitarbeiter, Unterlagen wurden entwendet. Wir sprechen mit Ihnen, dem Chef des PET.“ Er machte eine Kunstpause, um den folgenden Fragen besonderen Nachdruck zu verleihen. „Warum? Was entgeht uns? Wer war dieser Mann?“
Asger Berg trat ans Fenster, sah auf die Straße hinaus, bevor er sich schmunzelnd umdrehte. „Ihnen kann man nichts vormachen. Wie schön. Sie wissen mittlerweile bestimmt, dass Nygaard bis vor einigen Jahren für uns gearbeitet hat. Seit geraumer Zeit gehen wir Hinweisen in einem brisanten Fall von Korruption und Landesverrat nach. Nygaard hätte ein wichtiger Zeuge sein können. Nun ist dieser Zeuge tot.“ Er trat auf sie zu. „Ich verstehe Ihre Bauchschmerzen bei dieser Sache. Sie halten es nicht für Zufall, ich halte es nicht für Zufall.“
De Groot ließ Bergs Versuch der persönlichen Ansprache kalt.
„Da wir ja jetzt alle Freunde sind, vielleicht hätten Sie die Güte, uns aufzuklären, wen Sie im Verdacht haben.“ Er hob unschuldig die Arme. „Würde uns die Arbeit massiv erleichtern.“
Asger Berg tat einen Schritt zurück. Er musste erkannt haben, dass er bei ihm mit seiner Mitmenschlichkeitstour auf Granit biss. „Alles zu seiner Zeit. Erst muss ich wissen, ob ich Ihnen vertrauen kann. Die Situation ist … delikat.“
„Jeder Mordfall ist delikat“, konterte de Groot. „Menschen sterben.“
Der PET-Chef schüttelte leicht den Kopf. „Ich kenne Ihre Vorgeschichte, Agent de Groot. Es wäre wichtig, dass Sie Ihre Informationen nicht mit Europol teilen.“
Jetzt war es an ihm aufzulachen, was wie ein Grunzen klang. Er konnte die Scheiße im Raum riechen, seit sie ihn betreten hatten. Wenigstens wusste er jetzt, aus welcher Richtung der Wind wehte. Die Superpolizisten stießen also nicht nur bei ihm nicht auf Gegenliebe. Der Feind meines Feindes … Für ihn dennoch kein Grund, der Logik aus diesem Dreiecksverhältnis zu folgen und sich mit dem Dänen zu verbrüdern.
„Wenn Sie meine Vorgeschichte kennen, wissen Sie, dass ich keinerlei Lust verspüre, auch nur einen Informationsschnipsel mit denen zu teilen.“ Wie schön er das gesagt hatte, denn es bedeutete nicht, dass er diese Möglichkeit von vorneherein ausschloss.
Zakaria hatte seinen Winkelzug offenbar nicht verstanden, wollte etwas sagen, wurde aber durch einen kurzen Stoß in die Rippen von de Groot zum Schweigen gebracht. Das machte es noch glaubwürdiger.
„Reicht das als Vertrauensbeweis?“
Asger Berg gab sich mit dieser Placeboversicherung zufrieden. „Fürs Erste. Denn wir vermuten, dass sich unsere Ermittlungen auch auf Elemente bei Europol erstrecken werden.“
„Gegen wen?“, wollte Saleem wissen.
„Das wiederum darf ich Ihnen nicht sagen.“ Er reichte ihnen zum Abschied die Hand und gab ihnen seine Visitenkarte. „Ich werde sehen, wie wir Sie unterstützen können.“
Mit einem kurzen Kopfnicken zum Sicherheitsbeamten ließ er sie hinausbringen.
Eines musste man Agent Zakaria Saleem lassen, so ein schlechter Ermittler war er nicht. Er kaufte dem Dänen die aufgetischte Geschichte genauso wenig ab wie de Groot.
„Von welchen Ermittlungen redet er da?“, fragte er. „Geheimdienste haben lediglich Informationen zu beschaffen, die Ermittlungen führen andere.“
„Kann uns egal sein“, erwiderte de Groot. „Wir müssen einen Mord aufklären. Sollen die sich gegenseitig ihre Sandkastenförmchen klauen.“
Saleem hielt ihn zurück. „Warum hast du Berg nichts von deinem Gespräch mit Pedersen erzählt?“