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Zwei Mädchen verschwinden – für eines von ihnen ist es bereits zu spät …
Der erschütternde nächste Fall von Tinus Geving
Im spanischen Ort Alfarnatejo wird die siebenjährige Alina entführt. Tinus Geving und sein Team von EUROPOL beginnen in diesem Fall zu ermitteln, der stark an einen ungelösten Mord von vor vierzig Jahren erinnert. Die Fakten sind nahezu identisch, denn auch das Mädchen von damals war sieben Jahre alt und hieß Alina. Die Polizei ging damals von einem sexuellen Gewaltverbrechen aus, doch der Fall konnte nicht gelöst und der Täter nie gefasst werden. Nun gilt es herauszufinden, ob es sich um einen Nachahmungstäter handelt, oder ob der Täter von damals wieder zugeschlagen hat. Für den Kriminalhauptkommissar ist eines klar: Er muss den vergangenen Fall noch einmal aufrollen. In einem Wettlauf gegen die Zeit stoßen Geving und sein Team auf eine Verschwörung, die bis in die Spitze der Regierung reicht …
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Totenruhe.
Erste Leser:innenstimmen
„Wieder ein absolut packender Thriller von Arvid Heubner, ich kann die Reihe nur empfehlen.“
„beklemmend, schockierend, spannend!“
„Ein Kriminalfall rund um politische Verbrechen und Verstrickungen, der von Seite 1 an überzeugen kann.“
„In einem Rutsch durchgelesen – fesselnd geschrieben und durchgehend interessant und unterhaltsam.“
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Seitenzahl: 267
Im spanischen Ort Alfarnatejo wird die siebenjährige Alina entführt. Tinus Geving und sein Team von EUROPOL beginnen in diesem Fall zu ermitteln, der stark an einen ungelösten Mord von vor vierzig Jahren erinnert. Die Fakten sind nahezu identisch, denn auch das Mädchen von damals war sieben Jahre alt und hieß Alina. Die Polizei ging damals von einem sexuellen Gewaltverbrechen aus, doch der Fall konnte nicht gelöst und der Täter nie gefasst werden. Nun gilt es herauszufinden, ob es sich um einen Nachahmungstäter handelt, oder ob der Täter von damals wieder zugeschlagen hat. Für den Kriminalhauptkommissar ist eines klar: Er muss den vergangenen Fall noch einmal aufrollen. In einem Wettlauf gegen die Zeit stoßen Geving und sein Team auf eine Verschwörung, die bis in die Spitze der Regierung reicht …
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits erschienenen Titels Totenruhe.
Überarbeitete Neuausgabe Juli 2022
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98637-886-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-887-5
Dies ist eine überarbeitete Neuauflage des bereits 2021 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Totenruhe (ISBN: 978-3-96817-582-9).
Copyright © 2018, Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2018 bei Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG erschienenen Titels Alina (ISBN: 978-3-42621-691-0).
Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © David CJ, © brickrena, © Voyagerix, © pal1983 neo-stock.com: © Tom Parsons Lektorat: Nadine Buranaseda, typo18, Bornheim
E-Book-Version 20.08.2024, 13:22:08.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Unser Leben ist der Fluss, der sich ins Meer ergießt, das Sterben heißt.
Federico García Lorca
Sierra de Cebollera
Bei Alfarnatejo
20. November 1975
09:41 Uhr
Asael Benavides, Leutnant der Polizei von Alfarnatejo, verharrte am Ufer des ausgewaschenen Flussbetts inmitten von Geröll und entwurzelten Pyrenäeneichen, die die Wassermassen aus den Bergen der Sierra de Cebollera mit sich gerissen hatten. An dieser Flussverengung staute sich das Treibgut nach der letzten großen Flut. In den Höhenlagen sanken die Temperaturen rapide, die Regenfälle der Novemberstürme waren längst in Schnee übergegangen.
Die Brücke der kleinen Passstraße über den Gebirgsfluss musste freigeräumt werden, ehe noch größerer Schaden angerichtet würde. Benavides und seine bis auf die Knochen durchnässten Kollegen beaufsichtigten jedoch nicht das Fortschreiten der Aufräumarbeiten. Er konnte die Tränen nur mühsam unterdrücken, der Anblick war zu viel für ihn. Unter zwei ineinander verkeilten schweren Baumstämmen lag eine Kinderleiche begraben. Völlig nackt, verschmutzt und ungeschützt. Das pechschwarze Erdreich bildete auf dem aufgedunsenen und verkrusteten, fast weißen Körper des toten Mädchens einen scharfen Kontrast.
Benavides schluckte die Tränen hinunter. Er musste jetzt funktionieren, denn der Staatsanwalt befand sich bereits in Sichtweite.
Anaías Betancourt stand am Beginn seiner Karriere. Der junge Schönling mit geföhntem Seitenscheitel passte nicht ins Bild. Über seinem Anzug trug er einen grauen Mantel, dazu feines Schuhwerk. Hatte ihn niemand über den Fundort informiert? Der Staatsanwalt schlitterte die aufgeweichte Böschung zu Benavides hinunter, fast wäre er gefallen. Mit düsterer Miene näherte er sich ihm. Man konnte nicht sagen, ob sich sein Gesichtsausdruck auf den grausamen Fund bezog, den Waldarbeiter gemacht hatten, oder schlichtweg auf die Tatsache, dass er seine Kleidung ruinierte.
Grußlos kam Betancourt sofort zur Sache. »Was haben wir?«
»Die Leiche eines siebenjährigen Mädchens«, sagte Benavides. »Wurde hier wahrscheinlich angespült. Die Hunde haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu begraben.«
Anaías Betancourt ließ der Anblick ebenfalls nicht unberührt, vermutlich seine erste Leiche.
Er ging in die Hocke, beugte sich über das junge Opfer. »Wie Müll entsorgt. Woher wissen Sie, dass das Opfer erst sieben Jahre alt war?«
Trotz des jämmerlichen Zustands hatte Benavides das immer noch hübsche Gesicht sofort erkannt. Die sanft geschwungenen Lippen, die Wangen, in denen sich zu Lebzeiten bei ihrem ansteckenden Kinderlachen niedliche Grübchen gebildet hatten. Die Sommersprossen, das von Blattwerk verklebte lange rotblonde Haar.
»Das Opfer heißt Alina Rosales Magana. Verschwunden seit Ostersonntag dieses Jahres. Ihre Eltern leben in Alfarnatejo.«
Wieder kamen die Tränen. Er musste an ihre Eltern denken. Das Leid! Nach allem, was sie in den vergangenen Monaten hatten durchmachen müssen, würde er ihnen nun diese erschütternde Nachricht überbringen müssen.
Der Staatsanwalt richtete sich wieder auf. »So lange schon? Wieso hat man uns darüber nicht informiert?«
Diese Frage konnte Betancourt eigentlich selbst beantworten. Wut trat an die Stelle von Trauer. Asael Benavides konnte nicht länger schweigen.
Mit zu Fäusten geballten Händen brach es aus ihm heraus. »Die waren es! Die haben sie auf dem Gewissen!«
Der junge Staatsanwalt wurde bleich, er musste schlucken. Er machte eine beschwichtigende Geste. »Bitte keine voreiligen Schlüsse. Das wissen wir nicht.«
»Wir wissen es! Wir haben zugeschaut und uns mitschuldig gemacht!«
Betancourt und Benavides blieb keine Gelegenheit zu weiterer Diskussion. Ein Polizeibeamter trat an sie heran. »Verzeihung. Über Funk wurde gerade durchgegeben, wir sollen das Radio für eine Sondermeldung einschalten.«
Benavides und der Staatsanwalt eilten zurück zu den Streifenwagen. Die Sondersendung hatte gerade begonnen. Es war zehn Uhr.
Aus den Lautsprechern erklang blechern die tränenerstickte Stimme des Ministerpräsidenten Carlos Arias Navarro. »Spanier, Franco ist tot.«
Palencia
21:37 Uhr
Ein Trommelschlag, Kettenrasseln, kurze Kommandos. Langsam und bedächtig setzte der Prozessionszug seinen Marsch durch Palencias Innenstadt fort.
In der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, die am Ufer des Flusses Carrión im Nordwesten der Hochebene Tierra de Campos lag, führte die Procesión del Santo Entierro wie an jedem Karfreitag von der gotischen Kathedrale zur Bruderschaft des Heiligen Grabes.
Die rhythmisch pulsierenden, nahezu hypnotisierenden Trommelklänge wurden von den absichtlich verstimmten Trompeten der Polizeikapelle abgelöst, die der eigentlichen Prozession voranging. Getragene Marschmusik bestimmte das Tempo.
Dahinter schritten die Mitglieder einer der ältesten und bedeutendsten katholischen Vereinigungen des Landes, zu deren Schirmherren neben dem Nationalen Polizeikorps der spanische König höchstselbst zählte.
Zu solchen Anlässen hüllte sich die Bruderschaft des Heiligen Grabes in ihr traditionelles Ornat: weiße Kutten, rote Knöpfe. Weiße Schuhe, rote Schnallen. Weißer Umhang, roter Saum.
Der Kapelle mit ihren schaurig anrührenden Melodien folgten die Träger des Führerkreuzes und der Standarten, auf denen das Symbol der Bruderschaft prangte: das rote Kreuz des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem.
Danach die Nazarener, jene barfüßigen Büßer, die zu ihrem Ornat die charakteristischen, Furcht gebietenden Spitzhauben trugen. Diese bedeckten – mit Ausnahme der engen Sehschlitze – das gesamte Gesicht, um die Anonymität des Bußakts zu unterstreichen. Man nannte diese reumütigen Christen daher capuchones – Kapuzenträger.
Zu den Nazarenern gesellten sich die penitentes – Büßer, die die Last mehrerer Holzkreuze auf sich nahmen. Via crucis.
Schließlich die pasos, tischförmige Konstruktionen mit Statuetten. Darunter die santo sepulcro, ein im gläsernen Sarg aufgebahrter, vom Kreuz genommener Jesus, und die sehr realistische, in leuchtenden Rot- und Blautönen gehaltene Marienfigur Virgen de los Siete Cuchillos. Die pasos mit einem Gewicht von mehreren Tonnen wurden auf Schultern getragen. Ein gefährliches Wagnis. Die Träger liefen so dicht hintereinander, dass der Hintermann nur seinen Vordermann sehen konnte. Man musste sich auf die sekundengenauen Anweisungen von Begleitern – die unermüdlich zwischen allen Fronten hin und her gingen – und deren Kommandos zum Auf- oder Absetzen und zum Marschieren verlassen. Gefährlich auch deshalb, weil die pasos nach allen Seiten hin wankten wie eine Hängebrücke im Sturm. Nach rechts, nach links. Auf und nieder. Immer drohend vornüberzukippen. Die schaukelnden Schritte ergaben sich beinahe organisch aus der verstimmten Marschmusik. Nach beiden Seiten der schmalen Straße hin wurde der Prozessionszug von Trägern goldener Palmwedel eingerahmt.
Am Schluss die in schwarzer Spitze gekleideten Verehrerinnen, die ab und an mit heiseren Stimmen die Madonna anriefen.
Palencias Einwohner behaupteten mit einem gewissen Stolz, hier sei Spanien am spanischsten. Wie tief verwurzelt der Glaube immer noch war, ließ sich daran ermessen, dass nicht nur Erwachsene zu den Büßern zählten. Es gab auch »kleine Büßer«, Kinder und Jugendliche.
Dieses Bild bot sich der schweigenden und staunenden Menschenmenge, die die Calle Mayor Principal, Palencias Haupteinkaufsstraße, um diese Abendstunde bevölkerte. In den umliegenden Straßen und Gassen herrschte andächtige Ruhe. Man musste nicht religiös sein. Der Faszination des Geschehens vermochte sich niemand zu entziehen.
Es war Semana Santa. Hier wie in allen Städten und Regionen Spaniens, von Andalusien über Katalonien bis in die Extremadura, wurde die heilige Woche ausgiebig zelebriert. Jeder Tag von Palmsonntag bis Ostersonntag hielt solche und ähnliche Prozessionen bereit. Der Höhepunkt des Kirchenjahrs.
Im Herzen der autonomen Region Kastilien-León, auf beinahe achthundert Metern über dem Mittelmeer, steckte der Frühling in den Kinderschuhen. Schnee bedeckte die umgebenden Gipfel der iberischen Gebirge. Zu dieser vorgerückten Stunde lagen die Temperaturen nahe am Gefrierpunkt.
Av. Simón Nieto, 8
Palencia
21:41 Uhr
Die örtliche Dienststelle des Nationalen Polizeikorps war in einem modernen, großzügig angelegten Gebäude in der Nähe des Bahnhofs der Achtzigtausend-Einwohner-Stadt beheimatet. Modern nach innen, traditionell nach außen. Die sandsteinfarbene Architektur mit ihren hohen Glasfassaden und den stilisierten Dachzinnen erinnerte an eine Burganlage im maurischen Stil.
An diesem hohen Feiertag wurde gearbeitet. Das Nationale Polizeikorps begleitete die Prozession nicht nur vor Ort, man verfolgte sie außerdem sehr aufmerksam auf Monitoren.
»Im Blumenmeer der Kalvarienberg«, sagte Inspector Valentina Luna Navaz, die gedankenverloren mit verschränkten Armen die eingespielten Livebilder der Überwachungskameras verfolgte.
Agent Piet Veenstra war irritiert. »Wie bitte?«
»Ein bei uns bekanntes Lied. Kam mir gerade in den Sinn.«
»Sie wären lieber dort, nehme ich an. Ich gebe zu, dass ich den ganzen Trubel nicht so recht verstehe.«
»Piet …«, raunzte seine Kollegin Chloé Lambert ihn mit grimmigem Blick an.
Obwohl sie seit weniger als einem Monat zusammenarbeiteten, wusste Chloé bereits, dass ihr niederländischer Kollege über die seltene Gabe verfügte, zum falschen Zeitpunkt das Falsche zu sagen.
Inspector Navaz nahm es gelassen. »Schon gut, Calvinisten werden es wohl nie verstehen.«
»Etwas mehr Respekt«, sagte Veenstra trocken. »Schließlich haben wir euch aus unserem Land geworfen.«
Chloé verdrehte die Augen, den ganzen Tag ging das nun schon so.
Die spanische Beamtin gab sich noch nicht geschlagen. »Hören Sie das Lied, und Ihnen wird sich die ganze Logik erschließen. Wie wäre es mit ein wenig Nachhilfe, wenn das Ganze hier vorbei ist?«
Das würde ihm so passen, dachte Chloé.
Man merkte Valentina Luna Navaz ihre neununddreißig Jahre nicht an. Sie sah aus wie dreißig, was ihr bei der mittäglichen Ankunft der beiden Europol-Beamten schon eine gehobene Braue der nicht minder gut aussehenden Chloé eingebracht hatte.
Valentina Luna Navaz erfüllte mit ihren knapp eins sechzig gerade so die Kriterien der Zugangsberechtigung zum Polizeidienst. Veenstra überragte sie um fast zwei Köpfe. Ihre schlanke Erscheinung täuschte darüber hinweg, dass man ihr besser keinen Widerstand leistete. Sie war nicht nur schlank, sondern auch muskulös. Inspector Navaz verteidigte ihren Titel als spanische Meisterin im Aikido, mit einer Leidenschaft für die freiere Übungsform des Randori. Das glatte blonde Haar hatte sie zu einer mittellangen Bobfrisur arrangieren lassen, der Scheitel fiel keck ins Gesicht – nicht unbedingt polizeikonform. In ihrer Position als Verbindungsbeamtin zu Europol genoss sie sicherlich ein paar Freiheiten. Dazu strahlend blaue Augen.
Chloé konnte sich vorstellen, dass diese Dame ins Beuteschema des manchmal albernen Niederländers passte. Genug der Frühlingsgefühle.
Die spanische Polizei bestach durch Effizienz und exzellente Organisation. Nicht die geringste Kleinigkeit wurde dem Zufall überlassen. Hier hatte Europol ein angenehmes Gastspiel. So wichtig die Absicherung des Prozessionszugs sein mochte, sie war Beiwerk einer wesentlich größeren Operation, die in diesem Moment an ganz anderer Stelle stattfand.
Inspector Navaz schüttelte den Kopf, der hübsche Scheitel fiel dabei tiefer ins Gesicht. Sie blies ihn zurück an Ort und Stelle. »Ich finde es von den Norwegern schon einigermaßen sagenhaft. Wir haben deren Mann im Visier, und die halten es nicht für nötig, uns einen ihrer Verbindungsbeamten zu schicken.«
»Wahrscheinlich war der Riksadvokat genauso überrascht wie wir«, vermutete Veenstra. »Hat ja niemand damit gerechnet, dass der so schnell wieder auf der Bildfläche auftaucht, noch dazu hier.«
»Mit einem kleinen Unterschied: Sie sind da.«
»Hey, es ist Karfreitag, Inspector! Wir hatten gerade nichts Besseres zu tun.«
Ein Polizeibeamter machte ihr Meldung. »Unsere Spezialeinheiten sind vorgerückt und in Position.«
In diesem Moment umstellten Spezialeinheiten der GOES, der Grupos Operativos Especiales de Seguridad, ein Hofanwesen in der Ortschaft Baños de Cerrato, etwa zehn Kilometer südlich von Palencia. Bereits die Römer hatten die dortigen Heilquellen genutzt, um ihre Nierenleiden auszukurieren. Gerade hielt sich dort ein Mann auf, gesucht per europäischem Haftbefehl, und das mit Sicherheit nicht zu Erholungszwecken.
Valentina Luna Navaz widmete ihre Aufmerksamkeit den Monitoren, die die anstehende Aktion in die Dienststelle übertrugen. »Teamleiter, wie ist Ihr Status?«
»Außenbereich umstellt und gesichert. Keine Hinterausgänge. Bereit auf Ihr Zeichen«, lautete die Antwort aus dem Lautsprecher.
»Agent Veenstra, wenn Sie wollen?«
Der hob abwehrend die Hände. »Das ist Ihre Operation, wir sind nur Beobachter. Die Ehre gebührt ganz Ihnen.«
Sie ließ sich nicht zweimal bitten. »Also gut – Zugriff!«
Das bisher ruhige Bild verwackelte nun.
»Auf mein Kommando. Drei, zwei, eins …«, sagte der Teamleiter im Flüsterton. Ein dumpfer Schlag, die Eingangstür wurde eingetreten. »Los, los, los!«
Einheiten rückten schnell vor und drangen in das Haus ein, der Träger der Helmkamera folgte an letzter Stelle. Mit gehobenen Maschinenpistolen wurde der enge Hausflur durchquert. Einzelne Mitglieder der Elitetruppe schwärmten in die nicht näher erkennbaren angrenzenden Räume aus. Bereit, die Waffe beim geringsten Anzeichen von Widerstand einzusetzen.
»Gesichert«, wurde mehrfach wiederholt.
»So weit, so gut.« Piet Veenstra hielt den Atem an, die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Am Ende des Flurs eine weitere Tür, die ebenfalls eingetreten wurde. Jetzt wurde es hektisch und laut, auf den Monitoren konnte man für einen kurzen Moment nichts erkennen.
»Keine Bewegung!«
Das Bild wurde wieder klar. Ein Mann saß auf einem Bett, wurde von einem Teammitglied der GOES hochgezogen und mit dem Gesicht nach unten auf den Boden geworfen, während ein zweites Teammitglied ihm Handschellen anlegte, mit erhobenen Waffen abgesichert von den übrigen Spezialeinheiten im Raum.
»Ist ja gut! Wie wäre es demnächst mit Anklopfen?«, war als Protest zu hören.
Das Gesicht des Festgenommenen wurde in die Kamera gehalten. »Ist er es?«
Inspector Navaz sah Chloé fragend an.
Kurzes Kopfnicken.
Schließlich die Bestätigung: »Glückwunsch, Teamleiter! Wir haben Henning Mikkalsen.«
23:15 Uhr
Henning Mikkalsen, von Handschellen befreit, saß der spanischen Verbindungsbeamtin und Lieutenant Chloé Lambert gegenüber. Beide hatten die Aufgabe, ihm das weitere Prozedere zu erläutern.
»Das wird sehr kurz«, eröffnete Valentina Luna Navaz dem Festgenommenen. »Gegen Sie liegt ein Haftbefehl Ihrer Regierung vor. Sie sind uns ins Netz gegangen, der Ermittlungsrichter hat Ihr Auslieferungsgesuch bestätigt. Wir übergeben Sie den norwegischen Kollegen. Ende der Geschichte. Benötigen Sie einen Rechtsbeistand?«
Der Norweger sah aus, wie sich Chloé einen Ex-Militär vorstellte: kurzer Haarschnitt, durchtrainiert, muskulöse Oberarme. Durchaus nicht unattraktiv, aber gewöhnlich. Seine Umgangsformen wollten nicht zu seiner letzten Stellung als Projektleiter der East African Development Company passen, einer Strohfirma des norwegischen Staatskonzerns NorskOil. Von einem Mann in dieser Position erwartete man Geschmeidigkeit, Diplomatie. Ihnen begegnete ein hartgesottener Typ. Er verkörperte mit jeder Pore seines Körpers den ehemaligen Offizier der Königlichen Garde. Vermutlich war gerade das vonnöten, wenn man mit Diktatoren und Menschenschlächtern am Horn von Afrika ins Geschäft kommen wollte.
Henning Mikkalsen hatte für die einleitenden Worte der Spanierin nur an Arroganz grenzende Belustigung übrig. »Ich garantiere Ihnen, Sie wollen mich gar nicht ausliefern.« Und an Chloé gewandt: »Vielleicht wollte ich geschnappt werden.«
Ihr bereiteten die mysteriösen Umstände seiner unbehelligten Einreise nach Spanien Kopfzerbrechen. Ein Mann mit seiner Erfahrung hatte derlei Spielchen nicht nötig.
Also fragte Chloé misstrauisch: »Sie wollten geschnappt werden?«
»Wenn Sie mich ausliefern, habe ich nicht mehr lange zu leben«, behauptete er.
Sie kannte Mikkalsens Akte, wusste vom traumatischen Irak-Einsatz. Dieser Mann hatte unaussprechliche Dinge gesehen. Wenn er sein Leben bedroht sah, glaubte sie ihm das. Was kein Grund war, sofort darauf einzugehen. Mitgefühl wäre verfrüht. Er sollte sich etwas mehr bemühen.
»Ich kann mir schon vorstellen, dass die Sie nicht gerade mit einer Konfettiparade empfangen. Schließlich waren Sie am tödlichen Komplott gegen Erik-Sondre Bondevik beteiligt. Aber die werden Ihnen unter Garantie nicht nach dem Leben trachten.«
Er ließ sich nicht reizen. »Bei allem, was ich über meinen Auftraggeber weiß, Lieutenant Lambert?«
»NorskOil hat damit nichts zu tun.«
Mikkalsen musste lachen. »Die sind nicht meine Auftraggeber.«
Valentina Luna Navaz sah keinen Sinn darin, das Gespräch fortzusetzen. »Wir verschwenden hier unsere Zeit, Señor Mikkalsen.«
Chloé zog sie zurück auf ihren Stuhl. Sie hatte das Gefühl, dass hinter Mikkalsens Andeutungen mehr stecken musste. »Sie sind als südafrikanischer Diplomat unter dem Namen Oswald Prinsloo gereist. Wer hat Ihnen den Pass besorgt? Wer ist Ihr Auftraggeber? Wozu das Versteckspiel?«
»Mein Aufenthalt in Spanien ist kein Zufall. Ich sollte Informationen übergeben.«
»Informationen«, wiederholte Inspector Navaz ungläubig.
»Informationen, die Ihrem Land massiven Schaden zufügen könnten.«
»In wessen Auftrag?«, wollte die Verbindungsbeamtin wissen.
Das fiese Grinsen im Gesicht des Verhafteten wurde breiter. »Verschwende ich also doch nicht Ihre Zeit?«
Chloé beugte sich nach vorne. »Bevor wir auch nur damit beginnen, Ihr Anliegen ernsthaft in Erwägung zu ziehen, müssten Sie schon etwas mehr liefern.« Ihr Grinsen konnte genauso fies sein wie das des Norwegers.
Er gab nach. »Haben Sie meine Sachen durchsucht?«
»Wir sind dabei«, bestätigte Inspector Navaz.
»Sie werden auf eine externe Festplatte stoßen. Ich gebe Ihnen den Entschlüsselungscode. Sehen Sie sich die Informationen an. Dann reden wir weiter.«
Henning Mikkalsen hatte nicht übertrieben. Er besaß hochbrisante Dokumente von beträchtlichem Wert für die spanische Regierung. Sie würden für Aufsehen in ganz Europa sorgen, sollten sie publik werden.
Valentina Luna Navaz war schockiert. »Ich fasse es nicht, wie konnte er an dieses Material gelangen?«
»Ihre Regierung hat ein Leck.« Das war nicht die einzige schlechte Neuigkeit, mit der Piet Veenstras aufwarten konnte. Er hielt Mikkalsens Diplomatenpass in die Höhe. »Das Dokument ist keine plumpe Fälschung. Die Südafrikaner beschäftigen tatsächlich einen Oswald Prinsloo in ihren Reihen.«
»Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir müssen sein Angebot annehmen.«
»Die Norweger werden fuchsteufelswild sein, Inspector.«
Chloé unterbrach die beiden. »Mikkalsen bleibt vorerst bei uns. Ich habe mit dem Hauptquartier telefoniert, Tinus ist auf dem Weg. Er wird morgen in Madrid die nötigen Einzelheiten klären.«
»Tinus Geving?« Inspector Navaz wurde hellhörig.
»Der und kein anderer«, sagte Veenstra. »In Fällen wie diesem schickt Pedersen sein bestes Pferd ins Rennen. Nach uns natürlich.«
Die Verbindungsbeamtin wirkte plötzlich erleichtert. »Das verlief ja ziemlich reibungslos.« Sie wechselte das Thema. »Sagen Sie, was haben Sie über die Feiertage vor?«
Die Spanierin unterbreitete ihnen ein Angebot, das sie unmöglich ablehnen konnten. Am allerwenigsten Piet Veenstra, der bis über beide Ohren strahlte.
Calle Ruiz de Alarcón, 23
Madrid
08:45 Uhr
»Kaiser Karl V. zu Pferd in Mühlberg. Es ist interessant: Der Maler bezieht sich auf das berühmte Reiterstandbild des Mark Aurel. Sehen Sie nur Karls gelassenen Umgang mit dem Pferd. Ein Kaiser, völlig sicher in seiner Frieden bringenden Intention und fähigen Reichsführung. Ein Kaiser, der sagen konnte: In meinem Reich geht die Sonne niemals unter.«
Zu früher Morgenstunde hatte der spanische Justizminister Anaías Betancourt an diesen ungewöhnlichen Ort gebeten. Kriminalhauptkommissar Tinus Geving fand sich im Villanueva-Flügel des Madrilener Prado ein. Die ausgedehnten Hallen bestachen durch ihre runden Kassettendecken und Oberlichter, die dem Ort eine zeitlose Leichtigkeit verliehen.
»Ich hätte Sie eher für einen Liebhaber El Grecos gehalten«, stellte Geving lapidar fest.
Betancourts Blick hing wie gebannt an Tizians Gemälde, einem der prominentesten Exponate der Kunstsammlung. Er schien den Bann nur sehr ungern brechen zu wollen. »Guten Morgen, Herr Geving. Sie müssen den Ort unseres Treffens entschuldigen. Als Minister hat man nicht immer die Muße.«
Der Justizminister sprach ausgezeichnet Deutsch. Geving kannte den Mann nicht persönlich, fand aber, dass er sich für sein Alter – er ging auf die siebzig zu – erstaunlich gut gehalten hatte. Kaum eine graue Strähne im sorgfältig geföhnten und gescheitelten Haar. Bei der Auswahl seiner Garderobe legte der Politiker große Sorgfalt an den Tag, nichts überließ er dem Zufall. Geving ging so weit, den Mann als »eitel« zu bezeichnen. Eine Charakterschwäche, die ihm bestens vertraut vorkam.
»Vor Öffnung des Museums ist man wunderbar ungestört«, fuhr Betancourt fort. »Ein Vorteil, wenn man Mitglied des Stiftungsrats ist. Wie war Ihr Flug?«
»Überpünktlich.« Iberia-Piloten waren dafür bekannt, die Schubstrahlregler auf Anschlag durchzuziehen und so den Zielflughafen vor der Zeit zu erreichen.
»Ihren Kollegen ist da ein dicker Fisch ins Netz gegangen.«
»Was zu beweisen wäre, Herr Justizminister.« In seiner Einsilbigkeit konnte Geving als gebürtiger Westfale zermürbend sein, wenn er wollte.
Betancourt störte das nicht. »Mikkalsens Informationen, haben Sie sie gesehen?«
»Es ist wahr. Sollten diese Dokumente an die Öffentlichkeit gelangen, können Sie einpacken.«
»Wir sind auf der Suche nach der undichten Stelle. Eine Quelle im Finanzministerium spielt gegen uns.«
Geving hatte eine abweichende Vermutung. »Wie kommen Sie darauf, dass es Ihre Leute waren? Was ist mit der Bank?«
»Die Regierung arbeitet nicht zum ersten Mal mit der Deutsch-Niederländischen Privatbank ter Hoorst zusammen. Sie sind absolut diskret und neutral. Keine unserer eigenen Banken wäre zu solch einem schonungslosen Blitzstresstest imstande.«
Tinus Geving hatte nicht geschlafen. Wenn er nicht geschlafen hatte, brachte er für lange Vorreden keine Geduld auf. Er kürzte die Sache ab. »Vierzig Milliarden Euro fehlendes Kapital sind eine Menge Holz. Die Hälfte Ihrer Kreditinstitute benötigt dringend frisches Geld. Vierzig Milliarden gute Gründe für den Markt, auf einen Zusammenbruch des spanischen Bankensystems zu wetten.«
»Sie halten mit Ihrer Meinung ja nicht gerade hinterm Berg«, stellte der Justizminister fest.
»Ich gehe den Problemen auf den Grund. Dabei nehme ich keine Rücksicht.«
Anaías Betancourt schien weder beleidigt noch irritiert zu sein. »Ich schätze Offenheit. Fahren Sie fort.«
»Sie sind alarmiert. Ihre Regierung hat die Zahlen nur aus einem Grund unter Verschluss gehalten. Sie blasen das Wirtschaftswachstum künstlich auf und wollen verhindern, dass Ihre europäischen Partner davon erfahren.«
»Alle Achtung! Sie sind äußerst scharfsinnig. Dabei haben Sie eine entscheidende Komponente vergessen: Politik.«
»Ich interessiere mich nicht für Politik.«
»Alles daran ist politisch! Unsere letzte Parlamentswahl hat keine klare Mehrheit zustande gebracht. Wenn bis zur nächsten Woche keine Bildung einer neuen Regierung gelingt, wird der König die Auflösung des Parlaments einleiten. Dazu die Separatismusbestrebungen von Katalanen und Basken. Würde herauskommen, dass wir vorhaben, die fehlenden Milliarden für die Finanzierung der Banken über Umverteilungen im Haushaltsplan, Rentenkürzungen und versteckte Steuererhöhungen zu bekommen, wäre die Katastrophe vorprogrammiert.«
»Wahlbetrug«, sagte Geving.
»Eine vorübergehende Maßnahme, Kriminalhauptkommissar Geving. Bei den jetzigen Prognosen lachen wir am Ende des Jahres darüber.«
»Sie wollen neuer Ministerpräsident werden, wie ich höre.« Geving interessierte sich nicht für Politik. Er fand die Spielchen kleinlich und lästig. Gut informiert war er jedoch.
Betancourt schmunzelte. »Wollen Sie nicht lieber für mich arbeiten? Ihren scharfen Sachverstand, der keine Rücksicht auf Verluste nimmt, könnte ich gebrauchen.«
Er winkte ab. »Danke, aber nein danke!«
»Was halten Sie von Mikkalsens Offerte?«
»Ich denke, da ist noch mehr. Der Mann ist gut vernetzt. Vermutlich vertritt diese Bank, ter Hoorst, in erster Linie die eigenen Interessen.«
»Sie wetten auf den Zusammenbruch unseres Bankensystems und scheffeln damit viel Geld.« Anaías Betancourt war offensichtlich von Gevings These überzeugt.
»Da die Bank den Stresstest im Auftrag Ihrer Regierung durchgeführt hat, wäre das Insiderhandel und damit unser Ermittlungsgebiet. Europol wird Henning Mikkalsen auf den Zahn fühlen. Diese Zusicherung von Laurits Pedersen kann ich Ihnen geben.«
Der Justizminister war erfreut. »Unsere Unterstützung haben Sie. Die Norweger hingegen werden nicht glücklich sein.«
»Darum kümmert sich Pedersen. Seine Beziehungen zu Riksadvokat Storm Thingnes Lyngstad sind ausgezeichnet. Wir beabsichtigen, Mikkalsen Anfang nächster Woche nach Den Haag zu überführen.«
»Haben Sie vor zu bleiben?«
»Für eine halbe Stunde mit dem spanischen Justizminister hätte ich mich am Osterwochenende kaum ins Flugzeug gesetzt.«
»Urlaub?«, fragte der interessiert.
»Ab und zu sollte man das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.« Geving wies in die Hallen des Prado. »Sie verstehen schon.«
Betancourt lachte. »Selbstverständlich. Wo soll es denn hingehen?«
»Wir haben eine Einladung von Inspector Navaz in die Sierra de Cebollera. Ein kleiner Ort: Alfarnatejo.«
Das Lachen blieb dem Justizminister abrupt im Hals stecken. Hatte Geving etwas Falsches gesagt?
Betancourt hatte sich da schon wieder gefangen. Alfarnatejo …«
»Schon mal dort gewesen?«
Betancourt konnte die entspannte Fassade nur mühsam aufrechterhalten. »Äh, möglich, dass ich schon mal dort gewesen bin. Ist lange her. Wenn das alles wäre?«
»Natürlich, Herr Minister. Schöne Osterfeiertage«, verabschiedete sich Geving.
»Danke, Ihnen auch.«
Anaías Betancourt verließ zügig die Hallen des Museums, ohne sich noch einmal nach Geving umzublicken.
Nein, der Justizminister hatte sich nicht gefangen, dazu war er zu blass im Gesicht, als hätte er ein Gespenst gesehen. Für einen winzigen Moment hatte Tinus Geving in dessen Augen noch etwas anderes erkennen können: Angst.
Calle Orellana, 2
Madrid
10:11 Uhr
War es möglich, dass dieser Deutsche davon wusste? Er hatte von Tinus Gevings Fähigkeiten gehört, die Leute zu durchschauen, als wären sie gläserne Menschen. Nein. Wie sollte er? Niemand wusste davon. Nicht einmal der König, geschweige denn der Nochministerpräsident. In einem nämlich war Anaías Betancourt dem Europol-Ermittler gegenüber nicht ganz aufrichtig gewesen. Am Dienstag würde der Hof keine andere Möglichkeit haben, als ihn, Betancourt, mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen. Ein gut gehütetes Geheimnis vor der Presse.
Nein, niemand konnte dieses Geheimnis kennen. Nur seine Verbündeten von einst. Verbündete wider Willen.
»Sie kommen spät. Das sieht Ihnen nicht ähnlich.«
»Zunächst habe ich meine Privatmine in Pascualgrande geschlossen.«
»Will ich das so genau wissen?«
»Gute Einstellung, Betancourt. Sie werden es noch weit bringen. Vorausgesetzt …«
»Sie haben, was Sie wollten.«
»Dafür haben Sie bekommen, was Sie wollten. Wozu macht uns das? Zu Partnern.«
»Täuschen Sie sich nicht. Ich mache mir für Sie nicht die Hände schmutzig.«
»Das haben Sie doch längst. Sie unterschätzen die Macht der Verdrängung …«
Anaías Betancourt hatte es schon verdrängt. Vergessen konnte ein Segen sein. Kam jetzt alles so plötzlich wieder?
All das lag vierzig Jahre zurück. Exakt vierzig Jahre.
Er hielt sich für einen Mann des Erfolgs. Immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Damals wie heute. Mikkalsen hatte die Dokumente so geliefert, wie es von Anfang an geplant gewesen war. Europol hatte keine Ahnung, woran es sich beteiligte. Auch Mikkalsen wusste von nichts. Er würde keine Gefahr darstellen. Der General und seine Leute kümmerten sich um den Rest.
Betancourt hielt jetzt ein Druckmittel gegen seinen ärgsten Konkurrenten um die Macht in der Hand. Die Geschichte mit den unterschlagenen Stresstests würde der Sargnagel für die Karriere des amtierenden Regierungschefs sein. Sollte es publik werden, er würde ein Misstrauensvotum im Parlament nicht überleben. Zeit, ihn gegen einen Mann auszutauschen, der über das uneingeschränkte Vertrauen der Abgeordneten verfügte. Ihn, Betancourt, die graue Eminenz. Er würde nicht länger nur graue Eminenz sein.
Anaías Betancourt verschob die unangenehmen Erinnerungen an längst vergangene Tage in die entlegensten Regionen seines Gedächtnisses. Nichts und niemand würde noch Fragen dazu stellen. Er konnte sich entspannt zurücklehnen und genießen, wie der Wandel der Zeit für ihn arbeitete. Damals wie heute.
14:37 Uhr
Wie so oft sollte Tinus Geving recht behalten. Er hatte es geradezu kommen sehen. Der Tod des norwegischen Sonderermittlers Erik-Sondre Bondevik. Die verschwundenen dreizehn Millionen Euro, denen er auf die Spur gekommen war. Das Bekennerschreiben der Korsischen Nationalen Befreiungsfront. Ghjuvan Francescu Santini, Bondeviks Mörder, der auf die gleiche Weise ums Leben gekommen war wie sein Opfer. Dieser Fall hinterließ mehr lose Enden, als seine Vorgesetzten zuzugeben bereit waren. Allen voran Laurits Pedersen, von dem sich Geving aufs Abstellgleis geschoben fühlte. Der Deputy Director hatte es auch dann nicht für nötig befunden, ihn zu involvieren, als Henning Mikkalsen längst ins Visier der spanischen Justiz geraten war.
Er hatte Pedersen ja gewarnt. Und so hatte es etwas unfreiwillig Komisches, dass sich der Deputy Director – kaum einen Monat nach den Ereignissen von Paris und Oslo –genötigt sah, Tinus Geving mit Henning Mikkalsens Auslieferung zu betrauen. Geving konnte keine Genugtuung darüber empfinden. Im Gegenteil, sie hatten wertvolle Zeit verloren.
Wenn die Norweger wussten, dass man Mikkalsen festgenommen hatte, dann wussten es auch jene Kräfte, die an der Vertuschungsaktion mit den geraubten NorskOil-Millionen beteiligt gewesen waren. Geving musste in diesem Punkt keine Beweisführung antreten. Anders konnte es nicht gewesen sein.
Er blickte aus dem Autofenster hinaus in die karge Leere. Die unaufhörlich näher kommenden iberischen Berge waren wolkenverhangen. Kaum ein Baum zierte die vorbeiziehende Landschaft, kaum ein Tier, kaum ein Mensch, kaum ein Auto. Nur trübes Graugrün. Die Luft roch klamm.
Geving war mit dem Zug aus Madrid angereist. Aus einer Stadt, die ihm vertraut war, in eine ihm völlig fremde Gegend. Irgendwie fühlte er sich fehl am Platz. Hätte Chloé ihn nicht abgeholt, wäre er sich sogar verloren vorgekommen.
Sie hatte keine Mühe gehabt, ihn zu diesem Ausflug zu überreden. Ein wenig Entspannung im Kreise derer, die ihm am nächsten standen, tat sicher gut. Und er war ihr nahe. Noch nie hatte er sich zu einem Menschen so schnell hingezogen gefühlt.
Die Sierra de Cebollera näherte sich unerbittlich mit jedem Kilometer. Etwas Dunkles ging von ihr aus. Dunkel, kalt, schroff und Furcht einflößend.
Was ließ ihn so sensibel reagieren? So kannte er sich überhaupt nicht. So klein.
Chloé musste erkannt haben, welch düsteren Gedanken er nachhing. Viel zu lange ertrug sie sein Schweigen nun schon. »Worüber denkst du nach?«
Worüber dachte er eigentlich nach? »Alfarnatejo – was wissen wir über diesen Ort?«
»Was möchtest du darüber wissen?« Schweigen. »Alles in Ordnung mit dir?«
Er atmete tief durch, versuchte sich zu entspannen. »Das Gespräch mit dem Justizminister. Es verlief etwas unerwartet.«
»Probleme?«
»Ich weiß nicht. Es ist …« Ja, was war eigentlich? Wieso reagierte Anaías Betancourt, ein gestandener Politiker, unvermittelt so verstört? Wie war es ihm gelungen, Geving mit Furchtsamkeit zu infizieren? Er tat es ab und fuhr fort. »Es ist nichts.«
Chloé sah ihn mit ihrem Lächeln an. Das zauberhafte Grübchen auf der linken Wange. »Jetzt mach dich mal locker. Glaub mir, das wird lustig!«
Bei ihrem Anblick verflog jeder düstere Gedanke. Er rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Ja, du hast recht.«
Tinus Geving hätte nicht aus dem Fenster schauen sollen. Die dunklen Berge, sie schienen ihn zu erdrücken. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Betancourt hatte etwas zu verbergen. Wer etwas zu verbergen hat, der hat etwas zu befürchten. Sein Lächeln verflog, von Chloé unbemerkt.
Calle Carril de la Fuente, 12
Alfarnatejo
16:03 Uhr
Alfarnatejo mit seiner mittelalterlichen Architektur lag idyllisch in einem schmalen Talkessel. Die nahen Berge bedeckte ewiges Gletschereis. In den Straßen der Stadt, die von einer vollständig erhaltenen Schutzmauer aus der Zeit der Reconquista umringt wurde, verströmten die in dieser Gegend üblichen Kaminöfen den harzigen Geruch von verbrennendem Fichtenholz. Ab und an zogen Klänge von Musikkapellen die Anhöhe hinauf, auf der das Ferienhaus von Valentina Luna Navaz lag. Dazu heiteres Kinderlärmen.
Alfarnatejo war im Grunde ein hübscher Ort, der zum Verweilen einlud. Jedoch, Tinus Geving konnte keine Erklärung dafür finden. Die Kleinstadt hatte etwas Unheilvolles, Morbides an sich. Es erschien ihm, als wollte es in dieser klammen Bergluft niemals richtig hell werden.
Valentina Luna Navaz, der sie die Einladung in die spanischen Berge zu verdanken hatte, nahm Geving und Chloé in Empfang. Die Verbindungsbeamtin stellte ihnen für die kommenden Tage großzügig ihr Wochenendhaus zur Verfügung.
Dabei lernten sie Inspector Navaz’ Freundin aus Schulzeiten, Lisseta, und deren Mann Fermín kennen, die das Nachbaranwesen bewohnten. Beide arbeiteten im Justizministerium in Madrid. Sie hatten eine Tochter. Rotblonde Haare, Sommersprossen im Gesicht. Mit einem Blick, der den Schalk in ihr verriet, beobachtete sie den hochgewachsenen Deutschen.
»Hallo, junge Dame«, begrüßte Tinus Geving sie auf Spanisch.
Er war sprachbegabt. Französisch und Englisch, die beiden vorherrschenden Amtssprachen bei Europol, beherrschte er fließend. Spanisch hatte er während seiner Ausbildung gelernt. Es war nicht perfekt, aber gut genug. Für eine kleine Unterhaltung mit dem Mädchen reichte es allemal.
Furchtlos begrüßte sie ihn mit festem Händedruck. »Bist du denn auch ein Polizist?«
Geving zeigte sich von ihrer schnellen Auffassungsgabe beeindruckt. Was hatte ihn verraten? »Das hast du schnell erkannt. Ich heiße Tinus.«
»Tinus? Das ist aber ein lustiger Name. Wie der Clown!« Sie lachte herzerfrischend.