Kalte Asche - Simon Beckett - E-Book + Hörbuch
SONDERANGEBOT

Kalte Asche E-Book

Simon Beckett

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Asche zu Asche, Staub zu Staub, Leben zu Tod Asche ist alles, was von ihr übrig geblieben ist. Fast alles. Als der Rechtsmediziner David Hunter die Überreste der Frau in einem verfallenen Cottage auf der schottischen Insel Runa zum ersten Mal erblickt, weiß er sofort: Dieser Tod war kein Unfall. Er will seine Erkenntnisse dem Superintendent mitteilen, doch die Leitung bleibt tot. Ein Sturm hat die Insel von der Außenwelt abgeschnitten. Da geschieht ein weiterer Mord ... «Die Chemie des Todes» ist der beste Thriller, den ich seit langem gelesen habe. Simon Beckett schreibt atemberaubend gut, sein Stil hat einfach diese gewisse Magie, der man hoffnungslos verfällt.» (Tess Gerritsen)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 557

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Simon Beckett

Kalte Asche

Thriller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Asche zu Asche, Staub zu Staub, Leben zu Tod

 

Asche ist alles, was von ihr übrig geblieben ist. Fast alles. Als der Rechtsmediziner David Hunter die Überreste der Frau in einem verfallenen Cottage auf der schottischen Insel Runa zum ersten Mal erblickt, weiß er sofort: Dieser Tod war kein Unfall. Er will seine Erkenntnisse dem Superintendent mitteilen, doch die Leitung bleibt tot. Ein Sturm hat die Insel von der Außenwelt abgeschnitten. Da geschieht ein weiterer Mord …

 

«Gruseliger geht’s kaum.» (BILD)

 

«‹Die Chemie des Todes› ist der beste Thriller, den ich seit langem gelesen habe. Simon Beckett schreibt atemberaubend gut, sein Stil hat einfach diese gewisse Magie, der man hoffnungslos verfällt.» (Tess Gerritsen)

Über Simon Beckett

Simon Beckett arbeitete als Hausmeister, Lehrer und Schlagzeuger, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Als Journalist hatte er Einblick in die Polizeiarbeit; dieses Wissen verarbeitet er in seinen Romanen. Seine Thriller «Die Chemie des Todes» und «Kalte Asche» standen monatelang auf Platz 1 der Taschenbuch-Bestsellerliste. Für diese Bücher recherchierte er auf der «Body Farm» in Tennessee. Simon Beckett ist verheiratet und lebt in Sheffield.

Für Hilary

Kapitel 1

Bei entsprechender Temperatur brennt alles. Holz. Kleidung.

Menschen.

Ab 250° Celsius fängt Fleisch Feuer. Die Haut wird schwarz und platzt auf. Die subkutane Fettschicht beginnt zu schmelzen wie Butter in einer heißen Pfanne. Bald darauf brennt der ganze Körper. Von den Armen und Beinen greift das Feuer auf den Rumpf über. Sehnen und Muskelfasern ziehen sich zusammen, sodass die lodernden Gliedmaßen sich bewegen, als wäre noch Leben in ihnen. Zuletzt sind die inneren Organe an der Reihe. In Feuchtigkeit eingehüllt, bleiben sie oft selbst dann noch erhalten, wenn das übrige Gewebe schon zerstört ist.

Die Knochen sind jedoch etwas ganz anderes. Sie halten noch den heißesten Feuern stand. Und selbst wenn die Kohlenstoffe verbrannt sind und das Skelett tot und leblos wie Bimsstein zurückbleibt, behalten die Knochen ihre Form. Sie sind dann allerdings nur noch ein fragiler Schatten ihrer selbst, der leicht zerfällt; die letzte Bastion des Lebens verwandelt sich zu Asche. Ein Prozess, der, von wenigen Abweichungen abgesehen, unweigerlich demselben Muster folgt.

Aber nicht immer.

Die friedliche Stille in dem alten Cottage wird von Schritten durchbrochen. Als die verrottete Tür aufgestoßen wird, quietschen die verrosteten Angeln. Tageslicht fällt hinein und wird dann von der Gestalt verdeckt, die in der Tür erscheint. Der Mann bückt sich, um hineinzuschauen. Der alte Hund an seiner Seite wird unruhig, er hat bereits Witterung aufgenommen. Jetzt hält auch der Mann inne, als würde es ihm widerstreben, über die Schwelle zu treten. Als sich der Hund hineinwagt, ruft der Mann ihn zurück.

«Hierher.»

Gehorsam kehrt der Hund um und schaut den Mann mit seinen vom grauen Star trübe gewordenen Augen an. Das Tier spürt die Unruhe seines Herrn.

«Sitz.»

Nervös beobachtet der Hund, wie der Mann in das verfallene Cottage geht. Feuchter Mief umgibt ihn. Und nun macht sich ein weiterer Geruch bemerkbar. Langsam, beinahe widerwillig, geht der Mann hinüber zu einer niedrigen Tür an der hinteren Wand. Sie ist zugefallen. Er will sie aufdrücken, hält aber erneut inne. Hinter ihm jault der Hund leise auf. Der Mann hört es nicht. Behutsam, als hätte er Angst davor, was er zu sehen bekommen wird, öffnet er die Tür.

Doch zuerst sieht er nichts. Der Raum ist dunkel, das einzige Licht fällt durch ein kleines Fenster. Die Scheibe ist gesprungen und mit Spinnennetzen und jahrzehntealtem Schmutz überzogen. In dem schwachen Licht, das hindurchsickert, verbirgt der Raum seine Geheimnisse noch einige Augenblicke länger. Dann, als sich die Augen des Mannes an die Finsternis gewöhnt haben, werden die Einzelheiten sichtbar.

Und er sieht, was in der Mitte des Raumes liegt.

Ihm stockt der Atem, als hätte er einen Schlag abbekommen. Unwillkürlich weicht er zurück.

«O mein Gott.»

Obwohl leise gesprochen, klingen die Worte in der stillen Enge des Raumes unnatürlich laut. Aus dem ohnehin blassen Gesicht des Mannes scheint nun auch das letzte bisschen Farbe gewichen. Er schaut sich erschrocken um. Aber er ist allein.

Rückwärts verlässt er den Raum, als könne er sich von dem Objekt auf dem Boden nicht abwenden. Erst nachdem er über die Schwelle getreten ist und die verzogene Tür quietschend zufällt, dreht er sich um.

Mit wackligen Schritten geht er nach draußen. Der alte Hund begrüßt ihn, doch der Mann nimmt ihn nicht wahr. Er greift in die Manteltasche und zieht eine Zigarettenschachtel hervor. Seine Hände zittern so, dass er drei Versuche braucht, sein Feuerzeug zu entzünden. Er zieht den Rauch tief in seine Lungen, die Glut knistert rasch auf den Filter zu. Als er die Zigarette aufgeraucht hat, hat sich sein Zittern gelegt.

Er lässt die Kippe ins Gras fallen und tritt sie aus, beugt sich dann hinab und hebt sie auf. Nachdem er sie in die Manteltasche gesteckt hat, holt er tief Luft und geht los, um zu telefonieren.

 

Ich war gerade auf dem Weg zum Glasgower Flughafen, als mich der Anruf erreichte. Es war ein fürchterlicher Februarmorgen, der Himmel war mit grauen Wolken verhangen, und der kalte Wind trieb deprimierenden Nieselregen übers Land. Gegen die Ostküste peitschten Orkanböen, und obwohl sie noch nicht so weit ins Landesinnere gekommen waren, sah es nicht vielversprechend aus.

Ich hoffte nur, dass das Schlimmste erst käme, wenn mein Flugzeug schon gestartet war. Ich befand mich auf dem Rückweg nach London und hatte die vergangene Woche damit zugebracht, eine in den Grampian Highlands gefundene Leiche erst zu bergen und dann zu untersuchen. Es war eine undankbare Aufgabe gewesen. Der Boden des Hochmoores war gefroren und mit Raureif überzogen, es war dort oben zwar atemberaubend schön, aber auch eiskalt gewesen. Bei dem verstümmelten Opfer hatte es sich um eine junge Frau gehandelt, die bislang nicht identifiziert worden war. Es war die zweite derart zugerichtete Leiche in den Grampians gewesen, bei deren Bergung man mich im Lauf der letzten paar Monate um Mithilfe gebeten hatte. Noch war nichts davon an die Presse weitergegeben worden, aber keiner der Ermittlungsbeamten zweifelte daran, dass für beide Taten ein und derselbe Mörder verantwortlich war. Einer, der weitermorden würde, wenn man ihn nicht fasste, und danach sah es im Moment nicht aus. Was die Sache noch schlimmer machte, war – obwohl man es bei der fortgeschrittenen Verwesung nur schwer mit Gewissheit sagen konnte –, dass die Verstümmelungen wahrscheinlich nicht erst nach Todeseintritt zugefügt worden waren.

Alles in allem war es also eine äußerst frustrierende Reise gewesen, und ich freute mich darauf, nach Hause zu kommen. Seit achtzehn Monaten lebte ich in London und arbeitete am Forensischen Institut der Universität. Ich hatte einen befristeten Vertrag, der mir Zugang zu den Laboreinrichtungen verschaffte, bis ich irgendwo eine dauerhafte Anstellung finden würde. In den vergangenen Wochen war ich jedoch wesentlich häufiger draußen an Tatorten gewesen als in meinem Büro. Ich hatte meiner Freundin Jenny gesagt, wir würden nach diesem Auftrag ein wenig Zeit zusammen verbringen können. Das hatte ich ihr zwar schon häufiger versprochen, doch dieses Mal war ich entschlossen, es auch zu halten.

Als mein Telefon klingelte, dachte ich, sie würde anrufen, um sich zu erkundigen, ob ich wirklich auf dem Heimweg war. Doch die Nummer auf dem Display kannte ich nicht. Die Stimme, die sich meldete, klang schroff und humorlos.

«Entschuldigen Sie die Störung, Dr. Hunter. Hier ist Detective Superintendent Graham Wallace vom Polizeipräsidium Inverness. Haben Sie ein paar Minuten Zeit?»

Es war der Ton eines Mannes, der daran gewöhnt war, sich durchzusetzen. Sein harter Dialekt klang eher nach den Mietskasernen Glasgows als nach der weicheren Mundart von Inverness.

«Nur ein paar. Mein Flug geht gleich.»

«Ich weiß. Ich habe gerade mit Detective Inspector Allan Campbell von der Polizei der Grampians gesprochen, und er hat mir gesagt, dass Sie da fertig sind. Gut, dass ich Sie noch erwische.»

Campbell war der Ermittlungsleiter, mit dem ich bei der Bergung der Leiche zusammengearbeitet hatte. Ein anständiger Mann und guter Polizeibeamter, dem es schwerfiel, Arbeit und Freizeit zu trennen.

Was ich verstehen konnte.

Der Taxifahrer konnte jedes Wort mithören, ich dämpfte die Stimme. «Was kann ich für Sie tun?»

«Sie können mir einen Gefallen tun.» Wallace sprach abgehackt, als würde ihn jedes Wort mehr kosten, als er bezahlen wollte. «Haben Sie von dem Zugunglück heute Morgen gehört?»

Hatte ich. Bevor ich abgereist war, lief in den Nachrichten ein Bericht über einen Pendlerzug an der Westküste, der nach dem Zusammenstoß mit einem Minibus entgleist war. Die Fernsehbilder sahen schlimm aus; der Zug lag zerquetscht und verdreht neben den Gleisen. Noch wusste niemand, wie viele Todesopfer es gegeben hatte.

«Jeder verfügbare Mann ist hier, aber im Moment herrscht Chaos», fuhr Wallace fort. «Es besteht die Möglichkeit, dass die Entgleisung kein Unfall war, wir müssen also die gesamte Gegend untersuchen. Wir haben von anderen Polizeistationen Hilfe angefordert, im Moment arbeiten wir auf Hochtouren.»

Ich glaubte zu ahnen, was nun kommen würde. Den Nachrichten zufolge hatten einige Waggons Feuer gefangen, die Opfer mussten also schnell identifiziert werden. Ein forensischer Albtraum. Doch ehe damit begonnen werden konnte, mussten die Leichen geborgen werden, und soviel ich gesehen hatte, würde das noch dauern.

«Ich bin mir nicht sicher, was ich im Moment für Sie tun könnte.»

«Ich rufe nicht wegen des Zugunglücks an», sagte er ungeduldig. «Auf den Äußeren Hebriden ist eine verbrannte Leiche gefunden worden. Auf einer kleinen Insel namens Runa.»

Von dieser Insel hatte ich noch nie gehört, aber das wunderte mich nicht. Ich wusste von den Äußeren Hebriden nur, dass die Inseln einer der abgelegensten Außenposten des Vereinigten Königreiches waren, meilenweit von der nordwestlichen Küste Schottlands entfernt.

«Hinweise auf ein Verbrechen?», fragte ich.

«Hat sich nicht so angehört. Könnte Selbstmord sein, wahrscheinlicher ist allerdings, dass es ein Betrunkener oder Landstreicher war, der zu nah am Lagerfeuer eingeschlafen ist. Die Leiche ist auf einem verlassenen Bauernhof gefunden worden. Ein Mann ist zufällig mit seinem Hund vorbeispaziert und hat uns sofort benachrichtigt. Ein pensionierter Detective Inspector, der jetzt da draußen lebt. Habe früher mit ihm zusammengearbeitet. War mal ein guter Mann.»

Ich fragte mich, ob die Formulierung war mal etwas zu bedeuten hatte. «Was hat er sonst noch gesagt?»

Er antwortete nach kurzer Pause. «Nur, dass die Leiche stark verbrannt ist. Aber ohne triftigen Grund will ich keine Männer von einem wichtigen Fall abziehen. Ein paar von den Kollegen aus Stornoway werden später mit der Fähre rüberfahren, und ich will, dass Sie mitfahren und sich die Sache anschauen. Stellen Sie fest, ob ich ein Team der Spurensicherung rausschicken muss. Ich hätte gerne eine Expertenmeinung, bevor ich Alarm auslöse, und Allan Campbell meint, Sie sind verdammt gut.»

Der Versuch, mir zu schmeicheln, wirkte bei seiner rauen Art eher unbeholfen. Außerdem war mir sein Zögern aufgefallen, als ich mehr über die Leiche erfahren wollte, und ich fragte mich, ob er mir etwas verheimlichte. Doch wenn Wallace Hinweise auf einen unnatürlichen Tod gehabt hätte, hätte er ein Team der Spurensicherung geschickt, Zugunglück hin oder her.

Das Taxi war fast am Flughafen. Eigentlich hätte ich nein sagen sollen. Eben erst hatte ich die Arbeit an einer wichtigen Ermittlung abgeschlossen, und diese Sache klang ziemlich banal. Eine jener alltäglichen Tragödien, von denen nie in den Zeitungen berichtet wurde. Zudem dachte ich daran, Jenny sagen zu müssen, dass ich heute doch nicht nach Hause kommen würde. Da ich in der letzten Zeit sowieso schon häufig fort gewesen war, würde es mit Sicherheit nicht gut bei ihr ankommen.

Wallace musste mein Widerstreben gespürt haben. «Das Ganze dürfte nur ein paar Tage dauern, einschließlich der Anreise. Aber es klingt so, als wäre der Fall ein wenig … na ja, merkwürdig.»

«Sagten Sie nicht gerade, es gibt keine Hinweise auf ein Verbrechen?», meinte ich stirnrunzelnd.

«Gibt es auch nicht. Jedenfalls habe ich nichts dergleichen gehört. Hören Sie, ich will nicht zu viel sagen, aber genau deshalb wäre es mir lieb, wenn ein Fachmann wie Sie sich die Sache anschaut.»

Ich hasse es, manipuliert zu werden. Trotzdem konnte ich nicht verbergen, dass ich neugierig geworden war.

«Ich würde Sie nicht bitten, wenn wir im Moment nicht so unter Druck stehen würden», fügte Wallace hinzu und zog die Schraube weiter an.

Durch die regennassen Scheiben des Taxis sah ich die ersten Schilder des Flughafens. «Ich rufe Sie zurück», sagte ich. «Geben Sie mir fünf Minuten.»

Das gefiel ihm zwar nicht, aber er konnte kaum etwas einwenden. Ich beendete das Gespräch und biss mir nachdenklich auf die Lippe, ehe ich die Nummer wählte, die ich auswendig kannte.

Jenny war am anderen Ende. Obwohl ich mich auf dieses Gespräch nicht gerade freute, musste ich beim Klang ihrer Stimme lächeln.

«David! Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Wo bist du?»

«Auf dem Weg zum Flughafen.»

Sie lachte auch. «Gott sei Dank. Und ich dachte schon, du wolltest mir sagen, dass du doch nicht zurückkommst.»

Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen. «Genau deswegen rufe ich an», sagte ich. «Ich bin gerade gebeten worden, einen neuen Fall zu übernehmen.»

«Ach.»

«Es wird nur ein, zwei Tage dauern. Auf den Äußeren Hebriden. Im Moment kann leider niemand anders die Sache übernehmen.» Ich erzählte ihr lieber nicht von dem Zugunglück, es würde nur wie eine dumme Ausrede klingen.

Es entstand eine Pause. Die Freude war aus Jennys Stimme verschwunden. «Und was hast du gesagt?»

«Dass ich mich wieder melde. Ich wollte erst mit dir sprechen.»

«Weshalb? Wir wissen doch beide, dass du dich längst entschieden hast.»

Ich hatte es nicht zum Streit kommen lassen wollen. Ich schaute wieder zum Fahrer hinüber.

«Hör zu, Jenny …»

«Oder etwa nicht?»

Ich zögerte.

«Dachte ich’s mir doch», sagte sie.

«Jenny …», begann ich.

«Ich muss los. Sonst komme ich zu spät zur Arbeit.»

Sie legte auf. Ich seufzte. So hatte ich mir diesen Morgen nicht vorgestellt. Dann ruf sie zurück und sag ihr, du hast die Sache abgelehnt. Mein Finger schwebte über dem Telefon.

«Mach dir nichts draus, Kollege. Meine Frau macht mir das Leben auch immer schwer», sagte der Taxifahrer über seine Schulter. «Sie wird drüber hinwegkommen, oder?»

Ich sagte irgendwas Unverbindliches. In der Ferne sah ich eine Maschine starten. Der Fahrer bog zum Flughafen ab, während ich die Nummer eintippte. Nach dem ersten Klingeln wurde abgenommen.

«Wie komme ich dorthin?», fragte ich Wallace.

Kapitel 2

Den Großteil meines Berufslebens habe ich mich mit den Toten beschäftigt. Manchmal mit den schon lange Toten. Ich bin forensischer Anthropologe. Der Tod ist ein Thema – und Teil des Lebens –, mit dem sich die meisten Menschen lieber nicht beschäftigen. Bis sie es müssen. Für eine Weile war das auch bei mir so. Als meine Frau und meine Tochter bei einem Autounfall getötet wurden, war es zu schmerzhaft, in einem Beruf zu arbeiten, der mich jeden Tag daran erinnerte, was ich verloren hatte. Deshalb wurde ich Arzt, jemand, der sich lieber um die Lebenden als um die Toten kümmerte.

Bis sich Dinge ereigneten, die mich zwangen, meinen ursprünglichen Beruf wiederaufzunehmen. Meine Berufung, könnte man sagen. Teils Pathologie, teils Archäologie, geht meine Arbeit über beide Fachgebiete hinaus. Denn selbst nachdem die menschliche Biologie zusammengebrochen ist, wenn das, was einmal ein Lebewesen gewesen ist, auf Verwesung, Verfall und trockene Knochen reduziert ist, können die Toten noch als Zeugen fungieren. Sie können noch immer eine Geschichte erzählen, man muss nur wissen, wie man sie zu interpretieren hat. Und genau das ist meine Aufgabe.

Den Toten ihre Geschichte zu entlocken.

Wallace hatte anscheinend erwartet, dass ich seiner Bitte nachkommen würde. In einer Maschine nach Lewis, der Hauptinsel der Äußeren Hebriden, war bereits ein Platz für mich gebucht worden. Wegen des schlechten Wetters wurde der Start um fast eine Stunde verschoben. Ich wartete in der Abflughalle und versuchte, nicht hinzusehen, als der Flug nach London, den ich eigentlich hatte nehmen wollen, auf der Anzeigetafel erst angekündigt wurde, die Passagiere dann zum Einchecken aufgefordert wurden und die Maschine schließlich abflog.

Der Flug nach Lewis war unruhig und nur deshalb erträglich, weil er kurz war. Der Tag war halb vorüber, als ich ein Taxi vom Flughafen zum Fährterminal in Stornoway nahm, einer tristen, noch immer hauptsächlich vom Fischfang abhängigen Arbeiterstadt. Auf dem Pier war es neblig und kalt, in der Luft hing der übliche Hafenmief aus Diesel und Fisch. Ich hatte damit gerechnet, an Bord einer der großen Autofähren zu gehen, die Qualm in den verregneten Himmel über dem grauen Hafen ausstießen; stattdessen hielt das Taxi vor einem verrosteten Schiff, das eher wie ein Fischkutter aussah. Nur der auffällige Range Rover der Polizei, der fast das gesamte Deck einnahm, sagte mir, dass ich an der richtigen Stelle war.

Eine Rampe führte auf den Kutter und wurde durch den schweren Seegang hin- und hergeschoben. Unten auf dem Betonpier stand ein uniformierter Polizeisergeant, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben. Nase und Wangen waren von geplatzten Äderchen gerötet. Seine geschwollenen Augen über einem mit grauen Strähnen durchzogenen Schnauzbart betrachteten mich finster, während ich mich mit meiner Tasche und meinem Koffer abmühte.

«Dr. Hunter? Ich bin Sergeant Fraser», sagte er schroff. Seinen Vornamen verriet er nicht, und seine Hände blieben in den Taschen. Er hatte eine harte, beinahe nasale Aussprache, die keinem der mir bekannten Dialekte des schottischen Festlandes ähnelte. «Wir haben schon auf Sie gewartet.»

Mit diesen Worten ging er die Rampe hinauf. Offenbar hatte er keine Lust, mir mit meinem schweren Gepäck zu helfen. Ich nahm die Umhängetasche und den Alukoffer und folgte ihm. Die Rampe war nass und rutschig und hob und senkte sich mit dem Wellengang. Ich stolperte hinauf und versuchte, meine Schritte auf das unregelmäßige Schlingern abzustimmen. Dann kam mir ein junger, uniformierter Constable entgegengetrabt und griff grinsend nach meinem Koffer.

«Lassen Sie mich das nehmen.»

Ich ließ ihn. Er ging zum Range Rover und verstaute den Koffer.

«Was haben Sie da drin, eine Leiche?», fragte er vergnügt.

Ich stellte meine Tasche neben den Alukoffer. «Nein, das wirkt nur so. Danke.»

«Kein Thema.» Er konnte kaum älter als zwanzig sein. Er hatte ein freundliches, offenes Gesicht, und seine Uniform sah selbst im Regen tadellos aus. «Ich bin Constable McKinney, aber nennen Sie mich einfach Duncan», grinste er.

«David Hunter.»

Sein Handschlag war enthusiastisch, so als wollte er Frasers mangelnde Begrüßung wettmachen. «Sie sind also der Forensiker?»

«Ja, der bin ich wohl.»

«Großartig. Ich meine, das ist natürlich nicht großartig, sondern … na ja, Sie wissen schon. Wie auch immer, gehen wir ins Trockene.»

Die Passagierkabine war ein verglaster Raum unterhalb des Steuerhauses. An Deck redete Fraser aufgebracht auf einen bärtigen Mann in Ölzeug ein. Hinter ihm stand ein langer Jugendlicher mit einem pickligen Gesicht, der mürrisch dreinschaute, während Fraser mit ausgestrecktem Finger herumfuchtelte.

«… schon lange genug gewartet, und jetzt behaupten Sie, wir können noch nicht ablegen?»

Der Bärtige starrte gelassen zurück. «Wir haben noch einen weiteren Passagier. Wir legen erst ab, wenn sie da ist.»

Frasers bereits gerötetes Gesicht wurde immer dunkler. «Das ist keine Vergnügungsfahrt, verdammt nochmal. Wir sind bereits hinter dem Zeitplan, also ziehen Sie die Rampe hoch, klar?»

Die Augen des anderen Mannes starrten über den dunklen Bart hinweg, der ihm das ungezähmte Äußere eines wilden Tiers gab. «Das ist mein Boot, und ich lege den Zeitplan fest. Wenn Sie wollen, dass die Rampe hochgezogen wird, dann müssen Sie es selbst tun.»

Fraser setzte gerade zu einer Antwort an, als von der Rampe ein lautes Klappern zu hören war. Mit einer schweren Tasche kämpfend, kam eine zierliche Frau heraufgeeilt. Sie trug eine hellrote Daunenjacke, die ihr mindestens zwei Nummern zu groß war. Eine dicke Wollmütze hatte sie sich bis über beide Ohren gezogen. Mit ihrem rotblonden Haar und dem spitzen Kinn verlieh sie ihr ein attraktives, elfenhaftes Aussehen.

«Hi, meine Herren. Würde mir vielleicht jemand helfen?», keuchte sie.

Duncan hatte sich in Bewegung gesetzt, doch der Bärtige war schneller. Weiße Zähne schimmerten durch den dunklen Bart, als er die Neuangekommene angrinste und ihr mühelos die Tasche abnahm.

«Wurde auch Zeit, Maggie. Wir hätten schon fast ohne dich abgelegt.»

«Klug von dir, es nicht zu tun, sonst hätte dich meine Großmutter gekillt.» Sie stand mit den Händen in den Hüften da und betrachtete die Männer, während sie Atem schöpfte. «Hi, Kevin, wie geht’s? Lässt dich dein Vater immer noch zu hart schuften?»

Der Teenager errötete und schaute zu Boden. «Ja.»

«Tja, manche Dinge ändern sich eben nie. Aber jetzt mit achtzehn solltest du mal eine Gehaltserhöhung fordern.»

Ich sah ihre Augen interessiert aufblitzen, als sie den Range Rover der Polizei betrachtete.

«Was ist los? Irgendwas, das ich wissen sollte?»

Der Bärtige deutete abweisend mit dem Kopf in unsere Richtung. «Frag die da. Uns sagen sie nichts.»

Das Grinsen der jungen Frau erstarb, als sie Fraser sah. Dann sammelte sie sich, rang sich schnell ein Lächeln ab, in dem nun so etwas wie Trotz lag.

«Hallo, Sergeant Fraser. Das ist ja eine Überraschung. Was führt Sie hinaus nach Runa?»

«Polizeisache», sagte Fraser knapp und wandte sich ab. Wer auch immer die Frau war, er war nicht erfreut, sie zu sehen.

Jetzt, da der letzte Fahrgast an Bord war, gingen der Fährkapitän und sein Sohn an die Arbeit. Mit einem Heulen der Motorwinde wurde die Rampe hochgezogen. Als sie die Ankerkette einholten, vibrierten die Planken des Bootes. Mit einem letzten, neugierigen Blick in meine Richtung ging die junge Frau ins Steuerhaus.

Dann legte die Fähre in einer Dieselwolke ab und tuckerte aus dem Hafen.

 

Die See war stürmisch, und die Überfahrt von eigentlich zwei Stunden dauerte drei. Kaum hatten wir den schützenden Hafen von Stornoway verlassen, wurde der Atlantik seinem Ruf gerecht: eine stürmische graue Weite aus wütenden Fluten, in die die Fähre hineinfuhr. Trudelnd warf sie sich über den Kamm jeder einzelnen Welle und rutschte auf der anderen Seite schlingernd hinunter, ehe das Spektakel von vorn begann.

Den einzigen Schutz bot die beengte Passagierkabine, in der die Mischung aus Dieselabgasen und glühenden Heizkörpern für Unbehaglichkeit sorgte. Fraser und Duncan saßen die meiste Zeit mürrisch schweigend da. Ich versuchte, von Fraser etwas über die Leiche herauszukriegen, doch er wusste offensichtlich kaum mehr als ich.

«Was soll schon groß dahinterstecken?», brummte er. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. «Höchstwahrscheinlich ist irgendein Suffkopf zu nah am Lagerfeuer eingepennt.»

«Wallace hat mir erzählt, dass die Leiche von einem pensionierten Inspector gefunden worden ist. Wer ist der Mann?»

«Andrew Brody», schaltete sich Duncan ein. «Mein Dad hat früher auf dem Festland mit ihm zusammengearbeitet, bevor wir nach Stornoway gezogen sind. Mein Dad sagt, er war ein verdammt guter Polizist.»

«Genau, ‹war›», sagte Fraser. «Ich habe mich umgehört, bevor wir losgefahren sind. Anscheinend war er ein Einzelgänger, wie er im Buche steht, und konnte sich nie einem Team unterordnen. Ich habe gehört, dass er ausgerastet ist, nachdem ihn seine Frau sitzengelassen hat und seine Tochter abgehauen ist. Deswegen ist er auch pensioniert worden.»

Duncan sah verlegen aus. «Es war der Stress, hat mein Dad gesagt.»

Fraser tat die Unterscheidung mit einer Handbewegung ab. «Ist doch das Gleiche. Hauptsache, er denkt daran, dass er kein Inspector mehr ist.» Er verkrampfte sich, als das Boot plötzlich schwankte und über eine weitere, gewaltige Welle krachte.

«Gott, was haben wir hier bloß verloren …»

Ich blieb eine Weile in der Kabine und fragte mich, was ich auf einer kleinen Fähre mitten auf dem Atlantik zu suchen hatte, anstatt unterwegs zu Jenny zu sein. In letzter Zeit stritten wir uns immer häufiger, und jedes Mal über dasselbe Thema – meine Arbeit. Diese Reise würde die Situation nicht gerade entschärfen, und da ich nur untätig herumsaß, grübelte ich die ganze Zeit darüber nach, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte und wie ich es wiedergutmachen konnte.

Nach ungefähr zwei Stunden ging ich allein an Deck. Der Wind warf mich fast um und sprühte Regen in mein Gesicht, aber das war mir lieber als die mürrische Stimmung in der überhitzten Kabine. Ich stand am Bug und genoss, wie die Gischt auf meiner Haut prickelte. Mittlerweile konnte man die Insel sehen, eine dunkle Masse, die sich aus dem Meer erhob und auf die die Fähre zusteuerte. Während ich hinüberstarrte, spürte ich angesichts dessen, was mich dort erwartete, ein vertrautes Kribbeln.

Was auch immer es war, ich hoffte, es war die Sache wert.

In den Augenwinkeln sah ich etwas Rotes aufblitzen, und als ich mich umdrehte, sah ich die junge Frau mit unsicheren Schritten über das schwankende Deck auf mich zukommen. Durch ein plötzliches Absacken des Bootes geriet sie die letzten Schritte ins Laufen, und ich streckte meinen Arm aus, um ihr Halt zu geben.

«Danke.»

Mit einem verschmitzten Lächeln lehnte sie sich neben mich an die Reling. «Was für ein Wetter. Iain meint, bei dem Seegang wird das Anlegen richtig spaßig werden.»

Ihr Tonfall war eine weichere, melodischere Version von Frasers. «Iain?»

«Iain Kinross, der Kapitän. Er ist ein alter Nachbar auf Runa.»

«Leben Sie dort?»

«Nicht mehr. Meine ganze Familie ist nach Stornoway gezogen, außer meiner Großmutter. Wir wechseln uns damit ab, sie zu besuchen. Und Sie sind mit der Polizei hier, nehme ich an?»

Sie stellte die Frage mit einer Unschuld, die mir nicht ganz geheuer war. «Mehr oder weniger.»

«Aber Sie sind keiner? Kein Polizist, meine ich?»

Ich schüttelte den Kopf.

Sie grinste. «Dachte ich mir. Iain sagte, er hätte gehört, dass die anderen Sie ‹Doktor› nannten. Hat sich auf der Insel jemand verletzt, oder was?»

«Nicht dass ich wüsste.»

Ich konnte sehen, dass das ihre Neugier nur noch mehr anstachelte.

«Warum kommt dann ein Arzt mit der Polizei nach Runa?»

«Das fragen Sie besser Sergeant Fraser.»

Sie verzog das Gesicht. «Großartige Idee.»

«Sie beide kennen sich?»

«Irgendwie.» Sie beließ es dabei.

«Und was machen Sie in Stornoway?», fragte ich.

«Ach … ich bin Schriftstellerin. Ich arbeite an einem Roman. Ich heiße übrigens Maggie Cassidy.»

«David. David Hunter.»

Sie schien die Information abzuspeichern. Eine Weile schwiegen wir und schauten zu, wie die Insel im Dämmerlicht allmählich Form annahm. Hohe graue Klippen erhoben sich aus dem Meer, die mit einem öden Grün überzogen waren. Vor den Klippen ragte ein schwarzer Felsturm aus dem Wasser.

«Fast da», sagte Maggie. «Der Hafen ist gleich hinter Stac Ross, dem großen Felsding da. Es soll die dritthöchste Felssäule in Schottland sein. Typisch Runa. Es reicht immer nur dazu, Drittbeste zu sein.»

Sie richtete sich von der Reling auf.

«Na schön, war nett, Sie kennenzulernen, David. Vielleicht sieht man sich nochmal, bevor Sie wieder abreisen.»

Sie ging zurück ins Steuerhaus zu Kinross und seinem Sohn. Mir fiel auf, dass sie jetzt wesentlich sicherer auf den Beinen wirkte als noch kurz zuvor.

Ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder der Insel vor uns. Hinter Stac Ross bildeten die Klippen einen kleinen Hafen. Trotz des Dämmerlichts konnte ich ein paar Häuser erkennen, die um ihn herum verstreut lagen. Ein kleiner zivilisierter Außenposten in der Wildnis des Ozeans.

Hinter mir ertönte ein durchdringender Pfiff. Als ich mich umdrehte, sah ich Kinross wütend gestikulieren.

«Gehen Sie rein!»

Das musste er mir nicht zweimal sagen. Das Meer war stürmischer geworden, die Wellen türmten sich zwischen den Klippen auf, die den Hafen einschlossen. Jetzt schlingerte die Fähre nicht mehr auf und ab, in den gegeneinander kämpfenden und Gischt über das Deck spritzenden Wogen geriet sie nun in einen einzigen, schwindelerregenden Strudel.

Um Halt zu finden, hangelte ich mich an der Reling zurück in die überhitzte Kabine. Mit dem bleichen Fraser und Duncan wartete ich, während die Fähre in den Hafen steuerte und unter der Wucht der Wellen erbebte. Durch das Kabinenfenster sah ich, wie das Wasser gegen den Betonpier klatschte und weiße Gischtwolken aufwarf. Drei Versuche waren nötig, um anzulegen, und während die heulende Maschine versuchte, die Position zu halten, vibrierte das ganze Boot.

Wir verließen die Kabine und kämpften uns über das immer noch schwankende Deck. Es gab keinen Schutz vor dem Wind, aber die Luft war wunderbar frisch und hatte einen salzigen Geruch. Am Himmel kreisten schreiende Möwen. Auf dem Pier liefen Männer umher und sicherten die Seile und die Gummipuffer. Trotz der Klippen war der Hafen zum Meer hin völlig offen, nur eine einzelne Kaimauer ragte hinaus, um die Wellen zu brechen. Ein paar Fischkutter lagen im Hafenbecken und zerrten an ihren Tauen wie wilde Hunde an der Leine.

Niedrige Häuser und Cottages klammerten sich wie Ringelgänse an den steilen Hang, der zum Hafen hinabfiel. Die Landschaft, die sich dahinter ausbreitete, war ein baumloses grünes Moorland, windgepeitscht und öde. Der Horizont wurde von einem düsteren Gipfel dominiert, dessen Spitze sich im Dunst niedrig hängender Wolken verlor.

Kaum war die Rampe hinabgelassen, eilte die junge Frau von der Fähre. Ich war ein wenig überrascht, dass sie sich nicht verabschiedete, aber ich musste mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Hinter mir sprang der Motor des Polizei-Range-Rovers an. Unter den neugierigen Blicken der Männer, die das Boot am Pier vertäut hatten, stieg ich auf die Rückbank. Fraser ließ den jungen Constable fahren. Da das Boot noch immer Spielball der Wellen war, lenkte er den Wagen vorsichtig über die schwankende Rampe.

Auf dem Pier erwartete uns ein Mann. Er war Mitte fünfzig, groß und kräftig gebaut. In seinen kantigen, gelassenen Zügen erkannte man unweigerlich einen Polizisten. Das musste der pensionierte Detective Inspector sein, der die Leiche gefunden hatte.

Fraser kurbelte das Fenster herunter. «Andrew Brody?»

Der Mann nickte knapp. Der Wind zerzauste sein ergrautes Haar, als er sich hinabbeugte, um in den Wagen zu schauen. Hinter ihm sahen die einheimischen Hafenarbeiter neugierig herüber.

«Das sind alle?» Er war offensichtlich verärgert.

Fraser nickte steif. «Ja, vorerst.»

«Was ist mit der Spurensicherung? Wann kommt das Team?»

«Wir wissen noch nicht, ob überhaupt eins kommt», entgegnete Fraser. «Ist noch nicht entschieden.»

Brody presste seine Lippen zusammen. Pensioniert oder nicht, dem ehemaligen Detective Inspector gefiel es nicht, von einem einfachen Sergeant gemaßregelt zu werden.

«Und was ist mit der Kriminalpolizei? Das ist ein Fall für die Kriminalpolizei.»

«Ein Detective Constable aus Stornoway wird kommen, nachdem Dr. Hunter hier einen Blick auf die Leiche geworfen hat. Er ist ein forensischer … äh, ein forensischer Experte.»

Bis jetzt hatte Brody mir keine Beachtung geschenkt. Nun schaute er mich interessiert an. Sein Blick war eindringlich und aufmerksam, und in diesem kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, eingeschätzt und beurteilt zu werden.

«Es ist nicht mehr hell genug», sagte er und deutete auf den dunkler werdenden Himmel. «Die Fahrt dauert zwar nur eine Viertelstunde, aber bis wir dort sind, wird es ganz dunkel sein. Vielleicht fahren Sie lieber mit mir, Dr. Hunter. Dann kann ich Ihnen unterwegs alles erzählen.»

«Ich bin mir sicher, dass er schon verbrannte Leichen gesehen hat», ereiferte sich Fraser.

Brody musterte ihn einen Moment, als müsste er sich erst daran erinnern, dass er keinen Rang mehr hatte. Dann wandte er sich mit festem Blick wieder an mich.

«So eine noch nicht.»

 

Sein Wagen, eine neue Volvo-Limousine, stand am Pier. Das Innere war makellos. Es roch nach einem Frischespray und, etwas schwächer, nach Zigaretten. Auf einer Decke auf dem Rücksitz saß ein alter Border Collie, dessen schwarzes Maul ergraut war. Er sprang erregt auf, als Brody in den Wagen stieg.

«Sitz, Bess», sagte er sanft. Die Hündin gehorchte sofort. Mit einem Stirnrunzeln suchte Brody das Armaturenbrett nach den Knöpfen für die Heizung ab. «Tut mir leid, ich habe den Wagen noch nicht lange und weiß immer noch nicht, wo was ist.»

Als wir den Hafen verließen, erkannten wir nur an den Scheinwerfern des Range Rovers, dass Fraser und Duncan uns folgten. Zu dieser Jahreszeit dauerten die Tage so weit oben im Norden nicht lange, und die Dämmerung ging bereits in Dunkelheit über. Die Straßenlaternen waren angeschaltet und beleuchteten die schmale Hauptstraße, die diesen Namen kaum verdiente. Sie führte von der Küste hinauf durchs Dorf; eine Handvoll kleiner Läden, die von alten Steincottages und neueren Bungalows umgeben waren, anscheinend Fertighäuser, die provisorisch wirkten.

Auch wenn ich nur wenig ausmachen konnte, war Runa offensichtlich nicht das rückständige Provinzkaff, das ich erwartet hatte. Natürlich stand irgendwo die Ruine einer kleinen, dachlosen Kirche, aber die meisten Türen und Fenster der Häuser sahen neu aus und waren scheinbar erst jüngst ausgewechselt worden. Es gab eine kleine, doch moderne Schule, und die Holzbaracke des Gemeindezentrums schmückte ein neuer Anbau, an dem ein Schild verkündete: «Medizinische Klinik von Runa».

Selbst die Straße war neu geteert. Es war nur ein schmaler Fahrweg mit Haltebuchten alle hundert Meter, aber mit dem glatten schwarzen Asphalt war sie besser als die meisten Straßen auf dem Festland. Sie führte steil durchs Dorf und wurde erst ebener, als wir die letzten Häuser passierten. Auf einem Hügel, der sich vor dem dunklen Himmel abzeichnete, thronte ein schiefer, aufrecht stehender Stein über dem Ort, der sich aus dem Gras erhob wie ein anklagender Finger.

«Das ist Bodach Runa», sagte Brody. «Der alte Mann von Runa. Der Legende nach ist er dort hochgestiegen, um nach seinem Sohn Ausschau zu halten, der zur See gefahren ist. Doch der Sohn kehrte nie zurück, und der alte Mann ist dort so lange stehen geblieben, bis er zu Stein geworden ist.»

«Bei diesem Wetter glaube ich das gern.»

Er lächelte, aber das Lächeln erstarb schnell wieder. Er schien sich unbehaglich zu fühlen, so als wäre er unsicher, wo er beginnen sollte. Ich zog mein Handy aus der Tasche, um jetzt, wo ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, nachzuschauen, ob ich neue Mitteilungen hatte.

«Hier draußen haben Sie keine Verbindung», warnte Brody. «Wenn Sie telefonieren wollen, müssen Sie entweder das Festnetz benutzen oder den Polizeifunk. Und wenn es richtig stürmt, funktioniert auch das nicht.»

Ich steckte das Telefon wieder ein. Obwohl nicht wirklich damit zu rechnen war, hatte ich doch gehofft, eine Nachricht von Jenny erhalten zu haben. Ich würde sie später übers Festnetz anrufen müssen, um wenigstens den Versuch zu unternehmen, die Unstimmigkeiten zwischen uns zu beseitigen.

«Und was für ein ‹forensischer Experte› sind Sie?», fragte Brody. Wie er die Worte betonte, zeigte mir, dass ihm Frasers Zögern nicht entgangen war.

«Ich bin forensischer Anthropologe.»

Ich warf ihm einen Blick zu, um zu sehen, ob ich es erklären musste. Selbst Polizeibeamte wussten manchmal nicht genau, worin meine Arbeit bestand. Brody schien jedoch zufrieden.

«Gut. Dann haben wir wenigstens einen hier draußen, der weiß, was er tut. Was hat Wallace Ihnen alles erzählt?»

«Nur, dass es sich um eine verbrannte Leiche handelt und dass der Fall etwas merkwürdig ist. Was genau, wollte er nicht sagen, außer dass nichts auf ein Verbrechen hinweist.»

Er machte eine verärgerte Miene. «Das hat er tatsächlich gesagt?»

«Wieso, sind Sie anderer Meinung?»

«Meine Meinung tut nichts zur Sache», sagte Brody. «Sie können sich Ihre eigene Meinung bilden, wenn Sie die Leiche sehen. Ich hatte einfach erwartet, dass Wallace ein vollständiges Team schicken würde. Das ist alles.»

Mir begann deswegen unwohl zu werden. Wenn es Hinweise darauf gab, dass der Tod nicht auf natürliche Weise eingetreten war, musste nach strengen Richtlinien gehandelt werden, und unter normalen Umständen würde man mich erst dann hinzuziehen, wenn ein Team der Spurensicherung den Tatort untersucht hatte. Ich hoffte nur, dass Wallace’ Urteil nicht durch seine Beschäftigung mit dem Zugunglück getrübt worden war.

Aber ich erinnerte mich auch daran, was er über Brody gesagt hatte. War mal ein guter Mann. Pensionierte Polizeibeamte kommen häufig nur schwer damit klar, nicht mehr im Dienst zu sein. Brody wäre nicht der Erste gewesen, der seine Aussagen übertrieb, um sich wieder im Mittelpunkt des Geschehens zu fühlen. Ich schenkte Frasers Tratsch über Brodys Ausraster zwar wenig Glauben, fragte mich aber, ob Wallace’ Entscheidung vielleicht durch ähnliche Zweifel beeinflusst war.

«Er will nur, dass ich mir die Leiche anschaue», sagte ich. «Wenn ich zu dem Schluss gelange, dass es kein Unfall war, dann ziehe ich mich zurück, bis die Spurensicherung hier ist.»

«Das muss dann wohl genügen», sagte Brody unwirsch.

Aber zufrieden war er nicht. Was auch immer er Wallace erzählt hatte, der Superintendent hatte es nicht für voll genommen. Und das wurmte den ehemaligen Kriminalbeamten natürlich.

«Wie haben Sie die Leiche gefunden?», fragte ich.

«Meine Hündin hat die Fährte aufgenommen, als ich heute Morgen mit ihr draußen war. Die Leiche liegt in einem Cottage auf einem verlassenen Bauernhof», sagte er. «Manchmal treffen sich Jugendliche dort, aber im Winter eigentlich nicht. Und bevor Sie fragen, ich habe nichts angefasst. Ich mag zwar pensioniert sein, aber ich weiß noch immer, wie es läuft.»

«Irgendeine Idee, um wen es sich handeln könnte?»

«Nicht die geringste. Soweit ich weiß, ist kein Bewohner der Insel als vermisst gemeldet. Und hier draußen wohnen weniger als zweihundert Leute, es kann also kaum jemand unbemerkt verschwinden.»

«Kommen viele Besucher vom Festland oder von den anderen Inseln her?»

«Viele nicht, aber ein paar schon. Gelegentlich ein Naturkundler oder ein Archäologe. Die Inseln sind alle voller Ruinen: Steinzeit, Bronzezeit und Gott weiß was. Auf dem Berg soll es Hügelgräber und einen alten Wachtturm geben. Außerdem sind in letzter Zeit ziemlich viele Sanierungsarbeiten ausgeführt worden, wir hatten also Bauarbeiter und Unternehmer hier. Straßenbauarbeiten, Hausrenovierungen und so weiter. Aber seit das Wetter umgeschlagen ist, sind die Arbeiten unterbrochen.»

«Wer weiß noch von der Leiche?»

«Soweit ich weiß, niemand. Ich habe nur Wallace davon erzählt.»

Das erklärte die verunsicherten Blicke der Einheimischen beim Eintreffen der Polizei. Auf einer so kleinen Insel würde das eine große Nachricht sein. Ich bezweifelte, dass der Grund für unser Kommen lange geheim bleiben würde, aber wenigstens mussten wir uns vorerst nicht um Schaulustige sorgen.

«Wallace sagte, sie ist sehr stark verbrannt.»

Er lächelte grimmig. «Ziemlich. Aber ich glaube, Sie schauen es sich besser selbst an.»

Er sagte das mit einer Entschlossenheit, die das Thema beendete.

«Wallace erzählte mir, dass Sie früher mit ihm zusammengearbeitet haben.»

«Ich war eine Zeitlang im Präsidium in Inverness. Kennen Sie die Stadt?»

«Nur von der Durchreise. Danach muss Runa eine ganz schöne Veränderung gewesen sein.»

«Ja, aber eine gute. Hier kann man gut leben. Es ist ruhig. Man hat Zeit und Raum zum Denken.»

«Stammen Sie ursprünglich von hier?»

«Gott, nein. Ich bin ein ‹Zugezogener›», sagte er mit einem Lächeln. «Ich wollte weg von allem, als ich in den Vorruhestand gegangen bin. Und viel weiter weg als Runa kann man nicht.»

Damit hatte er wohl recht. Nachdem wir das Dorf verlassen hatten, war kaum noch ein Lebenszeichen zu entdecken. Der einzige Hinweis auf Zivilisation war ein imposantes altes Haus, das ein gutes Stück abseits der Straße lag. Sonst waren nur hin und wieder verfallene Cottages oder vereinzelte Schafe zu sehen. Im zunehmenden Zwielicht sah Runa schön, aber trostlos aus.

Ein einsamer Ort zum Sterben.

Es gab einen Ruck, als Brody in einen überwucherten Feldweg abbog. Vor uns streiften die Scheinwerfer über ein verfallenes altes Cottage. Wallace hatte gesagt, die Leiche wäre auf einem verlassenen Bauernhof gefunden worden, aber es gab kaum noch Überreste, die darauf hindeuteten, dass dies einmal ein bewirtschafteter Hof gewesen war. Brody hielt an und schaltete den Motor aus.

«Bleib hier, Bess», befahl er dem Border Collie.

Während wir aus dem Wagen stiegen, kam der Range Rover hinter uns den Weg entlanggeholpert. Das Cottage war ein gedrungenes, einstöckiges Gebäude, das langsam von der Natur zurückerobert wurde. Dahinter erhob sich der Gipfel, den ich schon vorher gesehen hatte. Jetzt war er nur eine dunkle Silhouette in der sich ausbreitenden Finsternis.

«Das ist Beinn Tuiridh», erklärte Brody. «Für hiesige Verhältnisse ein Berg. Wenn man an einem klaren Tag hinaufsteigt, kann man angeblich bis zum Festland schauen.»

«Und? Kann man?»

«Ich kenne keinen, der so dumm war und es herausfinden wollte.»

Er nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach, dann warteten wir vor dem Wagen, bis Fraser und Duncan angehalten hatten. Nachdem ich meine Taschenlampe aus dem Alukoffer im Range Rover geholt hatte, gingen wir zum Cottage. In der Dunkelheit überschnitten sich die Lichtkegel unserer Taschenlampen. Das Cottage war kaum mehr als eine Steinhütte, deren Wände mit Moos und Flechten überzogen waren. Die Tür war so niedrig, dass ich mich bücken musste, um hindurchzugehen.

Ich hielt inne und schwenkte meine Taschenlampe umher. Das Haus war offensichtlich schon lange verlassen, ein verfallener Überrest vergessenen Lebens. Durch ein Loch im Dach tropfte Wasser in den engen Raum. Die niedrige Decke verstärkte das klaustrophobische Gefühl.

Wie ein Grab.

Verärgert über mich selbst, verdrängte ich den Gedanken und nahm meine Umgebung auf. Der Raum war einmal eine Küche gewesen. Auf einem alten Ofen stand noch eine staubige, gusseiserne Pfanne. In der Mitte ein wackliger Holztisch, auf Steinplatten. Über den Boden lagen ein paar Bierdosen und Flaschen verstreut, ein Hinweis darauf, dass sich manchmal Leute hier aufhielten. Das Haus verströmte den muffigen Geruch von Alter und Feuchtigkeit, doch mehr nicht. Nichts wies auf ein Feuer hin.

«Dort entlang», sagte Brody und leuchtete mit seiner Taschenlampe auf eine weitere Tür.

Als ich mich ihr näherte, nahm ich den ersten schwachen, rußigen Geruch von Verbrennung wahr. Aber er war nicht annähernd so stark, wie ich erwartet hatte. Die Tür war kaputt und hing in den Angeln. Vorsichtig ging ich in den anderen Raum. Er war noch deprimierender als die verfallene Küche. Der Feuergeruch war jetzt sehr stark. Das Licht der Taschenlampe offenbarte uralten, abbröckelnden Putz an den nackten Wänden. In einer war die klaffende Öffnung eines Kamins zu sehen. Doch der Geruch kam nicht von dort. Er kam aus der Mitte des Raumes, und als ich mit der Taschenlampe dorthin leuchtete, stockte mir der Atem.

Von dem Menschen war furchtbar wenig übrig. Jetzt verstand ich Brodys Gesichtsausdruck, als ich ihn gefragt hatte, ob die Leiche schlimm verbrannt sei. Das war sie wirklich. Nicht einmal die Gluthitze eines Krematoriums reicht aus, um eine menschliche Leiche vollständig in Asche zu verwandeln, doch dieses Feuer hatte es irgendwie geschafft.

Auf dem Boden lag ein Haufen aus schmieriger Asche und Kohle. Das Feuer hatte nicht nur Haut und Gewebe, sondern auch das Skelett verschlungen. Nur die größeren Knochen waren übrig geblieben und ragten aus der Asche wie abgebrochene Zweige aus einer Schneeverwehung. Und selbst sie waren kalziniert worden; der Kohlenstoff war verbrannt, bis sie grau und spröde geworden waren. Darüber ein zersprungener Schädel, der sich mit verkanteten Kieferknochen zur Seite neigte, einer zerbrochenen Eierschale gleich.

Und trotzdem war außer der Leiche nichts in dem Raum beschädigt.

Das Feuer, das einen Menschen zu Asche verwandelt und seine Knochen zu Bimsstein gemacht hatte, hatte sonst nichts verbrannt. Die Steinplatten darunter waren verrußt, aber eine zerlumpte, schmutzige Matratze, nur wenige Schritte entfernt, war unberührt geblieben. Altes Laub und Zweige übersäten den Boden, doch die Flammen hatten selbst sie verschmäht.

Was mir aber die Sprache verschlug, war der Anblick der zwei Füße und einer Hand, die unverbrannt aus der Asche herausragten. Zwar standen geschwärzte Knochen hervor, aber ansonsten waren sie völlig unversehrt.

Brody kam heran und blieb neben mir stehen.

«Und, Dr. Hunter? Glauben Sie immer noch nicht an ein Verbrechen?»

Kapitel 3

Der Wind heulte um das alte Cottage und erzeugte eine unheimliche Hintergrundmusik zu der makabren Szenerie. Ich merkte, wie Duncan die Luft anhielt, als er und Fraser sahen, was da auf dem Boden lag.

Ich hatte den ersten Schock überwunden und konzentrierte mich bereits auf meine Arbeit.

«Kann man hier drinnen etwas mehr Licht machen?», fragte ich.

«Wir haben einen tragbaren Scheinwerfer im Wagen», sagte Fraser und zwang sich, den Blick von dem Haufen aus Knochen und Asche abzuwenden. Er versuchte gleichgültig zu klingen, aber das gelang ihm nicht ganz. «Geh und hol ihn, Duncan. Duncan!»

Der junge Constable starrte immer noch auf die Überreste der Leiche. Er war sehr blass.

«Alles in Ordnung?», fragte ich. Meine Sorge galt nicht nur ihm. Ich hatte an mehr als einer Leichenbergung teilgenommen, bei der sich ein unerfahrener Polizeibeamter auf die Überreste erbrochen hatte. Das machte die Arbeit nicht gerade leichter.

Er nickte. Seine Gesichtsfarbe kehrte allmählich zurück. «Ja. Tut mir leid.»

Er eilte hinaus. Brody betrachtete die Überreste.

«Ich habe Wallace gesagt, dass es sich um einen außergewöhnlichen Fall handelt, aber er hat mir offenbar nicht geglaubt. Bestimmt hat er gedacht, die Pensionierung hätte mich verweichlicht.»

Er hatte wahrscheinlich recht, dachte ich und erinnerte mich an die Zweifel, die ich selber noch vor wenigen Minuten gehabt hatte. Doch ich konnte Wallace nicht verdenken, dass er skeptisch reagiert hatte. Was hier vor mir lag, widersprach aller Logik. Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte ich die Meldung wohl auch für übertrieben gehalten.

Die Leiche – oder das, was davon übrig geblieben war – lag mit dem Gesicht nach unten. Ohne mich zu nähern, richtete ich den Strahl meiner Taschenlampe auf die unverbrannten Gliedmaßen. Von den Knöcheln abwärts waren die Füße unversehrt, an beiden makabererweise noch Turnschuhe. Ich leuchtete auf die Hand. Es war die rechte und hätte die Hand eines kleines Mannes oder einer großen Frau sein können. An den Fingern steckten keine Ringe, die Nägel waren unlackiert und abgekaut. Die Knochen von Speiche und Elle ragten aus dem freigelegten Gewebe des Handgelenks hervor. In der Nähe des Fleisches hatte das Feuer sie zu dunklem Bernstein verfärbt, danach waren sie gleich schwarz und von der Hitze rissig geworden. Kurz bevor sie mit dem Ellenbogen zusammenliefen, waren beide Knochen durchgebrannt.

Mit den Füßen verhielt es sich genauso. Schienbein und Wadenbein ragten verkohlt hervor, als hätten die Flammen alles verschlungen, um dann unterhalb der Kniescheibe abrupt auszugehen.

Denn vom Knöchel abwärts wirkten die unversehrten Gliedmaßen, als wären sie mit dem Feuer, das den Rest des Körpers zerstört hatte, nie in Berührung gekommen. Schaden hatten dort hauptsächlich Nager und andere kleine Tiere angerichtet, die das Fleisch und die unverbrannten Knochen angeknabbert hatten. Das wäre noch schlimmer gewesen, wenn die Leiche unter freiem Himmel gelegen hätte. Das Gewebe hatte auf normale Weise zu verwesen begonnen, wie man an der Marmorierung unter der verfärbten Haut erkennen konnte. Es gab so gut wie keinerlei Insektenaktivität, häufig ein verlässlicher Indikator dafür, wie weit die Verwesung bereits fortgeschritten war. Doch angesichts der kalten, winterlichen Bedingungen hatte ich mit nichts anderem gerechnet. Fliegen benötigen Wärme und Licht. Zu dieser Jahreszeit wäre es überraschend gewesen, draußen Maden zu finden.

Ich leuchtete mit der Taschenlampe durch den Raum. Im Kamin lagen ein paar verkohlte Scheite, auch auf den Steinplatten war an einer Stelle ein kleines Feuer gemacht worden. Dessen Reste waren gut zwei Meter von der Leiche entfernt, aber das hatte nichts zu bedeuten. Kein Mensch würde reglos liegen bleiben, wenn er Feuer fing, es sei denn, er war bewusstlos.

Ich leuchtete an die Decke. Direkt über der Leiche war der rissige Putz von Ruß geschwärzt, aber nicht verbrannt. Ein öliger, bräunlicher Film hatte sich abgelagert. Der gleiche fettige Rückstand befand sich auf dem Boden rings um die Überreste der Leiche.

«Was ist das für ein braunes Zeug?», fragte Fraser.

«Fett. Von der Leiche, als sie brannte.»

Er verzog das Gesicht. «Ein bisschen so, wie wenn man Bratkartoffeln in einer Pfanne brät, oder?»

«So ähnlich.»

Duncan war mit dem Scheinwerfer zurückgekehrt. Während er ihn aufstellte, starrte er mit großen Augen auf die Leiche.

«Ich habe von solchen Sachen gelesen», platzte er hervor. Als wir ihn anschauten, wirkte er sofort verlegen. «Von Menschen, die ohne Grund in Flammen aufgehen, meine ich. Ohne dass irgendwas anderes um sie herum brennt.»

«Rede keinen Unsinn», blaffte Fraser.

Aber ich hatte damit gerechnet, seitdem ich die Überreste gesehen hatte. «Schon in Ordnung», sagte ich zu Duncan. «Sie sprechen von sogenannter spontaner Selbstentzündung.»

Er nickte aufgeregt. «Ja, genau.»

Das überraschte mich nicht. Spontane menschliche Selbstentzündung gehörte in dieselbe Kategorie wie Yetis und Ufos; paranormale Phänomene, für die es scheinbar keine schlüssige Erklärung gab. Tatsächlich waren Fälle bekannt, da Menschen verbrannt in einem Raum gefunden wurden, der ansonsten von Feuer verschont geblieben war, wobei häufig eine Hand oder ein Fuß teilweise unversehrt aus dem Aschehaufen hervorragte. Man hatte eine ganze Reihe von Theorien aufgestellt, die Erklärungen reichten von Teufelsbesessenheit bis zu Mikrowellen. Was auch immer die Ursache war, allgemein stimmte man darin überein, dass keine bekannte Wissenschaft eine Erklärung dafür hatte.

Ich hatte nie daran geglaubt.

Fraser warf Duncan einen bösen Blick zu. «Was, zum Teufel, weißt du denn davon?»

Duncan schaute mich verlegen an. «Ich habe Fotos gesehen. Es gab mal eine Frau, die wurde genauso verbrannt. Nur ein Bein blieb von ihr übrig, der Schuh war noch dran. Man nannte sie die ‹Aschefrau›.»

«Ihr wahrer Name war Mary Reeser», erklärte ich ihm. «Eine ältere Witwe aus Florida in den fünfziger Jahren. Von ihr war fast nichts übrig geblieben, außer einem Bein vom Schienbein abwärts. Und am Fuß steckte ein Pantoffel. Der Sessel, auf dem sie gesessen hatte, war verbrannt worden, außerdem ein Tisch und eine Lampe in ihrer Nähe, aber sonst war in dem Raum alles heil geblieben. Meinen Sie diese Frau?»

Duncan sah mich erstaunt an. «Genau. Ich habe aber auch von anderen Fällen gelesen.»

«So etwas kommt hin und wieder vor», stimmte ich ihm zu. «Aber ein Mensch geht nicht einfach ohne Grund in Flammen auf. Und was auch immer dieser Frau widerfahren ist, es steckt nichts ‹Übernatürliches› oder ‹Paranormales› dahinter.»

Brody hatte uns während des Wortwechsels beobachtet und schweigend zugehört. Nun meldete er sich zu Wort.

«Woher wissen Sie, dass es eine Frau war?»

Pensioniert oder nicht, Brody entging so gut wie nichts. «Aufgrund des Skeletts.» Ich richtete die Taschenlampe auf die von Asche bedeckten, aber noch sichtbaren Überreste des Beckens. «Auch wenn wenig übrig geblieben ist, kann man erkennen, dass der Hüftknochen zu breit für einen Mann ist. Und der Humerus – das ist der Oberarmknochen, der mit einem Kugelgelenk im Schulterknochen sitzt – ist zu klein. Sie hatte einen kräftigen Knochenbau, aber es war definitiv eine Frau.»

«Wie gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemand von hier ist», sagte Brody. «Wenn jemand verschwunden wäre, hätten wir es bestimmt mitgekriegt. Haben Sie eine Ahnung, wie lange sie schon hier liegt?»

Das war eine gute Frage. Einige Dinge können selbst an einer stark verbrannten Leiche abgelesen werden, die exakte Bestimmung des Todeszeitpunktes gehört allerdings nicht dazu. Dafür musste man anhand der Muskelproteine, der Aminosäuren und der ungesättigten Fettsäuren das Ausmaß der Verwesung ermitteln, und diese Elemente werden von einem Feuer für gewöhnlich allesamt vernichtet. Aufgrund des außergewöhnlichen Zustandes dieser Leiche war allerdings im Gegensatz zu den meisten Feuertoten genug Gewebe vorhanden, das man untersuchen konnte. Diese Tests mussten warten, bis ich zurück im Labor war, in der Zwischenzeit konnte ich bestenfalls eine qualifizierte Schätzung abgeben.

«Das kalte Wetter wird das Tempo der Verwesung verlangsamt haben», erklärte ich. «Aber an Händen und Füßen hat die Zersetzung bereits begonnen, der Tod wird also schon vor einer Weile eingetreten sein. Angenommen, die Leiche hat die ganze Zeit hier gelegen und ist nicht von woanders hierherbewegt worden – und so wie die Platten darunter verkohlt sind, halte ich das für wahrscheinlich –, würde ich sagen, dass wir es mit vier oder fünf Wochen zu tun haben.»

«Die Bauarbeiten sind schon lange vorher abgeschlossen worden», sagte Brody nachdenklich. «Dann kann es niemand sein, der mit den Arbeitern rübergekommen ist.»

Fraser hatte mit wachsender Verärgerung zugehört. Ihm gefiel es nicht, wie der ehemalige Inspector das Kommando übernahm. «Wenn es keine von hier war, dann werden wir bestimmt über die Passagierlisten der Fähre herausfinden, wer es war. Zu dieser Jahreszeit kann es nicht viele Besucher geben.»

Brody lächelte. «Hatten Sie den Eindruck, dass man auf der Fähre Listen führt? Außerdem gibt es ein paar andere Boote, die zwischen Runa und Stornoway verkehren. Niemand achtet darauf, wer kommt und geht.»

Er ignorierte den Sergeant und wandte sich an mich. «Und jetzt? Ich nehme an, Sie werden Wallace bitten, die Spurensicherung herzuschicken?»

Fraser mischte sich ein, ehe ich antworten konnte. «Bevor Dr. Hunter seine Arbeit nicht beendet hat, werden wir gar nichts tun. Bestimmt haben wir es nur mit irgendeinem Junkie oder einer Säuferin zu tun, die sich selbst in Brand gesteckt hat.»

Brodys Miene war unergründlich. «Und was wollte sie mitten im Winter auf Runa?»

Fraser zuckte mit den Achseln. «Sie könnte Freunde oder Verwandte hier haben. Oder sie war eine von diesen Esoterikerinnen, die zurück zur Natur wollen oder was auch immer. Die findet man auf noch abgelegeneren Inseln als dieser.»

Brody richtete seine Taschenlampe auf den Schädel. Er lag mit dem Gesicht nach unten und leicht zu einer Seite geneigt inmitten der Asche, und in dem einmal glatten Hinterkopf klaffte ein Loch.

«Glauben Sie, sie hat sich auch selbst den Kopf eingeschlagen?»

Ich schaltete mich ein, damit sich die Gemüter nicht noch mehr erhitzten. «In so einem heißen Feuer birst häufig der Schädel. Er ist im Grunde ein verschlossener Behälter voller Flüssigkeiten und gallertartiger Masse. Wenn er erhitzt wird, funktioniert er wie ein Schnellkochtopf. Die Zunahme von Gas lässt ihn irgendwann explodieren.»

Fraser wurde bleich. «O Gott.»

«Sie glauben also, es könnte ein Unfall gewesen sein?», fragte Brody skeptisch.

Ich zögerte, denn ich wusste, wie trügerisch die Auswirkungen eines Feuer auf den menschlichen Körper sein konnten. Trotz meiner Erklärungen hatte ich Zweifel. Aber Wallace würde Fakten wollen, keine Vermutungen.

«Möglich», sagte ich ausweichend. «Ich weiß, es sieht bizarr aus, aber das ist nicht dasselbe wie unnatürlich. Ich muss mir die Leiche bei Tageslicht anschauen, aber hier gibt es nichts, was sofort auf Mord verweist. Abgesehen von dem Loch im Schädel, das man bei einem derart heißen Feuer erwarten kann, gibt es keine offensichtlichen Traumata. Außerdem deutet nichts auf eine Fremdeinwirkung hin, Arme und Beine waren zum Beispiel nicht gefesselt.»

Brody rieb sich stirnrunzelnd das Kinn. «Wäre das Seil nicht auch verbrannt?»

«Das hätte keinen Unterschied gemacht. Durch das Feuer kommt es zu Muskelkontraktionen, die Gliedmaßen werden in eine Art Embryonalstellung zusammengezogen. Man nennt das auch pugilistische Stellung, weil es aussieht wie bei einem Boxer. Doch wenn Hände oder Füße des Opfers gefesselt sind, können sie sich nicht zusammenziehen, selbst wenn das Seil später auch verbrennt.»

Ich leuchtete mit der Taschenlampe über die Leiche, damit sie sehen konnten, wie sich die Gliedmaßen verkrampft hatten.

«Wenn sie gefesselt gewesen wäre, würden Arme und Beine gerade sein und nicht angezogen wie hier. Also können wir das ausschließen.»

Doch Brody war nicht zufrieden. «Na schön. Aber ich war dreißig Jahre lang Polizeibeamter. Ich habe einige Feuerleichen gesehen, Unfälle und andere Sachen. Aber so etwas ist mir noch nie untergekommen. Es ist schwer nachvollziehbar, wie ein Körper so verbrennen kann, ohne dass ein Brandbeschleuniger benutzt wurde.»

Unter normalen Umständen hätte er recht gehabt. Aber das hier waren keine normalen Umstände.

«Ein Beschleuniger wie Benzin kann dieses Feuer nicht erzeugt haben», erklärte ich ihm. «Dann wäre es nicht heiß genug gewesen. Und selbst wenn, um eine Leiche in diesem Ausmaß zu verbrennen, hätte man so viel von dem Zeug gebraucht, dass das gesamte Cottage in Flammen aufgegangen wäre. Man hätte das Feuer niemals so eindämmen können wie hier.»

«Und was kann es dann verursacht haben?»

Ich hatte eine Ahnung, doch ich wollte noch nicht spekulieren. «Um das herauszufinden, bin ich hier. Aber vorerst sollten wir ein paar Sicherheitsvorkehrungen treffen.» Ich wandte mich an Fraser. «Können Sie einen Durchgang von der Tür bis hier absperren und die Leiche sichern? Ich möchte hier drinnen nicht mehr durcheinanderbringen als nötig.»

Der Sergeant nickte Duncan zu. «Na los, geh und hol das Absperrband. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.»

Duncan war noch nicht weit gekommen, als plötzlich der Raum hell erleuchtet wurde. Die Scheinwerfer eines Wagens strahlten durch das Fenster, man konnte hören, wie draußen der Motor abgestellt wurde.

«Anscheinend kriegen wir Besuch», bemerkte Brody.

Fraser gab Duncan bereits verärgert ein Zeichen. «Geh raus und lass keinen hier rein.»

Aber es war zu spät. Als wir ihm hinaus in die Küche folgten, stand schon jemand in der Eingangstür. Es war die junge Frau, mit der ich auf der Fähre gesprochen hatte. Ihre zu große rote Jacke war ein greller Farbtupfer in dem schummerigen Cottage.

«Schaff sie raus», knurrte Fraser Duncan an.

Sie senkte ihre Taschenlampe und hielt eine Hand vor die Augen, als Fraser ihr mit seiner ins Gesicht leuchtete. «Hey, geht man so mit der Presse um?»

Presse?, dachte ich erschrocken. Sie hatte mir erzählt, sie sei Schriftstellerin. Duncan war stehen geblieben und wusste nicht, was er tun sollte. Die junge Frau versuchte, einen Blick in den dunklen Raum hinter uns zu werfen. Brody streckte den Arm aus, um die Tür zu schließen, doch die Angeln schienen eingerostet. Sie quietschten laut auf, wollten sich aber nicht bewegen.

Als er sich in der Tür aufbaute, um ihr den Blick zu versperren, lächelte Maggie ihn an. «Sie müssen Andrew Brody sein. Meine Großmutter hat mir von Ihnen erzählt. Ich bin Maggie Cassidy von der Lewis Gazette.»

Brody schien ihr plötzliches Auftauchen nicht zu kümmern. «Was wollen Sie, Maggie?»

«Ich will herausfinden, was hier los ist, was glauben Sie denn? Die Polizei kommt nicht alle Tage nach Runa.» Sie grinste. «Reiner Zufall, dass ich gerade meine Großmutter besuchen wollte. Super Timing, oder?»

Jetzt wusste ich, warum sie so schnell von der Fähre geeilt war. Sie hatte sich ein Auto besorgt. Das es nur eine Straße auf der Insel gab und der Range Rover vor dem Cottage stand, hatte sie uns bestimmt ohne große Schwierigkeiten gefunden.

Sie wandte sich an mich. «So schnell sieht man sich wieder, Dr. Hunter. Sie besuchen hier draußen wohl wirklich keinen Patienten.»

«Kümmern Sie sich nicht darum», sagte Fraser mit erhitztem Gesicht. «Raus. Sofort. Ehe ich Ihnen einen Arschtritt verpasse und Sie eigenhändig rausschmeiße.»

«Das wäre Körperverletzung, Sergeant Fraser. Sie wollen doch nicht, dass ich Sie verklage, oder?» Sie wühlte in ihrer Umhängetasche und zog ein Diktaphon hervor. «Nur ein paar Kommentare, mehr will ich nicht. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass eine Leiche auf Runa gefunden wird. Und darum geht es hier doch, oder? Um eine Leiche, richtig?»

Fraser hatte seine Fäuste geballt. «Schaff sie raus.»

Sie fuchtelte mit dem Diktaphon herum. «Schon eine Ahnung, wer es ist? Gibt es Hinweise auf einen gewaltsamen Tod?»

Duncan nahm ihren Arm. «Kommen Sie, Miss …», sagte er entschuldigend.

Maggie zuckte resigniert mit den Achseln. «Na gut. Ich habe es versucht.»

Sie tat so, als wollte sie gehen, dabei ließ sie ihre Tasche von der Schulter rutschen. Als sich Duncan reflexhaft danach bückte, duckte sie sich schnell und starrte an ihm vorbei. Als sie sah, was in dem anderen Raum war, riss sie geschockt die Augen auf.

«O mein Gott!»

«Raus, sofort!» Fraser stürzte an Duncan vorbei und packte sie. Dann schob er sie unsanft Richtung Tür.

«Aua! Sie tun mir weh!» Sie hob das Diktaphon. «Ich nehme das auf, ich werde mit körperlicher Gewalt von Sergeant Fraser hinausgeworfen …»

Fraser ignorierte sie. «Wenn ich Sie hier noch einmal in der Nähe sehe, verhafte ich Sie. Klar?»

«Das ist Amtsmissbrauch …!»

Doch Fraser hatte sie bereits aus dem Cottage gestoßen. Er wandte sich an Duncan.

«Setz sie in ihren Wagen und sieh zu, dass sie abhaut. Kriegst du das auf die Reihe?»

«Tut mir leid, ich …»

«Tu es einfach!»

Duncan hastete hinaus. Brody sagte nichts, aber sein Schweigen offenbarte seine Gefühle.

«Großartig!», kochte Fraser. «Genau das haben wir gebraucht, eine verfluchte Presseschlampe.»

«Sie schien Sie zu kennen», meinte Brody.

Fraser starrte ihn wütend an. «Ich werde jetzt Ihre Aussage aufnehmen, Mr. Brody.» Die Betonung war als Beleidigung gemeint. «Danach brauchen wir Sie nicht mehr.»

Brodys Kiefer zuckte, aber sonst ließ er sich seine Verärgerung nicht anmerken. «Wo wollen Sie Ihren Kommandoposten aufschlagen, solange Sie hier sind?»

Fraser blinzelte misstrauisch. «Was?»

«Sie können das Cottage nicht unbewacht lassen. Jetzt nicht mehr. Wenn einer von Ihnen mit mir zurück ins Dorf kommen würde, können Sie mein Wohnmobil haben und als Kommandoposten benutzen. Nichts Besonderes, aber es dürfte Ihnen schwerfallen, auf der Insel eine Alternative zu finden.» Er zog seine Augenbrauen hoch. «Es sei denn, Sie wollen die ganze Nacht im Wagen verbringen?»

Man konnte dem Sergeant deutlich ansehen, dass er nicht so weit vorausgedacht hatte. «Duncan wird mit Ihnen fahren, um das Ding zu holen», sagte er schroff.

Brody nickte mir amüsiert zu. «Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Dr. Hunter. Viel Glück.»

Er und Fraser gingen hinaus. Als sie weg waren, stand ich allein in der Stille des engen Raumes und kämpfte gegen das Unbehagen an, das in mir aufkam.

Sei nicht töricht. Ich ging zurück in den Raum, in dem die Überreste der toten Frau lagen. Während ich über die nächsten Schritte nachdachte, richteten sich meine Nackenhaare auf. Ich drehte mich schnell um. Waren Duncan und Fraser zurückgekehrt?

Doch abgesehen von den Schatten war der Raum leer.

Kapitel 4

Später brachte Fraser mich zurück ins Dorf. Die Hitze aus der Lüftung und das rhythmische Ticken der Scheibenwischer machten mich schläfrig. Die Scheinwerfer strichen über die Straße, jenseits ihrer Lichtkegel nur Finsternis.