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Nur wenn sie sich erinnert, wird sie überleben.
Ein eisiger Wintermorgen: Zoe schreckt aus einem Albtraum auf, am ganzen Körper mit Verletzungen übersät und ohne Erinnerung an die vergangenen beiden Tage. Ihr Mann David ist spurlos verschwunden. Kurz darauf wird sie von einer verzerrten Stimme am Telefon bedroht, die die Wahrheit über gestern Nacht wissen will. Geschockt legt Zoe auf - doch der unheimlichen Forderung des Anrufers kann sie nicht entkommen. Und die Wirklichkeit ist grausamer, als sie sich jemals hätte vorstellen können ...
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Über dieses Buch
Über die Autorin
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Epilog
Nur wenn sie sich erinnert, wird sie überleben.
Ein eisiger Wintermorgen: Zoe schreckt aus einem Albtraum auf, am ganzen Körper mit Verletzungen übersät und ohne Erinnerung an die vergangenen beiden Tage. Ihr Mann David ist spurlos verschwunden. Kurz darauf wird sie von einer verzerrten Stimme am Telefon bedroht, die die Wahrheit über gestern Nacht wissen will. Geschockt legt Zoe auf – doch der unheimlichen Forderung des Anrufers kann sie nicht entkommen. Und die Wirklichkeit ist grausamer, als sie sich jemals hätte vorstellen können …
Patricia Walter, geboren 1974, studierte in München Statistik und arbeitet in der Versicherungsbranche. In ihrer Freizeit betreibt sie neben dem Schreiben Kampfsport, insbesondere Judo und Kung Fu. In Judo hat sie den zweiten Schwarzgurt und ist ehrenamtlich als Trainerin tätig. Sie lebt in München. »Kalte Erinnerung« ist ihr erster Roman. Mehr über die Autorin erfahren Sie auf: www.patricia-walter.de
Patricia Walter
KALTEERINNERUNG
Psycho-Thriller
beTHRILLED
Digitale Originalausgabe
»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Nadine Buranaseda
Projektmanagement: Stephan Trinius
Titelgestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © Shutterstock: Anca Dumitrache | Heidi Brand | Kichigin
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3150-9
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Ihr gellender Schrei hallte in der Dunkelheit, als sie in die Tiefe stürzte. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und ein eisiger Wind blies ihr ins Gesicht. Hilflos ruderte sie mit den Armen, doch ihr freier Fall war nicht aufzuhalten. Zeit hatte jede Bedeutung verloren, die Sekunden dehnten sich zur Unendlichkeit.
Es war so finster, dass sie nichts um sich herum erkennen konnte. Als ob es keinen Boden gäbe und sie tiefer und tiefer in den Schlund der Hölle stürzte. Das Pfeifen des Windes schwoll zu einem Heulen an. Tränen schossen ihr in die Augen. Eisige Kälte breitete sich im gesamten Körper aus und vermischte sich mit einer nie gekannten Angst.
Zoe fuhr senkrecht in die Höhe. Schweißgebadet und schwer atmend saß sie im Bett, während die Fragmente ihres Albtraums langsam verblassten. Zitternd verharrte sie in dem Schwebezustand zwischen Traum und Erwachen und starrte mit leerem Blick ins Nichts.
Im Zimmer war es dunkel. Nur die Straßenlaterne vor dem Fenster warf einen matten Schein durch die Ritzen der Jalousie. Zoe war schlaftrunken und orientierungslos. Noch immer hatte sie das beängstigende Gefühl zu fallen und spürte Wind und Kälte auf der Haut.
Ganz ruhig, sagte sie zu sich selbst. Es war nur ein Traum.
Sie blieb einen Augenblick sitzen, bis sie sich wieder gefangen hatte, dann sank sie erschöpft aufs Kopfkissen zurück. Das Nachthemd klebte ihr unangenehm auf der Haut.
Es war lange her, seit sie einen solch schlimmen Albtraum gehabt hatte. Nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern vor dreizehn Jahren war sie Nacht für Nacht von düsteren Träumen heimgesucht worden. Erst als sie David kennengelernt hatte, war sie allmählich ruhiger geworden und konnte wieder durchschlafen. Mit ihm hatte sie ihr Glück gefunden. Inzwischen waren sie acht Jahre verheiratet und wünschten sich nun ein Kind.
Zoe lächelte und strich sich mit der Hand sanft über den Bauch.
Wenn es nur schon so weit wäre.
Sie seufzte und griff nach dem Wecker. Die roten Ziffern zeigten Viertel nach sieben.
Seltsam. Normalerweise war sie bereits seit einer halben Stunde auf den Beinen. Hatte sie das Klingeln nicht gehört? Oder gestern vergessen, den Wecker zu stellen? Warum hatte David sie nicht geweckt? Hatte er auch verschlafen?
Sie tastete nach ihm, doch die Bettseite neben ihr war leer.
Zoe schaltete die Nachttischlampe ein und blinzelte. Sie hasste es aufzustehen, wenn es draußen noch dunkel war. Wie gut, dass in zwei Wochen Weihnachten war und die Tage danach wieder länger wurden.
Sie gähnte. Der Schreck des Albtraums saß ihr nach wie vor in den Gliedern. Als sie sich streckte, schoss ein stechender Schmerz durch ihre linke Schulter. Zoe stöhnte.
Na toll. Als ob der Albtraum nicht schon gereicht hätte. Jetzt hab ich mich in der Nacht auch noch verlegen.
Sie krümmte den Rücken und bewegte den Kopf, um ihre Muskeln zu lockern, doch der Schmerz verstärkte sich dadurch nur. Er fuhr durch ihren Oberkörper bis zur Hüfte und weiter in die Beine. Knie und Ellenbogen pochten, selbst das Atmen tat ihr weh.
Irritiert betrachtete sie ihren rechten Ellenbogen.
Was zum Teufel …?
Ungläubig blickte sie auf ihre Arme, die mit blauen Flecken und blutigen Schrammen übersät waren.
Zoe drehte die Unterarme in beide Richtungen. Eine Mischung aus Entsetzen und Fassungslosigkeit machte sich in ihr breit. Vorsichtig fuhr sie mit dem Finger über eine der Wunden und zuckte bei der Berührung zusammen. Die Verletzung war real. Eine Vorahnung überkam sie: Hektisch riss sie die Bettdecke weg und stellte fest, dass ihre Beine genauso aussahen. Ein tiefer Schnitt zog sich quer über ihren rechten Oberschenkel.
Mit einem Schlag war sie hellwach. Woher hatte sie diese Verletzungen?
Sie sprang so ruckartig aus dem Bett, dass ihr ganzer Körper aufschrie. Humpelnd lief sie ins Bad und schaltete die Deckenlampe an. Ihre Wunden traten im Neonlicht noch deutlicher hervor. Sie ging zum Waschbecken und schaute in den Spiegel.
Ihr schwarzes schulterlanges Haar war vom Schlaf zerzaust. Es fiel ihr strähnig ins Gesicht, das sie im ersten Moment gar nicht als ihr eigenes erkannte. Auf der Stirn prangte eine tiefe Platzwunde. Geronnenes Blut klebte auf der rechten Wange, die stark geschwollen war. Auf dem Kinn zeichnete sich ein dunkelblaues Hämatom ab.
Zoe kniff die Augen zusammen und beugte sich zum Spiegel vor. Wie in Trance berührte sie die Platzwunde und verzog das Gesicht. Behutsam schälte sie sich aus dem Nachthemd. Ihr Oberkörper war genauso zerschunden wie der Rest ihres schlanken Körpers. Sie sah aus, als wäre sie verprügelt worden.
Geschockt betrachtete sie ihr Spiegelbild. War das wirklich sie? Ihr Atem beschleunigte sich. Ihre Beine drohten nachzugeben, sodass sie sich am Waschbecken abstützen musste.
Was ist mit mir passiert? Wer hat mich so zugerichtet?
Die Wunden schienen frisch zu sein und waren höchstens ein paar Stunden alt. Zoe dachte an den gestrigen Tag zurück, an die Abendstunden, bevor sie ins Bett gegangen war. Doch sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere.
Was …?
Beklemmung erfasste sie und steigerte sich zu einer bedrückenden Angst, die sich schwer auf ihren Brustkorb legte. Jeder Atemzug war eine Qual.
Verzweifelt versuchte Zoe, sich in Erinnerung zu rufen, was gestern geschehen war. Sie überlegte, wann sie aufgestanden war und wie sie den Tag verbracht hatte. Aber so sehr sie sich konzentrierte, es gelang ihr nicht. Als hätte es diesen Tag nie gegeben.
Ihre Angst wechselte in Panik.
Sie dachte an vorgestern und stellte entsetzt fest, dass sie sich daran ebenfalls nicht erinnern konnte. Die beiden Tage waren vollkommen aus ihrem Gedächtnis gelöscht.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Man verliert nicht einfach das Gedächtnis.Oder wacht mit blutigen Schrammen auf.
Welcher Tag war heute überhaupt? Sie sah zur Badezimmeruhr.
Mittwoch.
Sie rieb sich die Augen und blickte abermals auf die Datumsanzeige, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht verlesen hatte.
Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war ein Besuch mit David in der Therme Erding. Und das war am Sonntag gewesen. Ihr fehlten ganze zwei Tage!
Das konnte nicht sein. Zoe humpelte ins Schlafzimmer und schaltete den Fernseher in der Ecke ein. Sie wechselte zu einem Nachrichtensender und öffnete den Videotext. Ganz oben stand Mittwoch. Sie schluckte schwer. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, stand sie wie angewurzelt da. Die Leere in ihrem Kopf machte sie fast wahnsinnig.
Es kostete sie viel Kraft, sich aus der Starre zu lösen. Zurück im Bad drehte sie den Hahn auf und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Die Kälte traf sie wie ein Schock. Stoßweise atmete sie, während sie sich das Blut von Stirn und Wange wusch.
Wenn sie gestern derart ramponiert nach Hause gekommen war, warum hatte David nichts gesagt? Er hätte sie sofort ins nächste Krankenhaus gefahren.
Zoe stellte den Wasserhahn ab.
Normalerweise verließ David kurz vor ihr das Haus, allerdings frühstückten sie vorher zusammen. Das konnte nur bedeuten, dass er noch da war. Sie neigte den Kopf und lauschte, konnte jedoch kein Geräusch in der Wohnung hören.
»David?«, rief sie, erhielt aber keine Antwort.
Hastig trocknete sie sich das Gesicht ab und zog ihren Bademantel über.
»David?«
Barfuß lief sie die Wendeltreppe ihrer Maisonettewohnung nach unten ins Wohnzimmer. Doch der Raum, den David wegen der vielen Pflanzen scherzhaft als »Dschungel« bezeichnete, war verlassen, genau wie das kleine Arbeitszimmer nebenan und die Küche.
Für einen Moment verharrte sie unentschlossen, dann ging sie wieder ins Schlafzimmer. Und blieb wie erstarrt stehen.
Im ersten Schreck war es ihr vorhin gar nicht aufgefallen: Davids Bettseite war unbenutzt, die Decke sauber zusammengelegt. Er hatte heute Nacht gar nicht hier geschlafen.
Wo war er nur?
Sie versuchte ein weiteres Mal, sich zu erinnern, jedoch ohne Erfolg.
War er vielleicht auf Dienstreise?
Sie dachte an Sonntag zurück, ihre letzte Erinnerung vor dem mysteriösen Blackout. Sie sah David vor sich, wie er ihr gegenüber entspannt im Whirlpool lag. Worüber hatten sie noch mal gesprochen? Über ihre Pläne für Weihnachten. Ob sie die Feiertage allein zu Hause oder bei Davids Eltern in Hamburg verbringen wollten. Eine Dienstreise hatte er nicht erwähnt.
Aber wo war er dann?
Sie griff nach ihrem iPhone auf dem Nachttisch und schaltete es an. Es dauerte quälend lange, bis das Gerät sich ins Mobilfunknetz eingeloggt hatte. Sie drückte die Kurzwahl für Davids Handynummer, die Verbindung baute sich auf. Sofort ertönte die weibliche Stimme des Anrufbeantworters: »Hallo, hier ist die Mobilbox von David Drexler. Bitte sprechen Sie nach dem Ton.«
Es piepte, und Zoe beendete die Verbindung, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Merkwürdig. David ließ sein Handy immer angeschaltet, wenn er unterwegs war. Nur für den Fall, dass sie ihn dringend erreichen musste.
So wie jetzt.
Sie versuchte es erneut, aber wieder ging nur der Anrufbeantworter an.
»David, ich bin’s. Bitte ruf mich sofort zurück. Ich …«
Sie stockte und überlegte, was sie ihm eigentlich sagen sollte.
Ich bin gerade mit blauen Flecken und blutigen Schrammen am ganzen Körper aufgewacht und weiß nicht, wo ich die herhabe. Hast du eine Ahnung?
Ihr wurde bewusst, wie irrsinnig das klang. Nach einigen Sekunden des Schweigens legte sie auf.
Wenn David gestern Abend nicht da gewesen war, dann hatte er vermutlich auch nicht mitbekommen, wie sie verletzt nach Hause gekommen war.
Gedankenverloren sah sie aufs Handy. Vielleicht eine SMS? Bestimmt hatte er ihr eine SMS geschickt.
Enttäuscht stellte sie fest, dass sie vor vier Tagen die letzte Nachricht von ihm erhalten hatte. Es war eine kurze SMS: Ich liebe dich.
Ich liebe dich, wiederholte sie in Gedanken und seufzte. Es waren diese kleinen Gesten, die sie an ihm mochte und die dazu beitrugen, dass sie immer noch so verliebt waren wie am ersten Tag. Mal brachte er ihr Blumen mit, schickte ihr eine Postkarte mit Liebesgedichten oder überraschte sie mit einem romantischen Picknick am See.
Zoe betrachtete das Foto, das auf dem Nachtkästchen stand und David in ihrem letzten Sommerurlaub in Griechenland zeigte. Braungebrannt und fröhlich lachte er in die Kamera. Neben seinen Mundwinkeln zeichneten sich die kleinen Grübchen ab, die sie so anziehend fand. Die kurzen schwarzen Haare wurden an einigen Stellen bereits grau. Obwohl er auf die vierzig zuging, leuchtete in seinen Augen noch immer die spitzbübische Ausgelassenheit eines Jungen.
Sie ging nach unten und sah sich ein weiteres Mal um.
Irgendeinen Hinweis über seinen Verbleib musste es doch geben. Doch weder im Wohnzimmer noch im Arbeitszimmer wurde sie fündig.
Zoe ging weiter in die Küche, die nicht den Anschein erweckte, als wäre kürzlich jemand hier gewesen. Alles war sauber in die Schränke geräumt. Und in der Luft hing auch nicht der Duft nach frisch gemahlenem Kaffee, den David am Morgen so dringend brauchte. Nur die Tannenzweige auf dem Tisch, zwischen denen eine rote zur Hälfte abgebrannte Kerze steckte, verströmten einen weihnachtlichen Geruch.
Wo war David?
Und was war gestern bloß passiert?
Tief in Gedanken stand Zoe in der Küche. Nach einer Weile ging sie zum Fenster und blickte nach draußen. Die Dämmerung setzte allmählich ein. Nebliger Dunst hing in der Luft, und die Erde lag unter einer dicken Schneeschicht. Es musste erneut geschneit haben. Auf dem Busch vor dem Fenster türmte sich eine weiße Krone. Eiszapfen hingen von den Bäumen, die die Straße säumten.
Zoe fröstelte bereits beim bloßen Anblick.
Sie wohnten am nördlichen Stadtrand von München in einem Haus, das aus vier Maisonettewohnungen bestand. Während die beiden oberen Parteien große Dachterrassen hatten, gehörte zu den Erdgeschosswohnungen ein Garten.
Sie wollte sich gerade wieder umdrehen, als eine Bewegung am Hauseingang ihre Aufmerksamkeit erregte. Ihre Nachbarin, eine hübsche Frau Anfang dreißig, trat ins Freie und lief mit gesenktem Kopf den Gehweg entlang. Die langen blonden Haare fielen ihr leicht gewellt über die Schultern und umrahmten das Gesicht mit den großen rehbraunen Augen.
Ob sie vielleicht etwas weiß?
Zoe öffnete das Fenster.
»Jasmin«, rief sie ihr hinterher. »Hey, Jasmin, warte doch mal!«
Jasmin zuckte zusammen und blieb abrupt stehen. Suchend blickte sie sich um, bis sie Zoe am Fenster entdeckte.
Zoe bedeckte mit der Hand ihre Verletzungen im Gesicht. Die Haare hatte sie notdürftig über die Platzwunde gestrichen.
»Entschuldige, hab ich dich erschreckt?«
»Gott ja, Zoe! Ich bin spät dran.«
»Tut mir leid. Nur kurz: Hast du zufällig gehört, wann ich nach Hause gekommen bin?«
Jasmin schüttelte den Kopf. »Nein. Warum fragst du?«
Weil ich verwundet bin, einen Blackout habe und die letzten zwei Tage vollkommen aus meinem Gedächtnis gelöscht sind.
Zoe bemühte sich um einen ungezwungenen Tonfall, obwohl die Angst sie weiterhin fest im Griff hatte. »Ach, irgendwie bin ich heute etwas durcheinander. Ich kann mich nicht erinnern, wie und wann ich heimgekommen bin.«
»Hast wohl zu wild gefeiert, was?«
Gute Frage. Hatte sie das?
»Keine Ahnung. Ich glaube nicht.« Zoe machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ist aber nicht so wichtig, ich dachte nur, du hättest vielleicht was gehört. Dann halt ich dich nicht länger auf. Bis dann.«
Damit schloss sie das Fenster.
War es möglich, dass sie tatsächlich zu viel getrunken und deshalb einen Filmriss hatte? Doch sie verwarf den Gedanken wieder. Sie fühlte sich kein bisschen verkatert. Und schon gar nicht erklärte es ihre Verletzungen.
Erneut betrachtete Zoe ihre Arme, bis sie die Kälte spürte, die ihr von den Fliesen in die Beine kroch. Unentschlossen ging sie ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich auf die braune Stoffcouch fallen und legte das Handy auf den Beistelltisch aus Glas.
Im nächsten Moment berührte sie etwas am Bein. Zoe fuhr zusammen. Sie schaute nach unten und sah in die leuchtenden Augen ihrer Katze.
»Plinky!«, sagte sie mit klopfendem Herzen. »Musst du dich so anschleichen?«
Der Kater strich auffordernd um ihre Beine.
»Na, komm schon hoch.« Sie klopfte auf ihren Schoß. Plinky sprang mit einem Satz auf ihre Oberschenkel und machte es sich bequem. Zoe presste die Lippen vor Schmerz zusammen, doch sie ließ den Kater gewähren, dessen Schnurren sie tröstete. Sie streichelte Plinky über das seidige orange-rötliche Fell.
»Ob du mitbekommen hast, was passiert ist?«
Sie erwartete nicht ernsthaft eine Antwort. Plinky lag mit geschlossenen Augen da und verstärkte sein Schnurren.
Kaum zu glauben, wie verschmust der Kater ist, dachte sie und erinnerte sich an den Tag, an dem David und sie ihn aus dem Tierheim geholt hatten. Spaziergänger hatten das völlig verwahrloste und schwer verletzte Bündel in einem Wald gefunden, wo es offenbar irgendein Tierquäler zum Sterben abgelegt hatte. Zoe schloss das Wesen, das scheu und sichtlich traumatisiert in der Ecke kauerte, sofort ins Herz. In den nächsten Monaten päppelte sie Plinky liebevoll auf und gewann langsam sein Vertrauen. Mittlerweile wich der Kater Zoe nicht mehr von der Seite und begrüßte sie stürmisch, sobald sie von der Arbeit nach Hause kam. Die Wohnung verließ er allerdings nie, zu groß war seine Angst vor dem, was draußen auf ihn lauern könnte.
Ein Miauen riss Zoe aus den Gedanken.
»Du hast Hunger.« Zoe musste lächeln. Mit Plinky vergaß sie alles um sich herum. David neckte sie regelmäßig damit, indem er den eifersüchtigen Ehemann spielte, der erst an zweiter Stelle kam. Dabei war er genauso in Plinky verschossen wie sie.
Der Kater sprang von ihrem Schoß und lief in die Küche. Zoe öffnete den Vorratsschrank, nahm eine der Dosen mit Katzenfutter, die sich darin stapelten, und leerte den Inhalt in den Napf. Schmatzend machte Plinky sich darüber her.
Sie sah ihm zu und griff nach der Schachtel Tabletten gegen ihre Schilddrüsenunterfunktion, die vor einigen Jahren bei ihr diagnostiziert worden war. Sie spülte die Kapsel mit einem Glas Leitungswasser hinunter.
Trotzdem fühlte sich ihre Kehle weiterhin wie ausgetrocknet an. Zoe trank ein zweites Glas. Plinky saß derweil vor seinem Futternapf und kaute genüsslich ein Stück Thunfisch.
Ihr Handy klingelte. Na endlich! Das musste David sein. Bestimmt hatte er ihre Nachricht auf der Mailbox abgehört.
Sie hastete ins Wohnzimmer und griff nach dem Telefon. Kurz wunderte sie sich über die unterdrückte Rufnummer auf dem Display und nahm das Gespräch an.
»David?«, fragte sie atemlos.
Doch statt der vertrauten Stimme ihres Mannes meldete sich eine seltsam verzerrte, metallisch klingende Stimme.
»Zoe Drexler?«
Zoe schwieg. Am anderen Ende der Leitung war ein Keuchen zu hören. Ein mulmiges Gefühl überkam sie.
»Sind Sie Zoe Drexler?« Zoe vermochte nicht zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Der Anrufer klang ungeduldig, und in seiner Frage schwang ein aggressiver Unterton mit.
»Ja«, antwortete sie zögernd. »Und wer sind Sie?«
»Mein Name tut nichts zur Sache. Aber Sie sollten mir jetzt sehr gut zuhören. Und genau das tun, was ich Ihnen sage.«
»Wovon reden Sie?«, fragte Zoe und setzte sich auf die Couch.
»Sie wissen genau, wovon ich rede.«
»Nein, das weiß ich nicht. Und wenn das hier ein Scherz sein soll, dann …«
»Ein Scherz?« Die Person lachte heiser auf. »Ganz bestimmt nicht.«
Die Stimme klang kalt. Zoe spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie spielte mit dem Gedanken, aufzulegen, aber die Worte hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt.
Sie sollten mir jetzt sehr gut zuhören. Und genau das tun, was ich Ihnen sage.
»Wer sind Sie?«
»Ich kenne Sie, mehr müssen Sie über mich nicht wissen.«
Zoe legte die Stirn in Falten.
Vergeblich versuchte sie herauszuhören, wer hinter der verzerrten Stimme steckte, denn sie kam ihr sonderbar vertraut vor.
»Und was wollen Sie von mir?« Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, kam ihr ein furchtbarer Gedanke. Sie richtete sich kerzengerade auf. »Geht es um David? Ist ihm etwas passiert?«
Allein bei der Vorstellung stieg Übelkeit in ihr auf. Die Möglichkeit, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen. Hatte er einen Unfall gehabt? Wusste sie vielleicht längst davon, und ihre Gedächtnislücken zeigten nur, dass sie sich schlichtweg nicht erinnern wollte?
Aber an was?
Am anderen Ende der Leitung vernahm sie wieder dieses kehlige Lachen, und ihr wurde noch kälter.
»Was ist mit David? Warum sagen Sie mir nicht endlich, was los ist?«
»Weil ich genau das von Ihnen wissen will.«
»Wie bitte? Was wollen Sie von mir wissen?«
»Die Wahrheit«, antwortete die Stimme. »Ich will von Ihnen die Wahrheit hören.«
»Welche Wahrheit?«
Allmählich wurde Zoe wütend. Falls die Person etwas über Davids Verschwinden wusste, sollte sie endlich damit herausrücken.
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Wenn David was passiert ist, und Sie etwas damit zu tun haben sollten, dann …«
»Halten Sie endlich den Mund!«, unterbrach die Stimme sie in so scharfem Tonfall, dass sie augenblicklich verstummte. »Ich habe keine Zeit für Spielchen.«
Spielchen?
Zoe rang nach Atem.
War es etwa das? Ein perverses Spielchen?
Wer war diese Person? Und wieso benutzte sie einen Stimmenverzerrer?
Ein Teenager. Bestimmt war der Anrufer ein Teenager, der seine neueste technische Errungenschaft ausprobierte und sich aus purer Langeweile einen Spaß auf ihre Kosten erlaubte. Wahrscheinlich lag er schon vor Lachen am Boden.
»Du findest das Ganze wohl sehr witzig, was?«, sagte sie. »Schön, dass du deinen Spaß hattest, aber ich hab jetzt wirklich Wichtigeres zu tun. Ruf mich nicht noch mal an!«
Mit diesen Worten legte sie auf.
Auf was für Ideen die Jugendlichen kommen, dachte sie. Natürlich hatte sie als Kind auch Telefonscherze gemacht, aber sie hatte nie versucht, jemandem Angst einzujagen.
Zoe lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie konnte nicht sagen, warum, aber tief in ihrem Inneren hatte sie das ungute Gefühl, soeben den größten Fehler ihres Lebens begangen zu haben.
Lange, nachdem sie aufgelegt hatte, saß Zoe regungslos auf der Couch. Das Gespräch ging ihr nicht aus dem Kopf. Zu gut reihte es sich in die unerklärlichen Ereignisse ein, mit denen sie seit dem Aufwachen vor nicht einmal einer halben Stunde konfrontiert worden war. Ihre Verletzungen, der Gedächtnisverlust, Davids Verschwinden.
Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. Zitterte sie, weil sie fror, oder kam die Kälte von innen heraus, genährt von einer wachsenden Angst?
Sind Sie Zoe Drexler?
Die mysteriöse Person hatte sie mit ihrem Namen angesprochen. Irgendwie wollte das nicht so recht zu einem Telefonstreich passen. Zumindest nicht zu einem, bei dem man wahllos eine Nummer wählte. Nein, offenbar hatte dieser Mensch sie ganz gezielt angerufen.
Die verzerrte, metallisch klingende Stimme echote immer noch in ihren Ohren. Zoe grübelte, was ihr daran so vertraut vorgekommen war. Die Art, wie die Person gesprochen hatte, ihre Wortwahl … Sie konnte es nicht beschreiben.
Irgendetwas an der Sache beunruhigte sie zutiefst. Ihr Blick fiel aufs Handy. Und dann wurde es ihr klar.
Ihre Handynummer.
Zoe legte viel Wert auf ihre Privatsphäre, allein aus beruflichen Gründen. Sie arbeitete als Bewährungshelferin beim Landgericht München. Auch wenn sie bisher nie von einem Probanden belästigt worden war, achtete sie darauf, nicht zu viel Persönliches preiszugeben. Daher kannten nur Freunde und direkte Arbeitskollegen ihre private Handynummer.
Und der unbekannte Anrufer.
Beim Gedanken an ihre Arbeitskollegen sah Zoe auf die Uhr und erschrak. In einer Dreiviertelstunde begann ihr Dienst.
Sie wählte die Nummer ihres Chefs.
»Jochen Hofer«, meldete sich die unverkennbar sonore Stimme ihres Vorgesetzten.
Zoe hatte selten jemanden getroffen, dessen Persönlichkeit sich derart im Klang seiner Stimme widerspiegelte. Selbst in der größten Hektik ließ Hofer sich nicht aus der Ruhe bringen. Seine einnehmende Art hatte ihm schon so manche Tür geöffnet, und Zoe war sich sicher, dass seine Karriere noch lange nicht zu Ende war.
»Ja, hallo, Zoe Drexler hier.«
»Hallo, Frau Drexler.«
»Es tut mir leid, aber ich kann heute nicht kommen. Ich bin krank.« Sie hüstelte, um glaubhafter zu klingen.
Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen in der Leitung.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ja. Warum?«
Sie hörte, wie Hofer am anderen Ende der Leitung seufzte. »Frau Drexler, Sie haben sich doch bereits am Montag für den Rest der Woche krankgemeldet.«
Wortlos ließ sich Zoe in den Sessel fallen.
Sie hatte was?
»Frau Drexler, sind Sie noch dran?«
»Ja«, presste sie mühsam hervor.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Wenn ich das nur wüsste!
»Weshalb habe ich mich krankgemeldet?«
»Das haben Sie nicht gesagt.«
Wieder legte sich Stille zwischen sie.
»Frau Drexler, was ist los mit Ihnen? Mir ist bereits in den letzten Wochen aufgefallen, dass Sie unmotiviert sind. So leid es mir tut: Sie machen einen Fehler nach dem anderen. Und unsere Probanden tragen die Konsequenzen, wenn sie wieder straffällig werden.«
Zoe war sprachlos. Für sie gab es nichts Erfüllenderes, als anderen Menschen zu helfen. Sehr zum Leidwesen ihres Vaters, der es gerne gesehen hätte, wenn sie eines Tages seine Steuerkanzlei übernommen hätte.
Zoe erinnerte sich noch genau, wie sie die Dienststelle der Bewährungshilfe in Schwabing das erste Mal betreten hatte.
»Die Einstellung eines neuen Mitarbeiters ist keine einseitige Sache«, hatte Hofer damals zu ihr gesagt. »Wir müssen von Ihnen überzeugt sein, und Sie sollen sich bei uns wohlfühlen.«
Das hatte sie.
»Ich bin nicht unmotiviert«, sagte sie.
»Und was ist mit Sebastian Baumgartner?«
Baumgartner war einer ihrer Probanden, ein Mann Anfang zwanzig, der wegen eines bewaffneten Raubüberfalls vier Jahre im Jugendgefängnis verbracht hatte und vor einigen Monaten auf Bewährung entlassen worden war. Sein Lebenslauf unterschied sich nicht wesentlich von dem anderer krimineller Jugendlicher. Aufgewachsen in einem gewalttätigen Elternhaus, hatte er sich in Alkohol und Drogen geflüchtet und war zunächst in mehrere Schlägereien und Wohnungseinbrüche verwickelt gewesen, ehe er mit einer Schreckschusspistole bewaffnet eine Tankstelle überfiel und dabei den Kassierer brutal niederschlug. Im Gefängnis hatte er einen Entzug gemacht und seinen Hauptschulabschluss nachgeholt. Zoe hatte ihm nach seiner Entlassung dabei geholfen, eine Wohnung sowie eine Lehrstelle als Automechaniker zu finden. Er war auf dem besten Weg zurück in ein normales Leben.
»Was ist mit ihm?«
»Baumgartner hat seine Lehrstelle verloren. Das wissen Sie doch.«
Zoe kniff die Augen zusammen. »Wann ist das passiert? Und warum?«
»Was soll das, Frau Drexler?«
»Bitte sagen Sie mir einfach, wie das passiert ist.«
Erneut seufzte Hofer, ehe er antwortete: »Aus der Werkstatt wurde Werkzeug gestohlen, und der Inhaber hatte natürlich sofort Baumgartner in Verdacht. Er hat ihn rausgeworfen.«
»Wie bitte?«
»Darum geht es mir jetzt aber gar nicht. Der Werkstattbesitzer war einverstanden, mit Ihnen noch mal in Ruhe über die ganze Sache zu reden. Er wäre unter gewissen Umständen sogar bereit gewesen, Baumgartner eine zweite Chance zu geben. Und was machen Sie? Sie sind einfach nicht zum vereinbarten Termin erschienen. Ohne eine Entschuldigung.«
Zoe traute ihren Ohren nicht.
»Für den Werkstattbesitzer war die Sache damit endgültig erledigt. Und Baumgartner ist deswegen stinksauer auf Sie. Letzte Woche ist er betrunken bei uns aufgetaucht. Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet? Was glauben Sie, wie lange es wohl dauert, bis er den nächsten Überfall begeht? Der Kerl ist eine tickende Zeitbombe.«
Zoe schwieg noch immer. Verzweifelt versuchte sie, sich diesen Vorfall ins Gedächtnis zu rufen.
Allmählich bekam sie das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Sie hatte geglaubt, an einem kurzzeitigen Gedächtnisverlust zu leiden, doch offenbar reichten ihre Erinnerungslücken viel weiter zurück.
Litt sie womöglich an einer Amnesie?
Zoe lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Es tut mir leid«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »aber ich fühle mich momentan nicht gut. Sobald ich wieder gesund bin, komme ich zur Arbeit. Auf Wiederhören.«
Sie legte auf und starrte auf das Foto an der gegenüberliegenden Wand.
Ich habe seit Wochen Probleme in der Arbeit und kann mich nicht daran erinnern.
Zwei Tage zu vergessen war eine Sache, aber das hier ging viel weiter.
Weshalb hatte sie sich bereits am Montag für den Rest der Woche krankgemeldet, obwohl sie gar nicht krank war? Es konnte nicht an den Verletzungen gelegen haben, denn die hatte sie sich definitiv erst später zugezogen. Und warum konnte sie sich an den Besuch der Therme mit David am letzten Sonntag erinnern, nicht aber an die Probleme in der Arbeit?
Verzweifelt fuhr sie sich durch die Haare. Sie musste mit David sprechen. Wenn sie Probleme im Job hatte, dann hatte sie ihm bestimmt davon erzählt.
Aber wo war er?
Konnte es sein, dass sie und David sich gestritten hatten und er deshalb woanders übernachtet hatte? Zwischen ihnen gab es so gut wie nie Auseinandersetzungen, aber ganz ausschließen konnte sie es nicht.
Sie rieb sich das Kinn und stöhnte leise auf, als sie den blauen Fleck berührte.
Wenn David tatsächlich bei jemand anderem übernachtet hatte, kam dafür nur eine Person in Frage: Marco Ries, Davids bester Freund und Trauzeuge. Bestimmt war David dort, und falls nicht, dann wusste Marco, wo er steckte. Kurzentschlossen rief sie Marco auf dem Handy an, doch genau wie bei David schaltete sich sofort der Anrufbeantworter an. War eigentlich irgendjemand erreichbar?
Allerdings wusste sie, dass Marco sein Handy in der Hauptsache beruflich nutzte. Und er wohnte nicht weit entfernt. Es war wohl das Beste, wenn sie zu ihm fuhr und die Sache mit ihrem Mann oder mit Marco persönlich klärte. Was auch immer das für eine Sache sein mochte.
Zoe lief hinauf ins Bad, zog den Bademantel aus und stieg unter die Dusche. Das Wasser brannte auf ihren Wunden. Der Wannenboden färbte sich bräunlich, als das getrocknete Blut sich von ihrer Haut löste. Erneut schauderte sie beim Anblick ihres zerschundenen Körpers.
Sie stellte das Wasser ab und griff nach dem Badehandtuch. Es war feucht.
Als hätte es jemand erst kürzlich benutzt.
Komisch. Sie hatte am Abend bestimmt nicht mehr geduscht. Sonst wäre sie nicht so blutverschmiert gewesen. Unsicher verharrte sie, während Wassertropfen an ihr hinunterrannen und sie eine Gänsehaut bekam.
Nein, wahrscheinlich hatte sie das Handtuch gewaschen und zum Trocknen über die Stange gehängt.
Oder jemand war in der Wohnung gewesen.
War das möglich? Die Vorstellung, ein Fremder könnte in ihren vier Wänden gewesen sein, jagte ihr eine Heidenangst ein.
Mach dich jetzt nicht verrückt! Es gibt bestimmt eine einfache Erklärung dafür.
Zoe zwang sich, an etwas anderes zu denken. Sie trocknete sich behutsam ab und zog frische Kleidung an. Anschließend klebte sie ein großes Pflaster auf die Stirn und frisierte sich so, dass der Pony die Stelle halbwegs überdeckte. Die Abschürfung auf der Wange versuchte sie mit Puder zu überdecken, doch die Verletzung brannte wie Feuer. Sie ließ es bleiben.
Sie hob ihr Nachthemd vom Boden auf, um es in der Wäschetonne zu verstauen. Kaum hatte sie den Deckel gehoben, taumelte sie zurück und ließ das Baumwollhemd fallen. In der Tonne steckten schmutzverklebte Kleidungsstücke. Nacheinander holte sie eine Winterjacke, eine Jeans und einen Pullover daraus hervor. Allesamt voller Blutflecken und an mehreren Stellen zerrissen. Offenbar hatte sie die Kleidung bei dem Unfall – oder was immer ihr passiert war – getragen. Alarmiert betrachtete sie die Sachen von allen Seiten.
Eine Erinnerung durchzuckte sie.
Zoe stand im Flur und zog ihre Stiefel an. Sie zitterte, brachte kaum den Reisverschluss ihrer Winterjacke zu.