Kalte Nacht - Anne Nordby - E-Book

Kalte Nacht E-Book

Anne Nordby

4,8

Beschreibung

»›Hilfe! Hilfe, hört mich denn keiner? Bitte, ich will hier raus!‹ Keuchend lässt Tina den Kopf auf den Boden sinken. Der Geruch nach Erde ist überwältigend. Eine erste Erinnerung streift sie. Doch sie will die Bilder nicht sehen. Nicht jetzt, nicht morgen, niemals. Sie wartet auf die Erlösung - des Schlafes, der Ohnmacht, des Todes. Egal, was. Es ist zu furchtbar. Sie windet sich hin und her, will mit Gewalt verhindern, dass alles zu ihr zurückkommt. All ihre Fehler. Ihr Versagen. Ein leises Knacken lässt sie aufschrecken. Mit aufgerissenen Augen lauscht sie in die Dunkelheit. ›Ist da jemand?‹« Wenn sich der langgehegte Traum vom Ferienhaus in Schweden als Albtraum entpuppt … Ein neuer Fall für Tom Skagen von der Sondereinheit Skanpol - zuständig für grenzüberschreitende Verbrechensbekämpfung zwischen Skandinavien und Deutschland.

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Anne Nørdby

Kalte Nacht

Tom Skagens zweiter Fall

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Kalte Nacht (2020), Kalter Strand (2019)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © complize / photocase.de

und © by-studio / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6358-7

Widmung

Für Daniel

1

Tina schlägt die Augen auf. Um sie herum ist es dunkel. Und furchtbar kalt.

Sie ist wach geworden, weil sie ein Geräusch gehört hat. Ein leises Scharren. Ist das eines der Kinder, das nachts durch das Haus schleicht?

Tina will sich aufrichten, doch ein jäher Schmerz schießt durch ihren Kopf. Mit einem überraschten Stöhnen sinkt sie zurück. Dabei stellt sie zwei Dinge fest. Einmal, dass der Untergrund, auf dem sie liegt, nicht weich wie ihre Matratze ist, sondern hart. Steinhart. Und dass etwas ihren Mund verklebt. Denn egal, was sie tut, ihre Lippen lassen sich nicht öffnen.

Angstvoll saugt Tina Luft durch die Nase ein. Sie will ihre Arme bewegen, aber sie reagieren nicht. Panik greift nach ihr.

Was ist los?

Wo ist sie?

Sie versucht, sich in der vollkommenen Dunkelheit zu orientieren. Wieder ist da dieses alles überlagernde Stechen in ihrem Schädel. Es scheint von ihrer Stirn auszugehen, pocht und pulsiert. Bohrt sich tief in ihr Gehirn. Tina atmet immer hastiger, bekommt nur mit Mühe Luft.

Ist das Klebeband, das ihren Mund zwanghaft geschlossen hält?

Erneut versucht sie, ihre Arme zu heben – sie wollen ihr nicht gehorchen. Schlimmer noch, Tina kann sie überhaupt nicht spüren.

Hektisch beginnt sie zu zappeln und begreift, dass sie auf dem Rücken liegt, ihre tauben Arme sind unter ihr begraben. Sie ruckt hin und her, was ihre Schultergelenke protestieren lässt. Mit zusammengepressten Kiefern verharrt sie, bis der brennende Schmerz verebbt ist. Danach stemmt sie ihre Beine, die sie frei bewegen kann, in den Grund und schafft es unter großen Anstrengungen, sich auf die Seite zu drehen. Rote Lichtpunkte tanzen vor ihren Augen, gierig atmet sie weiter durch die Nase. Das Klebeband lässt nur wenig Luft durch.

Dabei registriert sie einen erdigen Geruch, der vom Boden unter ihr aufsteigt. Sie reibt mit der Wange darüber. Er ist klamm und rau.

Erde, denkt sie. Das ist etwas Greifbares, Reales.

Aber wo befindet sich diese Erde? In einem Keller oder einem Loch?

Sie schabt mit ihrem nackten Fuß über den Untergrund. Es hört sich dumpf an, es gibt keinerlei Echo.

Ist sie etwa in dem Kriechkeller unter ihrem Haus?

Warum?

Tina reibt mit der Wange über die Erde. Immer wieder. Vor und zurück. Ihr Schädel fühlt sich an, als er würde er gleich aufplatzen und seinen rohen Inhalt auf den Boden ergießen. Vielleicht böte das eine Erleichterung von den Schmerzen? Erneut tanzen rote Punkte vor ihr in der Dunkelheit, und brennender Schweiß rinnt ihr in die Augen. Doch sie scheuert weiter mit der Wange, bis die Haut wund ist. Das Klebeband muss ab.

Wie eine Besessene arbeitet Tina, atmet rhythmisch gegen die Panik und die Schmerzen an. Ein, aus, ein, aus, vor und zurück. Sie spürt, wie sich das Klebeband an einer Ecke zu lösen beginnt. Schneller und schneller reibt sie, schürft sich die Haut auf, bis es blutet. Nach einer qualvollen Ewigkeit hat sie das Klebeband endlich zur Hälfte von ihren Lippen gerollt. Erleichtert reißt sie den Mund auf, atmet tief ein, hustet, keucht und schiebt das Tape mit der Zunge gewaltsam zur Seite. Als sie es vollständig entfernt hat, stößt sie einen ersten lauten Schrei aus. Er ist unartikuliert und voller Qualen. Ruckartig holt sie Luft, versucht den roten Nebel zu durchbrechen, der sich lähmend über ihre Gedanken legt. Dann öffnet sie den Mund und schafft es, Worte zu formulieren.

»Hilfe! Ist da jemand?«

Ihre Stimme prallt dumpf von der Dunkelheit ab. Als würde jeder Ton sofort verschluckt werden. Von etwas, das nicht will, dass sie hier jemals rauskommt.

Sie ruft erneut, bündelt all ihre Kraft in ihrer Stimme. In ihrem Kopf hämmert es, und der Geschmack von Blut legt sich auf ihre Zunge.

»Hilfe! Hilfe! HILFEEE!«

Wieder und wieder schreit sie. Irgendwann muss sie jemand hören.

Als ihre Stimme ganz rau klingt, hält Tina inne und schließt erschöpft die Augen.

Niemand ist gekommen.

2

Pål schließt die Haustür auf, bleibt auf der Schwelle stehen und horcht. Ah, welch Ruhe! Kein Gekläffe von Pukki und kein Gezeter von Frigga. Niemand, der sich darüber beschwert, weshalb er so spät nach Hause kommt. Ein breites Grinsen teilt Påls Gesicht. Er zieht im Windfang die schweren Arbeitsstiefel aus und hängt seine Jacke an einen Haken. Wenn er gewusst hätte, was an diesem Augustabend noch passieren würde, hätte er die Stiefel angelassen. So aber geht er auf Socken in die Küche und holt sich eine Dose Pripps Blå aus dem Kühlschrank, öffnet sie an Ort und Stelle und genehmigt sich einen großen Schluck. Ein zufriedener Seufzer löst sich aus seiner Brust.

Pål nimmt die Dose mit ins Wohnzimmer, setzt sich auf die zerschlissene Ledercouch und schaltet den alten Röhrenfernseher an. Ein Erbstück von seiner Mutter, wie das ganze Haus. Auf TV4 wird ein amerikanischer Actionfilm mit Bruce Willis gesendet, den er laufen lässt, während er in Ruhe sein Bier schlürft und die Füße hochlegt. Als sein Magen knurrt, zieht er eine Tüte Dillchips heran, die vom Vorabend auf dem Couchtisch liegt, und stopft sich eine Handvoll davon in den Mund. Das war der einzige Vorteil an Frigga: Sie hatte bereits das Essen gekocht, wenn er abends nach Hause kam. Nun muss er sich um alles selber kümmern. Dabei ist die Arbeit im Wald schon anstrengend genug. Grimmig malmt er auf den Chips herum und schluckt den nach Fett und Salz schmeckenden Brei. Verdammt! Warum müssen sich die Weiber immer so anstellen? Er ist mächtig stolz gewesen, als er vor ein paar Monaten einen Job als Waldarbeiter beim Großgrundbesitzer Dahlberg bekommen hat. Und was hat Frigga dazu gesagt? »Du hast überhaupt keine Zeit mehr für mich und sitzt abends nur noch vor dem Fernseher.« Blöde Kuh! Irgendjemand muss doch Geld verdienen. Gut, dass sie abgehauen ist, sonst hätte er sie vor die Tür gesetzt, mitsamt diesem beknackten Köter!

Pål stopft sich eine weitere Handvoll Chips in den Mund und leert die Bierdose. Jetzt muss er auch noch aufstehen und sich eine neue holen. Mit einem Grunzen stemmt er sich vom Sofa hoch. Auf dem Fernsehbildschirm kriecht Bruce gerade durch einen Lüftungsschacht und schimpft darüber, wie sehr er Weihnachten hasst.

»Du sagst es, Bruce«, murmelt Pål und schlurft in die Küche. Plötzlich knallt es draußen zweimal laut.

»Verdammte Besoffene!« Fluchend rennt Pål durch den Flur und reißt die Haustür auf.

Kühle Dämmerung und Grillenzirpen empfangen ihn. Sonst herrscht Stille. Pål wohnt am Ortsende von Hultsjö, direkt an der Hauptstraße 28, die von Karlskrona nach Emmaboda führt. Die Grenze zu Småland ist nicht weit. Allerdings liegt hier in Blekinge, der kleinsten Provinz Schwedens, irgendwie alles an der Grenze zu irgendetwas … oder am Meer.

Pål lauscht in den Abend hinaus, doch es ist nichts mehr zu hören. Als er den Kopf reckt, kann er auf der Hauptstraße das unaufhörliche Blinken eines orangefarbenen Lichtes ausmachen. Kein gutes Zeichen. Verärgert beißt er die Kiefer aufeinander und geht auf Socken über den schmalen Steinplattenweg vor seinem Haus zur Straße. Wenn das wieder so ein besoffener Schwachkopf ist, der ihm den Feierabend versaut, kann der was erleben.

Als er das Gartentor öffnet, entdeckt er ein Auto. In der Kurve, in der schon viele Bekloppte ihre Karren zersägt haben, hängt es im Straßengraben. Es ist gegen einen Baum gekracht. Keiner der Insassen rührt sich. Pål fällt das Nummernschild ins Auge, und er stößt einen weiteren Fluch aus. Scheiße, diesmal sind es keine Schweden, sondern Deutsche.

Atemlos rennt er über die Straße auf den roten Volvo mit dem Elchaufkleber am Heck zu. Der Wagen sieht übel aus. Hat erst den Straßenwegweiser mitgenommen und ist anschließend gegen eine Birke geprallt. Der Stamm hat die Motorhaube regelrecht gespalten und zu einem unansehnlichen Faltenwurf aufgetürmt. Die Frontscheibe ist zersplittert und blind, der Motor muss bei dem Aufprall ausgegangen sein. Irgendwo knackt heißes Metall.

»Hallo?«, ruft Pål noch im Laufen. »Hallo?!«

Das Fenster auf der Fahrerseite ist geborsten. Pål beugt sich vor und blickt ins Innere, stolpert nach hinten. »Jävla skit! Lieber Gott im Himmel.«

Auf dem Fahrersitz befindet sich ein Mann. Er ist in sich zusammengesunken, als halte er ein Nickerchen. Doch sein Schädel ist an der Stirn nach innen gedrückt wie bei einem Plastikball. Der Airbag muss versagt haben und der Fahrer ungebremst mit dem Kopf gegen das Lenkrad oder die Frontscheibe geknallt sein. Zum Teufel, warum können sich die Leute nicht anschnallen? Neben dem Fahrer entdeckt Pål einen weiteren Insassen. Ein verrenktes Bündel, das halb in den Fußraum gerutscht ist. Ein dunkelhaariges Mädchen, nicht älter als neun oder zehn. Es rührt sich nicht. Pål späht auf den Rücksitz. Der ist leer, dafür liegt etwas Großes längs im Fußraum hinter den beiden Vordersitzen. Es ist in eine Decke gewickelt. Als er genauer hinsieht, erkennt er einen Körper. Oh Gott! Noch ein Kind?

Pål korrigiert seine Annahme. Es ist eher eine Jugendliche. Die blonden Haare sind strähnig, das Gesicht aschfahl. Die toten Augen starren Pål an, als sei er an allem schuld.

Benzingeruch steigt ihm in die Nase. Scheiße! Eine Lache breitet sich im Gras unter dem Wagen aus. Erst jetzt bemerkt er, dass er sich mit Blut beschmiert hat. Es klebt an seinen Händen und vorn an seinem Hemd. Pål unterdrückt ein Würgen. Glassplitter bohren sich durch die Socken in seine Fußsohlen. Trotzdem, er muss etwas tun. Widerwillig beugt er sich in den Wagen und hält sein Ohr an den Mund des Fahrers. Der Mann atmet nicht. Plötzlich hört Pål ein Stöhnen und stößt sich vor Schreck den Hinterkopf am Holm. Er sieht, wie ein Zucken durch den Körper im Fußraum auf der Beifahrerseite geht, und zieht sich hastig zurück.

Verdammt, die Kleine da lebt!

Hilflosigkeit und Verzweiflung wallen in Pål auf. Tränen treten aus seinen Augenwinkeln. Was soll er bloß tun? Was, wenn er etwas falsch macht? Das ist doch ein Kind. Oh Gott! Warum ist er ganz allein? Kein einziges beschissenes Auto fährt vorbei. Niemand, der ihm helfen könnte. Mit zitternden Fingern tastet Pål nach seinem Mobiltelefon, zieht es umständlich aus der Hosentasche heraus und wählt den Notruf.

Im selben Moment taucht endlich ein Auto auf und hält neben ihm mit quietschenden Reifen, während Rock-’n’-Roll-Musik aus dem Fenster schallt. »Jailhouse Rock« von Elvis. Ausgerechnet.

Die Tür wird geöffnet, und ein junger Mann springt aus dem Wagen. Mit einem unwirklichen Hall dröhnt die Musik aus dem Autoradio durch die abendliche Luft und verstärkt in Pål das Gefühl von Trostlosigkeit und Kummer. Warum ist er nur rausgegangen?

»Hej, um Gottes willen, was ist passiert? Brauchst du einen Arzt?« Der junge Mann fasst Pål an der Schulter. Sein Blick fällt auf das Blut an seinen Händen und die zerschnittenen Socken an seinen Füßen.

In diesem Augenblick dringt ein heiserer Hilferuf aus dem verunglückten Volvo.

3

Polizeiassistentin Maja Lövgren beobachtet, wie eine Rolltrage mit dem schwerverletzten Mädchen in den Krankenwagen geschoben wird. Die Kleine trägt eine Sauerstoffmaske über dem Gesicht und ist auf einem Spineboard fixiert. Die Wunde an ihrer Schläfe wurde mit einem Druckverband versorgt. Für die anderen beiden Unfallopfer kam jede Hilfe zu spät. Der Fahrer, vermutlich der Vater der Mädchen, hat ein schweres Schädelhirntrauma erlitten. Er muss sofort tot gewesen sein. Auch das ältere Mädchen konnte nicht reanimiert werden. Es hat eingewickelt in eine Decke auf dem Rücksitz gelegen, als der Wagen von der Straße abgekommen und gegen den Baum gekracht ist. Alle drei waren nicht angeschnallt, und der Volvo fuhr vermutlich mit deutlich höherer Geschwindigkeit als den erlaubten 80 Kilometer pro Stunde.

Maja blickt auf die Brieftasche des Fahrers, die in einem Plastikbeutel steckt. Der Ausweis liegt obenauf. Sie liest noch einmal den Namen: Jochen Nowak, geboren in Hamburg. Die Mädchen wurden bisher nicht identifiziert. Zudem ist unklar, weshalb die drei überhaupt in dieser Gegend unterwegs waren. Haben sie in der Nähe in einem der Ferienhäuser Urlaub gemacht, oder befanden sie sich auf der Durchreise? Und wo ist die Mutter? Falls die drei nicht allein nach Schweden gereist sind. Maja muss das dringend herausfinden. Vielleicht sitzt gerade irgendwo in einer Ferienhütte eine Frau und wartet auf die Rückkehr ihrer Familie. Maja kann nur hoffen, dass sie sich bei der Polizei meldet, sobald ihr klar wird, dass etwas passiert sein muss.

Sie steckt den Beutel mit der Brieftasche in ihre Uniformjacke. Der Rettungswagen fährt mit Blaulicht und Martinshorn davon, ins Krankenhaus nach Karlskrona. Hoffentlich schafft es das verletzte Mädchen. Sein Zustand ist kritisch, obwohl es bei Bewusstsein ist. Die Kleine hat etwas gesagt. Immer wieder. Maja spricht kaum Deutsch, aber ein Wort hat sie trotzdem verstanden.

Troll.

Sinn ergibt das keinen. Was soll ein Troll mit diesem Unfall zu tun haben? Das Mädchen ist eindeutig gehandicapt. Sicher das Down-Syndrom. Majas Blick wandert von den flackernden Warnlichtern auf der Straße zu ihrem Vorgesetzten. Göran Berg spricht seit Längerem mit den zwei Zeugen, einem Waldarbeiter, der gegenüber in einem kleinen Holzhaus wohnt, und einem jungen Mann aus Rödeby, der auf dem Heimweg zufällig an der Unfallstelle vorbeigekommen ist. Beide wirken ziemlich mitgenommen. Kein Wunder, bei dem, was sie gesehen haben.

Ein schabendes Geräusch lässt Maja aufhorchen. Die Männer von der Straßenwacht haben die Winde des Abschleppwagens in Gang gesetzt und ziehen das Autowrack aus dem Graben. Es knirscht und knackt, als sich die eingedrückte Front des Wagens von der Birke löst. Der Baum wackelt, und seine Äste schlagen aneinander, aber er bleibt stehen. Bis auf ein paar tiefe Schrammen in der Rinde, aus denen das Birkenwasser sickert, hat der Baum den Unfall gut überstanden. Langsam wird der zerstörte Volvo zur Ladefläche des Abschleppwagens gezogen, dabei schabt der Unterboden über den Asphalt.

»He, aufpassen. Das gibt Funken!«, ruft Maja, die an die momentane Waldbrandgefahr denkt. »Ihr müsst vorsichtig sein, sonst fängt das ausgelaufene Benzin Feuer.«

Einer der Männer hebt die Hand, und die Winde stoppt. Danach legt er sich unter den Volvo, um zu sehen, was da schleift. Zwar haben sie vorher Sand ausgestreut, die Feuergefahr ist dadurch jedoch nicht gebannt. Zudem haben sie an mehreren Stellen neben der Straße mobile Flutlichter aufgestellt, damit sie am Unfallort besser arbeiten können. Mittlerweile ist es 23 Uhr, und am nordwestlichen Horizont leuchtet der rötliche Schimmer der Sonne, obwohl der Mittsommer, der Scheitelpunkt des Jahres, längst überschritten ist. Bald wird es Herbst, denkt Maja wehmütig, und dann folgt der Winter mit seinem Schmuddelwetter. In Südschweden ist die kalte Jahreszeit leider alles andere als der romantische Traum von Puderschnee und kristallklaren Frostnächten mit Polarlicht wie oben im Norden. Blekinge liegt nicht nördlicher als Mitteldänemark.

Der Mann von der Straßenwacht hat das Metallteil unter dem Auto mittlerweile entfernt, und der Volvo kriecht wieder auf den Abschleppwagen zu, diesmal ohne Funken zu verursachen. Maja hört, wie sich jemand hinter ihr leise räuspert, und dreht sich um. Es ist der Sanitäter vom zweiten Rettungswagen, der weiterhin am Straßenrand wartet. Auf seinem Gesicht zeichnet sich Müdigkeit von zu vielen Stunden Dienst ab. Maja kennt ihn von anderen Einsätzen.

»Wann kommt denn der Leichentransport?« Es ist klar, dass er Feierabend machen will, doch die beiden Toten befinden sich in seinem Fahrzeug.

»Der müsste eigentlich längst vor Ort sein. Ich hatte ihn vor einer Stunde angefordert.« Maja blickt auf die Uhr. Verdammt, warum müssen sich die Jungs vom Bestatter immer so viel Zeit lassen? Sie kann schon jetzt deren Kommentar hören: »Tote haben’s nicht eilig! Hahaha!«

»Tut mir leid, aber so lange musst du noch warten«, sagt sie zum Sanitäter, der matt nickt.

»Die armen Verwandten«, entgegnet er und blickt dabei hinaus in die Nacht.

Ja, denkt Maja, und wir müssen sie benachrichtigen. Sie sieht den Sanitäter von der Seite an. Der seufzt tief. Die Reflektorstreifen auf seiner Jacke leuchten grell im Schein der Flutlichter.

Majas Chef Göran tritt zu ihnen. Seine Befragung hat anscheinend ein Ende gefunden. »Was ist? Habt ihr beiden ’ne Theorie?«

Der Sanitäter schüttelt den Kopf.

»Vielleicht ein geplatzter Reifen? Der rechts vorne ist platt«, sagt Maja.

»Das kann auch beim Unfall passiert sein«, entgegnet Göran. »Wird die Untersuchung zeigen. Aber es passt nicht zu dem toten Mädchen auf dem Rücksitz, oder?«

Maja brummt als Antwort, damit Göran nicht hört, dass sie einen Kloß im Hals hat.

Zum Glück wendet er sich wieder an den Sanitäter. »Und es ist sicher, dass das Mädchen auf dem Rücksitz schon vor dem Unfall tot war?«

»Das ist zumindest gegenwärtig die vorsichtige Einschätzung des Notarztes.«

»Gegenwärtig, vorsichtig … Geht’s etwas exakter? Fakten, Fakten, mein Freund.«

Der Sanitäter verschränkt die Arme vor der Brust. Schützt sich instinktiv gegen die Alphatier-Wellen, die Göran aussendet. Mit seinem CSI-Gehabe kann einem der Herr Polizeiinspektor manchmal richtig auf den Nerv gehen, denkt Maja.

»Fakt ist«, sagt der Sani ruhig, »dass ich kein Gerichtsmediziner bin und deshalb keine Aussage treffen kann. Das gilt jetzt also nur unter uns: Ja, der Notarzt und ich haben gesehen, dass der Körper des älteren Mädchens Leichenflecken und beginnende Totenstarre aufweist. Außerdem war das Blut an der Kopfverletzung längst getrocknet.«

»Shit! Das macht die Sache kompliziert.«

Oh ja, denkt Maja, kompliziert. Das ist das Gegenteil von Görans Denkprinzipien. Keep it sweet and simple.

»Vielleicht war es ein erweiterter Suizid«, mutmaßt sie. »Der Vater hat erst die ältere Tochter umgebracht und dann den Wagen gegen einen Baum gesetzt. Frage mich wirklich, wo die dazugehörige Mutter ist. Wir sollten auf jeden Fall jemanden von der Kriminaltechnik hinzuziehen.«

Zwei Scheinwerfer tauchen in der Ferne auf, wenig später gleitet ein langgezogener Wagen aus der Nacht heran und hält neben ihnen im hellen Strahl der Flutlichter. Ein Mann in Overall steigt aus. »Guten Abend allerseits.« Er tippt sich an die Baseballkappe mit dem Logo eines Bestattungsunternehmens. »Wo ist die Kundschaft?«

»Zu spät kommen und dann noch blöde Sprüche klopfen!« Maja tritt vor den Kerl, der auf sie herabblickt. »Ich bin Polizeiassistentin Lövgren, und ich muss euch mitteilen, dass es eine kleine Planänderung gibt.«

»Ach ja, und welche?« Der Typ will sich eine Zigarette anzünden, aber Maja deutet auf die Lache neben seinem Fuß. »Benzin!«

»Oh, verdammt.« Der Kerl wirkt einen Moment verdattert, fängt sich schnell wieder und steckt die Zigarette zurück in seine Brusttasche. »Also, was ist? Kann ich die Leichen mitnehmen? Es sind doch zwei?«

»Richtig.« Maja wirft Göran einen Blick zu, der bestätigend nickt. »Allerdings sollen die nicht nach Karlskrona gebracht werden, sondern in die Rechtsmedizin nach Lund.«

»Was? Nach Lund? Jetzt noch?«

»Korrekt, jetzt noch.« Maja gibt dem Sanitäter einen Wink. Der geht zu seinem Rettungswagen, um beim Umladen seiner bedrückenden Fracht zu helfen.

»Heilige Scheiße«, brummt der Typ vom Leichentransport und trottet auf das Heck seines Wagens zu. Zusammen mit seinem Kollegen zieht er zwei Zinksärge aus dem Laderaum und trägt sie zum Rettungswagen.

Mittlerweile ist der Volvo auf den Abschleppwagen verladen worden und festgezurrt. Göran ordnet an, das Unfallauto vorsichtshalber bei der Kriminaltechnik in Karlskrona abzuliefern. Sollte sich herausstellen, dass das Mädchen vom Rücksitz tatsächlich vor dem Unfall tot war, ist das hier wohl mehr als nur ein tragisches Verkehrsunglück.

Maja stößt einen Seufzer aus und beobachtet einen der Männer von der Straßenwacht dabei, wie er Glassplitter, Sand und die restlichen Trümmerteile zusammenfegt, während Göran mit dem Fahrer des Abschleppwagens spricht. In weiser Voraussicht haben sie von allem genug Fotos gemacht und alle relevanten Stellen auf dem Asphalt mit Sprühfarbe markiert. Sollte es nötig sein, ihre Untersuchungen vertiefen zu müssen, würden sie alles wiederfinden.

Nachdem sie die Flutlichter und Pylonen abgebaut haben, können sie diesen unseligen Ort endlich verlassen. Doch Maja bezweifelt, dass es das für heute gewesen ist. Die eigentliche Arbeit würde jetzt erst beginnen. Sie müssen die Mutter der beiden Mädchen ausfindig machen. Bei diesem Gedanken zieht sich alles in ihr zusammen.

4

»Tom, da ist ein Polizist aus Schweden am Telefon. Das fällt in dein Ressort.«

»Okay, stell ihn durch.«

Der norwegische Kollege Jens Fram drückt einen Knopf, und Skagen nimmt den Hörer ab. »Skanpol, Tom Skagen am Apparat?«

»Polizeiinspektor Göran Berg. Dienststelle Karlskrona, guten Morgen«, meldet sich eine Stimme in holprigem Englisch.

»Hej. Hur kan jag hjälpa dig?« Mühelos wechselt Skagen auf eine gemeinsame Sprachebene.

»Oh, Sie sprechen Schwedisch?«

»Mein Vater ist Schwede.«

»Schön, dann muss ich mein Anliegen ja nicht zum x-ten Mal auf Englisch herunterleiern. Bei euch kommt man sich vor, als würde man den Präsidenten der Vereinigten Staaten anrufen. Bis man da die richtige Stelle am Apparat hat …«

»Wir haben nun mal mehrere Abteilungen«, entgegnet Skagen ruhig.

»Aber Sie gehören doch zur Polizei in Hamburg?«

»Nein, Skanpol ist eine eigenständige Einheit, besser gesagt eine Untergruppe von Europol. Wir sind für grenzübergreifende Konflikte zwischen Skandinavien und Deutschland zuständig. Allerdings befindet sich unser Büro im selben Gebäude wie die Polizei von Hamburg und das Landeskriminalamt. Das erleichtert uns die Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden. Worum geht es denn?«

»Wir haben einen tödlichen Autounfall mit deutscher Beteiligung in Hultsjö, das liegt 30 Kilometer nördlich von Karlskrona. Sehr ländliche Gegend.«

Skagen kennt den besagten Landstrich, er ist dort aufgewachsen. Während Kriminalinspektor Berg erzählt, öffnet er auf dem Computer eine Karte vom südöstlichsten Zipfel Schwedens.

»Bei dem Unfall gestern sind zwei Menschen ums Leben gekommen. Ein 49-jähriger Deutscher und eine Jugendliche, vermutlich die Tochter des Mannes. Ein zweites Mädchen wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Der Zustand der Kleinen ist noch immer kritisch, die Unfallursache bisher unklar. Wir haben beim Fahrer einen Personalausweis gefunden. Der Mann heißt Jochen Nowak und wohnt in Hamburg-Eimsbüttel.« Berg nennt auch die Straße und das Kennzeichen des Fahrzeugs, was Skagen sich notiert.

»Ist eine schlimme Sache«, redet der Schwede weiter. »Es besteht außerdem Anlass zur Vermutung, dass die Jugendliche, die auf dem Rücksitz lag, schon vor dem Unfall gestorben ist.«

»Vor dem Unfall? Wie lange?«

»Wissen wir bisher nicht. Die Todesursache ist ebenfalls noch nicht sicher, obwohl sie eine Kopfverletzung hat. Die Obduktionsergebnisse werden wir frühestens in ein paar Tagen erhalten.«

»Gibt es eine Ehefrau oder andere Verwandte oder Freunde? Wer war alles mit im Auto?«

»Nur die genannten drei Personen. Und das ist das nächste Problem. Wir konnten noch niemanden ausfindig machen, mit dem sie vielleicht im Urlaub waren. Im Auto befand sich kein Handy. Leider wissen wir auch nicht, ob die Familie in Hultsjö untergekommen ist oder auf der Durchreise war. Jedenfalls haben wir seit dem Unfall gestern Abend keinen Anruf erhalten. Niemand scheint den Vater und die Kinder zu vermissen. Ich habe einige Kollegen nach Hultsjö geschickt, die werden die Bewohner befragen und die Campingplätze und Ferienhäuser in der Umgebung abklappern.«

»Wenn das Mädchen schon vor dem Unfall tot war, haben wir es womöglich mit einem …«

»… Tötungsdelikt zu tun, das weiß ich selbst«, unterbricht der schwedische Polizist gereizt. »Hören Sie mal, ich war die ganze Nacht auf den Beinen. Es wäre schön, wenn Sie für uns herausfinden könnten, ob sich die Mutter in Deutschland aufhält. Es ist zwar gut möglich, dass sie auch tot ist, aber man weiß ja nie. Und vielleicht ermitteln Sie in dem Zuge gleich weitere Angehörige. Das wäre hilfreich. Der kurze Dienstweg sozusagen.«

»In Ordnung. Ich kümmere mich darum«, sagt Skagen geduldig. »Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden. Sie haben ja jetzt meine Durchwahl, Herr Berg.«

»Ja, ja, bis dann.« Kein Danke, kein Auf Wiedersehen. Was für ein unangenehmer Zeitgenosse. Skagen legt auf und fährt sich seufzend über den Bart.

Neugierig lugt Jens Fram hinter seinem Computerbildschirm hervor. »Was war es denn?«

Skagen berichtet seinem Kollegen die Ereignisse in Kurzform, und Fram verzieht das Gesicht. »Gar nicht gut.«

»Kommst du mit dem Oslo-Fall einen Augenblick ohne mich klar? Ich würde gerne überprüfen, ob sich die Frau in Hamburg aufhält.«

Fram nickt. »Kein Ding. Kümmere dich um die Sache.«

»Okay, danke.« Skagen zieht seinen Stuhl näher an den Schreibtisch. Skanpol ist eine kleine Abteilung, da müssen sie sich gut absprechen. Außer dem Norweger Jens Fram gibt es noch zwei weitere Kollegen, die Finnin Kaisa Baumann und Jette Vestergaard aus Dänemark, seine Chefin. Alle bei Skanpol sprechen mehrere Sprachen. Eine Voraussetzung, die für ihre Arbeit unerlässlich ist.

Skagen öffnet die Suchmaske für Kfz-Kennzeichen. Tatsächlich ist der Fahrzeughalter des verunglückten Wagens ein Herr Jochen Nowak, wohnhaft in Eimsbüttel. Die Adresse stimmt mit der überein, die Berg ihm übermittelt hat. Ansonsten keinerlei Einträge zu Nowak bei INPOL. »Jens?«

»Jo!«

»Ich fahr mal kurz raus. Sehen wir uns zum Mittagessen in der Kantine?«

»Warum nicht.«

Skagen verabschiedet sich und verlässt das Büro. Mit dem Fahrstuhl erreicht er wenig später die Tiefgarage des sternförmigen Gebäudes des Hamburger Polizeipräsidiums am Bruno-Georges-Platz und steigt in seinen Dienstwagen. Zwei Minuten später gleitet der anthrazitfarbene VW Passat hinaus ins grelle Sonnenlicht. Die Temperaturanzeige am Armaturenbrett verkündet unerträgliche 30 Grad im Schatten. Und das bereits um 9 Uhr morgens. Skagen schiebt sich die getönte Brille auf die Nase und stellt die Klimaanlage auf maximale Stärke. Vom Hamburger Stadtteil Alsterdorf bis nach Eimsbüttel ist es mindestens eine halbe Stunde Fahrt.

Er biegt auf die Straße ein und dreht die Musik lauter. Gerade läuft seine Lieblingsscheibe: Morcheeba mit »Who can you trust«.

Das vierstöckige Haus in der Emilienstraße, in dem die Nowaks wohnen, wirkt schlicht. Weißer Putz, kleine Balkone und ein wenig Grün vor der Haustür. Skagen lebt seit mehreren Jahren in Hamburg und weiß, dass die Gegend trotzdem teuer ist. Jedoch eher spießig als hip.

Die Luft ist wie eine dickflüssige Wand, die an ihm kleben bleibt, während er zum Eingang geht. Er drückt auf die Klingel mit dem Namen »Nowak«. Als sich nichts tut, klingelt er bei dem Schild rechts daneben. »Prenzel«, steht darauf.

»Ja?«, dringt eine Frauenstimme aus der Gegensprechanlage.

»Verzeihen Sie die Störung, Kriminalkommissar Tom Skagen. Dürfte ich Ihnen ein paar Fragen zu Ihren Nachbarn, den Nowaks, stellen?«

Ein kurzes Zögern. »In Ordnung. Kommen Sie in den zweiten Stock.«

Der Summer ertönt, und Skagen drückt die Tür auf. Oben erwartet ihn eine gedrungene Mittvierzigerin mit einem modischen Kurzhaarschnitt. Skagen zeigt ihr seinen Ausweis.

»Skanpol? Du liebe Güte. Ist den Nowaks etwas passiert? Die sind gerade in Schweden im Urlaub.«

»Ist denn die ganze Familie nach Schweden gereist?«

»Ja, schon …«

»Also auch Frau Nowak?«, erkundigt sich Skagen, ohne seinen neutralen Ton zu ändern.

»Ja, Tina. Eigentlich heißt sie Christina.«

»Wann sind die Nowaks losgefahren?«

Frau Prenzel überlegt. »Vor gut einer Woche.«

»Und wie viele Mitglieder umfasst Familie Nowak?«

»Also, da ist der Jochen, die Tina und die beiden Töchter. Eva-Lotta, die Ältere, sie ist 15 und gut mit meiner Tochter befreundet. Und dann gibt es noch Ronja, sie ist zehn.«

»Wissen Sie von weiteren Angehörigen?«

»Mein Gott«, entfährt es Frau Prenzel. »Es ist etwas Schlimmes passiert, so wie Sie reden.«

»Die Nowaks hatten einen Autounfall«, sagt Skagen ruhig. »Ich müsste Kontakt zu jemandem in der Verwandtschaft aufnehmen.«

»Ja … natürlich. Ich kenne die Eltern von Jochen. Klaus und Ellen, die wohnen draußen in Bargstedt. Die Eltern von Tina kenne ich nicht. Sie hat keinen Kontakt zu ihnen. Ich weiß auch nicht, warum. Tina redet nicht gerne darüber.«

Skagen notiert sich alles auf einem Block. »Welcher Arbeit gehen die Nowaks nach?«

»Jochen ist Lehrer am Gymnasium Kaiser-Friedrich-Ufer in Eimsbüttel, und Tina arbeitet halbtags als PTA in einer Apotheke, solange Ronja in der Förderschule ist.«

»Wie lange wohnen die Nowaks schon hier?«

»Bestimmt seit zehn Jahren. Sie sind eingezogen, nachdem Ronja geboren wurde. Seitdem sind meine Tochter und Lola befreundet.«

»Lola?«

»Eva-Lotta. Sie nennt sich so, weil sie ihren Namen schrecklich findet. Ihre Eltern sind Fans von Astrid Lindgren. Tja, seinen Namen kann man sich nicht aussuchen, was?« Frau Prenzel zwinkert ihm zu. »Meine Jenny sollte eigentlich mit nach Schweden fahren, damit es Lola dort nicht zu langweilig wird. Lolas kleine Schwester ist ja behindert, müssen Sie wissen, und das ist manchmal ziemlich anstrengend. Für Lola bleibt da nicht viel Platz. Aber Jenny ist krank geworden. Und mit einer Sommergrippe wollte ich sie nicht nach Schweden lassen. Da ist es ja immer so kalt.«

Dass die Sommer in Schweden, besonders im Süden, nicht wesentlich kälter sind als die in Norddeutschland, behält Skagen für sich, stattdessen fragt er nach der Behinderung von Ronja. Dabei muss er daran denken, dass das Mädchen im Krankenhaus in Schweden gerade mit dem Tod ringt.

»Down-Syndrom«, antwortet Frau Prenzel. »Ronja ist ein merkwürdiges Kind. Sie lebt in ihrer Fantasiewelt und ist recht dickköpfig. Die Nowaks haben’s nicht leicht mit ihr. Haben es vor der Geburt nicht gewusst. Sonst hätten sie sie bestimmt nicht … Na, Sie wissen, was ich meine.«

Skagen hebt weder missbilligend eine Braue noch nickt er. Das Urteil von Frau Prenzel über Ronja hingegen scheint festzustehen. »Und wohin in Schweden sind die Nowaks gefahren?«, fragt er. »Haben sie eine Ferienhütte gemietet oder campen sie?«

»Sie sind in ihr Haus gefahren. Das haben sie Anfang des Jahres gekauft. Das war immer Jochens großer Traum. Ein eigenes Häuschen in Schweden.«

»Wissen Sie, wo das liegt?«

»Irgendwo in Südschweden. Der Ort heißt Holmsjö oder Hultsjö oder so ähnlich. Die genaue Adresse kenne ich leider nicht.«

»Nicht schlimm. Das hilft mir auch so weiter. Wissen Sie zufällig, wie das Haus aussieht?«

»Oh, es ist wirklich bezaubernd. Jenny hat mir ein Foto gezeigt, das Lola ihr über WhatsApp geschickt hat.«

»Aha. Könnte ich mal einen Blick darauf werfen?«

»Warum nicht.« Sie dreht sich um und ruft über die Schulter in die Wohnung. Ein Murren ertönt, und kurz darauf schleicht ein blasses dunkelblondes Mädchen in einem rosa Kapuzenpullover und einer viel zu weiten Jogginghose durch den Flur.

»Was is’ denn, Mama?«, murmelt es verschnupft.

»Dieser Mann ist von der Polizei und würde gern das Foto von dem Schwedenhaus der Nowaks sehen.«

»Warum? Is’ was passiert?«

Um das Mädchen zu beruhigen, erklärt Skagen erneut und möglichst neutral, warum er hier ist.

»Ein Unfall?« Jenny wird noch blasser, als sie ohnehin schon ist, holt dann aber ihr Smartphone hervor. Es steckt in einer pinkfarbenen Hülle, dieselbe Farbe wie ihre Fingernägel. Sie hält ihm das Display hin, und Skagen betrachtet die Fotos von dem Haus. Es macht einen netten Eindruck, ein Klassiker in Schwedenrot mit weißen Rahmen, und scheint mitten im Wald zu stehen. Ein rostroter Fleck im satten Grün. Auf die Frage hin, ob Jenny ein Foto von Lola habe, nickt das Mädchen und zeigt Skagen mehrere Selfies. Darauf zwei typische Teenager mit rot geschminkten Lippen und Kussmund. Duckface. Im Hintergrund der Hamburger Hafen, blauer Himmel, Möwen. Fröhliche Gesichter an einem sonnigen Tag. Leider gehört eines dieser Gesichter jetzt einer Toten.

Skagen fragt nach etwaigen Textnachrichten, die Lola aus dem Urlaub geschickt hat, und Jenny ruft einen Chat bei WhatsApp auf. »Voll nice hier. Zumindest, wenn man eine Mücke ist. LOL Fucking boring, wish you where here, xoxo (…) Mum und Dad sind sooo lame! (…) Ronja nervt. Wish they were dead! Sheesh, meine Mum bitcht mal wieder total rum.« Der übliche Teeniekram.

Oder doch nicht? »Wish they were dead!«

Mit der Erlaubnis der Mutter fotografiert Skagen die Bilder und einen Teil des Chats ab und gibt Jenny das Handy zurück.

»Weißt du, ob Lola vielleicht irgendwelche Probleme hat? Mit ihren Eltern oder ihrem Freund?«

Jenny schüttelt den Kopf. »Lola hat keinen Freund.«

»Und mit ihren Eltern?«

An dieser Stelle wirkt das Mädchen mit einem Mal verschlossen. Skagen kann sehen, wie sie die Schotten dicht macht. Es ist offensichtlich, dass da etwas ist.

»Noch mal: Hat Lola Probleme mit ihren Eltern?«, wiederholt er nachdrücklicher.

Jenny beißt sich auf die Lippe. Skagen versteht. Sie will nicht vor ihrer Mutter darüber sprechen. Mädchengeheimnisse. Es hat wenig Sinn, jetzt weiter danach zu bohren. Das kann er später tun. Fürs Erste genügen ihm die Informationen. Er bedankt sich, überreicht Mutter und Tochter jeweils eine seiner Visitenkarten und verlässt das Haus.

Draußen ist es heiß wie am Fuße der Pyramiden von Gizeh. Jeder Atemzug fühlt sich an, als atme man in einen Föhn. Skagen setzt sich ins Auto, das einem Backofen gleicht, und dreht den Zündschlüssel. Erleichtert hält er sein Gesicht in den kalten Strom aus der Lüftung, während er im Internet nach der Adresse von Klaus und Ellen Nowak sucht. Bargstedt liegt circa 30 Kilometer westlich der Hansestadt mitten im Niemandsland zwischen Hamburg und Bremerhaven.

Bei dem Gedanken an das, was ihm bevorsteht, schnürt es ihm die Brust zusammen. Todesbotschaften zu überbringen sind mit das Unangenehmste, was seine Arbeit als Polizist bereithält. Um damit besser umgehen zu können, hat er Seminare besucht, in denen er für solche Situationen geschult wurde. Doch das bereitet einen nur auf einen Bruchteil an Reaktionen vor, die Betroffene zeigen können. Meist sind diese sowieso vollkommen anders, als man sie sich vorher ausgemalt hat. Erst recht, wenn es um den verschärfenden Faktor Kinder geht. Er würde auf jeden Fall einen Polizeiseelsorger mit hinzuziehen. Mit Verstärkung an der Seite käme er sich nicht ganz so furchtbar vor, während für die Angehörigen eine Welt zusammenbricht. Doch vorher muss er Göran Berg anrufen und ihm mitteilen, dass er den ungefähren Standort von Nowaks Ferienhaus ermittelt hat. Skagen wählt die Nummer des schwedischen Polizisten und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

»Polizeiinspektor Göran Berg!«

»Hej hej, Tom Skagen von Skanpol hier.«

»Ach, Sie.« Mehr sagt er nicht.

»Ich habe ein Foto von dem Haus, das den Nowaks gehört«, erklärt Skagen. »Es steht in Hultsjö. Also nicht weit weg von der Unfallst…«

»Wissen wir schon.«

»Wissen Sie schon?«

»Hultsjö ist klein.«

»Ja, und?« Skagen spürt, dass die Konversation mit Berg ihm mehr Geduld abverlangt, als er im Moment aufbringen kann.

»Wir haben im Supermarkt in Hultsjö nachgefragt. Die kannten die Familie. Herr Nowak hat sich dort nach einem Tischler erkundigt. Sie wollten das Haus renovieren. Wir sind gerade vor Ort und durchsuchen das Gebäude.«

»Okay, und wissen Sie …?«

»Nein, wir wissen noch nicht, wo sich Frau Nowak aufhält. Wir …«

»Sie heißt Tina«, unterbricht diesmal Skagen. »Christina Nowak. Und ihre Nachbarn in Hamburg sagen, dass sie mit nach Schweden gefahren ist.«

Durch das Telefon hört er im Hintergrund eine Frauenstimme. Berg scheint sich einen Moment auf sie zu konzentrieren, dann wendet er sich wieder an ihn: »Wir haben etwas gefunden. Ich muss auflegen.«

»Warten Sie. Ich … Polizeiinspektor Berg?«

Die Verbindung ist unterbrochen.

Irritiert starrt Skagen auf das Telefon.

5

Maja sieht, wie Göran das Gespräch mit dem deutschen Polizisten beendet und das Handy in die Tasche seiner Uniform steckt.

»Was hast du da?«, fragt er.

»Scheint ein Tagebuch zu sein, allerdings in Bildern.« Maja hält ihm einen DIN-A4-Collegeblock entgegen. Vorn auf dem Einband prangt in unbeholfener Schrift »Ronja, das Trollkind«. Er blättert die Seiten auf, die voll krakeliger Filzstiftzeichnungen sind.

»Was heißt ›Trollkind‹?«, fragt Göran. »Ich kann kein Deutsch.«

»Trollbarn, glaube ich. Sieh mal, da hat das Mädchen einen großen dicken Troll gemalt. Und das soll bestimmt das Haus darstellen, in dem wir gerade sind. Es ist umringt von Trollen. Ob das etwas bedeutet?«

»Kann sein. Vielleicht ist es bloß Fantasie. Wir nehmen das Ding mit. Jemand, der Ahnung davon hat, soll es sich ansehen.« Er gibt Maja den Block zurück, und sie steckt ihn in einen papiernen Beweismittelbeutel.

»Der Typ von Skanpol, mit dem du eben telefoniert hast – könnte der nicht herkommen und uns helfen?«, fragt Maja.

»Wieso?«

»Ist dieses Skanpol nicht genau für solche Angelegenheiten da?«

»Kann sein.«

Maja guckt ihren Kollegen an. »Ich hatte ebenfalls eine kurze Nacht, Göran. Wäre schön, wenn du deine schlechte Laune nicht an mir auslässt.«

Göran wendet sich ab und geht nach nebenan ins Schlafzimmer. Hinter seinem Rücken rollt Maja mit den Augen, bevor sie ihre Suche im Wohnzimmer des kleinen Häuschens fortsetzt und sich bis in die Küche vorarbeitet. Auf der Anrichte liegt ein Handy. Ein Oldschool-Gerät mit Tasten. Wer benutzt denn heutzutage noch so was? Sie lässt es erst mal liegen und öffnet die Schränke, nimmt alles genau in Augenschein. Sogar in die Müslipackungen schaut sie rein.

»Hoppla«, sagt sie und fischt einen Gegenstand heraus.

»Ich hab was!« Göran tritt aus dem Schlafzimmer und wedelt mit zwei roten Reisepässen und zwei Kinderausweisen. »Die IDs und zwei Geldbörsen. Eine lag im Zimmer der Eltern, die andere bei der Jugendlichen.«

»Und ich hab zwei Handys. Das eine war seltsamerweise im Müsli versteckt.« Sie hält ein Smartphone hoch.

»Wirklich? Das ist ungewöhnlich.« Göran nimmt ihr das Telefon ab und guckt auf die pinkfarbene Hülle mit einem Einhorn darauf. »Gehört bestimmt der älteren Tochter. Jedenfalls müssen da die Techniker ran, es ist ausgeschaltet.«

»Vielleicht ist nur der Akku leer.« Maja schiebt Göran das andere Telefon hin.

»Ist das ein Seniorenhandy?«, fragt er und untersucht das kleine schwarze Gerät. Maja zuckt mit den Schultern, während ihr Vorgesetzter darauf herumdrückt, aber das Handy scheint eine Tastensperre zu haben, die nur mit einem Code aufgehoben werden kann. Göran legt es zu den anderen Fundstücken und blättert in den Pässen. Laut liest er die Namen vor: »Jochen Nowak, Christina Nowak und die Kinder Eva-Lotta und Ronja. Bingobongo, würde ich sagen!«

Bingobongo? Gott, wo hat er denn das her? Maja öffnet eine der Geldbörsen. Sie gehört Christina Nowak. Leider befindet sich darin nichts, was einen Hinweis darauf gibt, wo Frau Nowak stecken könnte.

»Mann, was für ein Chaos«, sagt Göran mit Blick auf das Wohnzimmer.

»Sieht aus wie ›Wohnen auf der Baustelle‹ mit dem frischen Durchbruch zur Küche. Die Nowaks wollten den Raum wohl erweitern.« Maja dreht sich um sich selbst. »Was ist hier bloß passiert?«

»Dem Typen sind die Sicherungen durchgebrannt, und er hat seine Familie umgebracht, das ist passiert.«

»Wo ist dann die Leiche der Frau? Außerdem fehlen hier jegliche Spuren eines Kampfes. Etwas, das darauf hindeutet, dass Christina Nowak sich gegen ihren Mann zur Wehr gesetzt hat.«

»Vielleicht hat er sie ja hinterrücks erschlagen und entsorgt.« Göran zupft an seinen Latexhandschuhen.

Maja seufzt. »Die arme kleine Ronja.«

»Du meinst das Mongo-Kind?«

»Mensch, Göran! Jetzt mach aber mal halblang.« Manchmal ist ihr Kollege echt ein Idiot.

»Schon gut. Zumindest hat sie den Unfall überlebt. Schade, dass wir sie bisher nicht befragen konnten. Der Arzt sagt, das Mädchen muss noch einige Zeit im künstlichen Koma bleiben.«

Maja packt die Geldbörsen und die Telefone in Beweismitteltüten und sieht ihren Chef eindringlich an. »Wir müssen die Mutter finden.«

Göran will etwas sagen, doch draußen poltern plötzlich Schritte auf der Treppe, und kurz darauf wird die Tür aufgestoßen. Polizeiassistent Joakim Larsson stürmt herein. Sein roter Haarschopf und sein jungenhaftes Gesicht stehen im Kontrast zu seiner dunkelblauen Uniform. Er wirkt wie 20, denkt Maja. Dabei ist er mit Mitte 30 nur ein paar Jahre jünger als sie.

»Göran, ich habe was gefunden. In der Scheune!« Joakim grinst stolz.

»Was denn, Jokke? Etwa die Frau?«, raunzt Göran den Polizeiassistenten an, der weiterhin grinst. »Nun sag schon. Die Show kannst du dir sparen.«

Danke, Göran, denkt Maja genervt und wartet darauf, dass ihr neuer Kollege Joakim endlich auspackt.

Dessen Grinsen ist verschwunden. »Also, d-da sind … Knochen in der Scheune, ja, und … Blut.«

»Blut und Knochen? Mann, und das sagst du erst jetzt? Hoffentlich hast du alles so gelassen, wie du es vorgefunden hast. Scheiße!«

»Äh, ich hab nichts angefasst … bis auf die Knochen … vielleicht.«

»Blödmann.« Göran stößt Jokke zur Seite und läuft nach draußen. Maja folgt ihm. Hinter ihnen stolpert der neue Kollege über den Rasen und muss seine Båtmössa festhalten, damit ihm die Mütze nicht herunterrutscht.

Die Scheune ist größer als das Wohnhaus. Ihre groben Bretterwände sind ebenfalls mit roter Farbe gestrichen, die allerdings in größeren Flocken abblättert. Unter dem Giebel hängen mehrere Schwalbennester, in denen reger Flugverkehr herrscht. Pfeifend zischt eine Schwalbe über Maja hinweg und stößt in den blauen Himmel empor.

»Ich hab nichts angefasst, wirklich. Nur die Knochen. Und die sind a…«

»Schnauze!« Göran tritt durch das offene Tor ins dämmrige Innere. Auf dem Boden sind Reifenspuren zu erkennen, vermutlich haben die Nowaks ihren Volvo hier geparkt. Altes Heu liegt herum, und verrostete Gartengeräte stehen an den Wänden. Hacke, Axt, Säge, Sense. In einer Ecke sind frische Bretter gestapelt, ein Haufen Holzverschnitt wartet darauf, im Kamin verbrannt zu werden. Auf einer schiefen Kommode daneben stehen fünf Eimer Farbe. Falunrot und Weiß.

»Wo ist es?«, fragt Göran.

Jokke schleicht mit eingezogenem Kopf an ihm vorbei. »Dort ist das Blut.« Er zeigt auf einen tellergroßen Fleck auf dem Boden.

Göran und Maja beugen sich hinab.

»Hm.« Göran tippt mit seinem behandschuhten Finger in die eingetrocknete Lache. »Das ist kein Blut.«

»Nicht?«

»Nein, du Idiot!«

Joakim reißt erstaunt die Augen auf.

»Das ist Farbe, vermischt mit …«, Göran hält sich den Finger unter die Nase, »keine Ahnung. Wie Öl riecht es nicht. Vielleicht stammt es von einem Fahrzeug, das in der Scheune gestanden hat. Einem Traktor oder dem Volvo der Familie. War ja ein älteres Modell.«

»Oh.« Mehr kommt nicht von Joakim, der knallrot anläuft.

Maja sagt nichts. Das Farb-Irgendwas-Gemisch wirkt tatsächlich wie Blut. Sie hätte auch darauf reinfallen können. Allerdings hätte sie es sich zuerst genauer angesehen, ehe sie darüber Meldung gemacht hätte. Sie schaut sich um. Über ihnen befindet sich ein offener Heuboden. Rechter Hand führt eine klapprige Leiter bis unters Dach. »Warst du dort oben?«, fragt sie Jokke.

Der Polizeiassistent schüttelt den Kopf.

Ohne Umschweife klettert Maja die morschen Sprossen hinauf. Oben erwarten sie uralte Heureste, Taubenkot und Spinnweben. Die Luft ist drückend und stickig, und irgendwo summt ein Insekt. Durch ein paar Löcher im Wellblech fallen Lanzen aus Licht.

»Hier ist nichts«, ruft sie ihren Kollegen unten zu. Der falsche Blutfleck prangt genau zwischen Göran und Joakim auf dem Boden. Sie dreht sich um und will die Leiter hinabsteigen, da entdeckt sie etwas auf dem Boden. »Da liegt ein Messer.«

»Ein Messer?«

»Ja. Ein altes Schnitzmesser. Damit hat jemand Buchstaben in einen der Dachbalken geritzt. Wirkt alles frisch. Ein L, ein Pluszeichen und ein … schiefes I. Ich lasse alles, wie es ist, für die Spurensicherung.« Mit ihrem Handy macht Maja einige Fotos und klettert nach unten, wo sie Göran die Aufnahmen zeigt.

Nachdem er sie betrachtet hat, wendet er sich an Jokke: »Und wo sind die Knochen?«

Jokke führt sie zu der klapprigen Kommode und weist in das dunkle Viereck hinter den geöffneten Türen. Ein weißes Bündel liegt darin. »Erst hab ich gedacht, es ist ein Haufen Äste, den jemand in ein Laken gewickelt hat, aber dann …«

Göran schiebt sich an Jokke vorbei. Mit spitzen Fingern nimmt er einen der größeren »Äste« aus dem Bündel. Es ist ein menschlicher Oberschenkelknochen.

»Das Laken scheint neu zu sein, der Knochen ist definitiv alt«, stellt Maja fest.

»Sag ich doch«, entgegnet Jokke zaghaft. »Ob die was mit dem Fall zu tun haben?«

»Not sure. Die waren irgendwo vergraben oder so, da klebt trockene Erde dran.« Göran legt den Knochen zurück in das Bündel und untersucht vorsichtig den Rest der Gebeine. »Kein Schädel.« Er richtet sich auf. »Puh, die Jungs von der Spurensicherung beneide ich nicht. Die erwartet jede Menge Arbeit.«

Maja wackelt mit dem Handy. »Und deshalb rufe ich jetzt auch diesen Typen von Skanpol an. Seine Unterstützung können wir gut brauchen. Wie heißt der noch mal?«

»Skagen.«

»Nein! Etwa Tom Skagen?«

»Ja.«

»Das gibt’s nicht.« Maja schnalzt mit der Zunge.

»Was ist?«, fragt Göran mit gerunzelter Stirn.

»Wenn es der Tom Skagen ist, an den ich denke, dann war seine Schwester damals eine Schulfreundin von mir. Tom war zwei Klassen über mir. Mein Gott, was für ein Zufall.«

»Der ist in Karlskrona aufgewachsen? Warum hat er mir vorhin nichts davon gesagt?«

»Vielleicht, weil du ihn nicht hast zu Wort kommen lassen?« Maja wirft ihrem Vorgesetzten einen spöttischen Blick zu. Der quittiert das mit einem Augenrollen und diktiert ihr schließlich die Durchwahl von Skagen.

6

Tom Skagen tritt vor die Tür des Einfamilienhauses in Bargstedt und blickt mit bleischwerem Herzen auf den von der Hitze verdorrten Vorgarten. Gelbes Gras, runzlige Stauden, eine im trockenen Wind raschelnde Hecke.

Im Haus hinter ihm sitzen die Eltern von Jochen Nowak, deren Leben er soeben eine verstörende Wende gegeben hat. Er fühlt noch immer Gänsehaut auf seinem Rücken und zuckt fröstelnd zusammen. Zumindest hat er jetzt eine klare Identifizierung der Opfer. Ellen Nowak hat ihren Sohn und die zwei Mädchen sofort wiedererkannt, woraufhin sie zusammengebrochen ist. Auch der Zustand von Klaus Nowak ist sehr schlecht. Skagen hat neben dem Seelsorger einen Arzt hinzugerufen und erst danach weiter Fragen gestellt. Laut der Nowaks war mit Jochen, Tina und den Kindern alles in Ordnung, bevor sie nach Schweden gefahren sind. Jochen habe nie depressive Tendenzen gezeigt, sei stets ein sehr lebensbejahender Mensch gewesen. Größeren Streit habe es zwischen ihm und Tina nie gegeben. Als Skagen danach gefragt hat, ob die beiden Probleme mit ihren Kindern, speziell mit der behinderten Tochter, gehabt hätten, reagierten die alten Nowaks regelrecht pikiert. Nachdrücklich betonten sie, dass Ronja eine absolute Bereicherung für sie alle sei. Jochen und Tina seien immer froh gewesen, sie bekommen zu haben. Ronja sei ein bezauberndes Kind und sehr lieb. Das klang in Skagens Ohren fast wie auswendig gelernt. Womöglich interpretiert er aber zu viel in diese Aussage hinein.

Er schließt sein Auto auf, um ins Büro zurückzufahren, da klingelt sein Handy. Es ist eine unbekannte schwedische Nummer. Als er abnimmt und die Person am anderen Ende sich vorstellt, ist er überrascht.

»Maja Lövgren?«, fragt er. »Die Majaja?«

»Genau die Majaja. Sag, wie geht es dir, Tom?«

»Äh, ganz okay. Mann, ist das ein Ding!«

»Nicht wahr? Und was macht Gisa? Ich habe das letzte Mal vor fünf oder sechs Jahren etwas von ihr gehört. Ist sie noch auf diesem Kreuzfahrtdampfer unterwegs?«

Ein wenig verhalten berichtet Skagen, dass seine Schwester seit zwei Jahren ihr Kapitänspatent besitzt und für AIDA-Cruises im Mittelmeer und im Persischen Golf herumschippert. Dass ihm dieser Gedanke manchmal eine Heidenangst einjagt, behält er für sich.

»Wow. Was für ein Traumjob«, stößt Maja Lövgren sehnsuchtsvoll aus. »Immer schönes Wetter und dabei ferne Länder erkunden. Herrlich. Aber über zu wenig Sonne können wir uns ja im Moment nicht beschweren, was? Langsam könnte es mal wieder regnen. Ist alles viel zu trocken hier in Schweden. Waldbrandgefahr Stufe Glühendrot. Mensch, Tom, ich kann’s gar nicht fassen, dass ich dich am Telefon habe. Und dass wir jetzt im selben Verein spielen, wusste ich auch nicht. Wie kommt’s? Ich dachte, du liebst die Seefahrt so sehr, dass du mit dem Meer verheiratet bist. Oder hat es eine Frau geschafft, dich vom Schiff zu zerren und an Land festzupflocken? Na, sag schon!«

»Welche Braut kann schon mit der See konkurrieren?«, gibt Skagen zurück, ohne auf die vielen Fragen einzugehen.

»Stimmt. Ein echter Seebär wie du hat vermutlich in jedem Hafen eine.« Maja lacht, und es klingt so schmerzhaft vertraut, dass es Skagen unvermittelt die Brust zuschnürt. Ungefiltert drängen Erinnerungen herauf und katapultieren ihn zurück in seine Kindheit auf den Schären. Er sieht die glitzernde Weite des Wassers, nackte Füße, die über die Kaimauer baumeln, und Sahneeis im Becher. Er spürt das Salz auf seiner Haut und die Stumpfheit von Majas blonden Haaren, die vom Meerwasser strohig geworden sind, wenn sie an der Mole gebadet haben. Es war ein Sommer voll heimlichem Geflüster und Schwärmereien. Ein Sommer in Karlskrona. Aber anstelle eines warmen Nostalgiegefühls spürt Skagen einen dumpfen Druck im Bauch. Kurz darauf beginnen die wohlvertrauten Haken der Angst sich in seine Haut zu bohren.

Denn da ist auch das Meer.

Die Dunkelheit der See, die Karlskrona umfängt.

Nach dem, was ihm passiert ist, hat er es nie mehr geschafft, dorthin zu fahren. In die Stadt auf der Schäreninsel, umringt vom Meer. In die Straßen seiner sorglosen Kindheit. Nicht einmal in seiner Erinnerung hat er dorthin gehen können, in die Zeit, in der alles möglich schien, als alle Träume noch Träume und keine Albträume waren.

Er muss schlucken und versucht, die heiß heraufsprudelnde Panik unter Kontrolle zu bringen. Die Panik, von der er gedacht hat, sie mithilfe seiner Therapeutin bezwungen und an die Leine gelegt zu haben. Doch sie ist wieder da, hat die ganze Zeit in den finsteren Untiefen seines Bewusstseins darauf gelauert, erneut aufsteigen zu können. Erschüttert von dieser Erkenntnis fährt sich Skagen über das schweißnasse Gesicht.

»He, Tom? Was ist los?«, fragt Maja am anderen Ende der Leitung. »Du bist so still.«

»Alles gut, ich bin nur so überrascht, von dir zu hören.«

»Und ich erst!« Maja lacht erneut, und der vertraute Klang bringt den Boden unter Skagens Füßen ins Wanken. Er muss sich auf der Motorhaube aufstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Am liebsten hätte er aufgelegt. Aber was sollte Maja von ihm denken? Also hört er sich still an, was sie von der Hausdurchsuchung berichtet. Was sie dabei gefunden haben und dass Frau Nowak noch immer verschwunden ist.

»Habt ihr einen Suchtrupp?«, fragt Skagen, als er sich sicher sein kann, dass seine Stimme ihn nicht im Stich lässt.

»Den werden wir morgen losschicken«, entgegnet Maja. »Wenn wir mehr wissen.« Sie zögert. »Kannst du nicht herkommen und uns vor Ort unterstützen? Göran, unser Ermittlungsleiter, ist, na ja, manchmal ein wenig zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«

Skagen will gerade darauf antworten, als Maja einen überraschten Laut ausstößt. »Oh, tut mir leid, Tom, ich muss auflegen. Die Spurensicherung hat etwas gefunden. Ich melde mich später wieder. Mach’s gut.«

Im nächsten Moment ist es still in der Leitung, und zum zweiten Mal an diesem Tag starrt Skagen verdutzt sein Telefon an.

7

In der Woche davor

»Heute Nacht war ein Troll da«, sagt Ronja und grinst über das ganze Gesicht. Marmelade klebt an ihrem Kinn. Tina kommt mit dem Abwischen gar nicht hinterher. Die Blaubeerkonfitüre ist die Hölle. Morgen würde sie eine andere Marmelade auf den Frühstückstisch stellen.

»Ein Troll? Wirklich?«, fragt Jochen fröhlich. »Das ist ja spannend. Und was wollte der bei uns?«

»Nichts.« Ronja lacht. »Er hat am Waldrand gestanden und unser Haus beobachtet.« Sie reißt die Augen auf und legt die Hände an ihre Schläfen, als blicke sie durch ein Fenster. Na prima, jetzt ist auch noch Marmelade in ihren Haaren, denkt Tina.

»Er hat geguckt, ob er mich holen kann.«

»Dich holen?« Jochen runzelt die Stirn. »Warum sollte er dich holen?«

»Weil ich ein Troll bin.« Ronja stößt einen dieser grunzenden Laute aus, die sie sich angewöhnt hat, seit sie ihr das Märchenbuch über Trolle geschenkt haben.

»Na, da hast du ja was zu erzählen, wenn du nach den Ferien wieder in der Schule bist.« Jochen drückt sich Tubenkäse aufs Knäckebrot und beißt lautstark ab. »Wer von deinen Schulkameraden kann schon von sich behaupten, dass er einen Troll gesehen hat?«, fährt er mit vollem Mund fort, Krümel fliegen über den Tisch.

»Ach Mensch, Jochen«, ermahnt ihn Tina.

»Och Mönsch, Tinaaaa«, imitiert Jochen sie und lacht. Ronja lacht mit.

Lola, die den beiden gegenübersitzt, gibt einen genervten Seufzer von sich, während sie in Minischlucken ihren Tee trinkt.

»Willst du nicht noch einen Toast?«, fragt Tina.

»Nein.«

»Du hast fast nichts gegessen.«

»Das Brot schmeckt scheiße.«

»Eva-Lotta! Du weißt, was wir vereinbart haben.«

Lola rollt mit den Augen. »Mann, aber es stimmt doch. Der Toast ist total labberig. Außerdem wisst ihr, dass ich gesalzene Butter hasse. Das passt überhaupt nicht zu Marmelade. Das ist megabescheuert.«

»Ich kaufe dir nachher normale Butter, okay? Kannst bis dahin Müsli essen. Das schwedische ist total lecker. Probier mal.« Tina schiebt ihrer Tochter die Packung hin, doch Lola verzieht das Gesicht.

»Ich hasse Müsli!«

»Dann bleibt unserem Fräulein Krüsch nur das Brot. Kannst es ja toasten.«

»Ich hab eigentlich gar keinen Hunger.«

Tina ahnt, woher der Wind weht. Lola und ihre beste Freundin Jenny sind seit Kurzem dem allgemeinen Schlankheits- und Fitnesswahn verfallen, der unter den Teenagern in ist. Bloß nichts essen, was einen aufblähen könnte, kein Gramm Fett zu viel an der falschen Stelle. Ein flacher Bauch und ein knackiger Hintern sind alles, worauf es ankommt. So etwas kennt Tina aus ihrer eigenen Jugend, und wer wollte damals nicht dem Ideal entsprechen? FDH und Brigitte-Diät. Aber heute heißt es Ab Crack, Thigh Gap oder Bikini Bridge. Gefährliche Anzeichen der Unterernährung, die durch trendige Namen hip gemacht werden. Dazu jede Menge Schminke, die ein halbes Vermögen kostet. Typisch für die Generation Z: Selbstoptimierung bis über die Schmerzgrenze und immer bereit für das nächste Selfie. Tina hat viel darüber gelesen, sie hat überhaupt viel gelesen, um ihre ältere Tochter besser verstehen zu können. Gebracht hat es allerdings nichts.

Sie unterdrückt einen Seufzer, als sie bemerkt, dass Lola zu ihrem Handy hinüberschielt. Zum Glück haben sie hier kein WLAN, also muss Lola über ihr Guthaben surfen. Das bedeutet: Wenn es aufgebraucht ist, war es das.

»Ich hatte gar keine Angst, als ich den Troll gesehen habe«, ruft Ronja stolz.

»Du bist ja auch unsere kleine Trollprinzessin. Siehst auf jeden Fall aus wie eine. Heute noch nicht gekämmt, oder was?« Jochen fährt ihr durch das verwuschelte Haar. Egal, was man morgens mit Ronja anstellt, binnen kürzester Zeit ist alles an ihr wieder unordentlich.

Jochen wendet sich an Tina. »Und was war das jetzt für ein Troll, den sie gesehen haben will?«

»Keine Ahnung.« Sie hebt die Schultern. »Ich war letzte Nacht nicht dabei, als Madame durchs Haus geschlichen ist, obwohl sie eigentlich im Bett liegen sollte.« Sie wirft Ronja einen mahnenden Blick zu, doch ihre jüngere Tochter kichert nur. »Jedenfalls behauptet sie, dass sie draußen etwas im Wald gesehen hat.«

»War bestimmt ein Elch. Der Bauer Dahlberg sagt, dass es in Südschweden mehr Elche gibt, als man glaubt.«

»Und Trolle!«, ruft Ronja triumphierend.

Tina bemerkt, dass Lola auf ihrem Smartphone herumtippt. »Lotta, bitte nicht bei Tisch.«

»Mann, ich schreibe Jenny nur schnell, wie öde es hier ist.«

»Wenn dir langweilig ist, such dir eine Beschäftigung. Du musst mal lernen, ohne dieses Ding klarzukommen.«

»Hey, ich bin ein Digital Native«, entgegnet Lola, ohne aufzusehen. Ihre Finger fliegen über das Display. »Das ist für mich wie für euch früher der Kassettenrekorder.«

Jochen stößt einen amüsierten Laut aus. »Damit konnte man aber nur Kassetten abspielen, sonst nix. Keine tausend Sachen gleichzeitig. Chatten, shoppen und YouTube-Videos angucken.«

»Siehst du, wie gut das Handy ist?«

»Lola, draußen ist so ein super Wetter, und dann diese schöne Natur. Das hast du in Hamburg nicht.«

»Zum Glück!«

»Was hältst du davon, wenn wir nachher zum Badesee fahren?« Jochen gibt nicht auf. Er lächelt Lola an, doch die bewegt sich keinen Millimeter auf ihn zu.

»Und mich überall von den ätzenden Mücken stechen lassen? Nee! Bestimmt nicht.« Mit verächtlicher Miene verschränkt sie die Arme vor der Brust.

»Du könntest uns auch am Haus helfen. Die Außenfassade muss abgeschabt und neu gestrichen werden.«

»Pfff. Bin ich euer Sklave? Das ist Kinderarbeit.«

Jochen verzieht das Gesicht, und Tina seufzt erneut. Sie bezweifelt, dass es eine gute Idee war, Lola ohne ihre Freundin Jenny mit nach Schweden zu nehmen. »Wenn du nicht aufhörst zu nörgeln, schicken wir dich mit dem Zug früher nach Hause.«

Erfreut blickt Lola auf. »Oh, wirklich? Prima!«

»Zu Oma und Opa«, fügt Tina hinzu.

Lolas Gesichtsausdruck verfinstert sich. »Ihr seid so was von lame.«

»Und Trolle sind so was von grooooß und megasüüüüß«, brüllt Ronja dazwischen.

»Mann, Ronja! Hör endlich mit deinen dämlichen Trollen auf. Du bist echt ein Pain in the ass.«

»Lola, es reicht!« Tina funkelt ihre ältere Tochter an.

»Warum ich jetzt?«, empört sich Lola. »Ronja brüllt doch rum, nicht ich.«

»Ass! Ass! Ass!«, ruft Ronja weiter. »Mama, was ist ein Painsiass? Aaaaass! Painsiass!«

Dieses ewige Ringen um Aufmerksamkeit der beiden, denkt Tina, und spürt den Stachel der Schuld, den sie nie aus ihrem Fleisch würde ziehen können.

»Ronja, ist gut.« Schaltet sich Jochen ein, und ihre Jüngere verstummt sofort. Von klein auf hat Ronja besser auf ihren Vater gehört. Er dreht sich zu Lola. »Und nun zu dir, Fräulein – Mama hat recht: Du bist diejenige, die schlechte Stimmung verbreitet. Warum musst du immer so destruktiv sein?«

»Destruktiv?« Lola stößt wütend Luft aus. »Ihr mit eurem dämlichen Lehrergequatsche.«

»Lotta!«

»Ach, macht doch einen auf happy Family. Aber ohne mich.« Lola springt auf und rennt davon. Die Tür zu ihrem Zimmer schlägt zu.

»Na super«, sagt Jochen.

Genau, denkt Tina. Und das soll ich fünf Wochen aushalten?

»Super, ass!« Ronja klatscht begeistert. »Papa, können wir in den Wald gehen und Trolle suchen?«

Nach dem Frühstück bringt Tina das Geschirr in die Küche, und da sie noch keine Spülmaschine im Haus haben, beginnt sie, alles abzuwaschen.

Als sie ihre Hände ins warme Spülwasser taucht, schnürt sich Tinas Kehle zu. Sie weiß wirklich nicht, wie sie es aushalten soll, fünf Wochen in diesem Haus zu verbringen. Ihrem Haus. Nein, Jochens Haus. Es war immer sein Traum. Ein eigenes Schwedenhaus. Sein kleines Bullerbü.

Tina stellt einen nassen Teller auf das Abtropfgitter. Hamburg ist weit weg. Ihre Wohnung, ihre vertraute Umgebung, alles ist weit weg. Sie vermisst die laute Stadt. Das entfernte Rauschen des Verkehrs, die Martinshörner, das Glockenläuten der Kirchen, das Geplapper der Menschen. Ein Geräuschteppich, der sich stets dämpfend über ihre Gedanken legt. Doch in der beängstigenden Stille Schwedens gibt es diesen schützenden Puffer nicht. Hier liegen ihre Gedanken offen wie der entzündete Nerv eines Zahns.

Sie muss etwas finden, mit dem sie sich ablenken kann. Muss die fünf Wochen irgendwie überleben. Jochen darf nichts von ihren Sorgen wissen. Er will zelebrieren, dass sie eine Familie sind, indem er das Haus für sie herrichtet. Eine Schöpfungsgeschichte der ganz eigenen Art. Am ersten Tag schuf Jochen die Harmonie. Dann erst kam das Licht.

Tina spürt, wie Tränen ihre Wange hinabrinnen und ins Spülwasser tropfen. Sie sind schon oft alle zusammen im Urlaub gewesen, als Familie. Aber nie hat es sich so bedrohlich angefühlt wie dieses Mal.

»Heulst du etwa?«

Tina schreckt zusammen. Rasch wischt sie sich über das Gesicht und dreht sich um. Lola lehnt lässig im Türrahmen. Ihre langen blonden Haare fallen offen über ihre Schultern, und ihr jugendliches Gesicht wirkt wie modelliert. Tina runzelt die Stirn. Hat Lola etwa Mascara und Lippenstift aufgetragen? Wofür? Sie sind mitten im Wald.

»Nein, ich habe nicht geweint«, entgegnet sie mit fester Stimme.

»Du lügst. Ich seh es doch.« Lola blickt sie abschätzend an. Ihre roten Lippen verziehen sich zu einem Lächeln, das Tina nur schwer deuten kann. Mit ausgestreckten Armen geht Lola plötzlich auf sie zu und will sie umarmen.

Erschrocken weicht Tina zurück. »Nein. Bleib weg!«

Verblüfft hält Lola inne. Synchron zu ihren Mundwinkeln lässt sie die Arme sinken. »Jenny hat recht«, entgegnet sie bissig, »du bist ein Eisklotz.«

Am ganzen Körper bebend schaut Tina sie an. Einfach alles an Lola strahlt Verachtung aus. Ihre Augen, ihre Haltung, ihr verzerrter Mund. Verzweifelt sucht Tina nach Worten. So etwas wie: »Tut mir leid, ich hab dich ja auch lieb.« Oder: »Komm her, das war nicht so gemeint.« Aber sie bekommt es nicht heraus. Ihre Lippen sind wie zugeklebt.

»Weißt du was, Mama?«, sagt Lola und stößt einen Finger in die Luft. »Du bist das Letzte!« Mit fliegenden Haaren dreht sie sich um und rennt aus der Küche. Wenig später sieht Tina sie draußen über den Rasen laufen.

»Wo willst du hin?«, ruft Jochen ihr hinterher, doch Lola reagiert nicht und verschwindet auf dem Schotterweg in Richtung Straße. Tinas Blick ist schon wieder nach innen gerichtet, auf den abgrundtiefen Graben, der zwischen ihr und ihrer Tochter gähnt wie ein gieriges Schwarzes Loch. Seit Lola ihre erste Periode bekommen hat und sich Schminke ins Gesicht schmiert, um den Jungen zu gefallen, ist dieser Graben nicht nur tiefer, sondern vor allem düsterer geworden. Tina macht sich nichts vor. Sie weiß, dass er von Anfang an dagewesen ist.

Ihre Gedanken kehren in die Gegenwart zurück, und sie schaut aus dem Fenster hinüber zum Waldrand. Vielleicht sollte sie einfach alles stehen und liegen lassen und in den Wald gehen … nie wieder auftauchen.

Wie betäubt beendet sie den Abwasch, trocknet ihre Hände ab und schleppt sich ins Wohnzimmer. Ronja kommt hereingeprescht, Jochen im Schlepptau.

»Wo ist denn Lola hin?«, fragt er.

»Keine Ahnung. Ich glaube, sie will allein sein.«

Jochen gibt einen nachdenklichen, fast sehnsuchtsvollen Laut von sich. Sanft streicht er über Tinas Rücken. »Ich wäre auch mal wieder gerne allein mit dir«, flüstert er.