Kaltgestellt - Royce Scott Buckingham - E-Book

Kaltgestellt E-Book

Royce Scott Buckingham

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Beschreibung

Auszeit ohne Wiederkehr - willkommen in Ihrem schlimmsten Albtraum!

Als Staatsanwalt Stu Stark den wichtigsten Fall seiner Karriere verliert, wird er fristlos entlassen. Um sein angeschlagenes Ego aufzupolieren, lässt er sich auf einen Trip durch Alaskas Wildnis ein. Was wie ein Abenteuer beginnt, entwickelt sich schnell zum Albtraum – denn nach einer Woche wird er nicht am vereinbarten Treffpunkt abgeholt. Man hat ihn im eisigen Polarklima zurückgelassen, wo ihm schon bald der Tod droht. Seine einzige Rettung ist ein alter Jäger, der ihn über den Winter bei sich aufnimmt. Für den ehemaligen Anwalt beginnt ein beinhartes Überlebenstraining, das er nutzen will, um sich an denjenigen zu rächen, die ihn verraten haben ...

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Seitenzahl: 448

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Buch

Stuart Stark ist der aufgehende Stern der Staatsanwaltschaft von Massachusetts und steht gerade vor seinem nächsten großen Fall: Raymond Butz wird beschuldigt, seine Ehefrau ermordet zu haben, und die Indizienlage scheint eindeutig. Doch als Butz den Gerichtssaal aufgrund eines Verfahrensfehlers als freier Mann verlässt, folgt für Stu der unweigerliche Absturz: Sein Ruf ist ruiniert, und den Job ist er los.

Um wieder auf die Füße zu kommen, gründet er mit Clay, einem Freund aus Studienzeiten, eine eigene Anwaltsfirma, mit der es tatsächlich bergauf zu gehen scheint, als ein neuer Fall die beiden zu entzweien droht. Clay schlägt Stu daraufhin einen gemeinsamen Trip nach Alaska vor, springt jedoch im letzten Moment ab. Stu fliegt allein in die Wildnis, wo er zu seinem Entsetzen nicht die erwartete Luxus-Unterkunft vorfindet, sondern auf sich allein gestellt ist. Als er nach einer Woche erkennen muss, dass ihn niemand abholt, um ihn wieder nach Hause zu bringen, beginnt ein gnadenloser Kampf ums Überleben …

Autor

Royce Scott Buckingham, geboren 1966, begann während seines Jurastudiums an der University of Oregon mit dem Verfassen von Fantasy-Kurzgeschichten. Sein erster Roman Dämliche Dämonen begeisterte weltweit unzählige Leser und war insbesondere in Deutschland ein riesiger Erfolg. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt Royce Buckingham in Bellingham, Washington. Kaltgestellt ist sein erster Roman für Erwachsene.

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ROYCE SCOTTBUCKINGHAM

KALTGESTELLT

THRILLER

Deutschvon Wulf Bergner

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem TitelImpasse bei St. Martin’s Press, New York.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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1. AuflageCopyright der Originalausgabe © 2015 by Royce Scott BuckinghamPublished by arrangement with St. Martin’s Press, LLC. All rights reservedCopyright der deutschsprachigen Ausgabe© 2016 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Alexander GroßUmschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,unter Verwendung von Motiven von photocase.de und Shutterstock.comkw · Herstellung: kwSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-16093-7V001www.blanvalet.de

Dieses Buch ist denen unter uns gewidmet,die nicht sonderlich auf Anwälte stehen.

PROLOG

»Keine Leiche, kein Fall«, hatten Stuart Starks Kollegen bei der Staatsanwaltschaft im Bristol County, Massachusetts, ihn gewarnt. Trotz ihrer Warnungen hatte er in der Mordsache Butz Anklage erhoben. Aber als er in einer baufälligen Jagdhütte mitten in Alaskas im Sterben lag und sich fragte, ob er die Mündung des geliehenen Browning .30-06 zwischen die Zähne nehmen und dabei den Abzug erreichen konnte, wünschte er sich, er hätte auf sie gehört.

Als Marti Taylor noch mal heiratete, um die zweite Mrs Raymond Butz zu werden, war das eine – abgesehen von der offenkundigen Verschlechterung ihres Nachnamens – aus verschiedenen Gründen miserable Entscheidung. Einer davon war Rays unbeherrschbar cholerische Wesensart. Marti kämpfte gegen eine Scrapbooking-Sucht an, und nachdem am 17. März um 17.35 Uhr in ihrer subventionierten Sozialwohnung im Norden von New Bedford mit der Post eine Visa-Rechnung mit etwas über knapp dreihundert Dollar Belastung vom Scrap-a-Doodle Store eingegangen war, hatte Ray sie mit einer Schlinge erdrosselt – wahrscheinlich mit seinem Gürtel, denn er arbeitete am Bau und besaß keine Krawatte. Das war ein sauberer Mord, der in ihrer Wohnung, dem vermutlichen Tatort, keine Blutspuren hinterließ. Blutig wurde es später auf der Iron Maiden, der Privatjacht des Besitzers der Bolt Construction Company, auf der Butz als Bootsmann aushalf, wenn am Bau Flaute herrschte, und auf der er seine Frau mit einer blauen Stichsäge von Ryobi zerstückelte. Anschließend gingen Marti und die Ryobi über Bord, um nie wieder gesehen zu werden.

Während der drei Jahre andauernden Ermittlungen wurde Butz insgesamt sechsmal vernommen. Bei den ersten fünf Malen war er nicht verhaftet, als er befragt wurde, sodass eine Belehrung über seine Rechte weder erforderlich war noch erteilt wurde. Als er beim letzten Mal verhaftet und dabei über seine Rechte belehrt wurde, übte er rasch sein Recht aus, einen Anwalt zu verlangen, womit die Vernehmung praktisch beendet war. Dreizehn Tage später, während er im örtlichen Gefängnis in Untersuchungshaft auf seinen Prozess wartete, schilderte er seinem Zellengenossen den genauen Tatablauf, ohne zu erkennen, dass sein zweifelhafter Vertrauter solche Informationen dazu benutzen konnte, sich einen Deal mit Strafnachlass wegen seines eigenen Drogenvergehens zu sichern. Bei seinen sechs Vernehmungen und durch seine Redseligkeit in der Haft gestand Raymond Butz nicht nur das Verbrechen, sondern auch zwanzig damit zusammenhängende Details, die nur der Täter kennen konnte. Genug für den aufstrebenden stellvertretenden Staatsanwalt Stuart Stark, ihn in dem größten Sensationsprozess anzuklagen, den New Bedford seit dem Verfahren gegen Lizzie Borden 1893 erlebt hatte.

Fernsehteams kampierten vor dem Gerichtsgebäude, ein Autor, der über wahre Verbrechen schrieb, nahm den Fall in sein nächstes Buch auf, und America’s Unsolved begleitete Stu während des Prozesses mit Kameras und führte sein Selbstbewusstsein und seine juristische Brillanz der ganzen Welt vor – zumindest dem Teil, der wahre Verbrechen und Realityshows im Fernsehen goutierte.

Nach dem Urteil gab Stu sich bescheiden und schrieb Randy »Rusty« Baker, dem cleveren leitenden Ermittler, das Verdienst zu, ein Geständnis erreicht zu haben. Staatsanwälten stand es immer gut zu Gesicht, den ermittelnden Kriminalbeamten ein Lob auszusprechen – sie hatten es verdient, und in diesem Fall sicherte es ihm Rustys ewige Freundschaft. Stu erklärte seinem bewundernden Publikum, der Ausgang des Verfahrens befriedige ihn, aber es zieme sich nicht, als Staatsanwalt die Verurteilung eines Mannes zu bejubeln. Dann kehrte er in sein Büro zurück, schloss die Tür und rief seine größte Cheerleaderin an – seine Frau Katherine –, die an seiner Stelle jubelte.

»Ich kann’s kaum erwarten, allen zu erzählen, dass ich mit dem berühmtesten Anwalt in ganz Massachusetts verheiratet bin!« Sie juchzte ins Telefon.

Neun Monate später verließ Butz das Gefängnis als freier Mann.

Nach Meinung des Berufungsgerichts war das »bedauerlich«, eine Eigenart des Gesetzes, aber durch Präzedenzfälle diktiert.

Die Corpus-Delicti-Bestimmung in Mordfällen ohne Leiche erforderte den Beweis, dass 1) die Person tot und 2) durch eine Straftat ums Leben gekommen war. Eigentlich ganz einfach. Aber die Todesursache musste durch andere Beweismittel nachgewiesen werden, bevor die Aussagen des Beschuldigten ins Verfahren eingeführt werden konnten. Sonst könne ein Geistesgestörter Straftaten gestehen, die nie verübt worden seien, sagte das Berufungsgericht. Die Staatanwaltschaft müsse nachweisen, dass ein Mord vorliege, bevor jemand ihn gestehen könne.

Leider reichte in diesem speziellen Mordfall ohne Leiche das Verschwinden einer Frau nicht dafür aus, als Todesursache Mord anzunehmen. Die Tatsache, dass Butz einen Gürtel trug, bewies nichts ohne sein Geständnis seinem Zellengenossen gegenüber, dass er ihn dazu benutzt habe, seine nach Scrapbooks süchtige Ehefrau zu strangulieren. Die verschwundene Ryobi? Das Fehlen von Beweisstücken war noch weniger zwingend als die nutzlose Existenz eines Ledergürtels. Und das Blut, das auf Tod durch eine Straftat hätte hinweisen können? An Deck der Iron Maiden, auf dem regelmäßig Fische ausgenommen wurden, hatten die Spurensicherer nur widersprüchliche Hinweise und viel Wasserstoffperoxid gefunden.

Ohne Butz’ volles Geständnis gab es einfach keinen Beweis dafür, dass Marti ermordet worden war. Dem Berufungsgericht blieb nichts anderes übrig, wie die Richter beklagten, als alles unberücksichtigt zu lassen, was Butz gesagt hatte. Sie verwiesen den Fall zur Neuverhandlung zurück, in der sein Geständnis nicht verwendet werden durfte, und waren sich darüber im Klaren, dass die Anklage gegen Raymond Butz nun in sich zusammenbrechen würde.

»Bedauerlich«, nannte das Berufungsgericht das in seiner einstimmigen schriftlichen Urteilsbegründung.

Diese Entscheidung war auch insofern bedauerlich, als der junge stellvertretende Staatsanwalt, der Star von America’s Unsolved, der sich so kühn erboten hatte, den Fall Butz freiwillig zu übernehmen, entlassen wurde. Robert Malloy, der gewählte Staatsanwalt im Bristol County, hatte keine Lust, sich dafür kritisieren zu lassen, dass in seiner Amtszeit ein geständiger Mörder freigekommen war, nicht in einem Wahljahr. Statt der mutmaßliche Nachfolger seines Bosses zu bleiben, wurde Stuart Stark der berühmteste Anwalt von ganz Massachusetts, der jemals in einer einzigen Woche einen Fall und seinen Job verloren hatte.

Und so kehrte Stu, nachdem er seine Strafverfolger-Plakette in Malloys Posteingang gelegt hatte, in sein Dienstzimmer zurück, schloss die Tür, versetzte seinem vom Staat gestellten Schreibtisch einen kräftigen Tritt, fluchte halblaut vor sich hin und verließ humpelnd für immer das Strafrecht.

KAPITEL 1

Stu fuhr auf der Suche nach einem Parkplatz um den Block. Normalerweise konnte er einen Platz am Randstein vor der Firma finden, und diesmal quetschte er seinen ältlichen Ford Taurus zwischen einen schrottreifen Chevy Silverado und den orangeroten Prius mit dem weißen Totenschädel auf der Heckscheibe, der dem Inhaber des Tätowierstudios am Ende ihres Blocks gehörte. Anschließend fütterte er die Parkuhr mit Münzen bis zur Höchstparkdauer von zwei Stunden. An diesem Tag würde er noch dreimal hinunterhasten, um Münzen nachzuwerfen: um zehn Uhr, in der Mittagspause und um 14 Uhr. Die Parküberwachung hatte um 15.30 Uhr Dienstschluss. Das ergab einen Monatsbetrag, der billiger war als ein Platz im Parkhaus, selbst wenn er die unvermeidliche Zehn-Dollar-Verwarnung einrechnete, die er ab und zu bekam.

Ihre Zwei-Mann-Anwaltsfirma residierte in preiswertem Büroraum im ersten Stock des Bluestone Building in Clark’s Cove. Das Bluestone, ein Überbleibsel aus der Blütezeit der Textilindustrie in New Bedford, stand weitgehend leer. Es war auch dem Gerichtsgebäude nicht so nahe, wie Stu es sich gewünscht hätte. Noch war es blau oder aus Stein oder sonderlich attraktiv. Aber nachdem sie gutes Geld für einen Dienst für Onlinerecherchen und ihre Vollzeitsekretärin ausgeben mussten, konnten sie sich nicht viel mehr leisten. Sie hatten jedoch mehrere Tausend Dollar, die sie sich nicht leisten konnten, in die riesige Werbetafel BUCHANAN, STARK & ASSOCIATES investiert, die das briefmarkengroße Rasenstück vor dem Eingang beherrschte. Stu düngte den Rasen in jedem Herbst persönlich und mähte ihn jede Woche. In der Firma gab es keine wirklichen Kollegen, aber sie taten sich manchmal mit anderen Anwälten vor Ort zusammen, wenn ein Fall spezielle Fachkenntnisse erforderte, und hatten eine vor Kurzem graduierte Jurastudentin, die in der Woche zehn Stunden bei ihnen arbeitete und für wenig Gehalt Recherchen anstellte, während sie fürs Anwaltsexamen lernte.

BUCHANAN, STARK & ASSOCIATES

Stu nahm sich einen Augenblick Zeit, das geschmacklos bunte Schild zu hassen. Sein Partner war Clayton Buchanan, das blendend aussehende Gesicht ihrer winzigen Kanzlei, der sich im Scherz als den Nieselregenmacher bezeichnete. Clay war ebenso gesellig wie Stu zurückhaltend. Das führte dazu, dass Clay die Arbeit brachte und Stu sie erledigte. Stu war ein stilles Arbeitspferd geworden – eine Tatsache, die Katherine lebhaft beklagte. Mandanten zu gewinnen war ein Spiel für die Kühnen, die Risikobereiten. Nicht für ihn. Nicht mehr. Clay dagegen konnte einem Lokalpolitiker auf die Schulter klopfen, mit einem Hafenarbeiter anzügliche Limericks austauschen und eine Jungfrau auf einer Kirchenbank als Klientin gewinnen. Einen Mandanten hatte Clay an Land gezogen, indem er mit dem Kerl eine Zigarettenpause gemacht hatte – trotz der Tatsache, dass Clay Nichtraucher war. Er hatte sich aus dem mit Katzenstreu gefüllten Aschenbecher auf einem Abfallkorb eine Zigarettenkippe geschnappt, sie ohne zu zögern zwischen die Lippen genommen und dem Mann so in einem Wartehäuschen aus Plexiglas Gesellschaft geleistet. Nach einigen Minuten emphatischen Paffens war er mit einem Drittel eines soliden arbeitsrechtlichen Anspruchs davongegangen. Auf solche und ähnlich kreative Weise fand Clay Mandanten, während Stu sich in Fällen und Paragrafen vergrub. Für Stu war das befriedigend. Außerdem hasste es Clay, arbeiten zu müssen.

Stu stieg die abgetretenen Betonstufen der Hintertreppe in den ersten Stock hinauf – der Vermieter ließ den Aufzug in der Eingangshalle nicht mehr reparieren. Er wunderte sich noch immer darüber, wieso er sich mit Clay zusammengetan hatte, der ursprünglich gar nicht aus Neuengland stammte. Sie hatten beide Jura an der University of Oregon studiert, das war die Wurzel ihrer Verbindung. Stu war impulsiv nach Westen gegangen, weil seine College-Liebe ihm vorgeworfen hatte, er habe »keinen Sinn für Abenteuer«, als sie ihm den Laufpass gegeben hatte, bevor sie ihr drittes Studienjahr in Europa verbrachte. Ihm war noch immer nicht ganz klar, was Clay an die U of O geführt hatte.

Also waren sie beide »Fighting Ducks«. Aber Stu war ein Studienjahr über Clay gewesen, und die beiden hatten in den zwei Jahren, in denen sich ihr Studium überlappte, kaum mehr als ein paar Worte gewechselt. Stu hatte Clays Ankunft in Oregon wahrgenommen. Das hatten alle getan. Er hatte sich als modisch gekleideter Kerl mit einem an mehreren obskuren Colleges zusammengestrickten Vordiplom erwiesen, der in die riesige Eingangshalle der Law School stolzierte, für einen Neuling, der den »Dampfkopftopf« betrat, viel zu entspannt wirkte, schon mit den Typen in den hinteren Reihen scherzte und eine Hand auf der Hüfte von Sophia Brown liegen hatte, einer atemberaubend hübschen Studentin im zweiten Jahr aus Portland, Oregon, mit der Stu sich in seinem ganzen ersten Jahr nicht einmal zu sprechen getraut hatte.

Die einzige Vorlesung, die Stu und Clay gemeinsam gehört hatten, war Zivilrecht II in Stus drittem und Clays zweitem Jahr gewesen. Clay saß meistens hinten, aber eines Tages hatte er sich mit nichts als einem Bleistift und einem Blatt Papier auf den Sitz neben Stu fallen lassen, worauf sie ihr längstes und denkwürdigstes Gespräch an der Law School geführt hatten. Der Professor trug bereits vor, als Clay sich setzte, sich zu Stu hinüberbeugte und ihm auf allzu vertrauliche Weise etwas zuflüsterte, als teilten sie sich bereits andere Geheimnisse.

»Wenn jemand um sich schießend den Hörsaal stürmt, hast du den besten Platz. Sitzt du deshalb hier?«

»Wie bitte?«

»Die gemauerte Brüstung würde dich schützen. Du bräuchtest dich nur dahinter zu ducken. Wer reingestürmt käme, würde durch die rechte Tür kommen. Dein Ausgang liegt dort drüben links am Ende der Reihe. Wenn’s passiert, bist du fein raus. Mein Platz ist der zweitbeste.«

Das war ihr ganzes Gespräch. Stu hatte sich wieder auf die Vorlesung konzentriert. Als sie endete, hatte er sieben Seiten mitgeschrieben. Bei einem kurzen Blick zu Clay hinüber sah er auf dessen Blatt keine Notizen, sondern nur einen Plan des Hörsaals mit Pfeilen, die die zwei Ausgänge bezeichneten, und etwa einem Dutzend Kreuze auf Sitzen in der Nähe des rechten Eingangs.

Die Hintertreppe im Bluestone war düster und von kleinen Echos erfüllt, denn Stus Schritte waren sechseinhalb Kilo schwerer als an jenem Tag, an dem er das Büro das Staatsanwalts mit eingezogenem Schwanz verlassen hatte. Das Geländer war locker, sodass es klapperte, als er sich daran die Treppe hochzog.

Ich muss mehr Sport treiben.

Er dachte jeden Tag das Gleiche, ohne jemals mehr Sport zu treiben. Er lebte nicht ungesund, und seine Frau fand ihn »in Ordnung«, wie er war. Das hatte Katherine erst an diesem Morgen gesagt, als sie ihm zu seinem vierzigsten Geburtstag gratulierte.

»Vierzig.« Er sagte es laut, um zu hören, wie es klang. Es klang alt, und während er sich in seinem billigen braunen Anzug die Hintertreppe des schäbigen Bürogebäudes hinaufschleppte, echote es durchs Treppenhaus wie die Stimme eines geisterhaften Unglücksboten.

Nach dem Studium hatte sich Stu auf der Suche nach seinem ersten Job bei der Staatanwaltschaft im Bristol County beworben. Sein Noten waren gut – in den oberen zehn Prozent –, und sein Wahlfach Kriminalistik und verschiedene einschlägige Praktika hatten ihn genau auf diese Arbeit vorbereitet. Er schrieb seinen Lebenslauf so, dass er genau zu der angestrebten Position passte, lernte Tag und Nacht für den nervenaufreibenden Scheinprozess, der am Ende des viertägigen Bewerbungsmarathons stehen würde, und übte seine Argumente vor dem Spiegel, unter der Dusche, im Auto und zuletzt vor dem Gerichtsgebäude ein, bevor er hineinging. Lauter erfahrene stellvertretende Staatsanwälte saßen auf der Geschworenenbank und beobachteten ihn scharf, während zwei ältere Staatsanwälte ihn als angebliche Strafverteidiger auf Herz und Nieren testeten, Einwände vorbrachten, während er einen angeblichen Zeugen ins Kreuzverhör nahm, und zuletzt sogar die Einstellung des Verfahrens beantragten, in dem er die Anklage vertrat. Das Schlimmste war, dass Robert Malloy, der gewählte Staatsanwalt im Bristol County, den Richter spielte.

Stu hatte titanische Anstrengungen unternommen, sich zu seiner eigenen Überraschung gegen neunzehn andere hochqualifizierte Männer und Frauen durchgesetzt und den Job bekommen. Wenig später stand er vor Geschworenen, die über kleinere Vergehen urteilten – meistens Trunkenheit am Steuer und leichte Fälle von häuslicher Gewalt –, und brauchte nicht lange, um sich einen soliden Ruf als immer gut vorbereiteter und kompetenter Strafverfolger zu erarbeiten.

Ein Jahr später war Clay wie ein Kumpel aus einer Studentenverbindung, der unterwegs bei Freunden auf dem Sofa übernachtet, bei ihm aufgekreuzt. Er war in einem University-of-Oregon-Sweatshirt unangemeldet im Foyer erschienen und hatte die Empfangsdame nach »Stu, meinem guten Freund aus der Law School« gefragt.

»Hey, Stu«, sagte er, als Stuart den Kopf durch die Sicherheitstür steckte, um zu sehen, wer nach ihm fragte. »Freut mich, dich zu sehen! Willst du mich nicht reinbitten?« Clay sagte, er sei für ein paar Tage in Neuengland. Er habe sich an Stu von der Uni erinnert und gehört, er praktiziere hier irgendwo. »Und was für ein Zufall«, fügte Clay hinzu, weil auch er bei einer Staatsanwaltschaft arbeiten wolle und gerade angefangen habe, Bewerbungen zu verschicken. Ob er mit Stus Boss sprechen könne, wenn er schon mal hier sei? Clay redete schnell, und irgendwie waren sie in Malloys Büro gelandet und hatten dämlich über dämliches Zeug gelacht, als er sich über Football in Oregon und NCAA-Sanktionen verbreitete. Bevor Stu wusste, wie ihm geschah, erklärte er Clay den Ablauf des Scheinprozesses, den Malloy für den nächsten Tag zu improvisieren versprach. Das kam überraschend, und weil Clay nur einen Tag Zeit für die Vorbereitung haben würde, glaubte Stu felsenfest an ein bevorstehendes Desaster. Aber Clay bestand darauf, die praktische Prüfung sofort abzulegen.

»Stuart kann mir helfen«, scherzte er. »Und mir einen Anzug leihen.«

Clay lud Stu an diesem Abend in ein Thai-Restaurant ein und bezahlte für ihn, obwohl er von Studentendarlehen lebte. Das nannte er scherzhaft eine »Dreißig-Dollar-Bestechung«.

Stu wollte ihm gute Ratschläge erteilen. »Vertraut machen solltest du dich vor allem mit dem Bereich Durchsuchung und Beschlagnah…«

Clay beugte sich über seinem grünen Curry nach vorn. »Spar dir den Scheiß, Stu. Wie lauten die Antworten?«

Als Stu zögerte, setzte Clay ihm zu.

»Du hast selbst gesagt, dass es unmöglich ist, sich in nur einem Tag vorzubereiten, und ich weiß, dass du einen Kommilitonen nicht mit raushängendem Pimmel dastehen lassen würdest, nicht wahr?«

Stu wusste nicht genau, was Clay meinte, aber das wollte er unter allen Umständen verhindern.

Die Einwände waren Standardargumente – Hörensagen, Relevanz und die Forderung, endlich Beweise vorzulegen –, lauter grundlegende Dinge, die leicht abzuhandeln waren, wenn man wusste, dass sie kamen, und Stu wusste genau, welche kommen würden. Der Antrag auf Einstellung des Verfahrens war etwas schwieriger, weil er die Zuständigkeit des Gerichts anzweifelte. Hier half eine subtilere Methode, indem man den Richter bat, sich die Lage der Straße, auf der ein fiktiver Polizeibeamter einen fiktiven Autofahrer angehalten hatte, zu vergegenwärtigen. Das wäre den meisten jungen Anwälten nicht eingefallen. Auch Clay nicht, hätte Stu ihn nicht gewarnt, was er jetzt tat.

Mit eintägiger Vorbereitung und Stus Hilfe bekam Clay genau das gleiche Angebot, auf das Stu sein ganzes Jurastudium lang hingearbeitet hatte. Dass Clays Noten mittelmäßig waren, spielte keine Rolle. Seine Studiennachweise trafen erst ein, als er längst den Papierkram in der Personalabteilung unterschrieben hatte und schon eine der Sekretärinnen bumste. Es spielte keine Rolle, dass er nur einen Kurs in Kriminalistik belegt und keine Polizeipraktika vorweisen konnte. Er hatte sich einfach beim Boss eingeschmeichelt und dann die gesamte Dienststelle mit seiner Fähigkeit beeindruckt, rasch zu denken. Mit etwas Hilfe von Stu – oder vielmehr durch etwas Betrug. Das waren gut angelegte dreißig Dollar gewesen.

Sechs Jahre später, als sich das Butz-Desaster ereignete, wusste Stu nicht, wohin. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt kündigte Clay völlig unerwartet. »Ich brauche dringend einen Wechsel«, sagte er. »Fünf Jahre unter dem Scheißmikroskop reichen mir.« Energisch anspornend und mit gutem Zureden überzeugte Clay Stu davon, weder das Leben noch die Jurisprudenz aufzugeben, sondern gemeinsam mit ihm eine Anwaltskanzlei aufzumachen. Katherine beklagte Stus Degradierung ebenso oder noch mehr als er selbst. Sein Aufstieg in der Staatsanwaltschaft war stetig gewesen, und der gesellschaftliche Status, den sie in der Stadt zu genießen begannen, war beträchtlich. Sie wurden zu politischen Events und Wohltätigkeitsauktionen eingeladen, bei denen Katherine sich an die Namen aller erinnerte und höfliche Umarmungen wie Bonbons verteilte. Alle waren sich darüber einig gewesen, er werde eines Tages den Chefposten besetzen, und Katherine hatte am meisten Reklame für ihn gemacht.

Stattdessen war er in Schimpf und Schande davongeschlichen, hatte sich selbstständig gemacht und seinen Namen auf Clays lächerliche Werbetafel setzen lassen. Er hatte nur genügend Energie besessen, um einen Punkt verpflichtend durchzusetzen: Die Firma würde keine Kriminellen verteidigen. Absolut keinen. Punktum. Und damit hatten sie ihren Überlebenskampf als Selbstständige begonnen – ohne Krankenversicherung, Rücklagen für Pensionen oder bezahlten Urlaub.

Stu blinzelte und merkte dann, dass er einige Minuten lang auf dem betonierten Treppenabsatz vor dem Büroeingang gestanden hatte. Einfach dagestanden. In Gedanken versunken. Von Erinnerungen überflutet. Sich fragend, was er hätte werden können, während er vor sich die abgenutzte, schlecht im Rahmen sitzende, mehrmals überstrichene Tür zu dem hatte, was er jetzt war. Er streckte die Hand aus und rüttelte an der Klinke, bis die Tür aufging.

»Können wir die nicht reparieren lassen?«, fragte er Pauline, ihre Allzweckkombination aus Empfangsdame, Sekretärin und Anwaltsgehilfin. Sie war eine unscheinbare Frau aus Fairhaven jenseits der New Bedford-Fairhaven Bridge, die heute ein leuchtend fuchsienrotes Kleid trug. Ihr Körper war pummelig, und die Ränder ihres formlosen Gesichts wurden nur durch die weiße Schminke definiert, die sie dick wie ein Pantomime auftrug; sonst wäre ihr Gesicht übergangslos mit dem Hals verschmolzen. Sie war verheiratet, seit sie die Highschool abgeschlossen hatte. Drei Kinder. Gut in ihrem Beruf. Sie verstand sich auf einfache juristische Recherchen. Noch wichtiger war, dass sie früher beim Gericht gearbeitet hatte. Ergo kannte sie die dortigen Sachbearbeiter und ihr kompliziertes System, Dokumente zu formatieren und abzuspeichern.

»Ich denke, der Schraubenzieher liegt in der Schublade für Verschiedenes«, antwortete Pauline und nickte zu einer Reihe älterer Aktenschränke hinüber, ohne aufzusehen.

»Kannst du nicht Sitzman anrufen?«

»Wir bekommen hundert Dollar Mietermäßigung, wenn wir den Vermieter dreißig Tage lang nicht anrufen, und heute ist der vierundzwanzigste Tag.«

Stu legte seine Autoschlüssel ab, lockerte die Krawatte und trat an den Schrank. Er wühlte in der Schublade, bis er den Schraubenzieher fand: eine Dublette aus seinem eigenen Haus, die er für die gute Sache gespendet hatte.

»Clay ist in seinem Büro«, erwähnte Pauline, als Stu auf dem Weg zu der defekten Tür an ihm vorbeiging.

Stu sah auf die Wanduhr: zehn Minuten nach acht. Sonst war Clay nie vor neun Uhr im Büro. »Wie kommt das?«

»Weiß ich nicht.« Sie machte eine dramatische Pause. »Vielleicht hat’s was mit dem Brief zu tun, den wir von Shubert, Garvin und Ross bekommen haben.«

Der Fall Molson!, dachte Stu. Ihre bisher beste Chance, aus der Tretmühle herauszukommen, in der sie sich ohne großen Erfolg abstrampelten. Vor zwei Wochen hatte Stu in einem ausführlichen Schreiben begründet, weshalb Shubert, Garvin und Ross einem Vergleich zustimmen sollten, der nicht nur für die Reparatur des defekten Aufzugs und der schiefen Tür ausreichen würde. Mit etwas Glück ist so viel für uns drin, dass wir uns einen neuen Aufzug leisten können – vielleicht in einem ganz neuen Gebäude.

Er hatte die Post jeden Morgen nach einer Antwort durchgesehen, und nun saß Clay anscheinend in seinem Büro und studierte sie bei einer Tasse Kaffee.

»Gute Nachrichten?«

Pauline bedachte ihn mit einem koketten Schulterzucken.

KAPITEL 2

Der Fall Molson war ein heißes Eisen, das mindestens zwei prominentere Anwaltskanzleien in New Bedford nicht hatten anfassen wollen. Sylvia Molson, die Mandantin, war an einer Ampelkreuzung vor einem Mazda Miata über die Straße gegangen, als Juri Blastos, der Beklagte, den Miata von hinten mit seinem riesigen Nissan Armada – der so riesengroß war, dass er nach einer Flotte benannt war – gerammt hatte. Der Nissan hatte den kleinen Sportwagen gegen Sylvia geschleudert, die sich den zweiten Halswirbel gebrochen hatte. Der Beklagte hatte getrunken, und seine Schuld stand eindeutig fest. Aber ihm konnte die Justiz nichts anhaben – er war mittellos. Und er war nicht versichert gewesen. Sylvia, eine Jogalehrerin und zweifache Mutter, war querschnittsgelähmt und plötzlich dazu verdammt, für den Rest ihres Lebens im Rollstuhl zu sitzen. Ihre eigene Autoversicherung zahlte ihr den Höchstsatz für Schäden durch unversicherte Fahrer, aber dieser Betrag würde niemals ausreichen.

Aber Sylvia war eine tatkräftige, optimistische Frau. Sie war ins Gebäude von Buchanan, Stark & Associates gerollt und hatte sich durch den defekten Aufzug nicht abschrecken lassen; sie hatte die Hintertreppe hinaufgerufen, bis Pauline zu ihr runtergekommen war. Stu hatte sie selbst nach oben getragen und war dann davongehastet, um sich über den Fall zu informieren, während Clay sie als Mandantin unter Vertrag nahm.

Stu war nicht optimistisch, dass er etwas finden würde, das zwei andere Juristenteams übersehen hatten, zumal Buchanan, Stark nicht viel Erfahrung mit Personenschäden hatten. Ihr größter Fall war der Verlust eines kleinen Fingers gewesen. Abgetrennte Finger waren vor Gericht unterschiedlich viel wert, wobei ein amputierter Daumen den Jackpot darstellte, und sie hatten mit einem kümmerlichen kleinen Finger zufrieden sein müssen.

Laut Polizeiprotokoll hatte Blastos in drei Stunden acht Biere getrunken und einen Atemalkoholwert von 1,1 Promille erzielt – weit über dem gesetzlichen Limit von 0,8 Promille. Wie die fehlenden Bremsspuren bewiesen, hatte er vor der Kreuzung nicht gebremst, sondern war auf den Miata geprallt, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Er war an dem Unfall schuld, das stand ganz eindeutig fest.

Blastos arbeitete als Inspektor bei Septi-Spect, einer kleinen Firma, die Sickergruben inspizierte. Septi-Spect gehörte wiederum Jennings Plumbing, Inc., einem international tätigen Konzern. Jennings war kapitalstark – der Konzern hätte für Molsons katastrophale Verletzung zahlen können, aber der Bericht der State Police wies Jennings keine Mitschuld zu. Blastos war zum Zeitpunkt des Unfalls mit dem eigenen Auto, nicht mit einem Firmenwagen unterwegs gewesen. Er war nicht auf der Fahrt zu oder von einem Kunden gewesen. Dem Bericht nach hatte er weder als Angestellter der Firma gearbeitet noch in ihrem Auftrag gehandelt. Tatsächlich war seine Schicht drei Stunden davor zu Ende gegangen, und in der Firma herrschte striktes Alkoholverbot während der Arbeit. Sie traf nicht die geringste Schuld an einem durch Trinken außer Dienst verursachten Verkehrsunfall. Ganz außer Zweifel. Eine totale Sackgasse. Das hatten bereits mehrere Rechtsanwälte festgestellt.

Aber Stu hatte nicht aufgegeben. Oder genauer gesagt: Er hatte nicht genug Arbeit, um anderweitig beschäftigt zu sein. Er hatte Einsicht in die Verbindungsdaten von Blastos’ Handy beantragt, obwohl längst feststand, dass sein Diensthandy zum Unfallzeitpunkt wie jeden Tag nach der Arbeit in der Firma am Ladegerät gehangen hatte.

Aber Stu verlangte nicht die Verbindungsdaten seines Firmenhandys. Er wollte die seines Privathandys sehen, obwohl er nicht mal wusste, ob der Mann ein privates Handy hatte. Tatsächlich hatte Bastos eines. Und am Unfalltag war er einmal angerufen worden. Um 17.15 Uhr, zweiunddreißig Sekunden bevor er Sylvia Molson in den Rollstuhl befördert hatte. Als Stu die Liste bekam, rief er die Nummer an. Ein Dispatcher von Septi-Spect meldete sich.

Bingo!

Obwohl bei Septi-Spect seit Langem ein striktes Verbot von Alkohol am Steuer herrschte, gab es dort kein Verbot von Handybenutzung am Steuer. Die Firma hatte ihre internen Vorschriften entsprechend verschärfen wollen, aber dazu war es irgendwie nicht gekommen. Mit anderen Worten: Sie war sich des Problems bewusst und hatte nichts dagegen getan, bis es für Sylvia Molson zu spät war. Noch schlimmer war, dass sie ihre Fahrer oft unterwegs anrief, um sie über Terminänderungen zu informieren. Einen Anruf dieser Art wegen einer Verschiebung am kommenden Morgen hatte auch Blastos erhalten.

Noch mal Bingo!

Aber das reichte noch nicht. Nun ging es um das Alkoholproblem. Hatte der Handyanruf von Septi-Spect oder der Alkohol den Unfall verursacht? War’s der Alkohol gewesen, haftete Blastos, der kein Geld hatte. War’s der Anruf gewesen, konnte man Jennings, Inc., mit ihren Millionen zu Sylvias Gunsten anzapfen.

Hier kamen einzelne und gemeinsame Haftung zum Tragen, ein Prinzip, das juristische Nerds wie Stu faszinierend fanden. In seinem Schriftsatz benannte er Blastos und Jennings, Inc., als Beklagte. Sprachen die Geschworenen Jennings auch nur eine Teilschuld von einem Prozent zu, hafteten Blastos und Jennings gemeinsam für den vollen Betrag. Normalerweise hätte Blastos neunundneunzig und Jennings ein Prozent zahlen müssen. Konnte Blastos seinen Anteil jedoch nicht zahlen – was er ganz entschieden nicht konnte –, haftete Jennings Sylvia gegenüber für den Gesamtbetrag. Jennings konnte sich dann seinerseits an Blastos schadlos halten. Aber solange Sylvia ihr Geld bekam, konnte die Firma es aus Stus Sicht ruhig ein paar Jahrhunderte lang von seinem für Sickergrubenbeschau gezahlten Lohn einbehalten.

Dies war Stus Theorie des Falls, und in seinem Forderungsschreiben hatte er sie detailliert erläutert, damit die Verantwortlichen bei Jennings genau wussten, was ihnen bevorstand, wenn sie über einen Vergleich nachdachten. Er hatte sogar Sylvia zitiert, die mit bewegenden Worten ein Bild beschrieb, das ihr seit damals ständig vor Augen stand: ein kleiner blauer Sportwagen, der durch die Luft flog und die Sonne verfinsterte.

»Schlechte Nachrichten, Kumpel«, sagte Clay und legte die Füße auf seinen Schreibtisch, als Stu in sein Büro kam. »Ich werde dich entlassen müssen.«

Clay trug einen schon älteren dunkelblauen Anzug, ließ ihn aber gut aussehen, weil er sein weißes Maßhemd mit breiter Brust ausfüllte. Und sein Haar schien nie gekämmt werden zu müssen, sondern von selbst richtig zu fallen. Stu dagegen trug weite Hemden von der Stange, die ihm halfen, Feiertagsspeck zu kaschieren. Und er konnte sich lange kämmen, ohne dass sein Haar richtig fiel; andererseits musste er in seinem Alter vermutlich froh sein, dass er mehr als nur einen schütteren Haarkranz zur Umrahmung einer Glatze besaß.

»Das kannst du nicht«, erwiderte Stu. »Wir sind Partner. Wir müssten die Partnerschaft auflösen.«

»Wie eine Leiche in Säure.«

»Morbid, aber ja. Los, zeig mir den Brief.«

Clay hielt ihn neckend hoch. »Willst du’s wirklich wissen?«

»Ja.«

»Ich will dir einen Hinweis geben. Sie halten deine Haftungstheorie für neuartig.«

Stu knirschte wütend mit den Zähnen. »Sie wollen einen Gerichtsentscheid beantragen und versuchen, unsere Klage abweisen zu lassen? Auch gut! Aber wenn ihr Antrag angelehnt wird, müssen sie auf jeden Fall einem Vergleich zustimmen. Wenn sie Pech haben, werden sie sogar zu höherem Schadenersatz verurteilt, als wir gefordert haben. Sylvia wird ihr Leben lang Betreuung und Pflege brauchen.«

Clay lachte. »Du und dein Juristenjargon. Echt niedlich! Dabei wissen wir alle, dass sie keine verkrüppelte Klägerin vor der Geschworenenbank haben wollen.«

»Sie ist querschnittsgelähmt. Bitte übe, nicht verkrüppelt zu sagen.«

»Ich glaube nicht, dass ich das werde üben müssen.« Clay hielt ihm endlich den Brief hin.

Stu riss seinem Partner das Schreiben aus der Hand wie ein Teenager, der einen gestohlenen Liebesbrief wieder an sich nimmt. Mitten auf der stilvoll gedruckten Seite auf starkem Leinenpapier von Shubert, Garvin & Ross et al. stand ein für Anwälte typischer endlos langer Schachtelsatz. Unter diesem schrecklichen Gebilde stand eine einzelne Zahl. Eine große Zahl.

»O Gott«, sagte Stu leise.

»O ja«, erwiderte Clay. »Deine neuartige Theorie scheint ihnen gewaltig Schiss eingejagt zu haben.«

Während Stu das Gegenangebot nochmals durchlas, holte Clay aus seinem Schreibtisch eine Flasche Booker’s Bourbon – 63% Alkohol für sechzig Dollar die Flasche. Clay schenkte Stu und sich je ein Glas ein. Das für ihn selbst war symbolisch, denn er war Abstinenzler. Nachdem Stu sein Glas in einem Zug geleert hatte, las er das Schreiben noch einmal aufmerksamer durch. Der Schachtelsatz war weiterhin schrecklich, aber die Zahl blieb gleich.

»Nur ein Satz und eine Zahl?«, fragte Stu.

»Nur diese Zahl.«

»Wow. Sylvia wird sich freuen.«

»Scheiß auf Sylvia und ihren motorisierten Golfwagen. Ich freue mich!«

»Ich auch. Das ist ein gutes Ergebnis.«

Clay grinste. »Ein gutes Ergebnis? Dreiunddreißig Prozent von neun Millionen sind ungefähr drei Millionen, wenn ich mich nicht irre. Das ist besser als gut. Scheiße, das ist fantastisch!«

Stu runzelte die Stirn.

Clays Grinsen verschwand. »Warum runzelst du die Stirn? Lass das! Ich hasse es, wenn du die Stirn runzelst.«

»So einfach ist die Sache nicht.«

»Ich bin kein großer Mathematiker, das weiß ich, aber wenn du einen Taschenrechner zur Hilfe nimmst, wirst du sehen, dass ich recht habe.«

Stu war es gewöhnt, Clay juristische Feinheiten zu erläutern, die dieser oft vernachlässigte. Das war ihr tägliches Ritual bei guten wie bei schlechten Nachrichten. Aber Stu verstand sich nicht sehr gut darauf, Nackenschläge abzumildern, was mit zu den Gründen gehörte, weshalb Clay für die Mandanten zuständig war. Stu nahm kaum wahr, welche vernichtende Wirkung seine Worte auf seinen Partner hatten.

»Erinnerst du dich an den Anwalt mit der Afrofrisur in Fall River? Roger Rodan?«

»Nein. Warum?«

»Letztes Jahr hat Rodan gegen das Pauschalhonorar eines Kollegen geklagt und gewonnen. Dem Gesetz nach muss selbst ein Pauschalhonorar die geleistete Arbeit oder das eingegangene Risiko widerspiegeln. In unserem Fall haben wir nur einen Forderungsbrief geschrieben. Und wir hatten keine größeren Auslagen. Sehr wenig Arbeit. Kein Risiko. Ergo gibt’s keine Basis für drei Millionen Dollar Honorar. Hätten wir einen Kredit aufnehmen müssen, um umfangreiche Recherchen zu finanzieren, oder zur Vorbereitung eines Prozesses lange Schriftsätze verfasst, sähe die Sache anders aus. Aber das haben wir nicht getan. Und Gerichte haben speziell etwas gegen unverhoffte Gewinne, wenn der Kläger das Geld für die eigene Betreuung braucht – im Gegensatz zu zugesprochenen Entschädigungen mit Strafcharakter. Und Sylvia braucht das Geld eindeutig für die eigene Betreuung.«

»Was willst du damit sagen? Dass wir unsere dreiunddreißig Prozent nicht kriegen?«

»Nicht wenn Sylvia dagegen Einspruch erhebt. Nein. Das Gericht würde die Vereinbarung für unwirksam erklären und uns eine ›angemessene‹ Vergütung zusprechen.«

»Sie erhebt keinen Einspruch. Sie ist bestimmt selig über ihre sechs Millionen.«

»Aber andere könnten die Frage aufwerfen. Ihre Angehörigen. Ihre Freunde. Und wenn sie oder ein Bevollmächtigter gegen unser Honorar klagt, müssten wir mit einem Disziplinarverfahren der Anwaltskammer wegen Verstoßes gegen Ethikregel zwei, Absatz eins – übersteigerte Honorare – rechnen. Wir würden einen Verweis oder sogar den Ausschluss aus der Kammer riskieren.«

»Dieses Risiko kann ich tragen.«

»Aber ich nicht.«

»Du willst nicht, meinst du?«

»Richtig, ich tu’s nicht.«

»Was ist, wenn wir dieses Angebot ablehnen? Kannst du ein Urteil erstreiten, das ein höheres Honorar rechtfertigen würde?«

»Sylvia würde das Angebot ablehnen müssen.«

»Ja, ja, ich weiß. Aber sie liebt dich. Noch besser, sie versteht kein Wort von deinem beschissenen Juristenjargon. Sie tut, was du ihr sagst.«

»Und ich würde ihr raten, die neun Millionen zu nehmen. Das Angebot ist gut. Es erfüllt ihre Bedürfnisse und minimiert ihre Anwaltskosten.«

»Unser Honorar! Es minimiert unser Honorar!«

Stu hörte endlich die Panik in der Stimme seines Partners und versuchte, ihm etwas Trost zu spenden. »Ich denke, wir könnten vierhunderttausend Dollar rechtfertigen. Nicht so ohne Weiteres, aber …«

»Zweihunderttausend für jeden von uns?«

»Ja. Minus Steuern. Minus Betriebskosten.«

»Minus meinen rechten Arm und meinen linken Hoden. Deine Erklärungen klingen laufend besser.«

»Du willst die Wahrheit hören, nicht wahr?«

»Klar. Nur her damit, Sonnyboy.«

»Hör zu, das sind fast zwei Jahresgehälter für eine Woche Arbeit. Unsere Miete ist plötzlich kein Problem mehr, zumindest für ein, zwei Jahre nicht. Wir können den blöden Aufzug oder wenigstens die verdammte Tür reparieren lassen. Pauline braucht uns nicht mehr wegen einer Gehaltserhöhung in den Ohren zu liegen, weil wir sie ihr geben können. Du kannst wahrscheinlich sogar deinen BMW abbezahlen, den du nie hättest kaufen sollen. Damit sollten wir zufrieden sein. Schau mich an: Ich bin glücklich. Ich trinke grinsend deinen lächerlichen Whiskey.« Stu versuchte zu grinsen, während er das Feuerwasser trank, und schnitt dabei Grimassen, die seinen Partner hätten amüsieren müssen.

Aber Clays dunkle Augen, die nicht mehr schalkhaft blitzten, blieben zusammengekniffen. »Meine Hälfte von drei Millionen hätte mein Leben verändert, weißt du«, murmelte er. »Zweihunderttausend tun das nicht. Morgen wache ich als derselbe gottverdammte Kerl auf, der ich heute bin – nur mit bis Dezember vorausbezahlter Miete.«

Stu hatte nicht damit gerechnet, dass sein Leben sich verändern würde. Er hätte vor Gericht siegen und mehr, sehr viel mehr, erstreiten können, aber dies war ein sicherer, sauberer, substanzieller Zahltag, den er aus dem Nichts geschaffen hatte, und sie taten das Richtige, wenn sie das Angebot annahmen.

»Nun«, sagte Stu, »trinken wir auf die bezahlte Miete.«

Stu hob sein Glas, aber Clay reagierte nicht auf seinen Trinkspruch. Er ignorierte sein Glas und starrte aus dem Fenster, als sehe er seinen Traum mit den vorbeiziehenden Wolken davonfliegen. Dann wandte er sich wieder Stuart zu, um ihn an seinem Glas vorbei anzustarren. Es war ein merkwürdiges Starren, wie das eines Vogels, der vor dem Aufpicken zu erkennen versucht, ob vor ihm auf der Erde ein Sand- oder Getreidekorn liegt. »Zwischen uns scheint eine Art Patt zu herrschen«, sagte er.

Stu machte sich auf weitere Diskussionen gefasst.

Aber dann seufzte Clay. Seine Missgelauntheit verflog, und er stieß mit Stu an. »Also gut. Ich sag’s ungern, aber wenn du mich nicht auf diese Weise reich werden lassen willst, muss ich einfach eine andere Methode finden.«

Stu war erleichtert, dass Clay seine Niederlage verarbeitet und sich angepasst hatte. Anpassungsfähigkeit war der beste Zug seines Partners, der ihm oft nützte; er blieb nie lange niedergeschlagen. Aber er leerte sein symbolisches Glas 63-prozentigen Bourbons in einem Zug.

KAPITEL 3

Als Stu nach Hause kam, beendete Katherine eben einen Work-out mit fünf weiteren schwitzenden Frauen aus dem South Dartmouth Athletic Club, dem Fitnessstudio, in dem sie auf ihr Drängen Mitglieder geworden waren: für eine Aufnahmegebühr von zehntausend Dollar und Monatsbeiträgen, als zahle man ein Auto ab. Sie hatte damit argumentiert, wenn Stu dort nur einen einzigen Mandanten gewinne, trage der Club sich bereits selbst. Das Problem war nur, dass er nicht hinging und folglich niemanden kennenlernte, sodass der Club sich keineswegs selbst trug. An seiner Stelle ging sie hin, Katherine lernte Leute kennen, und sie zahlten jeden Monat ihren Mitgliedsbeitrag.

Das Wohnzimmer glich einem Meer aus grellbuntem Lycra. Lauter Ehefrauen von Selbstständigen. Manche waren reich, andere hielten sich dafür – bis auf Katherine, die das Leben in ihrem nicht ganz hundertneunzig Quadratmeter großen Haus am Ostende der William Street in South Dartmouth für bittere Armut hielt. Alle anderen wohnten in Rockland am Wasser: am Flagship Drive, in der Mosher Street oder am anderen Ende der William Street mit Blick auf Clark’s Cove.

Margery Hanstedt saß in einem rosa Einteiler schweißnass auf ihrem Ledersofa, aber Katherine würde sich nicht trauen, etwas zu sagen; Margery gehörten drei Restaurants. Sie war verheiratet und hatte Kinder, flirtete aber hemmungslos und trug selbst im Fitnessstudio Make-up, um dafür Reklame zu machen. Holly Plynth war mit einem Arzt verheiratet. Jenny Plantz-Werschect war selbst Ärztin. Den Namen der Frau in den blauen Shorts hätte Stu wissen müssen, aber er konnte sich nicht daran erinnern – ein immer häufiger auftretendes Problem, seit er auf die vierzig zuging. Er fragte sich flüchtig, ob diese Gedächtnislücken auf sein Alter oder auf die Tatsache zurückzuführen waren, dass die Identität der Leute, die in seinem Leben ein- und ausgingen, einfach keine große Rolle mehr spielte. War der Betreffende kein Verwandter oder Mandant, war er nur ein weiteres Gesicht in einer endlos vorbeiziehenden Menschenkolonne. Für ihn gab es keine romantischen Abenteuer – er war verheiratet –, und weil er kinderlos war, hatte er keinen Draht zu Eltern. Er bemühte sich, jeglichen Blickkontakt mit den blauen Shorts zu vermeiden, um nicht versuchen zu müssen, ihren Namen zu erraten.

Katherine lächelte, als er hereinkam, bedachte ihn mit einem herzlicheren Lächeln, als wenn sie allein waren. Sie ließ immer mehr Zuneigung erkennen, wenn andere dabei waren. Ein bisschen verkehrte Welt, wie Stu fand.

»Stu! Wir haben gerade eine Trainingseinheit mit extremem Power-Cross absolviert. Jill ist vom SAC, aber trainiert auch private Gruppen.« Katherine deutete auf eine hagere Frau in einem Sport-BH, der so straff saß, dass ihre Brust so flach wie die ausgeprägten Bauchmuskeln darunter war. Sie wirkte ernsthaft und teuer – bestimmt verlangte sie für Hausbesuche ein Extrahonorar. »Jill, das ist mein Mann Stu.« Katherine senkte die Stimme. »Er trainiert nicht.«

»Ich fahre Rad«, sagte Stu abwehrend.

»Hometrainer«, stellte Katherine klar, als zähle der nicht. »Vor dem Fernseher.«

»Ich sehe Sportsendungen, während ich strample.« In Gegenwart von sechs trainierenden Frauen klang das besser, als wenn er zugegeben hätte, dass er sich Weird Worlds auf dem Syfy Channel ansah und nur auf Football umschaltete, wenn Katherine hereinkam.

»Er könnte ein paar Pfund abnehmen«, sagte Katherine für alle klar verständlich. Das genaue Gegenteil von dem, was sie ihm an diesem Morgen erzählt hatte.

Auch verkehrte Welt, fand Stu.

Jill betrachtete ihn von oben bis unten, begutachtete ihn wie eine Kundin, die überlegt, ob sie einen Laib Brot von gestern kaufen soll. »Ich könnte Sie in einem Monat in Schuss bringen«, sagte sie. Dann legte sie den Kopf schief, um seinen Hintern zu begutachten. »Vielleicht in zweien.«

ENDE DER LESEPROBE