Kaminfeuerabende - Cinnamon Society - E-Book

Kaminfeuerabende E-Book

Cinnamon Society

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Beschreibung

Ein Adventskalender für Bücherfreunde und den guten Zweck. Genau das bietet unsere Anthologie "Kaminfeuerabende - Geschichten der kalten Jahreszeit". 24 Türchen mit weihnachtlichen Kurzgeschichten, köstlichen Rezepten und vielen Extras. In diesen Erzählungen steckt das Herzblut von 26 Autorinnen und Autoren, bei denen von eisigen Winternächten bis hin zu herzerwärmenden Liebesgeständnissen alles dabei ist. Der Erlös aller gekauften Exemplare wird an den Zürcher Tierschutz gespendet. Gemeinsam zaubern wir dir und unseren Mitmenschen ein Lächeln auf die Lippen. Zusammen können wir Herzen erwärmen und Wunder vollbringen.

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Seitenzahl: 655

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Über die CS

Bestehend aus über 40 Autorinnen und Autoren, die Zimt über alles lieben und so auf den verrückten und einzigartigen Gruppennamen gekommen sind, durften sie dieses Jahr gemeinsam die dritte Anthologie »Kaminfeuerabende« veröffentlichen.

Aber das ist noch nicht alles. Zusammen möchten sie auch in Zukunft mit ihren Büchern für den guten Zweck Menschen, Tieren und der Umwelt helfen. Vor »Kaminfeuerabende« sind »Frühsommernächte« und »Mittwintertage« entstanden und dieses Buch wird garantiert nicht das letzte gewesen sein. Schon jetzt sammeln sie fleißig Ideen für neue Projekte, die ganz bald in Angriff genommen werden. Mehr Infos und aktuelle Neuigkeiten dazu findest du auf den Accounts der Mitglieder.

Folge der Cinnamon Society auch gerne auf Instagram, um nichts zu verpassen. Gehöre zu den ersten, die von neuen Projekten, Reveals und Nachrichten erfahren.

Playlist

W.I.T.C.H. – Devon ColePeople Watching – Conan GrayThe Sound of Silence – PentatonixWish That You Were Here – Florence + The MachineI Like Me Better – LauvKerzen, Karpfen und du – Josh.Auld Lang Syne – Dougie MacLeanSmoke and Mirrors – Imagine DragonsThe Moon Spirit – Ultima, CJ Music, DentixA Kind of Magic – QueenStranger Things Have Happened – Foo FightersThe Power of Love – Frankie Goes To HollywoodYou Would Have Loved This – Tarja TurunenMoon – Jonah KagenWalk Away – OtherwiseKjærlighet er et kompass – YlvaBest Friends – 5 Seconds of SummerAnpanman – BTSAlone With My Thoughts – Noah FloerschNur Freunde – PROVINZSomewhere Only We Know – KeaneMy Old Santa Claus – SiaStars – Ocean AveTime To Fall In Love – Lindsey Stirling, Alex Gaskarth

SPECIALS

Driving Home For Christmas – Chris ReaMary, did you know? – PentatonixChristmas Time – Bryan AdamsDo They Know It’s Christmas? – Band AidChristmas EveL – Stray KidsHappy Xmas – John LennonWhat if – Kate WinsletMiracles in December – EXORocking’ Around the Christmas Tree – Brenda LeeWe All Need Christmas – Def LeppardShake Up Christmas – TrainRun, Rudolph, Run – OtherwiseChristmas Time Is Here – GhostwriterMy December – Linkin ParkThank God I’ts Christmas – QueenThe First Snow – EXOMerry Christmas Everyone – Shakin’ StevensMistletoe and Wine – Cliff RichardsWonderful Dream – Melanie Thornton24 to 25 – Stray KidsAnother Rock and Roll Christmas – Gary GlitterHalleluja – PentatonixBeautiful Christmas – Big Time RushSong of Storms – L’Orchestra Cinematique, AlalaChristmas Got Colder – Anson SeabraLike It’s Christmas – Jonas BrothersI’ll Be Home – Meghan TrainorChristmas Day – EXOThis Year – Mark DiamondWinter Falls – Stray KidsRudolf the Red-Nosed Reindeer – Pentatonix

Inhalt

Vorwort

Über unser Spendenziel

TÜRCHEN 1

REZEPT: Spritzgebäck

Nadine Koch

Der Fluch des Wolfes – ein Weihnachtswunder

REZEPT: Haferflocken Plätzchen

TÜRCHEN 2

Jace Moran

Nunsalam

TÜRCHEN 3

Jennifer Rouget

Die alte Dame

TÜRCHEN 4

TIPP: Ein Verwöhnprogramm an Weihnachten

Josephine Panster

Merry’s Magic Bakery

REZEPT: (M)ein Butterbierrezept

TÜRCHEN 5

Elly Grant

Wie ein Schneeball ins Gesicht

TÜRCHEN 6

TIPP: Weihnachtsfilm empfehlungen

Elisabeth Krauthaufer

Der Zauber von Weihnachten

Jana Priebe

Eisseelen

TÜRCHEN 7

REZEPT: Perkys Mohn-Kirsch-Kekse

Lois M. Heitkamp

Die Legende des Weihnachtsdrachen

TÜRCHEN 8

REZEPT: Mein-Brot

Ursina Laura

Weißes Wunder

TÜRCHEN 9

REZEPT: Butterplätzchen zum Ausstechen

Stella Härchen

Eine schöne Beschwörung

REZEPT: Hundekuchen

TÜRCHEN 10

TIPP: So wappnest du dich gegen den Weihnachtsstress

Anna Marie Muß

Keine Weihnachtsgeschichte

TÜRCHEN 11

Helen Höft

Wie der Tod sein Leben fand

TÜRCHEN 12

ANLEITUNG: Dreieckstuch stricken

Meliha Stark

Als man mir Weihnachten stahl

TÜRCHEN 13

REZEPT: Weihnachtliche Pancakes für die Familie

Annika L. Schüttler

Fäden aus Nacht

TIPP: Schöne Aktivitäten für deine Seele

TÜRCHEN 14

REZEPT: Zimtschnecken

Sam Jackson

Das Ticket zum jüngsten Gericht

REZEPT: Vanillekipferl

TÜRCHEN 15

Emily Scott

Ein etwas anderes Weinachtsfest

TÜRCHEN 16

REZEPT: Vogelfutterkekse

Hanna C. Legnar

Julemirakel – Licht der langen Nächte

TÜRCHEN 17

REZEPT: Schoko-Sünde (vegan/nicht-vegan)

Inken Falk

Ein magisches Geschenk

TÜRCHEN 18

Sarah S. Moser

Eine zweite Chance für die Weihnachtszeit

TÜRCHEN 19

Ida Habisreuther

Weltraumnachten

TÜRCHEN 20

REZEPT: Thunfischplätzchen für Katzen

Lara Pichler

Zwischen Feuer und Einsamkeit

REZEPT: Zimtsterne backen

TÜRCHEN 21

TIPP: Tipps gegen Einsamkeit

Nina S. Moineau

Nathan’s Wish

REZEPT: Omas Apfelkuchen

TÜRCHEN 22

Vanessa Schönhardt

Ein Happy End mit Glühwein und Zuckerstangen

REZEPT: Karamell Krümel

TÜRCHEN 23

Yuna Maas

Ein Blick zu den Sternen

TÜRCHEN 24

Malia de Maillet

Weihnachtswichtelwunder

GEDICHT: Ein Licht in der Nacht

A. S. Schöpf

Tausend strahlende Gesichter

Danksagung

Vorwort

FRÖHLICHE KAMINFEUERABENDE!

Bevor wir zu den Geschichten, Rezepten und Überraschungen kommen, ein paar kleine Informationen, die wir euch nicht vorenthalten möchten. Die Cinnamon Society wurde von uns, Anja Schöpf und Lara Pichler, ins Leben gerufen. Gemeinsam mit 24 weiteren Autorinnen und Autoren arbeiten wir seit einigen Monaten an dieser ganz besonderen Anthologie »Kaminfeuerabende – Geschichten der kalten Jahreszeit«.

Doch wie haben wir uns eigentlich gefunden?

Die Antwort ist ganz einfach: Durch die Liebe zum Schreiben und den Willen, etwas Gutes zu tun, um anderen eine Freude zu bereiten. So durfte jeder von uns unglaublich tolle Menschen kennenlernen, die bei dieser Aktion ehrenamtlich mitwirken.

Da sich die Tage der Wintersonnenwende und damit der längsten Nacht zuwenden, möchten wir weiterhin denen helfen, die Licht benötigen. Deswegen wird jeglicher Erlös dieses Buches an den Zürcher Tierschutz gespendet.

»Kaminfeuerabende« ermöglicht es uns, vielen Menschen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.

Auch Du hast mit dem Kauf dieses Buches dazu beigetragen!

Jetzt wünschen wir ganz viel Spaß beim Schmökern unserer Anthologie und eine wundervolle kalte Jahreszeit.

Deine Cinnamon Society

Über unser Spendenziel

Etwa 17.000 Tiere landen jährlich in der Schweiz im Tierheim1.

Leider ist es kein Geheimnis, dass der Haustierboom während der Pandemie, 2021 zu einem deutlichen Anstieg an Tieren in Tierheimen geführt hat. Dadurch müssen höhere Kosten gedeckt werden. Deshalb stand für uns schnell fest, dass der Erlös von »Kaminfeuerabende« an den Tierschutz gehen soll. Da das Spendenziel unseres ersten Projekts »Mittwintertage« in Österreich und das von »Frühsommernächte« in Deutschland liegt, lag unser Fokus auf der Schweiz. Nach langer, ausführlicher Recherche haben wir uns für den »Zürcher Tierschutz« entschieden. Die Organisation ist hauptsächlich im Großraum Zürich tätig, betreibt ein Tierschutzzentrum mit angebundenem Tierheim, versucht aufzuklären und zu sensibilisieren. Dabei stehen nicht nur Haustiere im Fokus, sondern auch Wild-, Nutz- und Versuchstiere.2 Mit diesem Projekt wollen wir den »Zürcher Tierschutz« mit einer Spende unterstützen, selbst etwas zur Aufklärung beitragen und dich, als Leser oder Leserin, auf die Weihnachtszeit einstimmen.

Viel Spaß beim Öffnen vom 1. Türchen! (Nicht schummeln!) ;)

1 In Deutschland sind es etwa 350.000; Zahlen zu Österreich sind unbekannt. Quelle: Statista (2020): In Tierheimen aufgenommen und vermittelte Tiere in der Schweiz bis 2018. https://de.statista.com/statistik/daten/stu-die/458970/umfrage/in-tierheimen-aufgenommene-und-vermittelte-tiere-in-der-schweiz/

2https://www.zuerchertierschutz.ch/de/ueber-uns/unser-verein/leitbild

A. S. SCHÖPF

Spritzgebäck

200 g weiche Butter 100 g Puderzucker 1 TL natürliches Vanillearoma abgeriebene Schale von ½ Zitrone (in Maßen) 1 Ei 1 Eigelb 2 EL Rum 6 – 8 EL Milch 180 g Mehl 120 g Speisestärke

1. Butter, Puderzucker und Vanillearoma schaumig rühren. Anschließend Zitronenschale, das Ei und das Eigelb hinzugeben. Rum und Milch dazugießen und mit Mehl und Speisestärke vermengen. Nicht zu lange rühren, sonst wird der Teig klebrig.

2. 30 Minuten kühl stellen.

3. Backofen auf 190 °C vorheizen, Backpapier auf Backblech geben.

4. Masse in Spritzbeutel füllen und nach Belieben Kringel und Tupfen auf Backblech geben. Anschließend so lange backen, bis das Gebäck eine leichte goldene Farbe annimmt (10 – 15 Minuten). Nach dem Abkühlen gegebenenfalls mit Puderzucker oder Schokolade verzieren.

Frohe Weihnachten und genießt es!

NADINE KOCH

Der Fluch des Wolfes – ein Weihnachtswunder

Lange vor unserer Zeit, im tiefen Mittelalter, lebten auch Hexen und Zauberer unter den Menschen. Man erkannte sie kaum, denn sie unterschieden sich nicht großartig von den Bürgern. Ein Bäcker mit extra leckeren Brötchen, eine Hausfrau mit einem immer sauberen Wohnzimmer und ein kleines Mädchen mit rotem Haar wurden erst letzte Woche der angeblichen Hexerei angeklagt und zum Tode verurteilt. Dabei hatte keiner von ihnen wahrhaftig magische Fähigkeiten gehabt.

Fenya wusste das. Sie hatte die Prozesse verfolgt und vor allem das kleine rothaarige Mädchen, das weinend von ihrer Mutter getrennt wurde, war tief in ihre Erinnerung eingebrannt.

»Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Lian und riss Fenya aus ihren Gedanken. Er biss von einem großen Laib Brot ab und kaute genüsslich darauf herum. »Die Kirche wird immer wieder angebliche Hexen verbrennen. Du kannst es nicht verhindern, also warum sich darüber den Kopf zerbrechen?«, belehrte er sie und nahm einen großen Schluck Wein. Zufrieden legte er die Füße auf den Tisch und rülpste.

»Nimm deine dreckigen Schuhe von meinem Esstisch, das ist hier keine Kneipe. Solltest du als Ritter nicht bessere Manieren haben?« Fenya stemmte die Hände in die Hüfte. »Du bist doch nur hergekommen, um meine Vorräte zu plündern und mit deinem neuen Titel anzugeben, stimmt’s?« Ihr Blick huschte über seinen hellblauen Umhang mit dem königlichen Wappen auf der Brust. Es stand ihm ausgezeichnet.

»Weder noch, meine Teure. Da morgen Weihnachten ist, habe ich dir etwas mitgebracht«, erklärte er und zog grinsend ein leicht verkohltes Buch aus seiner Ledertasche. »Du weißt doch, dass der alte Fidelius gestorben ist? Das hier habe ich in den Überresten seines abgebrannten Hauses gefunden. Es soll dir ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk sein.«

Neugierig griff Fenya nach dem Buch. Es war sehr schwer und hatte einen tiefschwarzen Einband. Kein Titel, keine Zeichen – nichts verriet von außen den Inhalt. Erwartungsvoll schlug sie es auf und starrte auf eine handgeschriebene Zeile. Ihre Augen weiteten sich. Panisch warf sie das Buch quer durch den Raum. Mit einem lauten Aufprall landete es in der Ecke und blieb vollkommen unschuldig liegen.

»Bist du von Sinnen? Willst du, dass wir alle sterben?«, rief Fenya, schnappte sich aus ihrer Küche einen leeren Kochtopf und stülpte ihn über den Einband, so als hätte sie gerade eine Maus gefangen.

Verdutzt blickte Lian sie an. »Warum das Theater? Was steht denn da geschrieben?«

Wie die meisten Dorfbewohner konnte Lian mit der schnörkeligen Handschrift nichts anfangen. Lesen und schreiben zu können war eine Seltenheit und sollte in diesem abergläubischen Dorf am besten verschwiegen werden.

»Halte ein. Dieses Buch beinhaltet den Fluch des Wolfes«, zitierte Fenya und drückte den Topf noch fester zu Boden.

»Nur weil der alte Fidelius eine Warnung hineingekritzelt hat, ist es noch lange nicht verflucht.« Lian lachte, stand auf und legte beschwichtigend die Arme auf ihre Schulter. »Du bist eine kluge Frau, warum glaubst du die Ammenmärchen unseres Dorfes? Es gibt keine Hexerei und schon gar keine Flüche.«

Wenn du wüsstest, dachte sie und schloss nachdenklich die Augen. Mit etwas Glück ist der Fluch noch nicht übergesprungen. Ich muss das Buch vernichten.

»Ich habe es bereits durchgeblättert und lebe noch. Du kannst mir vertrauen«, erklärte er und wollte sich zu Fenya auf den Boden knien. Doch wie vom Blitz getroffen, sprang sie auf und griff nach seinem Kragen.

»Du hast es geöffnet?! Wie lange ist das her? Fühlst du dich anders? Fieber, Gliederschmerzen … «, fragte sie panisch und tastete seine Stirn ab. »Wenn es ein alter Fluch war, braucht er bis zu drei Stunden, um zu wirken«, sagte Fenya mehr zu sich selbst als zu ihm und huschte in ihre Küche. Schnell öffnete sie jede Schranktür, auf der Suche nach einer bauchigen Flasche. Wo ist dieser verdammte Zaubertrank? Die lila Flüssigkeit mit der Aufschrift ›Für Notfälle‹ versteckte sich in der hintersten Ecke.

»Hier, trink davon einen großen Schluck. Es sollte gegen den Fluch helfen … Was machst du da?! Leg es zurück!«, rief sie hysterisch und blickte ungläubig ihren besten Freund an. Seelenruhig hielt Lian das verfluchte Buch in Händen. Wir sind verloren.

»Ich wollte dir nur eine Freude machen. Wenn du mein Weihnachtsgeschenk nicht möchtest, dann behalte ich es eben«, meinte er enttäuscht und steckte den Einband zurück in seine Ledertasche.

»Nein, du verstehst nicht, dass du an mich gedacht hast, ist wundervoll, aber dieses Buch ist gefährlich!« Wenn er mir nicht glaubt, könnte das sein Ende sein.

Denn Lian wusste nicht, dass sie eine Hexe war. Er konnte nicht ahnen, dass dieser Fluch wirklich existierte und laut Hexenkodex durfte sie ihn nicht einweihen. Eine Zwickmühle.

Vorsichtig trat Fenya auf ihn zu und atmete tief durch. Mit zittrigen Fingern streckte sie ihm die bauchige Flasche entgegen. »Bitte trink davon, dann mache ich mir weniger Sorgen.«

Lian beäugte misstrauisch das lilafarbene Getränk. Er seufzte und griff danach.

»Du weißt schon, dass dich solche Aktionen noch auf den Scheiterhaufen bringen werden? Sei froh, dass ich an diesen Humbug nicht glaube«, sagte er selbstgefällig und nahm einen großen Schluck des Trankes.

Erleichtert atmete sie auf. Das Gegenmittel sollte reichen, um den Fluch aufzuhalten.

Vorerst.

»Ist das selbst gebrannter Schnaps gewesen? Schmeckt gar nicht übel«, stellte er fest und leckte sich die Lippen. Fenya nickte abwesend und starrte auf die Ecke des verfluchten Einbandes. Ich muss es unbedingt zerstören.

»Kann ich es doch behalten?«, fragte sie und versuchte so süßlich wie nur möglich zu klingen.

»Oh nein, dann drehst du mir noch ganz durch. Ich kaufe dir morgen ein neues vom Markt«, sagte Lian und wandte sich zum Gehen, doch Fenya ergriff seine Hand.

»Ich kann nicht schlafen, wenn du dieses Buch bei dir trägst. Bitte, lass es mich verbrennen.«

»Du sorgst dich ja wirklich um mich, hmm? Na gut, wenn es dich glücklich macht, kannst du es zerstören, aber pass auf, dass dich keiner sieht. Eine Frau, die ein schwarzes Buch verbrennt, ist ein gefundenes Fressen für diese Hexenverfolger.« Er zwinkerte ihr frech zu und legte das Buch auf den Esstisch. »Bis morgen, meine Teure, die ritterliche Pflicht ruft.«

Die Tür war gerade erst hinter ihm zugefallen, da stürzte sich Fenya auf das Buch und stopfte es zurück in den Kessel. Mit einer geübten Handbewegung öffnete sie eine geheime Falltür im Boden und stieg vorsichtig hinab. Der Raum war vollgestopft mit Regalen voller Flaschen, Kräutern und Büchern. Nur ein Feuer aus dem kleinen Kamin in der Ecke spendet Licht. Vorsichtig stellte sie den Topf mit dem Buch auf den Boden und zog einen Kreis aus Salz darum. Wo sind nur die Kerzen? Sie öffnete dutzende Schubladen, bis sie sechs Kerzen und eine metallene Kiste gefunden hatte. Die Kiste ersetzte den notdürftigen Topf und kam wieder in die Mitte des nun beleuchteten Salzkreises. Mit zittrigen Fingern schlug Fenya ihr Hexenbuch auf und suchte nach der richtigen Seite. Die Blätter waren teilweise sehr alt und vergilbt, jedoch war der Text lesbar.

»Ah, hier haben wir es. Verfluchte Gegenstände bannen«, flüsterte sie ehrfürchtig und überflog das Ritual. Eine eindeutige Warnung stand am Seitenende. Verfluchte Gegenstände nicht verbrennen, sie neigen zur Explosion.

»Der arme Fidelius! Er wird versucht haben, das Buch loszuwerden. Möge er in Hekates Reich Ruhe finden«, flüsterte Fenya und legte eine Minute der Stille ein, dann las sie weiter.

Man benötigt einen Salzkreis, eine metallene Kiste, sieben Kerzen, einen Spiegel und einen Mistelzweig.

»Verdammt, meine Zweige sind mir ausgegangen. Gerade jetzt, wo es so wichtig wäre.« Fenya stöhnte auf, löschte alle mühselig aufgereihten Kerzen und griff nach der Kiste. Hexenmeisterin Amalia muss helfen, dachte sie und stieg die steile Treppe zurück in ihr Wohnzimmer. Sie stopfte alles Wichtige in einen Reisebeutel, warf ihren Mantel über und hechtete aus dem Haus.

Peinlichst darauf bedacht, dass die Nachbarn sie nicht erblickten, lief sie geduckt an den hohen Hecken vorbei und zog die Kapuze tief in ihr Gesicht. Bibbernd stapfte sie durch den kniehohen Schnee, der kalte Wind peitschte ihr um die Ohren und mit jedem Schritt kam sie näher an die Waldgrenze. Dort stand die kleine Steinhütte ihrer Tante, die von außen mit Zweigen und Schleifen weihnachtlich dekoriert wurde. Ein Mistelzweig war leider nicht dabei.

Fenya klopfte dreimal. Es dauerte nur wenige Sekunden, da erklang eine tiefe Stimme. »Wir kaufen nichts, wir brauchen nichts, Fremder, gehet fort … «

» … doch seid ihr eine Hexe, ist dies der richtige Ort«, beendete sie den Spruch und die Tür schwang auf.

»Fenya, meine Kleine, was treibt dich zu später Stunde noch zu mir?«, fragte Hexenmeisterin Amalia erfreut und drückte sie herzlich. »Du kommst gerade recht zum Tee.« Fenya schüttelte den Kopf.

»Keinen Tee. Es gibt einen Notfall.« Sie zog die Kiste mit dem verfluchten Buch aus ihrem Beutel und zeigte es Amalia.

»Bei Hekate, danach hat der Hexenrat bereits gesucht! Du hast es hoffentlich nicht geöffnet?«, rief Amalia erschrocken und nahm Fenya die Truhe ab.

»Ich nicht, aber Lian.«

Amalias riss ihre Augen auf und griff nervös nach einer ihren vielen Halsketten. »Ich informiere sofort Walpurga! Wenn wir jetzt einen Fehler machen, könnte das für unser gesamtes Dorf den Untergang bedeuten.« Sie wirbelte herum und steuerte auf ein großes Bücherregal zu, wo ein Einband mit der Aufschrift ›Über die Kochkunst‹ etwas weiter hervorstand. Amalia zog daran, und das Regal schwang samt Inhalt nach hinten weg. »Salzkreis und Kerzen! Ich komme gleich nach«, befahl sie und huschte zum Kamin. Ohne Widerworte folgte Fenya der Anweisung und betrat die geheime Hexenküche. Auch hier befanden sich große Regale voll mit Flaschen, Gefäßen und Büchern. Von der Decke hingen große Bündel getrocknete Kräuter und ein langer Tisch mit vier verschiedenen Kesseln befand sich in der Mitte des Zimmers. So viel Platz und Utensilien hatte Fenya in ihrem Geheimraum nicht. Sorgfältig zog sie einen Kreis aus Salz auf den Boden und stellte sechs Kerzen darauf. Dann ertönte plötzlich Stimmengewirr. Amalia und drei weitere Hexen betraten laut streitend den Raum. »Fidelius war ein Narr und ist zusätzlich mausetot«, rief Maria und funkelte ihre große Schwester Hestia böse an.

»Wir können den Fluch ohne ihn nicht bannen!«, erwiderte Hestia und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Das müsstest du ganz genau wissen, nach deinem Debakel gestern Abend.«

»Was soll das heißen, Schwester? Du denkst, es war meine Schuld?« Maria klang erbost. »Woher sollte ich wissen, dass man dieses verfluchte Buch nicht verbrennen darf?«

Hestia wollte gerade zum Gegenargument ansetzen, da erhob Walpurga ihre Stimme.

»Ruhe ihr zwei! Ich sehe es wie Hestia, wir müssen Fidelius unbedingt finden!«

Walpurga hatte als Älteste im Hexenrat immer das letzte Wort und außerdem war sie die Mutter der beiden. Trotzig warf Maria ihr schwarzes Haar über die Schulter und hob das Kinn an. »Er ist tot. Wie oft wollen wir das noch diskutieren? In seinem Haus war alles zerstört und voller Blut!«, sagte sie frustriert und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Vor oder nachdem du das Haus in die Luft gejagt hast?« Hestia kicherte und erntete dafür einen tadelnden Blick von Walpurga. Die Zwillingsschwestern hatten sich, seit Fenya denken konnte, schon immer bei jeder Gelegenheit gestritten.

»Kinder, die Lage ist ernst. Für Scherze ist nicht der richtige Zeitpunkt.«

Seufzend ließ sich Walpurga auf einen Stuhl fallen und bemerkte erst jetzt Fenya, die am Boden vor dem Salzkreis kniete.

»Du kannst die Kerzen wieder löschen, Kind. So wird es nicht funktionieren. Dein Freund Lian hat alles noch komplizierter gemacht.«

»Ist er in Gefahr?«, wollte Fenya wissen und blickte in vier ratlose Gesichter, aber Maria erhob ihre Stimme. »Ich habe den Fluch gesehen. Fidelius hat geschrien, sich am Boden gekrümmt und dann … « Sie atmete tief durch. »hat er sich in ein Monster verwandelt. Groß, haarig und mit spitzen Zähnen.«

»Ein Wolf«, sagte Fenya und erinnerte sich an die Warnung auf der ersten Seite, aber Maria schüttelte den Kopf.

»Nein. So einen Wolf habe ich noch nie gesehen. Er war gigantisch, blutrünstig, wild und hatte stechend rote Augen. Von dem lieben alten Fidelius war nicht das Geringste mehr übrig, deswegen habe ich … « Tränen traten in Marias Augen und sie senkte die Stimme zu einem demütigen Flüstern. »Ich habe ihn angegriffen und seinen Bauch mit einem Zauber getroffen. Die Wunde war furchtbar tief … da war so viel Blut … überall auf dem Boden. Mit letzter Kraft ist er aus dem Haus gelaufen und im Wald verschwunden«, beendete Maria ihre Erzählung und schwieg. Für einige Sekunden herrschte bedrückte Stille, dann nahm Hestia ihre Schwester in den Arm. »Das hattest du gestern gar nicht erwähnt. Es tut mir leid.«

Walpurga legte die Hand auf Marias Schulter. »Was geschehen ist, ist geschehen. Wir sollten uns nun auf Lian konzentrieren. Er hat nur noch wenig Zeit.«

Die Aussage ließ Fenya zusammenzucken. »Glaubt ihr, dass er auch zu so einer Bestie wird? Ich habe ihm ein Gegenmittel verabreicht.« Hoffnungsvoll klatschte Amalia in ihre ringebesetzten Hände. »Ha! Dann haben wir mehr Zeit! Welches war es denn?« In ihren Augen funkelte Stolz, und Fenyas Wangen färbten sich leicht rot. Ein Lob von ihrer Tante war sehr viel wert, wenn man bedachte, dass sie Fenya jahrelang in der Herstellung von Zaubertränken unterrichtet hatte.

»Es war dein ›Bannallestrank‹. Ich habe ihn immer auf Vorrat.«

»Hmm, der ist nicht besonders stark, wenn er gelagert wurde. Ich denke, wir haben zwei bis drei Stunden Zeit. Ich würde vorschlagen, dass wir das Ritual vorbereiten und Fenya ihren Freund holt. Er und das Buch müssen am selben Ort sein.« Alle Hexen nickten, bis auf Hestia, die ihre Arme in die Hüfte stemmte.

»Und dann? Willst du alle beide in eine Kiste stopfen?« Ihr Argument war leider ein reales Problem: Der Bannzauber schloss Flüche in einer verspiegelten Kiste ein, aber sie konnten Lian nicht für immer wegsperren, geschweige denn in eine Kiste stopfen. Walpurga schloss für einen Moment die Augen und ihre vielen Falten gruben sich noch tiefer in die Stirn.

»Ich habe einen Plan … «, begann sie und zog einen kleinen Kalender aus ihrem Umhang. Nickend fuhr sie fort: »Aber wir müssen es heute Nacht vollbringen, noch vor Heiligabend.« Dann wandte sie sich direkt an Fenya. »Wir treffen uns um Mitternacht am See – mit Lian. Beeil dich!«

Das ließ Fenya sich nicht zweimal sagen. Voller Angst um ihren Freund stolperte sie aus dem Haus in die verschneite Nacht hinein.

Eine Stunde später war Fenya am Ende ihrer Kräfte. Sie war zu Lian nach Hause gelaufen, hatte alle Tavernen abgesucht und war sogar in der Kirche beim vorweihnachtlichen Gottesdienst gewesen. Nirgendwo eine Spur von ihm und die Zeit rannte – noch eine Stunde bis Mitternacht.

Zu allem Unglück braute sich draußen ein Schneesturm zusammen. Dicke Flocken versperrten Fenya die Sicht. Wie gerne säße sie jetzt an ihrem flackernden Kaminfeuer mit einer schönen Tasse Tee. Vielleicht ist Lian bei meiner Hütte, schoss es ihr schlagartig durch den Kopf und sie änderte sofort ihre Richtung.

Im kniehohen Schnee stapfte sie eilig über den Marktplatz, als ihr plötzlich zwei betrunkene Männer entgegenkamen. Einer davon sang aus voller Kehle: »Stille Nacht, Heilige Nacht … « Dabei schwankte er stark nach rechts und stieß fast mit Fenya zusammen. »Hey, Püppchen, brauchst du einen Unterschlupf? Ich könnte dich zu mir nach Hause bringen«, rief der Zweite, und leckte sich die Lippen, als wäre sie ein saftiges Stück Fleisch.

»Oder ein Küsschen?«, sagte der Erste und zog einen Mistelzweig aus seiner Jackentasche. Er hielt ihn hoch über seinen Kopf und formte seine Lippen zu einem Kussmund. Fenya bog absichtlich links an ihnen vorbei, doch die Männer torkelten hinterher. »Nein danke. Geht weg!«, sagte sie mit fester Stimme und griff parallel nach ihrem Zauberstab in der Hosentasche.

Den Mistelzweig hoch erhoben, kam der Betrunkene mit seinem Gesicht so nah, dass Fenya seine Schnapsfahne riechen konnte. »Komm schon, ein Kuss!«, sagte er und griff nach ihrer Taille. Das war zu viel. Sie zog blitzschnell ihren Zauberstab und beide Männer flogen im hohen Bogen rücklings in den Schnee. Verblüfft sahen sie Fenya an, die sich lässig zu ihnen nach unten beugte. »So einen kann ich gebrauchen, euch eher nicht«, erklärte sie, hob den Mistelzweig auf und stapfte an ihnen vorbei.

Endlich an ihrer Hütte angekommen, erblickte Fenya eine dunkle Gestalt vor ihrer Haustür. »Lian?«, fragte sie vorsichtig und trat auf den Mann zu, der mit dem Rücken zu ihr gewandt, leise wimmerte. »Alles okay bei dir?« Fenyas Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie ihn an der Schulter berührte. Sein Wimmern erstarb. Plötzlich wirbelte Lian herum, seine Augen waren blutunterlaufen und stechend gelb.

»Was hast du mir gegeben? Was war in der Flasche?«, brüllte er und packte sie an den Schultern. Seine Finger gruben sich tief in ihr Fleisch und sie zuckte unter Schmerzen zusammen.

»Lian, beruhige dich! Ich bringe das wieder in Ordnung. Es war das Buch!«, rief sie panisch und wandte sich aus seinem eisernen Griff. »Wir müssen zum See … «

Doch Lian unterbrach sie: »Nein! Nicht das Buch. DU! Du hast mich verhext. Hexe!« Wütend zog er sein Schwert und richtete es auf sie. Nur Zentimeter vor ihrem Körper stoppte er die Klinge.

»Mach, dass es aufhört!«

Mit erhobenen Händen stolperte Fenya zurück. Ihr Atem ging stoßweise und sie starrte schockiert die scharfe Klinge auf ihrer Brusthöhe an. »Ich kann dir helfen, aber du musst mir vertrauen. Wir müssen zum See.«

»Damit du mich dort ertränken kannst?«

»Nein! Damit ich dich heilen kann.«

»Lüge! Du lügst, du dreckige Hexe! Ich sterbe vor Schmerzen, und du machst deine Späße mit mir. Soll ich dir auch Schmerzen bereiten? Findest du es dann immer noch witzig?« Seine Worte klangen vollkommen wahnsinnig, und er setzte ein schiefes Grinsen auf, das Fenya die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Plötzlich sammelten sich Tränen in seinen Augen und sein Lächeln verblasste. »Hilf mir«, hauchte er, bevor er sich ans Herz fasste und mit einem gequälten Aufschrei auf den eisigen Boden stürzte.

Panisch hechtete Fenya zu ihm, doch sein Körper begann schlagartig zu zittern und sich zu verändern. Seine Kleidung platzte auf, Fetzen landeten im Schnee und ein dunkelgraues Fell drückte sich durch den Stoff nach draußen. Seine Arme wurden breiter, muskulöser und seine Beine schossen in die Länge. Sein schönes Gesicht wurde haarig und sein Mund wich einer langen Schnauze mit klaffendem Maul. Lian hatte sich in einen riesigen Wolf verwandelt. Er knurrte bedrohlich und seine blutroten Augen fixierten sie, wie ein Beutetier. Reflexartig griff Fenya zu dem Schwert, das immer noch am Boden lag. Schützend hielt sie es zwischen sich und dem ausgewachsenen Monster.

»Lian, ich weiß, du bist noch da drinnen. Du kennst mich«, versuchte sie ihn zu beschwichtigen, doch der Wolf fletschte seine Zähne, heulte auf und sprang mit einem großen Satz auf sie zu. Kreischend hielt Fenya die Klinge nach oben und traf tatsächlich seinen Bauch. Er jaulte auf und taumelte nach hinten. Aus seiner Wunde trat Blut und verfärbte den Schnee rot. Den kurzen Moment der Schwäche nutzte Fenya aus, zog ihren Zauberstab und sprach: »Funiculus.« Ein Seil schoss aus ihrem Zauberstab und fesselte Lians Wolfsgestalt, sodass er sich nicht mehr rühren konnte. Erleichtert atmete Fenya durch. »Es tut mir so leid, aber gleich wird es besser«, versprach sie mit Tränen in den Augen und hob erneut den Zauberstab. Der Wolf setzte sich in Bewegung und folgte Fenya wie ein seltsam geschnürtes Päckchen an einem unsichtbaren Faden.

»Nur bis zum See, dann mache ich dich los«, erklärte Fenya entschuldigend, obwohl sie sich nicht sicher war, ob Lian in diesem Zustand überhaupt etwas verstand.

Fast zehn Minuten schleifte sie den immer noch blutenden Körper durch den eiskalten Schnee. Der Wind blies erbarmungslos in ihr Gesicht und sie begann zu zittern. »Gleich haben wir es geschafft. Ich kann das Ufer schon sehen.« Erleichtert erkannte sie, dass ihre Tanten und Nichten den gesamten See mit Kerzen umkreist hatten. Er würde als überdimensionierter Spiegel dienen. Walpurga, du bist genial, dachte Fenya erfreut, doch eine Sekunde später erlosch ihr Lächeln. Denn hinter sich hörte sie ein Ratschen. Erschrocken wirbelte sie herum. Lian hatte sich aus seinen Fesseln befreit und kämpfte gegen den Transportzauber an. Er zog und zerrte gegen die unsichtbare Kraft. Fenya versuchte ihn mit Magie ruhig zu halten, doch keine Chance. Der mächtige Wolfskörper stemmte sich gegen ihren Zauber und riss sie nach vorne. Fenya landete unsanft im Pulverschnee. Der Zauberstab rutschte aus ihrer Hand und verschwand im eisigen Nichts. »Verdammt!« Panisch durchwühlte sie den Schnee – aber zu spät. Zähnefletschend stürzte der Wolf auf sie. Kreischend rollte sich Fenya zur Seite. In Todesangst sprang sie auf ihre Beine und lief. Sie rannte schneller als je zuvor, doch das Heulen der Bestie war direkt hinter ihr. Der See war nur noch ein kleines Stück entfernt. Fenya rief aus voller Kehle ihren Hexenschwestern zu: »Er hat sich losgerissen.«

»Zur Seite, Kind!«, befahl Amalia und erhob ihren Zauberstab. Fenya duckte sich und ein rot leuchtender Zauber flog über ihren Kopf auf Lian zu. Doch er wich aus.

Nur noch wenige Schritte vom See entfernt blieb Fenya nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben. »Hinlegen!«, brüllte Walpurga von der Seite und wedelte mit ihrem Zauberstab. Im allerletzten Moment schmiss sie sich flach auf den Boden und spürte die Magie an sich vorbeirauschen. Ein Jaulen ertönte und Lians Wolfsgestalt wurde erst in die Luft und dann mit einem Platsch in den See geschleudert.

»Schmeiß das Buch hinterher!«, befahl Walpurga und ihre Tochter Maria schleuderte das Buch samt Kiste in das dunkle Wasser. Kurz herrschte Stille.

»Alles klar bei dir?«, fragte Hestia und half Fenya auf die Füße.

»Jaa-a-a«, sagte sie bibbernd und klopfte sich den Schnee vom Körper. Doch plötzlich tauchte der Wolf heulend an der Wasseroberfläche auf und begann in Richtung Ufer zu schwimmen. Seine roten Augen leuchteten durch die Nacht und bereiteten Fenya eine Gänsehaut.

»Keine Zeit zu verlieren, Kinder! Den Kreis wieder schließen und Zauberstäbe bereithalten«, rief Walpurga und deutete auf die Stelle, an der Fenya gelegen hatte. Zwei Kerzen waren erloschen und durch das Salz verlief eine Schneise.

»Ihr habt den ganzen See umkreist?«, fragte Fenya zitternd, als Amalia die Stelle schloss. »Fragen klären wir später. Zauberstäbe hoch. Auf drei. Eins, zwei, drei … «

Alle vier Hexen riefen im Chor: »Exspecto genium mala expellentem!« Doch nichts geschah. Walpurga runzelte die Stirn, der Bannzauber funktionierte nicht und Lian war bereits gefährlich nah am Ufer. »Nochmal!« Die Hexen wiederholten ihren Spruch, aber auch diesmal keine Reaktion.

»Bringt euch in Sicherheit!«, schrie Maria panisch, als der riesige Wolf seichtes Gewässer erreichte und auf sie zu stürmte.

Aber plötzlich hatte Fenya einen Geistesblitz. Sie zog den Mistelzweig aus ihrer Tasche und warf ihn in den See.

»Jetzt nochmal!«, brüllte sie und ihre Hexenschwestern wiederholten ein drittes Mal den Spruch. Sofort begann der Kreis zu leuchten und das Wasser reflektierte den Zauber, sodass Lian in die Luft geschleudert wurde. Sein Körper hing schwebend zwischen Wasser und Mond. Seine Gestalt veränderte sich: Die Krallen verschwanden, helle Haut trat hervor, das Gesicht formte sich zu dem eines Menschen zurück. Plötzlich fiel er wie ein Stein vom Himmel und ging in seiner schwachen Menschengestalt unter. »Lian!«, rief Fenya und sprang ohne zu zögern in den eiskalten See. Die Kälte schnürte ihren Brustkorb zusammen und sie japste. Tapfer ignorierte sie den stechenden Schmerz, der wie tausend kleine Nadelstiche ihren Körper durchbohrte und schwamm los. Mit kräftigen Zügen kam sie ihm entgegen, tauchte und zog den völlig regungslosen Körper hinter sich her.

Am Ufer angekommen zielte Hestia auf seine Brust: »Respirate.« Der Zauber traf seine Lunge und er spuckte einen Schwall Wasser aus. Hustend, aber lebendig, öffnete Lian seine Augen. »Fenya?«, krächzte er und hob die Hand zu ihrem Gesicht.

»Ich bin da. Es wird alles gut. Ich bin für dich da!« Erleichtert legte sie ihre Wange an seine Handfläche und er strich liebevoll mit dem Daumen darüber. »Danke.« War das Letzte, was über seine Lippen kam, bevor er erschöpft in Ohnmacht fiel. Die Kirchturmuhr schlug zwölf – es war Weihnachten.

Einige Stunden später wachte Lian, umgeben von mehreren Kissen, auf. Sein Oberkörper war mehrfach eingebunden und er spürte, wie die Wunde darunter pochte. Fenya saß direkt am Bettrand neben ihm und die anderen Hexen hatten sich zu einem Halbkreis aufgestellt.

»Du bist Lian John Frederik Brian?«, fragte Walpurga ganz offiziell.

»Anwesend«, bestätigte er müde und gähnte. »Was ist passiert? Ich träume noch, oder?« Lians Stimme klang ängstlich. »Ich meine … ich habe mich nicht wirklich in einen Wolf verwandelt und bin fast im See ertrunken … oder?«

»Doch«, flüsterte Fenya vorsichtig und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.«

»Was soll das bedeuten?« Erschrocken sprang er auf und starrte die anwesenden Frauen an. »Ihr seid Hexen!« Alle nickten. »Ihr könnt mich also gesund zaubern!« Walpurga schüttelte den Kopf. »Nein, so einfach ist das nicht. Der Fluch auf dem Buch war sehr alt und sehr stark. Uns ist es gelungen, ihn – gewissermaßen – einzuschränken. Und das auch nur, weil Fenya an den Mistelzweig gedacht hat.«

Verwirrt sah er Fenya an. »Mistelzweig?«

»Erklär’ ich dir später«, sagte sie und Walpurga fuhr fort: »Der Bannzauber beinhaltet immer einen Spiegel, Salzkreis, Kerzen, Mistelzweig und eine Kiste, in der der zu bannende Gegenstand eingesperrt wird. Dadurch, dass wir deine Wolfsgestalt nicht in eine Kiste sperren konnten, habe ich den See als Spiegel und den Neumond als Abgrenzung nach oben – eine Art Himmelsdecke – gewählt. Das Problem daran ist … « Walpurga atmete tief durch. »Solange wir Neumond oder Halbmond haben, hält der Bann. Wenn der Mond sich aber in seiner vollen Pracht zeigt, dann bricht unser Zauber.«

»Und das heißt?«, fragte Lian erschrocken.

»Du wirst dich in jeder Vollmondnacht in einen Wolf verwandeln – in einen Werwolf«, schloss Walpurga den Satz und senkte ihren Kopf.

»Es tut mir so leid«, schluchzte Fenya und eine Träne benetzte ihre Wange. »Ich hätte dich niemals gehen lassen dürfen, als ich wusste, dass du das Buch geöffnet hattest. Wir haben damit so viel Zeit verloren.«

Aber Lian schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin schuld. Du hast mich gewarnt und ich habe dich ignoriert.« Überraschend gelassen, nach dieser schweren Botschaft, zuckte er mit den Schultern. »Vergib du mir lieber, dass ich dich dreckige Hexe genannt habe.«

Fenyas Wangen wurden rot. »Na ja, ein Teil davon stimmt ja auch«, sagte sie und fiel ihrem Freund in die Arme. »Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren!«

»Ich auch«, flüsterte Lian.

Walpurga räusperte sich. »Ich unterbreche ja nur ungern eure Versöhnung, aber wir haben noch Papierkram zu erledigen.« Maria überreichte ihrer Mutter ein dickes Buch. »Dies ist unser Hexen Kodex, da du durch deine magischen Fähigkeiten nun auch ein Teil der Gemeinschaft bist, wirst du nach unseren Regeln leben müssen. Die wichtigste aller Regeln lautet: Stillschweigen. Niemand darf erfahren, dass es uns wirklich gibt. Verstanden?«

»Ja«, bestätigte er, ohne seinen Blick von Fenya abzuwenden.

»Können wir das nicht später machen?«, fragte Hestia genervt. »Es ist Weihnachten und ich habe Hunger.«

Amalia zog wie aufs Stichwort eine Weinflasche hervor. »Lasst uns darauf anstoßen, immer noch am Leben zu sein und ein neues Mitglied in unseren Reihen begrüßen zu können.«

Sie schwang ihren Zauberstab und jeder hielt ein gefülltes Glas in den Händen. »Frohe Weihnachten und ein Hoch auf Lian, unseren Weihnachts-Werwolf.«

»Auf unseren Weihnachts-Werwolf«, wiederholten sie im Chor und Lian fügte hinzu: »Und auf meine Fenya, weil ich ohne deinen Mistelzweig verloren gewesen wäre.« Mit diesen Worten beugte er sich zu ihr hinab und berührte ihre Stirn mit seinen Lippen.

»Du bist mein persönliches Weihnachtswunder.«

S. J. BETTEN

Haferflocken Plätzchen

200 g Butter (Zimmertemp.) 200 g Zucker 1 Tüte Vanillinzucker 1 Ei 250 g Haferflocken 100 g Mehl 1 Tüte Backpulver

1. Alle Zutaten vermischen.

2. Auf einem Backblech mit Backpapier kleine Kleckse Teig geben und leicht flach drücken.

3. Bei 160 °C Umluft für 10 – 12 min backen.

HINWEIS: Plätzchen zerlaufen beim Backen etwas. Daher am besten etwas Platz zwischen den Klecksen lassen, sonst wird es ein ganz großer Keks.

JACE MORAN

Nunsalam

Triggerwarnung: Diese Geschichte enthält sensible Inhalte bezüglich Suizidalität.

Aus der Perspektive eines Meteorologen ist Schnee als fester Niederschlag aus einzigartigen, durch die molekulare Struktur des Wassers sechszählig-symmetrisch geformten Flocken aus an Kristallisationskernen zu Eiskristallen gefrorenen Wassertröpfchen gegeben hoher Luftfeuchtigkeit und Temperaturen unter null Grad in der Nähe der Niederschlagswolken zu beschreiben. Wenn ihr mich fragt, ist dies eine recht nüchterne Art, den Ursprung kalter Eleganz zu erläutern. Schnee mag ein Wetterphänomen sein, doch lässt er sich deshalb wirklich nur szientifisch begründen?

Schon im Jahre 1812 erkannten die Gebrüder Grimm, dass naturwissenschaftliche Erklärungen engstirnig anmuten können, und erschufen das Märchen der Frau Holle, die den Schnee aus ihren Federkissen rieseln ließ. Andere Dichter, Philosophen und Geschichtenerzähler wiederum umschrieben das C₁₇H₂₁NO₄ über die Jahre hinweg als Gottheit des Winters, alles bedeckendes Leichentuch der Natur oder schlicht und einfach als Inhalt eines Zuckerstreuers.

Unzählige Sagen und Mythen kreisen um die weißen Kristalle, die des Winters aus den Wolken regnen, doch nicht alle von ihnen wurden in schriftlicher Form festgehalten. Manche von ihnen wurden lediglich mündlich tradiert, von Generation zu Generation, als wären sie zu mächtig oder womöglich sogar zu kostbar, um zu Papier gebracht zu werden. Vielleicht, weil sie durch ihre Andersartigkeit in den dogmatischen Gesellschaften der Vergangenheit einen Skandal hervorgerufen hätten oder weil ihre Schönheit vom klammen Grauen allumfassender Einsamkeit vernebelt wird.

Heute möchte ich euch eine dieser Geschichten erzählen. Die Geschichte von Nunsalam.

Es war Nunsalam, hoch in den Bergen an diesem glitzernden See, der die Irdischen mit Schnee beschenkte. In den kunstvoll verzierten Tempeln der Winterlande galt der Kronprinz der Blütengöttin als schönstes Wesen, das jemals das Licht der Welt erblickt hatte. Mit der Anmut eines menschgewordenen Schwans reflektierten seine Haut und sein Haar die kalten Schattierungen eines mitternächtlichen Mondenscheins und in seinen Augen tummelten sich sphärische Farben.

Schon in seiner Kindheit erkannten Nunsalams Eltern, dass sich das Wesen ihres Sohnes von denen der Gleichaltrigen unterschied. Dass er ruhiger, verschlossener und reifer war und seine Zeit lieber in Gedankenwelten, als in der Gegenwart anderer verbrachte. Anstatt die Realität zu leben, ließ er zu, dass er sich selbst in der Fiktion verlor und seine Existenz sich in einen Mythos verwandelte. Die Siedler des Königreichs der Winterlande ersannen Geschichten über den Verbleib ihres wie vom Erdboden verschluckten, weiß erstrahlenden Prinzen und mit den Jahren wurden diese zu überzeugten Wirklichkeiten. Als Nunsalam sich in seinen frühen Jugendjahren endlich wieder der Öffentlichkeit zeigte, sah die breite Masse zu ihm auf, als wäre er ein Wunder. Ein mächtiges, reiches, wunderschönes Wunder, aber allen voran auch ein einsames. Seine Kindheit hinter verschlossenen Türen und in den Untiefen seiner Gedanken hatte Nunsalam unwiderruflich in einen Außenseiter verwandelt. Einen Eigenbrötler, Sonderling und Ausgestoßenen. Jemanden, dem man besser nicht zu nahe kam und dessen bloße Existenz die Straßen von einer Welle aus Ehrfurcht und Unbehaglichkeit fluten ließ.

Das Weiß seiner Erscheinung wurde zum Symbol des Fremdländischen. Obwohl ihm von außen her stets der gebührende Respekt entgegengebracht wurde, beherbergte jeder Blick, der ihn streifte, und jedes Wort, das über ihn verloren wurde, einen unterschwelligen Einschlag von Skepsis. Menschen haben Angst vor dem, was sie nicht kennen, weil sie befürchten, es weder einschätzen noch kontrollieren zu können, und der Prinz der Winterlande befand sich sowohl äußerlich als auch innerlich fernab von allem Üblichen.

An Weihnachten 1614 schenkten seine Eltern ihm eine gläserne Kugel, in deren Inneren weißer Sand beinahe schwerelos umhersegelte. Noch nie hatte Nunsalam ein Gegenstand so sehr fasziniert. Vielleicht, weil es ihn an sich selbst erinnerte und vor artifizieller Grazie nur so strotzte. Vielleicht aber auch nur aus dem einfachen Grund, dass seine Eltern ihm noch nie zuvor etwas geschenkt hatten.

Während er das Schauspiel des Sandes mit großen Augen verfolgte, nahmen diese schwer seufzend neben ihm Platz und erzählten ihm die Geschichte eines kleinen Jungen, dem sein Leben in Einsamkeit zum Verhängnis wurde und dessen Freude und Glück ohne Freunde und Gesellschaft getrübt worden war. Erst, als Nunsalam sich an diesem Abend schlafen legte und das Licht in seinem Zimmer erlosch, verstand er, dass seine Eltern über ihn gesprochen hatten.

Ein kindliches Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. Wie es schien, machten seine Eltern sich doch Sorgen um ihn. Sie hatten heute fast den ganzen Tag mit ihm verbracht. Sie hatten ihm etwas geschenkt. Und sie machten sich Sorgen um ihn.

Am nächsten Morgen verebbte Nunsalams Lächeln. Die Geschichte seiner Eltern ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie verfolgte ihn wie ein schrecklicher Fluch, begleitet vom faden Beigeschmack des Unglücklichseins. Das Gesicht des kleinen Jungen aus der Erzählung wurde zu dem seinen und ehe er sich versah, wurde es von Tränen entstellt.

Nunsalam wollte nicht anders sein. Und er wollte auch nicht allein sein. Nicht mehr. Nie wieder. Doch dafür war es bereits zu spät. Wahrscheinlich wäre es dafür sogar schon immer zu spät gewesen. Manches tragen wir einfach mit uns wie eine lästige Last. Vom Moment unserer Geburt an bis zur Sekunde unseres Todes.

»Ich liebe dich.«

Nunsalam war achtzehn Jahre alt, als er das erste Mal mit diesen drei Worten bedacht wurde. Drei kleine Worte, die seine Welt unwiderruflich auf den Kopf stellten und seine gesamte Existenz in ein Fragezeichen verwandelten. Nicht, weil sie ihn auf Wolke sieben katapultierten oder sein Innerstes beinahe vor Glück zerbersten ließen, sondern weil sie ihm mit einer schrecklichen Schwere bewusst machten, dass ihm etwas fehlte, was eigentlich der Normalität entsprach. Ein Herz, das zur Liebe fähig war.

»Du … liebst mich?«, wiederholte er zögerlich, während sich die Räder seines Gehirns immer schneller um die eigene Achse drehten.

Ein sachter Windhauch brachte die Vorhänge zum Tanzen und gewährte den morgendlichen Sonnenstrahlen Einblick in das vollständig aus Holz gezimmerte Gemach. Vogelgezwitscher schallte aus der Ferne herüber, während Schatten und Licht ein Versteckspiel fingierten und winzige Staubkörner durch die royale Kammer flackerten. Geblendet schirmte Nunsalam seine Augen mit von silbernen Ringen besetzten Fingern von dem hellen Schimmer ab. Seine weiße Hautfarbe vertrug sich nicht gut mit dem Brennen der Sonne.

Nalbichs beherztes Nicken war der Mühe nicht wert. Der fiebrige Glanz seiner grünbraunen Augen und die Röte seiner Wangen verrieten unmissverständlich, dass seine sehnsuchtsvollen Silben in nichts als Wahrheit getränkt waren. Seine gesamte Erscheinung erstrahlte in der intensiven Tonfarbe jener Emotion, die der Kronprinz der Winterlande selbst noch nie verspüren durfte.

Beschämt zog dieser seinen aus Leinen geschneiderten Schlafrock zurecht und starrte auf die kunstvollen Schnitzereien, die den Pfosten seines Bettes in ein Fantasiegebilde verwandelten. Kleine Figuren, Fabelwesen und Signa zierten das Holz in einem atemberaubenden Detailreichtum und vermittelten die Spiegelung einer immergrünen, sorgenlosen Welt.

»Oh.« Wie durch eine dichte Watteschicht hörte Nunsalam die eigenen Worte an seine Ohren dringen. »Wie fühlt sich das an?«

Das Pfeifen des Windes verebbte und die seidenen Vorhänge flogen wieder zu. Finsternis nahm zu und ließ unkontrollierte Schatten über Nalbichs feingliedriges Gesicht wandern. Scheinbar mühelos erschufen sie neue Ebenen und Konturen, Tiefen und Kontraste, Illusionen und verräterische Zweifel.

Nur zögerlich tat sich der schmale Mund des Anderen auf. »Was meinst du?«

»Nun ja.« Nunsalam schlug die Decke zurück, erhob sich, und bewegte sich leichtfüßig in Richtung des lodernden Kamins, dessen züngelnden Flammen die winterliche Kälte befehdeten. »Verliebt zu sein.«

Die Worte klangen seltsam fremd aus seinem Mund, als würden sie nicht mit seiner Stimmlage harmonieren und ihre Bedeutung irreversibel verzerren.

Auf das sengende Feuer hinabstarrend versuchte der Prinz der Winterlande das schmerzhafte Ziehen seines Magens zu ignorieren, dass beim Gedanken an das kommende Gespräch immer größere Ausmaße anzunehmen schien. Das Geständnis seines Gegenübers hatte ihn kein bisschen aus den Wolken fallen lassen. Dass Nalbich starke Gefühle für ihn hegte, zeigte sich allein schon an der Art, wie er seinen Namen aussprach. Nunsalam. Als wäre er ein Gott. Oder vielleicht sogar mehr als das. Schon bei ihrem ersten Treffen vor über einem Jahr hatte Nalbich ihn angesehen, als würde er in ihm seine Zukunft sehen. Ganz egal, wie distanziert Nunsalam sich ihm gegenüber auch verhalten hatte.

Das Feuer sandte ein brodelndes Knistern durch die drückende Stille und reflektierte ruhelos in des Prinzen Blick, als er diesen zurück auf Nalbich lenkte.

Dem jungen Mann war anzusehen, wie schwer es ihm fiel, seinen Hoffnungsschimmer aufrechtzuerhalten. Wüst stürzten ihm die schwarzen Locken in die Stirn, ehe er sich ebenfalls erhob, und Schritt für Schritt dichter an den Prinzen vor dem Feuer heranrückte. Eine kalte Brise der Außenwelt begleitete ihn dabei und manifestierte sich in einem kribbelnden Atemhauch auf Nunsalams Nacken. Dieser stierte fieberhaft in die Flammen. Er wusste nicht, was mehr wehtat: Nalbich das Herz brechen zu müssen oder sich ein weiteres Mal die Nichtexistenz seines eigenen ins Gedächtnis zu rufen.

Zögerlich legte Nalbich eine Hand an die Wange seines Freundes, lehnte sich vor und platzierte einen weichen Kuss auf dessen Lippen. Paradox. Der Geschmack ähnelte einer Mischung aus Schwermut, Desillusion und Zuversichtlichkeit. Wie ferngesteuert erwiderte Nunsalam die Zärtlichkeit. Es schien die einzige Möglichkeit zu sein, die beißenden Schuldgefühle aus seiner Magengegend zu vertreiben.

Der Kuss dauerte eine halbe Ewigkeit an und zog sich dabei wie ein Kaugummi in die Länge. Nalbichs Augen waren geschlossen, Nunsalams geöffnet. Als Ersterer sich endlich von Letzterem löste, warf er diesem den einen Blick zu, der dem Prinzen der Winterlande zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl gegeben hatte, gesehen zu werden, und der den Fluch seiner Wesensfremdheit für ein paar Sekunden in eine Gabe verwandelt hatte.

»So fühlt es sich an, verliebt zu sein.«

Als diese Worte aus Nalbichs Kehle stiegen, verzogen sich Nunsalams Lippen zu einem schmerzerfüllten Lächeln. Unbeholfen wand er sich aus der Umarmung seines Freundes, schob sich das weiße Haar hinter die Ohren und trat einen Schritt vor ihm zurück. Es schmerzte, seinen beinahe flehenden Blick zu erwidern, doch er zwang sich dennoch dazu. Das Grün Nalbichs Augen hatte allzeit Hoffnung versprüht, doch nun wirkte diese erschöpft. Die braunen Sprenkel um seine Pupille herum schienen immer weiter nach außen vorzudringen und dabei jegliches Leben ins Düstere zu tauchen. Als wäre ihre Beziehung nun wirklich dem Tod geweiht.

Das kalte Holz unter Nunsalams Füßen fühlte sich auf einmal wie brennende Glut an. Nervös benetzte er seine trockenen Lippen mit der Zunge und räusperte sich, um den bleiernen Kloß in seinem Hals zu vertreiben.

»Nicht für mich«, quälte er schließlich aus sich heraus.

Bitterlich fiel Nalbichs Antlitz in sich zusammen. Sein Mund öffnete sich, doch kein Laut drang aus seiner Kehle. Als könne er nicht glauben, was er da gerade gehört hatte, verwandelte sein hingebungsvoller Blick sich in ein ungläubiges Starren. Nunsalam zwang sich mit aller Macht dazu, dieses zu erwidern. Schuld, Angst und Wut überrollten ihn wie eine meterhohe Welle.

Wie hatte es nur so weit kommen können? Er hätte Nalbich nie das Gefühl geben dürfen, dass ihre Zusammenkunft für die Ewigkeit gedacht war. Hätte nie mit ihm zusammenkommen dürfen, wenn er doch von Anfang an gewusst hatte, dass der Versuch vergebens war und seine Gefühle ihm gegenüber einzig und allein auf Freundschaft basierten. Die tief verwurzelte Hoffnung auf den Eintritt des Unerwarteten und die Erfüllung seines angeborenen Bedürfnisses hatte seine Fähigkeit zur Rationalität verschleiert. Bis heute. Bis zu diesem Moment. Manche Grenzen sollte kein Mensch überschreiten dürfen. Es sollte ein Verbrechen sein, Personen auszunutzen und mit ihrer Liebe zu spielen. Doch dann wäre Kriminalität für Leuten wie Nunsalam die einzige Chance auf Glück.

Langsam, aber sicher brach die Erkenntnis über Nalbich herein, dass sein Freund nicht scherzte. Mit wässrigen Augen wandte er sich ab und biss sich indes so fest auf seine Unterlippe, dass diese zu bluten begann.

Verzweifelt rang Nunsalam nach Worten, die es vermochten, alles wieder gut werden zu lassen. Die die vergangenen Monate und all die Schmerzen ungeschehen machen könnten. Dabei wusste er doch, dass diese nicht existierten. Es war schließlich nicht das erste Mal, dass ein Herz an ihm zerbrach. Nalbichs Traum von einer glücklichen Liebe lag in Trümmern vor seinen Füßen und wurde von den knisternden Flammen des Kamins aus dieser Welt radiert.

Verbissen öffnete Nunsalam die Vorhänge und ließ seinen Blick unstet über die malerische Landschaft schweifen, die sich vor ihm erstreckte. Immer blühende Bäume, ein glitzernder vereister See, saftiges grünes Gras an den Wegesrändern und kunstvoll verzierte Tempel von unzähligen Eiszapfen besetzt. Wie immer menschenüberströmt. Wie immer lebhaft und voller Glanz. Wie immer viel zu unbekümmert für eine Welt wie diese.

Mit den Rissen, die sich beständig durch Nalbichs Herz zogen, wiederholte sich Nunsalams Schicksalsfluch ein weiteres Mal. War es nicht der Sinn des Lebens, dieses bei der einen Person zu verbringen, die einen Heimat fühlen lässt? Doch was, wenn diese Person gar nicht existiert?

Eine unangenehme Stille waberte durch den Raum und manifestierte sich in einer doppelten Seelenlast.

Nun endlich ging ein Ruck durch Nalbichs Körper. Seine Lippen formten sich zu Worten, die Nunsalam bis zu seinem Tod verfolgen sollten. Es waren die Worte eines zutiefst verletzten jungen Mannes, die vor allem deshalb so sehr schmerzten, weil sie in nichts als Wahrheit getaucht worden waren.

»Deine Eleganz verschleiert die Kälte, die deine Seele umgibt. Menschen, die nicht lieben können, sind dem Tod geweiht, denn das Leben hat für sie nichts als Schmerz zu bieten.«

Noch während Nalbich aus dem Gemach stürmte und die Tür lautstark hinter sich zu fallen ließ, füllten sich Nunsalams Augen mit Tränen. Nalbich nannte ihn herzlos und genau das war sein Problem. War es wirklich so abwegig, jemandem nahekommen zu wollen, nur nicht so nah; jemanden halten zu wollen, nur nicht nackt; und jemanden lieben zu wollen, als wäre es der letzte Tag auf dieser Welt?

Auch wenn Nunsalams Illusionen schon längst einer Utopie glichen, gab er nicht auf. Nach Nalbich kamen andere, viele andere, und mit jedem weiteren Mann und sogar der ein oder anderen Frau an seiner Seite schwand Nunsalams Hoffnung ein kleines bisschen mehr. Die meisten von ihnen lockte seine Schönheit, sein Reichtum oder seine Macht, und für die wenigen, die bei ihm blieben, weil sie ihn wahrhaftig liebten, wollte Nunsalams Herz partout nicht schlagen. Mit dem hochgepriesenen Konzept der romantischen Liebe glücklich zu werden, schien ihm unmöglich zu sein. Der Glaube an seine eigene Schuld wuchs in seinem Inneren zu einem tödlichen Virus, der seine Seele nach und nach ins Dunkle stürzen sollte.

War etwas falsch mit ihm, weil er nicht lieben konnte? Oder bildeten seine Farben lediglich einen zu überwältigenden Kontrast mit denen der anderen?

Nunsalam wollte nichts lieber, als den Lauf der Zeit aufzuhalten, um ein wenig Abstand von den Sorgen und dem Schmerz gewinnen zu können, die seine Existenz ihm bereiteten, und um in Träumen schwelgen zu können, die vermutlich niemals Realität werden würden. Träume von Liebe, Zweisamkeit und Heimatländern, davon, Glück in den Armen eines anderen zu finden und zum allerersten Mal seinem Leben einen wahren Sinn zu verleihen.

Ereignislos zogen die Jahre ins Land. Desillusionierten einen Geist, der ohnehin schon vor Desperation strotzte. Alles war wie immer. Und wie immer war nicht gut. Doch es konnte stets noch schlimmer werden. Am ersten Advent 1627 geschah es. Die Kugel mit dem Sand fing Staub. Seine Eltern starben in einem Feuer. Ein Attentat der Opposition. Nunsalam vergoss keine Tränen. Es war gegen seine Natur.

Der König ist tot, lang lebe der König. Die Siedler der Winterlande wurden nun von einem Herzlosen regiert. Einem Außenseiter. Jemandem, den sie nur mit Argwohn betrachteten. Und genauso betrachteten sie seinen weltabgewandten Führungsstil. Die Last auf Nunsalams Schultern wuchs und wuchs, und die Dämonen, die ohnehin schon in seinen Schatten lauerten, vermehrten sich rasend schnell. Schwer drückte sich die Krone in sein Haupt. Er hatte nie darum gebeten, sie zu tragen. Hatte es sich noch nicht einmal gewünscht.

Unzählige Stunden verbrachte der mittlerweile siebenundzwanzigjährige Nunsalam alleine am Fuße des von Eis überzogenen Sees, mit Blick auf den Tempel, der nun ihm gehörte. Keine Freude, nicht einmal Stolz, erfüllte ihn bei dieser Gewissheit. Es gab so viel Wichtigeres auf der Welt, als Schönheit, Reichtum oder Macht. Beobachten zu müssen, wie alle um ihn fühlen durften, was ihm selbst meilenweit entfernt zu sein schien, tat mehr weh, als eine bloße Wahrnehmung wehtun sollte.

Es war das erste Weihnachtsfest in Abwesenheit seiner Eltern. Selbst sein Lieblingstag war zu einem Trauerspiel geworden. Die gläserne Kugel mit dem schwebenden weißen Sand in seinen Händen zerbrach an dem Druck seiner Finger. Die Scherben gruben sich in seine verletzliche Haut, doch der König der Winterlande starrte nur auf den weißen Sand, der das Gras bedeckte. Der Anblick hatte etwas Unvergleichliches, etwas Ehrerbietiges. Bis er von seinem Blut befleckt wurde.

Den Rücken an den Stamm des Baumes gelehnt, unter dessen Schatten allein er sich sicher fühlte, ging Nunsalam still seinen Gedanken nach. Als ein Windstoß das Weiß der Blüten von den Ästen fegte, ließ er ein paar von diesen sachte auf seinen Handflächen zur Ruhe kommen. War das Weiß dazu verdammt, immer erst zu fallen, bevor es Glanz und Herrlichkeit erfahren durfte? Die Hoffnung stirbt zuletzt oder sie folgt einem still und heimlich bis ins Grab. Wenn Liebe das schönste Gefühl der Welt ist, wie grausam waren die Götter dann, es Nunsalam zu verwehren?

Nunsalams Elend endete mit dem Brechen seines Genicks, als er sich von dem Dach seines Tempels gestürzt hatte und seine trocknenden Tränen in der Kälte des Winters zu Eiskristallen gefroren waren.

Sein Tod glich dem Ende einer tragischen Melodie, doch sein Vermächtnis dauert bis heute noch an. So wie er gefallen ist, fällt auch heute noch der Schnee vom Himmel und taucht die ganze Welt des Winters in die kalte Farbe glitzernder Eleganz. Unzählige Denkmäler seines traurigen Schicksals werden weltweit aus dem Weiß geformt, einsam und vergänglich, für Nunsalam, den Schneemann.

NACHWORT

In meinem mittlerweile fast zwanzigjährigen Leben haben mir schon zwei Personen gesagt, dass sie mich lieben. Eine Beziehung und mehr Dates, als ich zählen kann, zum Trotz, kann ich mit fester Überzeugung versichern, dass ich noch nie verliebt war. Nicht einmal ansatzweise, und doch gibt es nichts auf dieser Welt, nach dem ich mich mehr sehne, weil ich sehe, wie sehr meine Mitmenschen aufblühen, wenn sie Liebe für jemanden empfinden. Auch wenn meine Hoffnung noch nicht gänzlich erloschen ist, bezweifle ich, dass ich je einen Menschen finden werde, zu dem ich mich wahrhaftig hingezogen fühle, dem ich uneingeschränkt nahe sein möchte und den ich schlicht und einfach liebe.

Das ist die traurige Wahrheit. Meine Wahrheit. Nunsalams Wahrheit. Und die Wahrheit von unzähligen anderen Menschen auf dieser Welt, die sich auf dem Spektrum der Aromantik und / oder Asexualität befinden.

Wir sind die Außenseiter einer Gesellschaft, die von Liebe, Sex und Leidenschaft dominiert wird, und finden selbst in der queeren Community oder der Repräsentation in Medien kaum Beachtung, weil unsere Liebesform die einzig unsichtbare ist. Man könnte fast meinen, wir würden gar nicht existieren.

Doch dem ist nicht so. Wir existieren. Und wir sind nicht allein. Auch wir haben eine Chance auf Glück und ein erfülltes Leben. Und das dürfen wir nie vergessen.

Wusstest du schon . . .?

… DASS KÜHE BESTE FREUNDE HABEN?3

2019 konnten Forscher*innen herausfinden, dass Kühe häufig eine andere Lieblingskuh haben, mit der sie am liebsten Zeit verbringen. Das zeigt sich unter anderem durch gemeinsames Essen, nebeneinander Schlafen und gegenseitiges Ablecken. Außerdem wurde herausgefunden, dass Kühe, die sich im realen Leben kennen, sich gegenseitig auf Fotos wiedererkennen können.

Schon irgendwie süß. :)

… DASS DREIFARBIGE KATZEN ALS »GLÜCKSKATZEN«

BEZEICHNET WERDEN?4

Dreifarbige Katzen gelten als Glücksbringer. Aber was ist das Besondere an ihnen?

Was selten ist, ist kostbar. Und da dreifarbige Katzen schon immer eine Seltenheit waren, galten sie auch als besonders wertvoll. Von 3000 geborenen Glückskätzchen, ist lediglich eines männlich. Also noch seltener, als eine dreifarbige Katze, ist ein dreifarbiger Kater.

… DASS TAUBEN LESEN KÖNNEN?5

Klingt unglaublich verrückt, ich weiß.

Gut, »lesen« ist vielleicht auch etwas übertrieben. Tatsächlich sind Tauben aber in der Lage zu lernen, Wörter von Nicht-Wörtern zu unterscheiden. In Anbetracht dessen, dass sich Tauben-Gehirne sehr von Menschen-Gehirnen unterscheiden, ist das schon eine beeindruckende Leistung.

3https://www.peta.de/themen/kuehe/ ( Stand 08.10.22)

4https://tobalie.com/de/magazin/haustierkauf/glueckskatzen

5https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Tauben-koennen-menschliche-Woerter-lesen-303770.html (Stand: 08.10.22)

JENNIFER ROUGET

Die alte Dame

Ich widme diese Geschichte allen Weihnachtsgrinches, die sich insgeheim trotzdem auf Weihnachten freuen.

SEPTEMBER

Durch die dünnen, schmucklosen Wände ihrer Wohnung vernahm sie die ersten Weihnachtslieder. Ihre Nachbarn waren dieses Jahr früh dran. Wenn Frau Wolf und ihr Sohn doch wenigstens gerade Töne herausbrächten …

Zugegeben, auch in den Einkaufsläden konnte man schon zwischen Schokokugeln und Lebkuchen wählen. Sobald man einen Laden betrat, umgab einen der Duft von Mandeln, Bratapfel und Zimt. Nicht mehr lang und die Straßen brauchten bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr beleuchtet werden, wurden sie doch durch blinkende Lichterketten und grässliche Plastikschneemänner in den Vorgärten erhellt. Jeder würde sich aus heiterem Himmel seines entfernten Cousins oder anderer sonst verhasster Verwandtschaft erinnern. Man würde sich gegenseitig umgarnen, zeigen wollen, welch angenehmer Mensch man doch war. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass ungefähr zwanzig Prozent der Spendenaktionen zur Weihnachtszeit stattfanden.

Widerlich. Das musste man sich mal vorstellen!

Als könnte man sich elf Monate wie Ebenezer Scrooge verhalten, um dann durch eine Spende zum Heiligen zu werden.

Lächerlich.

Sollten die Leute lieber das ganze Jahr an das Gute sowie ihre Mitmenschen denken. War es denn wirklich so schwer, zum Hörer zu greifen, um die nahen Verwandten anzurufen? Ein »Hallo, wie geht es dir?« war doch nicht zu viel verlangt!

Ächzend griff die alte Dame zur Fernbedienung und stellte die Tagesschau lauter. Kein anderer Ton außer der ihres Bildschirms war zu vernehmen.

Dieses Gejaule von nebenan musste sie nun wirklich nicht ertragen. Sollte sich doch die ganze Stadt aneinander erfreuen. Sich gegenseitig übertrumpfen in Weihnachtsgedichten, Plätzchenessen oder anderen Narrheiten.

Sie hatte das nicht nötig.

Ein fesselnder Krimi, eine Tasse Tee und ihr Kater Hector würden reichen. Mehr brauchte sie auf ihre letzten Tage nicht. Zärtlich streichelte die alte Dame über das graue Fell des Katers, der es sich auf ihrem Schoß gemütlich gemacht hatte.

» … Nun folgt für Sie Anja Liemann mit dem Wetter«, ertönte es aus dem Fernseher.

Miau. Miauuu.

Am nächsten Morgen stupste Hector die alte Dame sachte mit der Nase an und holte sie aus ihren Träumen. Seine Schnurrhaare kitzelten sie an der Wange. Schlaftrunken streichelte sie ihren pelzigen Mitbewohner und wurde mit einem leisen Schnurren belohnt.

Plötzlich ließ sie das Schrillen der Klingel zusammenzucken. Wer konnte das nur sein?

Ein Blick auf den roten Wecker zeigte, dass es kein Lieferant oder Postbote sein konnte. Die kamen selten vor zehn in ihre Straße. Die Ziffern bewiesen deutlich, dass es acht Uhr in der Früh war. Vorsichtig hob sie ihren Kater hoch und strich die Decke zur Seite. Ihre Beine vom Bett hebend, zog sie sich ihren Bademantel über. Geübt suchte die alte Dame nach ihrem braunen Gehstock. Selbst dieser war wie sie: pragmatisch und ohne unnötigen Schnickschnack.

Ding Dong. Ding Ding Dong.

»Ja, ja, so gedulden Sie sich doch«, fauchte die alte Dame in Richtung Wohnungstür.

Ihre Finger schlossen sich um die Gehhilfe, die ihr beim Aufrichten half. Was vor wenigen Jahren problemlos funktionierte, trieb ihr mittlerweile Schmerzenstränen in die Augen. Die verdammte Arthritis war schlimmer geworden. Wie so oft zu dieser vermaledeiten Jahreszeit! Winter, Schnee und Kälte würden bald hinzukommen.

Wer konnte das schon mögen?!

Ächzend schob sie sich Zentimeter für Zentimeter durch ihre Wohnung. Aus dem Schlafzimmer hinaus, vorbei an der Küche, immer näher zur Haustür. Ihr Stock machte bei jedem Schritt ein lautes Klack, wenn sie ihn auf dem Boden absetzte. Es war ein beständiges Begleitgeräusch und verlieh jedem Gang etwas Vertrautes.

Ding Dong. Ding Ding Dong.

»Was?« Wütend riss sie die Tür auf. Ihre zu Berge stehenden grauen, kurzen Haare, gepaart mit ihrer unordentlichen Aufmachung waren sicher alles andere als einladend. Dazu der fast boshafte Tonfall, der ihrem Gegenüber sofort zeigte, wie ungelegen ihr sein Erscheinen kam.

»H-h-hallo, Frau Schneider. W-w-wir haben … « Der eingeschüchterte Junge vor ihr sah sich nach seiner Mutter um, die ihm beruhigend die Hand auf die Schulter legte. Die alte Dame schätzte ihn um die fünf Jahre. Wenn der Nachbarsjunge weiter so stotterte, würde sie niemals erfahren, wieso die beiden sie störten.

»Was? Was wollt ihr?« Jedes Wort wurde mit einem Klopfen ihres Stockes untermalt. Ihre Ungeduld spiegelte sich in ihren Zügen wider.

»Frau Schneider, bitte entschuldigen Sie unsere Störung. Wir haben gestern gebacken und mein Sohn Henry wollte Ihnen freundlicherweise ein paar Kekse vorbeibringen.«