Winterwaldträume - Cinnamon Society - E-Book

Winterwaldträume E-Book

Cinnamon Society

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Beschreibung

Ein Adventskalender der besonderen Art Gemütliche Abende mit einer Tasse heißer Schokolade am Kamin, abenteuerliche Schneewanderungen und fröhliche Weihnachtsfeste. 24 Autorinnen und Autoren haben all ihr Herzblut in diese Kurzgeschichtensammlung gesteckt, die dich in eine Welt voller Magie und Plätzchenduft entführt. Vielfältige Extras und winterliche Illustrationen runden den Weihnachtszauber ab. Perfekt für einen Abend vor dem geschmückten Tannenbaum, während dicke Schneeflocken hinter den Fensterscheiben auf den Boden fallen und die Welt in ein Winterwunderland verwandeln. Um weiteren Menschen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, werden 100% des Erlöses an das Kinder- und Jugendhaus Runkel in Deutschland gespendet. Gemeinsam können wir auch dieses Jahr Herzen erwärmen und Wunder vollbringen!

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Seitenzahl: 489

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Playlist

RAIN – Tony Ann

Into the Unknown – Idina Menzel & Aurora

Underneath the tree – Kelly Clarkson

Bridge Over Troubled Water – Simon & Garfunkel

What I Miss Most – Calum Scott

I Lived – One Republic

Probier’s mal mit Gemütlichkeit – Edgar Ott

Herr Inspektor – Seiler und Speer

I Got You – Bebe Rexha

Snowman – Sia

Secret Love Song, Pt. II – Little Mix

The Rose – Ola Gjeilo

All I Want For Christmas Is You – Mariah Carey

Frost – Gabriel Ólafs

HERE (For Christmas) – Lukas Graham

Together We Are Free – Andreas Kübler

I’ll be home – Meghan Trainor

Christmas Lights – Coldplay

Ho Ho Ho – Sia

The Power of Love – Frankie Goes To Hollywood

I’ll be home for Christmas – Frank Sinatra

Till Forever Falls Apart – Ashe, FINNEAS

Weitere winterliche Songs

Wir haben den Winter überlebt – JEREMIASYou Make It Feel Like Christmas – Gwen Stefani, Blake SheltonChristmas (Baby Please Come Home) – Chris YoungRun Run Rudolph – Luke BryanThis Christmas – Maddie & TaeWinter Wonderland – Dean MartinEveryday Is Christmas – Sia Carol of the Bells – John WilliamsO Holy Night – John WilliamsPlease Come Home For Christmas – Jon Bon JoviDo They Know It’s Christmas? – Band AidThank God It’s Christmas – QueenMistletoe – Justin BieberPuppies Are Forever – SiaChristmas Without you – Ava MaxEs schneit – Rolf ZuckowskiGloria in excelsis Deo (Hört der Engel helle Lieder) – Rund- funk-Kinderchor BerlinIn der Weihnachtsbäckerei – Rolf ZuckowskiEs ist für uns eine Zeit angekommen – Rolf ZuckowskiHappy Xmas (War is Over) – John LennonLieber guter Weihnachtsmann – Rolf ZuckowskiI’ll Be Home – Meghan Trainor

Inhalt

Vorwort

Unsere Autor*innen

Unsere Helferlein

Über unser Spendenziel

Hinweis: Content Notes

TÜRCHEN 1

REZEPT Mandeltraum – Florentiner

Jace Moran

Aeolus

TÜRCHEN 2

Katharina Spring

Schatten zwischen uns

TÜRCHEN 3

POESIE Wenn ich eine Schneeflocke wäre

Alyssa Westensee

Ewigwinter

TÜRCHEN 4

Jennifer Rouget

Heiße Schokolade und Schneegestöber

TÜRCHEN 5

Petra (Piet) Baar

Zwei Täubchen, die sich küssen

REZEPT Omas Kartoffelsalat

TÜRCHEN 6

POESIE Eine Einladung von Weihnachten

Carlos Goldschmidt

Alte Freunde

TÜRCHEN 7

Josephine Panster

Das kleinste Weihnachten der Welt

TIPP Unsere liebsten Weihnachtsfilme

TÜRCHEN 8

Ursina Laura

Von Nordlicht und Immer-Feuer

TÜRCHEN 9

POESIE Fest der Hoffnung und der Liebe

Ulrike Asmussen

Irgendwo im Nirgendwo

TÜRCHEN 10

POESIE Erinnerungen im Schnee

Nadine Koch

Der Flügellose Dieb

TÜRCHEN 11

Elena König

Bittersüße Weihnacht

TÜRCHEN 12

POESIE Kalte Tage

Cansu Gökkaya

Santa in Not

TÜRCHEN 13

Carolin Neumann

Zimtplunder

REZEPT Zimtplunder à la Bernard

TÜRCHEN 14

Lizzy Waters

Sternenstaub

TÜRCHEN 15

POESIE Ballett

Charlene Seebe

Der Fluch der Eishexe

TÜRCHEN 16

REZEPT Pflaumen-Schmand-Schnitten

Sandy Schramm

I don’t care about the presents

POESIE Herz der Stadt

TÜRCHEN 17

Karolina Stauber

Die Essenz des Winters

TÜRCHEN 18

Julia S. Oltmanns

Mein langer Weg zurück zu dir

TIPP Geschenkideen

TÜRCHEN 19

POESIE Adventstagsfrieden

Mia-Sophie Matzke

Das Fest im Schneeflockenwald

REZEPT Karamellkuss

Türchen 20

POESIE Frostige Nacht

Anne Lützler

Spuren im Schnee

Türchen 21

POESIE Warten am Weihnachtsabend

Lara Pichler

Satan auf Schlittenfahrt

TÜRCHEN 22

POESIE Wo Liebe zerspringt

Kristina Butz

Heiligabend 1973

REZEPT Gewürz-Torte

TÜRCHEN 23

POESIE Das Licht der Weihnacht

Marlene Seifert

Heiligabend im Krankenhaus

TÜRCHEN 24

A. S. Schoepf

Tausend leuchtende Herzen

Content Notes

Danksagung

Über die Cinnamon Society

Über die Gründerinnen

Vorwort

Fröhliche Winterwaldträume!

Bevor wir zu den stimmungsvollen Texten kommen, ein paar kleine Informationen, die wir euch nicht vorenthalten möchten: Die ehrenamtlichen Mitglieder konnten im Namen der Cinnamon Society bereits über 4500 € für wohltätige Zwecke in Österreich, Deutschland und der Schweiz spenden. Die Cinnamon Society wurde im Oktober 2021 von Anja Schöpf und Lara Pichler ins Leben gerufen. Gemeinsam mit 46 weiteren Autorinnen und Autoren und vielen weiteren fleißigen Händen im Hintergrund, arbeiten wir seit einigen Monaten an ihrem neuesten Projekt »Winterwaldträume – Geschichten der verschneiten Jahreszeit«.

Gefunden haben wir uns durch die Liebe zum Schreiben und den Willen, Gutes zu tun, um anderen eine Freude zu bereiten. So durfte jeder von uns unglaublich tolle Menschen kennenlernen und in eine Community voller Schreibbegeisterter einsteigen.

Wie bei all unseren Büchern wird der Erlös gespendet. Dieses Mal gehen sämtliche Einnahmen an das Kinder- und Jugendhaus Runkel in Deutschland.

»Winterwaldträume« ermöglicht es uns, vielen Menschen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Auch du hast mit dem Kauf dieses Buches dazu beigetragen!

Jetzt wünschen wir ganz viel Spaß beim Schmökern in unserem Winterbuch und herrliche Stunden voller Schneeflocken und der einen oder anderen Leckerei vor dem Kamin.

Deine Cinnamon Society

Unsere Autor*innen

Jace Moran

Katharina Spring

Alyssa Westensee

Jennifer Rouget

Petra (Piet) Baar

Carlos Goldschmidt

Josephine Panster

Ursina Laura

Ulrike Asmussen

Nadine Koch

Elena König

Cansu Gökkaya

Carolin Neumann

Lizzy Waters

Charlene Seebe

Sandy Schramm

Karolina Stauber

Julia S. Oltmanns

Mia-Sophie Matzke

Anne Lützler

Lara Pichler

Kristina Butz

Marlene Seifert

A. S. Schoepf

Unsere Helferlein

Vielen Dank an alle, die Extras beigetragen haben.

Mareike Verbücheln

Alina Bec.

Über unser Spendenziel

Eine behütete Kindheit ist ein wichtiger Bestandteil des Lebens. Auch in Deutschland brauchen Kinder Schutz und Geborgenheit, welche die eigene Familie manchmal nicht erbringen kann.

60 – 90 % der Bevölkerung erleiden im Verlauf ihres Lebens mindestens ein Trauma. Ein sicheres Umfeld wirkt zur Verarbeitung von traumatisierenden Erlebnissen heilend.1

Viele wissen nicht, dass selbst in Deutschland Kinder leiden müssen. Zu viele Kinder haben eine schreckliche und teilweise durch Gewalt geprägte frühe Kindheit durchlitten.2

Gemeinsam mit dem Kinderhaus360 möchten wir dem entgegenwirken. Seit 1979 hat es sich das Kinder- und Jugendhaus in Runkel zur Aufgabe gemacht, traumatisierten Kindern wieder einen Sinn im Leben zu geben.

Das Kinderhaus sagt über sich selbst: »Wir geben unseren Kindern das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Wärme. Durch gezielte psychologische Unterstützung wird diesen Kindern bei der Vergangenheitsbewältigung geholfen. Wir wollen helfen, dass Wasser, Strom, Medikamente, Benzin und Kleidung sowie Betreuungspersonal, Ausbildung, Freizeitgestaltung und vor allem Lebensmittel für die Kinder zur Verfügung gestellt werden können.2

100 % des Erlöses dieses Buches wird an das Kinderheim360 in Runkel gespendet. Sowohl mit finanziellen Mitteln als auch mit Warenspenden möchten wir das Engagement der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen unterstützen und den Kindern ein behütetes Heranwachsen ermöglichen.

Genau deswegen möchten wir uns bei dir bedanken, denn auch du hast dazu beigetragen, dieses Ziel zu erreichen!

Und jetzt wünschen wir dir ganz viel Spaß beim Lesen unserer vielfältigen winterlichen Geschichten und vielleicht denkst du beim nächsten Kaminfeuer an uns und genießt es mit einer Tasse heißer Schokolade noch viel mehr.

1 Kessler, R.C., Sonnega, A., Bromet, E., Hughes, M., Nelson, C.B. (1995). Posttraumatic stress disorder in the National Comorbidity Survey. Arch Gen Psychiatry. 1995 Dec; 52(12): 1048-60.

2https://kinderheim360.de/ueber-uns

Content Notes

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Buch enthält Geschichten mit sensiblen Themen und potenziell triggernden Inhalten. Eine Liste dazu findet ihr auf Seite 400.

Achtung: Diese Liste enthält Spoiler für die jeweiligen Geschichten im Buch.

Wir wünschen euch allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Cinnamon Society

Lara Pichler

Mandeltraum – Florentiner

Kuchenglasur / Schokolade für die Glasur

1 dl Rahm

50 g Butter

100 g Zucker

2 EL Honig

100 g Mandelblättchen / Mandeln geraspelt

50 g Mandelstäbchen

50 g Orangeat und Zitronat gemischt

3 EL Mehl

1. Blech mit Backpapier belegen und Backofen auf 200 °C Unter-/Oberhitze vorheizen.

2. Rahm, Butter, Zucker und Honig unter ständigem Rühren aufkochen und dann die Temperatur runterdrehen. Mandeln, Orangeat-Zitronat und Mehl beifügen und mischen, bis die Masse kompakt wird.

3. Während die Masse noch warm ist, auf dem Blech zu kleinen Kreisen ausstreichen und flach drücken.

4. Florentiner im unteren Teil des Ofens 10–12 Minuten backen und dann auf dem Blech auskühlen lassen.

5. Auf ein zweites Backpapier stürzen und oberes Backpapier abziehen.

6. Glasur nach Packungsangabe im Wasserbad flüssig werden lassen und die Florentiner damit bestreichen. Trocknen lassen.

Jace Moran

Aeolus

Schimmer und Schatten wechseln sich in Windeseile ab, tanzen in wirren Funken durch die Luft und tauchen den Raum in ein wildes Durcheinander aus Dämmerung und blinkenden Lichtern. Der Glanz der Weihnachtsdekoration und das Flammenmeer des knisternden Kamins blasen die Finsternis der schneeverhangenen Nacht mit spielerischer Leichtigkeit fort, während der Christbaum – ein Wunder für sich – in allen Farben erstrahlt, die diese Welt zu bieten hat.

Mit geschlossenen Augen lausche ich den goldenen Klängen der klassischen Musik und speichere ihre Akzentuierungen tief in meinem Herzen ab. Sanft und unaufdringlich legen sie sich wie warme Schwingen um meinen Körper. Alles fühlt sich mit der Zeit ganz einfach an. Als könnte ich fliegen, getragen von der sanften Melodie und dem ruhigen Takt des Liedes.

Flatternd öffnen sich meine Lider. In den Spiegeln meiner Seele sammeln sich Tränen, bis die aufgestauten Seen meine Wangen in Sturzbächen herabströmen. Langsam breitet sich eine Gänsehaut auf meinem Körper aus. Draußen tobt der Schnee, doch das Heulen des Windes, das Wirbeln der Flocken und die Kälte der nächtlichen Düsternis dringen nicht bis zu meinem Verstand vor. Ohne die geringste Mühe gelingt es der Musik, mein Herz zu erwärmen. Genau wie ihrem Künstler selbst.

Aeolus gleicht einem jungen Gott, hinabgestiegen in die Welt der Irdischen, um diese in ein himmlisches Paradies zu verwandeln. Nichts und niemand kann ihm das Wasser reichen. Unwiederbringlich ist er in der Musik versunken und geht vollkommen darin auf. Seine Hände, sein Haupt, sein ganzer Körper bewegen sich im Rhythmus der Reverie. Wie er dort sitzt, auf seinem schwarzen Hocker vor dem Flügel, die wehenden Vorhänge und das tosende Schneegestöber in seinem Rücken – dieser Anblick allein vermag es, alle Gedanken aus meinem Kopf zu fegen und meinen Puls beständig schneller schlagen zu lassen. Zischend sprüht der Kamin Funken, doch Aeolus lässt sich von deren Knistern nicht beirren. Er sitzt einfach da und spielt Klavier, als wäre er nur dafür geboren worden, mit ebenjener Leichtigkeit, die einen wahren Künstler ausmacht.

Mein Blick ruht auf ihm, unerschütterlich. An das üppig befüllte Bücherregal gelehnt stehe ich da, zu meiner Rechten der funkelnde Christbaum, und kann kaum glauben, dass ich nicht träume. Noch nie ist es so schön gewesen, das Fest der Liebe und des Friedens zu zelebrieren.

Dieser Moment soll niemals ein Ende finden. Niemals.

Versonnen setze ich das Rotweinglas, dessen Inhalt den warmen Glanz der Lichterketten über meinem Kopf reflektiert, an meine Lippen und genieße, wie die süßliche Flüssigkeit meinen Rachen hinabgleitet. Kann es einen göttlicheren Augenblick geben als diesen?

Als Aeolus’ Finger die Tasten schließlich verlassen und das Tosen des Schneesturms, kombiniert mit dem Knistern des Kamins, die Klänge der Klaviermusik ablöst, muss ich erst einmal tief durchatmen, um mich zu sammeln. Mit dieser unendlichen Wärme in seinem Blick, durch die meine Knie stets wackelig werden, bleibt der Pianist dicht vor mir stehen und schaut mit einem angedeuteten Lächeln tief in meine Augen. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie er sich erhoben hat. Zu sehr bin ich in meinen Gedanken verloren gewesen. Nun aber, da er nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt ist, komme ich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Zu Aeolus.

Das Azurblau seiner Iriden erinnert mich an ein himmlisches Meer. An Harmonie, Vertrauen und Unendlichkeit. Mein Atem gerät ins Stocken und gleichzeitig wird das letzte verbliebene Fünkchen meines Verstandes ins Nichts fortgefegt. Es liegt an der Art, wie seine Mundwinkel angehoben sind, wie seine Augen nur meinetwegen zu funkeln beginnen, und wie er meinen Namen ausspricht:

»Eleazor.«

Ein Flüstern, nicht mehr. Und dennoch habe ich noch nie etwas Schöneres gehört. Meine Lippen öffnen sich, nur einen winzigen Spaltbreit. Wie gern würde ich ihm sagen, wie sehr mich seine Musik bewegt hat, wie seine Nähe mein Herz erfüllt, wie viel er mir bedeutet und wie glücklich es mich macht, an seiner Seite zu sein. Doch abermals bekomme ich es nicht hin, diese Worte auszusprechen. Es will mir einfach nicht gelingen, Laute zu bilden und diese zu Silben aneinanderzureihen. Doch irgendwann einmal werde ich es schaffen. Irgendwann. Irgendwie. Vielleicht. Ganz bestimmt.

Aeolus liebt mich. Jeder Faser seines Körpers ist das anzusehen. Ein Seufzer entweicht meiner Kehle, als er eine Hand an meiner Wange platziert und mit seinen feingliedrigen Fingern über den Bart an meinen Wangenknochen bis zu meinem Kiefer entlangstreicht. Er lehnt sich vor, so weit, bis sich unsere Körper berühren, bis unsere Lippen aufeinanderliegen und sein süßlicher Duft in meine Nase steigt. Bis alles um uns herum verschwimmt und auf einmal nichts anderes mehr existiert als unsere Zweisamkeit. Selbst die Schneeflocken scheinen nur noch in Zeitlupe auf die Welt herabzurieseln. Umgeben von Tannennadelduft und Wärmeschauern bringt gleißender Frieden meine Seele zum Leuchten.

Aeolus hat gesagt, dieses Weihnachten wünsche er sich nichts anderes als meine Liebe. Auch wenn ich kein reicher Mann bin: Was ich geben kann, ist mein Herz. Und das will ich ihm schenken, ihm meine Gefühle und Zuneigung offenbaren und sie ihm deutlicher werden lassen als je zuvor. Ich will ihn noch glücklicher machen, als er es sowieso schon ist, jetzt und in alle Ewigkeit, ihm klarmachen, dass er alles für mich ist und dass ich niemals wieder ein Leben ohne ihn führen will.

All das denke ich, für mich, im Stillen. Nicht weil ich es nicht aussprechen will, sondern schlicht und einfach weil ich es nicht kann. Meine Lippen sind versiegelt. Schon von der Stunde meiner Geburt an. Doch für Aeolus spielt das keine Rolle. Dass ich stumm bin, macht mich nicht mehr zu einem Außenseiter. Im Gegenteil. In der Nähe des Pianisten fühlt sich alles nach Heimat an, denn er ist der einzige Mensch auf diesem Planeten, der die Stimme meines Herzens wie Musik erklingen lassen kann. Das konnte er schon immer.

»Frohe Weihnachten, Eleazor.«

Laut hallt die Stimme meiner Liebe in der Stille wider.

Ich lächele, ich nicke, ich weine.

Frohe Weihnachten, Aeolus.

Katharina Spring

Schatten zwischen uns

02.12.2022

Menschen. Überall Menschen.

Ihre verschwitzten Körper kamen von allen Seiten auf mich zu, drängten mich hin, her, nach vorn und wieder zurück. Als würden sie alle einem Muster folgen, das ich nicht verstand. Hektische Diskussionen verbreiteten sich quer über den Weihnachtsmarkt. In fast jeder Ecke wurde Glühwein bestellt und Soßenkleckse von Ofenkartoffeln vermischten sich mit dem Kies auf dem Boden. Der stille Kampf um Geschenke führte zu rücksichtslosen Drängeleien.

Ich hingegen machte mich klein und schlängelte mich zwischen den Menschen hindurch. Ich musste hier weg. Die Umrisse der Menschen verschmolzen langsam zu einer grauen Masse, die mein Blickfeld komplett einnahm. Ich konnte nicht mehr klar sehen und meine Beine nur noch mit Mühe kontrollieren. Das Gemisch aus verschiedenen Weihnachtsliedern, Gelächter und hitzigen Unterhaltungen entfernte sich von mir, bis ich es irgendwann nur noch wie aus einem anderen Raum mitbekam.

Schwankend ließ ich mich an der Rückseite eines Verkaufshäuschens für Weihnachtskugeln nieder.

Ein, aus.

Ich konzentrierte mich auf die Luft, die kühl in meine Lungen strömte.

Ein, aus.

Ich achtete auf meinen ruhiger werdenden Herzschlag.

Ein, aus.

Ich fixierte einen Punkt zwischen den Wolken, in der Hoffnung, so das Drehen der Umgebung zu stoppen.

Ein, aus.

Ein, aus.

Ein, aus.

Endlich.

Unzählige Atemzüge waren mit den Minuten vergangen, doch allmählich hatte sich der Sturm in mir gelegt. Atmung, Herzschlag, Konzentration. Diese Strategie wirkte fast immer, wenn ich drohte, abzudriften oder die Kontrolle zu verlieren.

Ich hätte es wissen müssen. Dieser Ort machte alles noch schlimmer. Und doch war ich hergekommen. Hatte mir eingeredet, dass ich bereit dazu wäre. Trotz der Erinnerungen, die mich heimsuchen würden. Oder gerade ihretwegen.

Altbekannter Duft wallte mir entgegen, als ich zögerlich die dunkle Wohnung betrat. Es roch nach alten Stiefeln, Holz und einem Hauch von blumigem Parfüm. Gänsehaut überzog meine Arme. Nichts hatte sich verändert. Ich wandte mich zu dem Spiegel rechts von mir. Meine kurzen, schwarzen Haare klebten an meinem Kopf, meine Lippen waren spröde und meine eigentlich hell leuchtenden Augen wirkten finster und leblos. Mir war, als würde ich einer anderen Person ins Gesicht blicken. Eilig wandte ich mich wieder ab. Zu meiner Linken befand sich ein kleiner Beistelltisch, auf dem sich zahlreiche Briefe türmten. Sie waren fast alle an Leander S. adressiert, als würde ich hier noch leben. Fast automatisch hob ich eine Handvoll davon hoch. Rechnung, Werbung, Rechnung . . . Was war das?

Zitternd filterte ich einen braunen Umschlag aus dem Stapel heraus. Er war schwerer und größer als die anderen, sein Inhalt fühlte sich merkwürdig eckig an. Mein Blick wanderte zu der Stelle, an der eigentlich ein Absender stehen sollte. Nichts. Mir wurde heiß in mir machte sich eine ungute Vorahnung breit.

Zähne zusammenbeißend, klammerte ich mich an den Umschlag und bahnte mir, wie von selbst, den Weg ins Wohnzimmer. Dort ließ ich mich in den nächstbesten Sessel fallen. Mit meinem Finger fuhr ich zögerlich über die raue Oberfläche des Umschlags. Der Briefmarke nach zu urteilen, war er vor etwa einem halben Jahr aus Norwegen gesendet worden.

Norwegen . . . Das konnte kein Zufall sein.

Bestärkt in meiner Vermutung öffnete ich mit neuem Elan den Brief und lugte hinein.

Er war bis zum Rand gefüllt mit Papieren. Obwohl, Papier war da nur eines, bei dem Rest handelte es sich um . . . Polaroids? Ein ganzer Stapel von Fotos beanspruchte den Umschlag.

Schweiß trat mir auf die Stirn, als sich meine Vermutung bestätigte. Der Brief war von Leonora. Von der Frau mit den verträumten Augen und dunklem Haar. Der Frau, deren Worte wie Gedichte klangen. Der Frau, die nie ohne Kamera herumlief, und der Frau, deren Herz sich stets nach dem Unbekannten sehnte.

Intuitiv fischte ich eines der Fotos aus dem Kuvert. Es zeigte mich, wie ich mit strahlenden Augen auf dem Boden lag. Meine Wangen waren gerötet und glänzten vor Nässe. Der Moment des Fotos erfasste mich komplett. Mir war, als könnte ich es wieder fühlen, wieder hören, dieses Damals . . .

03.12.2018

»Hey, lass das!«, tönte eine helle Stimme über den Platz. Es war Anfang Dezember, die Straßen waren zu dieser frühen Uhrzeit beinahe menschenleer. Vom Himmel fielen dicke Flocken. Die aufgehende Sonne tauchte die weiße, alles umhüllende Deckein ein zartes Rosa. Leonora und ich waren extra früh aufgestanden, um die Morgenstunden für uns zu haben. Die Nacht hatte den ersten Schnee dieses Winters mit sich gebracht und es war, als würde die Welt den Atem anhalten.

Unvermittelt traf mich ein Schneeball. Es war die Revanche dafür, dass ich vorhin auch einen abgefeuert hatte. Abrupt drehte ich mich zu Leonora. Ihre Augen funkelten. Ihr Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern und ihr schadenfrohes Grinsen veranlasste mich dazu, einen weiteren Schneeball zu formen. Mein Blick verfing sich in ihrem, der grüne Mantel betonte ihre Augen. Als hätte sie mir gerade nicht zugeschaut, versteckte ich den Ball hinter meinem Rücken und näherte mich ihr. Doch bevor ich mit meiner Hand ausholen und loslassen konnte, zog sie zu meiner Überraschung eine zweite Kugel hervor und zielte auf mich. Meine gefütterte Jacke wehrte den Aufprall gut ab, trotzdem verstand ich diesen Wurf als klare Kriegserklärung. Lachend klatschte ich ihr meinen Schneeball entgegen.

Die Sonne stand nun höher am Himmel und ließ die Schneedecke glitzern. Leonora und ich lagen schnaufend auf dem Boden, unsere Klamotten waren durchnässt und die Schneeballschlacht vorbei. Wir waren glücklich.

Ich drehte mich zu ihr und unsere Blicke trafen sich. Wie von einer unsichtbaren Kraft ergriffen, setzte sich Leonora mit einem Mal auf und grinste mich an. Da war es wieder, dieses schelmische Funkeln in ihren Augen. Das Lächeln auf meinen Lippen wurde breiter und breiter. In dem Moment, als es fast zu meinen Ohren hoch reichte – zumindest fühlte es sich so an – machte es plötzlich Klick. Als Antwort auf meine hochgezogenen Augenbrauen wedelte sie mit ihrer Polaroid-Kamera und steckte sich kurz darauf das Foto in ihre Tasche.

»Das brauche ich noch«, meinte sie nur.

Ich hatte es nicht zu Gesicht bekommen.

Und nun ließ ich genau dieses Bild auf den Tisch fallen. So stark hatte mich eine Erinnerung lange nicht mehr getroffen. Ich schüttelte mich. Meine Hand suchte nach Unterstützung, irgendetwas zum Festhalten, und entschied sich letztendlich für die Tischkante. Allmählich wurde meine Sicht wieder klarer und die Kulisse der Kleinstadt im Schnee löste sich auf.

Was war das eben gewesen? Ich hatte es wieder vor mir gehabt. Nun war es weg. Da, wo einst Lachen, Strahlen, Umarmungen und verliebte Blicke gewesen waren, klaffte nun ein Loch. Es schien mich von innen zu zerfressen, wann immer ich daran dachte. Aber ich brauchte diesen Schmerz. Er war wie eine Droge. Der einzige Weg, solche Momente erneut zu erleben.

Automatisch griff meine Hand wieder in den Umschlag. Das nächste Bild zeigte Leonora. Sie war in einen sterngemusterten Schal und eine dazu passende Mütze gehüllt. Vor sich hielt sie eine dampfende Tasse heißer Schokolade, als würde sie für das Titelbild eines Hochglanzmagazins posieren. Ich hatte das Foto geschossen, das erkannte ich sofort. Denn das, was nach diesem Schnappschuss passiert war, war wie der Anstoß einer Dominokette gewesen.

14.12.2018

»Jingle Bells«, »Let it Snow!« und »Last Christmas« untermalten die schönen Stunden auf dem Weihnachtsmarkt. Aus jeder Ecke schallte Gelächter, Menschen hielten sich an den Händen und an den kleinen Verkaufshäuschen, die mit funkelnden Lichterketten geschmückt waren, wurden reichlich Geschenke und Essen gekauft.

»Komm, lass uns dorthin gehen!«, rief mir Leonora zu. Sie zeigte aufgeregt hüpfend auf einen neuen Stand, der sich Weihnachtswärme nannte. Er war rot bemalt und dekoriert mit Tassen und Gläsern. Das Besondere war, dass alle Verkäufer verkleidet waren. Obwohl es sich um die typischen Billigkostüme handelte, die man in jedem zweiten Laden kaufen konnte, war es doch eine nette Abwechslung.

Ich folgte Leonora, deren Bestellung bereits von einem Elfen aufgenommen wurde, denn die Kälte zog auch mir inzwischen Gänsehaut über.

»So, zwei heiße Schokoladen für das nette Pärchen«, kündigte der Weihnachtsmann wenig später an. Seine Mütze verdeckte seine buschigen Augenbrauen fast komplett, doch sein Blick, der einen Tick zu lange auf Leonora ruhte, entging mir nicht. Mir kam es vor, als würde ein eiskalter Wind von dem Mann ausgehen, gegen den die Wärme des Kakaos reichlich wenig nützte. Jedoch schien es meine Freundin nicht zu bemerken, also nahm ich sie nur demonstrativ in den Arm, warf Santa einen warnenden Blick zu und führte sie weg von dem Häuschen. Von ihr erntete ich nur ein Stirnrunzeln. Ich schüttelte den Kopf – wahrscheinlich war ich einfach nur paranoid – und zog zur Ablenkung die Kamera aus ihrer Tasche.

Klick, schon war das Foto gemacht. Zumindest ein schiefes Grinsen konnte ich ihr entlocken. Normalerweise übernahm sie nämlich die Paparazzi-Rolle.

Als wir genug Wiederholungen von »Jingle Bells« gehört hatten, machten wir uns auf den Heimweg.

Wir standen vor unserer Haustür, ich wippte ungeduldig auf und ab, während Leonora in ihrer Tasche kramte. Plötzlich nahm ich eine Bewegung aus meinem Augenwinkel wahr. Abrupt fuhr ich herum und sah nur noch die Silhouette einer Person in den Büschen verschwinden. Kurz darauf hatte Leonora die Schlüssel gefunden, doch bevor ich die Tür hinter mir schloss, warf ich noch einen letzten Blick hinter mich.

Sollte ich mich nicht getäuscht haben, hatte die Person eine Weihnachtsmütze getragen . . .

Mein Kopf war heiß geworden, das Atmen fiel mir schwerer und ich spürte das Blut in meinen Adern pochen. Ich bildete mir manchmal immer noch ein, von einem unheimlichen Schatten verfolgt zu werden. Ab und zu kam es mir vor, als würde etwas hinter mir rascheln oder sich bewegen. Doch natürlich war es mein Kopf, der mir unaufhörlich Streiche spielte. Ich hasste es, wenn so etwas passierte. Unter anderem, weil ich mir verbot, an die Vergangenheit zu denken. Trotzdem lauerte sie mir immer wieder auf . . .

12.01.2019

Ein Schluchzen durchbrach das Schweigen der Nacht. Es fuhr wie ein Blitz in mein Herz und hinterließ eine verbrannte Stelle. Mit einem Ruck setzte ich mich auf und blickte mich um. Recht erfolgreich war ich nicht, da sich gleich darauf ein betäubender Schwindel in mir breitmachte. Den Schlaf aus meinen Augen reibend, versuchte ich, die Umgebung genauer wahrzunehmen. Vor mir ein Fernseher, rechts und links jeweils ein Ohrensessel. Ich lag im Wohnzimmer, war höchstwahrscheinlich beim Filmschauen auf der Couch eingeschlafen. Zu meiner Linken registrierte ich ein Wimmern. Es kam von Leonora. Verdammt.

Ohne nachzudenken, ließ ich mich neben sie fallen. Ihre großen, tränengefüllten Augen fanden die meinen und ich umschloss ihren bebenden Körper.

»Hey, alles gut, ich bin da. Alles gut«, begann ich sanft.

Nur ein Schluchzen als Antwort.

»Bist du okay? Was ist los? Ich bin jetzt da, du bist nicht allein«, redete ich weiter auf sie ein.

»Manchmal fühle ich mich aber so«, kam es undeutlich von ihr zurück.

Diese Aussage war wie ein Stoß vor den Kopf. Mir wurde flau im Magen und ich musste schwer schlucken. Verwirrt und immer noch schlaftrunken hob ich meinen Kopf und blickte sie fragend an. »Wie meinst du das? Du weißt, dass ich dich liebe, ja?«

»Das ist es nicht, also irgendwie schon, aber ich . . . Ach, es ist kompliziert . . . «

»Ich habe Zeit. Ich werde dir zuhören.«

Zuerst brachte Leonora nur lückenhafte Sätze hervor, doch als ich meinen Griff um ihre Hand verstärkte, platzte plötzlich alles aus ihr heraus. Sie begann zu erzählen, von ihren Ängsten, nicht genug zu sein. Dass sie es satthabe, immer das perfekte Mädchen zu spielen, das sie nicht war. Und dass sie Angst habe, mich zu verlieren, wenn sie ihr wahres Ich zeigte. Sie redete davon, sich selbst und noch dazu ihre Polaroid-Kamera verloren zu haben.

»Ich werde noch wahnsinnig. Ich sehe Schatten, fühle mich auf Schritt und Tritt verfolgt. Verdammt, was ist falsch mit mir?«

Ihr tränenüberströmtes Gesicht prägte sich in mein Gehirn ein. So aufgelöst hatte ich sie selten gesehen, so Hilfe suchend. Sie hatte sich mir anvertraut, mir einen Teil ihrer Gefühle gezeigt. Ich wusste nicht, wie groß dieser Teil war. War es vielleicht nur die Spitze des Eisbergs? Es zerstörte mich, einen Menschen, den ich so sehr liebte, so am Boden zu sehen. Alles, was ich sagen wollte, brachte ich nicht heraus. Ich konnte es nicht in Worte fassen. In der angespannten Stille hing all das Ungesagte. Also zog ich sie bloß näher an mich heran.

»Ich liebe dich«, flüsterte ich in ihre Haare.

31.01.2019

Du wirst mir gehören, war die letzte Zeile des zweiseitigen Briefs, den ich zitternd zu Boden fallen ließ. Ich hatte nicht mehr die Kraft, ihn zu halten. Mir gegenüber saß Leonora, an die der Brief gerichtet war, ihre Gesichtsfarbe war so weiß wie die Wand. Mein Magen fühlte sich an, als müsste ich mich übergeben. In dem absenderlosen Brief hatten zu viele Informationen gestanden, als dass ich sie sofort verarbeiten konnte . . .

Leonora hatte ihre Kamera nicht verloren. Das machten die im Kuvert beigelegten Polaroid-Fotos deutlich, die sie allein oder uns zusammen zeigten.

Leonoras Kamera war gestohlen worden.

Leonora hatte sich die Schatten nicht eingebildet.

Auf jedem Schritt war sie verfolgt worden.

Sie war in Gefahr, weil jemand sie liebte. Doch war es Liebe oder Besessenheit?

Ich war in Gefahr, weil ich sie liebte. Weil ich sie wirklich liebte.

Unsere Liebe war in Gefahr.

Oder sie löste diese aus.

Das zu realisieren, machte mich fertig.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Ich wollte reden, über den Brief sprechen, doch ich bekam nur ein nachher und dieses nachher kam nie. Ich bemerkte selbst plötzlich so viel Arbeit, so viele Punkte auf meiner ToDo-List, dass ich mich mehr und mehr zurückzog. Der Brief hatte in uns beiden etwas verändert, und das schmerzte. Irgendwann ging Leonora aufs Revier, Anzeige gegen unbekannt, den Namen des Stalkers wussten wir nicht. Wir hatten beide nur Schatten wahrgenommen, Fremde verdächtigt. Ich wollte sie auch darauf ansprechen, doch ich konnte nicht, mein Gehirn blockierte.

Leonora und ich sprachen kaum ein Wort, lebten gemeinsam, doch aneinander vorbei.

Bis sich eines Tages alles schlagartig wandelte. Ich saß an meinem Schreibtisch, sortierte meine Gedanken und alte Papiere. Plötzlich hörte ich ein Räuspern. Ich fuhr herum, doch es war nur Leonora, die im Türrahmen stand. Die blasse Farbe ihres Gesichts war geblieben, ihre Augen wirkten seltsam wässrig. Mein Bauchgefühl flüsterte mir zu, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Energie zwischen uns war anders. Wir standen uns so nahe, doch etwas hatte sich verändert, etwas distanzierte uns.

Leonora holte Luft. »Leander, ich – «

Mein Herz sackte nach unten. »Bitte nicht«, wisperte ich.

»Du sollst wissen . . . Verdammt.« Ein Schluchzen entfuhr ihrer Kehle.

Ich sprang auf und eilte zu ihr, doch sie hielt mich auf Distanz.

»Es war echt. Immer. Von Tag eins an habe ich dich immer . . . immer geliebt. Ich kann es kaum glauben, dass ich jetzt hier so stehe und . . . und . . . « Ihre Stimme brach. Flüsternd fuhr sie fort: »Es ist nicht deine Schuld, glaub mir. Aber ich . . . ich kann nachts nicht mehr schlafen, ich fühle mich unsicher, beobachtet. Die Schatten . . . sie haben mir schon zu viel weggenommen. Uns. Obwohl wir uns lieben. Vielleicht . . . vielleicht ist das einfach nicht mehr genug.« Sie wandte ihr Gesicht zu Boden.

Der Abstand zwischen uns schien mir plötzlich unüberwindlich zu sein. Alles, was ich glaubte zu haben, wurde kilometerweit in die Luft gesprengt, so auch die Hoffnung, dass sie es sich noch anders überlegen würde. Verschwommen nahm ich ihre weiteren Worte auf.

»Ich muss weg. Ich halte es hier nicht mehr aus. Bitte . . . Es ist zu unserem Besten.« Schließlich überwand sie die Distanz und fiel mir in die Arme. Die Umarmung war die schmerzvollste, die ich jemals erlebt hatte.

»Ach ja, und . . . das hier wollte ich dir noch geben«, nuschelte sie zwischen den Tränen und reichte mir ein Polaroid-Bild. »Das ist das erste Bild, das ich jemals von dir gemacht habe.«

Draußen war es längst dunkel geworden. Ich hatte das Licht in meiner Wohnung noch nicht eingeschaltet, nur der Schein einer Straßenlaterne fiel auf die Fotos, die ich immer und immer wieder durchging. Das war gegen mein Vergangenheitsverbot und holte alles wieder hervor, was ich nie verarbeitet hatte. Es tat so weh, riss Wunden wieder auf und nährte sich an meinem Schmerz. Mit jeder Wunde wurde auch das Verlangen größer. Doch es war nicht nur Leiden. Irgendwie fühlte es sich auch . . . befreiend an. Als dürfte ich die Gefühle endlich fühlen, als wäre es okay.

Die meisten Fotos hatte ich durch, doch da war eine Sache, vor der ich mich den ganzen Abend gedrückt hatte. Ich schloss die Augen, atmete ein, wieder aus und griff nach dem Papier, das ganz hinten im Umschlag ruhte. Es war mit schwungvoller Schrift gefüllt, die nur einer Person gehören konnte. Nach all den Jahren kannte ich ihre Schrift noch in- und auswendig. Zögerlich strich ich über die Zeilen und kämpfte gegen die Tränen an. Es waren ihre Worte. Sie hatte sich die Zeit genommen, mir etwas Persönliches zu schreiben. War ich bereit, das zu lesen? Meine Augen wanderten zum Anfang:

Leander Wie lange ich diesen Namen schon nicht mehr geschrieben habe.

Wie sehr ich es vermisse.

Vorab: Mir geht es gut. Besser. Ich bin in Norwegen, wie du vielleicht schon gesehen hast. Wir wollten hier immer gemeinsam herkommen, weißt du noch? Na ja, jetzt sitze ich hier.

Du glaubst nicht, wie unheimlich schön es hier ist. Es ist wie Aufatmen. Ich liebe es, die Nordlichter zu sehen, ewige Spaziergänge zu machen (und ein Bonus: Man kann mit sich selbst reden, ohne angestarrt zu werden). Hier gibt es die verschiedensten Typen von Menschen, doch die meisten sind sehr herzlich. So auch die Person, die mir aus meiner damaligen Situation geholfen hat.

Du fragst dich, warum ich dir diesen Brief schreibe? Nun, ich weiß es selbst nicht genau. Aber was ich weiß: Die Schatten sind weg. Es war nicht nur der Stalker – ja, ich sage es frei heraus –, sondern zum Teil auch meine Psyche.

(Übrigens: Falls du mir antworten willst, auf der Rückseite eines Fotos steht meine Adresse, ich wollte sie nicht auf den Umschlag schreiben. Weckt miese Erinnerungen.)

In der Zeit der Schatten war ich gefangen.

Ich habe dir wehgetan und das tut mir unendlich leid.

Doch damals habe ich in meinem Wahn nicht realisiert, wie sehr die Schatten auch dich zerstörten. Mein Herz sehnte sich nach dir und schrie mich gleichzeitig an:

»Er liebt dich nicht.«

»Du wirst nicht geliebt.«

»Du wirst niemals frei sein.«

Doch weißt du was? Es hatte unrecht. Damals habe ich dich geliebt und du mich auch.

Jetzt bin ich frei. Ich kann wieder atmen. Ich hoffe, dir geht es ähnlich.

Es ist jetzt drei Jahre her. Weihnachten war immer etwas Besonderes für uns. Es waren die Kleinigkeiten im Alltag, ein paar Beispiele:

die Schneeballschlachtendie Spaziergängedie Weihnachtsmarktbesuchedas Schlittschuhlaufendas gemeinsame Filmeschauendeine heiße Schokoladeder Keksduft am Morgender Tag im Jahr, an dem wir den Duft unseres Lufterfrischers endlich auf Zimt umstellen konnten

So viele kleine Dinge, die ich bis heute vermisse. Dich vermisse ich auch. Ich weiß, es ist unmöglich von mir, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, und es ist auch nicht mal Weihnachten. Doch heute bin ich durch die Straßen spaziert und habe in einem der Schaufenster eine Polaroid-Kamera entdeckt.

Ich weiß nicht, ob du auch so empfindest wie ich.

Ich weiß nicht, wie es dir geht.

Ich weiß nicht, ob du das jemals lesen wirst.

Doch ich vermisse dich. Und das klingt extrem kitschig, aber deine Augen und dein Lachen fehlen mir.

Vielleicht bin ich verrückt, eine hoffnungslose Romantikerin oder einfach nur realitätsblind.

Vielleicht aber hoffst du auch, dass es irgendwann mal wieder ein uns geben wird.

Du wärst der, mit dem ich am liebsten die Nordlichter beobachten würde.

Leonora

Meine Augen waren mit Tränen gefüllt und diesmal hielt ich sie nicht zurück. Es fühlte sich gut an, alles zuzulassen. Alle Gedanken und Gefühle waren darin niedergeschrieben. Dann noch die Polaroids . . .

Ich hatte schon während des Lesens Stift und Papier gezückt. Ich würde meine Emotionen nicht in mich reinfressen, nicht dieses Mal. Noch war der Zettel leer. So viel Platz für mein Innerstes, so viele Möglichkeiten. Noch war alles offen. Ich genoss sie für einen Moment, die Ungewissheit, dann setzte ich meinen Stift an:

Liebe Leonora,

Nadine Koch

Wenn ich eine Schneeflocke wäre . . .

Wenn ich eine Schneeflocke wäre, würde ich im Winde tanzen, den Morgen begrüßen, fröhlich auf die Welt fallen und glücklich auf deinen Lippen zergehen.

Doch weil ich keine Schneeflocke bin, tanze ich in deinen Armen, begrüße dich jeden Morgen, falle dir um den Hals, und zerfließe in deinen Blicken.

Alyssa Westensee

Ewigwinter

Der eisige Wind warf sich mit ganzer Macht gegen die dicke Holztür und riss sie aus Eiras Hand, sodass sie gegen die Wand schlug. Wind und Schnee drangen in das Kaminzimmer, bissen mit scharfen, kalten Zähnen um sich. Die junge Frau kämpfte gegen den Schneesturm an, der mit ihr das Haus betreten wollte.

Der Lärm riss Großmutter Rivka aus ihren Träumen und sie schreckte aus dem Sessel vor dem Kamin hoch. Verwundert erblickte sie ihre Enkelin und den ungebetenen Gast mit der Tür ringen. Auch Mutter Nanette war aus der Küche geeilt, hielt den Kochlöffel noch in der Hand.

Der Schneesturm stemmte sich gegen die Tür, wollte sich nicht aussperren lassen. Dennoch konnte Eira Schnee und Eis Einhalt gebieten und sie wieder verschließen. Nun schlug der Sturm seine frostigen Fänge und Klauen wütend in das Holz, aus dem das Haus gebaut war, erzürnt über seine Niederlage.

»Bist du in Ordnung, mein Schatz?«, fragte Nanette besorgt.

Zitternd legte Eira ihre Handschuhe und den Wintermantel ab, hängte sie auf einen Haken neben der Haustür und stellte ihre Stiefel auf eine Matte. Ihre Kleider waren durchnässt. Der Schneesturm hatte so lange an ihnen gezerrt, bis er schließlich auch die unterste Schicht ihrer Kleidung durchdrungen hatte. Der frostige Kuss des Windes hatte ihrem Gesicht jegliches Gefühl genommen, es war weiß wie der Schnee selbst, ihre sonst so rosigen Lippen blau.

»Ja. Mir ist nur sehr kalt.« Ihre Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander, während sie den Boden vor der Tür mit einem Tuch trocknete. Die Großmutter stand von dem Sessel auf und ging zu Eira, die noch damit beschäftigt war, die Spuren des Schnees aufzuwischen.

»Komm, setz dich erst mal und iss etwas Warmes.« Rivka strich über das feuchte Haar ihrer Enkelin.

»Alles gut. Ich mache das noch eben fertig.« Eira nahm die nassen Sachen und brachte sie in die Waschküche zum Trocknen, wusch sich die Hände und folgte der Wärme in das Kaminzimmer zurück. Sie war erschöpft, wollte etwas warmes Essen. Doch es war nicht ihre Art, etwas anzufangen und es dann nicht zu Ende zu bringen.

Eira setzte sich an den gedeckten Esstisch, an dem Großmutter Rivka bereits Platz genommen hatte. Die Anstrengungen des Arbeitstages und Heimwegs fielen allmählich von ihr ab. Aus der Küche kam die Mutter mit einem großen Topf Pilzsuppe, die verführerisch dampfend ihren Duft im ganzen Raum verbreitete. Sie stellte den Topf in die Mitte des Esstisches und füllte das Essen auf. Ihrer Tochter gab sie eine besonders große Portion, damit sie zu Kräften kommen konnte. Besorgt sah sie in ihr Gesicht, sah die Erschöpfung darin. Eira bedankte sich und aß den ersten Teller Suppe hastig leer, gierig nach der Wärme. Sie konnte nicht abwarten, dass ihr endlich wieder warm wurde.

»Vielleicht solltest du vorerst nicht mehr in der Bibliothek arbeiten . . . «, begann Nanette vorsichtig das Gespräch.

»Du weißt, dass es mein größter Traum ist, dort zu arbeiten«, Eiras braune Augen funkelten, so wie sie es immer taten, wenn sie sich für etwas einsetzte, das sie liebte, »soll der Schnee noch so toben und wüten, ich werde ihm trotzen!«

Rivkas lachte leise auf. Sie liebte ihre Enkelin für ihren Starrsinn und ihre Leidenschaft.

»Ach, mein liebes Enkelkind, dein Eifer könnte eines Tages sogar diese verfluchten Lande retten!«

»Bestärke sie doch nicht noch!«, mahnte Nanette mit strenger Miene, »der Sturm wird immer gefährlicher und breitet sich weiter aus. Ich denke, wir sollten dieses verfluchte Reich verlassen und Zuflucht in den Ländern weiter südlich finden. Ewigwinter ist doch schon längst verloren.«

Eira und Rivka starrten Nanette an, als hätte sie etwas Verbotenes ausgesprochen. Etwas, das schon lange wie die Schlinge eines Galgens über ihnen schwebte und sich nun um ihre Hälse legte.

»Wir können hier nicht weg! Ewigwinter ist doch unsere Heimat, Ewigwinter ist ein Teil von uns!« Ärger kam in Eira auf. Ihre Großmutter hatte ihr von klein auf beigebracht, Ewigwinter zu schätzen und zu lieben. Selbst jetzt, da der Sturm auch über ihrem Haus lag, liebte sie das Reich bedingungslos.

»Eira hat recht. Wir sind hier geboren . . . «

»Und wir werden hier sterben, wenn wir nicht gehen!« Nanettes Worte nahmen den gesamten Raum ein. Es war nur noch das wütende Tosen des Sturms zu hören.

»Der Schnee . . . «, fuhr Nanette mit zitternder Stimme fort, »hat mir erst meinen Vater und dann meinen Mann genommen. Und ich werde nicht zusehen, wie er mir auch noch meine Tochter nimmt.«

Rivka senkte den Kopf. Schwer wog das Gesagte, schwer wog der Verlust.

Wortlos stand Eira auf und ging die schmale Treppe hinauf, die auf den Dachboden führte, der ihr als Zimmer diente. Sie schloss die Bodenluke mit einem lauten Knall. Im ganzen Haus hörte man den Schneesturm seine Wut in die Welt hinausschreien.

Spät in der Nacht ging Eira hinunter in das Kaminzimmer. Wenn es einen Streit gab, saß Rivka in dem Sessel vor dem Kamin und wartete, bis sich ihre Enkelin zu ihr gesellte und sich beschwichtigen ließ. Eira setzte sich neben ihrer Großmutter auf den Boden und legte ihren Kopf an deren rechtes Knie. Ihre Großmutter hatte sie schon immer am besten verstanden und schenkte ihr zu jeder Zeit ein offenes Ohr.

»Großmutter, müssen wir wirklich fort?« Besorgt starrte sie in die lodernden Flammen, die ihren feurigen Tanz aufführten und Schatten an die Wände warfen.

»Unser Zuhause wird von Schnee bedeckt. Ich fürchte, wir werden unter ihm begraben, wenn wir nicht gehen. Der Fluch wird letztendlich das ganze Reich verschlucken.«

Eine Weile schwiegen sie und sahen den tanzenden Flammen zu, während ihre Gedanken kreisten.

Eira tippte unruhig mit den Fingern auf den Boden. »Ich habe in der Bibliothek nach Informationen über die Geschehnisse von damals gesucht, als die Schneeprinzessin Ewigwinter verfluchte, doch ich konnte kaum etwas finden. In all den Büchern wurde ausschließlich von der Schönheit des Reiches berichtet. Wie konnte es dazu kommen, dass es nun von einem Fluch verschluckt wird? Ich verstehe das einfach nicht.« Sie schaute von den Flammen auf und sah fordernd in das Gesicht ihrer Großmutter, die dem eindringlichen Blick nicht standhalten konnte. Stumm wandte sie sich ab.

»Die Alten des Reiches schweigen«, fuhr Eira fort, »so lange schon. Es scheint, als wollten sie die Wahrheit begraben. Doch der Schnee wird uns verschlingen, noch bevor die Zeit das Geheimnis mit sich nehmen kann. Was ist damals geschehen?«

Rivka seufzte. Sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, ihrer Enkelin die Antwort vorzuenthalten. Sie würde nicht eher ruhen, bis sie es wusste.

»Also gut, ich werde dir erzählen, was damals geschah. Früher gab es eine große Stadt im Herzen Ewigwinters, die vollständig aus Schnee und Eis geschaffen war. Als nördlichstes Land lag hier schon immer das ganze Jahr über Schnee, aus dem die Gebäude der Stadt gebaut wurden. Die Mauern der Häuser waren kunstvoll verziert, die ganze Stadt war eine Hommage an den Schnee.« In Großmutter Rivkas Stimme lag ein Hauch von Stolz. »Dennoch war die Schönheit dieser Stadt nur bei den Einwohnern Ewigwinters bekannt. Außer den Menschen, die hier geboren wurden, verirrte sich selten jemand in unser kleines Reich. Die Menschen der südlichen Länder hatten kein Interesse an dem ewigen Schnee und fürchteten sich vor dessen Macht. Weißt du, das Leben zu dieser Zeit war einfach, wenngleich auch hart. Doch die Bürger liebten den Schnee und das Eis, liebten die Stadt und das Leben, das sie daraus erschufen.« Rivka lächelte leicht, als sie die schönen Erinnerungen wiederaufleben ließ.

»Allerdings liebte niemand das Land mehr als die Tochter des letzten Königs von Ewigwinter, Prinzessin Ginevra. Oft fand man sie in der Stadt, wie sie die Gebäude bewunderte und wenn es schneite, tanzte sie mit den Schneeflocken auf dem Marktplatz. Sie war eine hübsche junge Frau mit langem schwarzem Haar, ihre Augen waren blau wie Eis und ihre blasse Haut erinnerte an Schnee. Deswegen nannten wir sie auch unsere Schneeprinzessin. Sie freute sich sehr über diesen Beinamen und trug diesen mit Stolz. Auch ihr Vater liebte den Namen an ihr und so schenkte der König ihr eine Kette mit dem Anhänger einer Schneeflocke, die sie niemals ablegte.« Rivka machte eine Pause, ließ sich einen Moment von den Erinnerungen treiben.

»Doch verglichen mit den Ländern weiter südlich war Ewigwinter ärmlich. Damals, ich war achtzehn Jahre alt, so wie du es jetzt bist, wohnte ich mit meinen Eltern am Rande der großen Stadt. Eines Tages wurde verkündet, dass die Prinzessin mit einem Prinzen der südlicheren Länder verheiratet und somit ein wichtiges Bündnis für den Handel geschlossen werden würde. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, von der Vermählung zu hören. Und so erging es vielen Bürgern, denn mit der Hochzeit hätte sich Ewigwinter an ein größeres Reich binden müssen. Wir hätten unsere Unabhängigkeit aufgegeben, die wir uns seit Jahrhunderten bewahrt hatten. Prinzessin Ginevra war untröstlich, dass eine Vermählung ihr die Zukunft, die sie sich für Ewigwinter erträumte, nehmen würde. Sie stand dem Volk sehr nahe, hatte stets ein offenes Ohr für die Sorgen der Leute. Mit den Bürgern zusammen wollte sie die Liebe zu Ewigwinters Schnee in die Welt tragen, damit die Leute in unser Reich kommen würden, um seine Schönheit mit eigenen Augen zu sehen.«

»Ewigwinters Schönheit mit eigenen Augen sehen können . . . «, murmelte Eira in Gedanken versunken, »ja, das wäre schön . . . «

Großmutter Rivka strich sanft über das dunkelbraune Haar ihrer Enkeltochter.

»Gerüchten zufolge sollte die Vermählung so schnell wie möglich vonstattengehen, da der König wohl sehr krank geworden war und er die Verantwortung der Herrschaft über ein ganzes Reich, sei es auch noch so klein, nicht auf seine Tochter allein übertragen wollte. Wenige Wochen nach der Verlobung besuchte der Prinz, dem Prinzessin Ginevra versprochen war, Ewigwinter. Die meisten von uns waren ihm gegenüber argwöhnisch, denn die Hochzeit sollte gegen das Einverständnis unserer geliebten Schneeprinzessin geschehen. Doch er brachte Geschenke für die Bürger aus den fernen Landen mit. Seltene Köstlichkeiten und feine Stoffe, Kostproben eines besseren Lebens, das auf einmal so nah war. Diese zogen die zuvor misstrauischen Leute auf die Seite des Prinzen. Meine Eltern und ich gehörten zu den Wenigen, die auch fortan skeptisch blieben.« Schmerz blitzte in Rivkas Augen auf und ein Hauch von Bitternis nahm ihr altes und sonst so liebevolles Gesicht ein.

»In den folgenden Tagen versuchte Prinzessin Ginevra vergebens, die Bürger davon zu überzeugen, dass Wohlstand auch aus eigener Kraft möglich sei und dass wir dafür kein Bündnis mit einem anderen Reich bräuchten. Sie machte sich Sorgen, dass Ewigwinter von dem größeren und einflussreicheren Land ausgebeutet und verschlungen werden würde.«

Eira sah eine Träne über die Wange ihrer Großmutter laufen. Behutsam nahm sie die vertraute Hand in ihre eigene, drückte sie leicht an ihr Gesicht.

»Während die Vorbereitungen für die Hochzeit getroffen wurden, ereilte Ewigwinter eine Tragödie. Unser geschätzter König verstarb und das ganze Reich trauerte. Noch am selben Tag trat Prinzessin Ginevra auf der Bühne des Marktplatzes vor die Bürger. Man sah ihr den Schmerz des Verlustes an, ihre Augen wirkten so traurig und sie lächelte nicht, wie sie es sonst immer tat. Dennoch um Fassung bemüht teilte sie uns mit, dass sie die Regentschaft über Ewigwinter antreten und dass unser Reich unabhängig bleiben würde. Ein Raunen ging durch die Menge und schnell waren laute Proteste zu hören. Die Prinzessin versuchte die Leute zu beruhigen, doch ihre Stimme ging in den lauter werdenden Rufen unter. Da trat der Prinz der südlichen Lande auf die Bühne und bat um Stille.« Rivka presste ihre Lippen zusammen und Eira erblickte das erste Mal in ihrem Leben Wut im Gesicht ihrer Großmutter.

»Er sagte, dass die beiden Reiche zusammen zu gemeinsamen Wohlstand hätten kommen können und dass allein Prinzessin Ginevras Stolz und ihr Starrsinn dem entgegenstünden. Während er dies sagte, schlich er langsam um die Prinzessin herum, die so fassungslos war, dass sie kein Wort hervorbrachte. Die ersten Leute fingen an, dem Gesagten laut zuzustimmen, bis sich ein ohrenbetäubendes Wirrwarr aus Zurufen auftat. Der Prinz hob die Hand und es wurde wieder still. In diese Stille hinein erdreistete er sich, die Leute zu fragen, ob es denn nicht besser wäre, wenn Ewigwinter nicht in Prinzessin Ginevras Händen läge, sondern in seinen. Da legte sich ein Schweigen über die Anwesenden, so schwer, so erdrückend. Es war, als hätten die Herzen aller Bürger gemeinsam einen Schlag ausgesetzt. Prinzessin Ginevra wandte sich flehend an uns, appellierte an die Vernunft und betonte, dass Ewigwinter, unser Zuhause, dadurch zerstört werden würde. Der Prinz unterbrach sie und sagte, er sei der Einzige, der uns etwas bieten könne. Immer mehr und mehr stimmten zu. Ich habe geschrien, sie sollen nicht auf die Lügen eines Fremden hereinfallen. Doch meine Stimme ging in dem Jubel unter.«

Nun flossen die Erinnerungen in vielen Tränen über Rivkas Wangen. Sie schluchzte, als würde das Geschehene sie genauso treffen wie damals. Eira stand auf, kletterte auf die Sessellehne und nahm ihre Großmutter in den Arm, bis sie sich wieder fassen konnte. Mit zitternder Stimme fuhr sie fort:

»Prinzessin Ginevra brach zusammen und weinte mit dem Gesicht in den Händen begraben, während der Prinz sich feiern ließ. Doch dann . . . «, Rivka brach ab und Angst breitete sich von ihren Schreck geweiteten Augen über den ganzen Körper aus, »erhob sich Prinzessin Ginevra mit gesenktem Kopf, und es wurde still, so unheimlich still. Sie sagte leise, dass sie es nicht zulassen könne, dass Ewigwinter in die Hände derer falle, die es zerstören würden. Langsam hob sie den Kopf. Hass verzerrte ihr schönes Antlitz und unbändiger Zorn starrte aus ihren sonst so liebevollen blauen Augen. Auf einmal tat sich ein starker Wind um die Prinzessin herum auf, ihr langes schwarzes Haar wehte wild in der Luft. Der Wind warf kleine Eiskristalle umher, die scharf in die Haut der Leute schnitten. Prinzessin Ginevra schrie, dass unser Reich einst aus dem ewigen Winter geschaffen wurde und Schnee und Eis seit Generationen unser Zuhause seien. Mit jedem Wort stürmte der Wind, der von ihr ausging, stärker, und ihr schwarzes Haar färbte sich nach und nach weiß. Mehr und mehr Eissplitter wirbelten umher. Der größte von ihnen traf Prinzessin Ginevra auf Höhe des Herzens in die Brust.«

Rivka verkrampfte sich, die Vergangenheit drohte, sie zu überwältigen. Eira nahm sie in den Arm und der Schmerz in Rivkas Herzen wich. Sie drückte sich einen Moment an ihre Enkelin. Dann atmete sie tief ein und aus, sammelte sich und erzählte weiter.

»Was dann geschah, war unfassbar: Die Prinzessin erhob sich in die Luft, ihre blasse Haut wurde gänzlich weiß und ihre Kleider formten sich aus Schnee neu. Ihre Augen glühten rot, als sie verkündete, dass ihr Zorn über den Verrat an ihrem geliebten Zuhause für alle Zeit zu einem Schneesturm werde, der Ewigwinter unter sich begraben werde. Der Wind, der die Prinzessin umgab, entfaltete sich zum Sturm. Eisige Böen und scharfe Splitter haschten nach den Bürgern, verletzten sie. Der Prinz und seine Dienerschaft wurden von Eiskristallen getroffen und zersprangen wie Eis. Die Kraft, die vom Wüten des Schneesturms ausging, war viel zu stark, um ihm standzuhalten, und so flohen die Leute aus der Stadt.«

Die Großmutter sah erschöpft zu Boden. Das alles nochmals zu durchleben, hatte sie viel Energie gekostet.

»Wir alle verloren von einem auf den anderen Moment unsere Heimat, viele verloren ihr Leben. Meine Eltern und ich fanden Zuflucht bei Verwandten in einem der Dörfer außerhalb der Stadt, wie die meisten, die Ewigwinter nicht aufgeben wollten. Doch über die Jahrzehnte hinweg mussten wir alle immer weiter zum Rande des Reiches ziehen und unsere Häuser bauten wir nicht mehr aus Schnee und Eis, sondern aus Holz, um dem Schneesturm zu trotzen. Viele der ehemaligen Einwohner der großen Stadt wollten Ewigwinter nicht aufgeben, weil sie hofften, dass der Zorn der Prinzessin irgendwann vergeht. Doch Scham und Schuld haben uns allen über die Jahre den Mund versiegelt, sodass sich die wahre Geschichte in Schweigen verlor.«

Eine drückende Stille entstand, die Ereignisse der Vergangenheit hielten die Gegenwart gefangen. Eira starrte in das schwächer werdende Feuer im Kamin, ließ das Gehörte in ihrem Kopf kreisen.

»Also ist sie noch dort.« Ihre Lippen schienen diesen Gedanken von allein zu formen.

»Was meinst du?« Rivka sah verwundert zu ihrer Enkeltochter. Als Eira ihren Blick hob, funkelten ihre Augen.

»Die Prinzessin. Sie ist noch in der Stadt.«

Noch vor der Morgendämmerung wachte Eira auf. Leise zog sie sich an und schlich nach unten in das leere Kaminzimmer. Sie legte Holzscheite auf das schwache Pulsieren der Glut und entfachte das Feuer neu, dann sah sie aus dem Fenster in die Dunkelheit, nur zerrissen von vorbei schnellenden Schneeflocken.

Das erste Licht des Tages kämpfte sich durch das tosende Weiß, als Eira ihr Frühstück beendet hatte und sich den dicken Wintermantel anlegte. Sie schnürte ihre Stiefel und atmete einmal tief ein und aus, als würde sie sich auf einen Kampf vorbereiten. Dann öffnete sie entschlossen die Tür. Sofort drängte sich der Schnee in das Zimmer, doch Eira schob sich aus dem Eingang und zog den Riegel mit aller Kraft in das Schloss. Sie atmete durch und sah dann vom Hügel aus, auf dem das Holzhaus stand, hinab Richtung Bibliothek.

Die nächtliche Unterhaltung mit Großmutter Rivka schlich sich in Eiras Kopf. Wie der Schneesturm, der sie umgab, fingen die Gedanken an, schneller und stärker ihre Bahnen zu ziehen, drohten sie zu fressen. Und auf einmal war Stille in Eira. Ein einziger Gedanke löste das Chaos, brachte Ruhe und Klarheit: Die Prinzessin ist noch in der Stadt.

Sie richtete den Blick gen Norden. Ihre braunen Augen funkelten, als sie dem von dort ausgehenden Sturm entgegensah. Zielbewusst lief sie los zur Stadt aus Schnee und Eis.

Der Sturm riss an Eira, riss an ihrer Kleidung, riss an Kopf, Rumpf und Gliedern. Der Schnee biss sich in ihr fest, biss in ihre Haut, biss sich fest in Gedanken, Herz und Seele. Der Sturm wollte nicht, dass sie sich weiter voran kämpfte, wollte nicht, dass sie sein Innerstes zu sehen bekam. Für jeden einzelnen Schritt musste Eira eine große Menge Kraft aufbringen. Und jeder weitere verlangte mehr als der vorherige. Der stetig fallende Schnee hatte sich in ihren Kleidern eingenistet und raubte ihrem Körper jegliche Wärme.

Ihr Wille hatte sie weiter getragen, als es ihre Beine allein je gekonnt hätten, doch nun ging Eira zu Boden, die Arme fest um sich geschlungen. Ihr war kalt, ihr war so entsetzlich kalt. Ihre Lunge brannte bei jedem weiteren Atemzug und ihre Glieder wurden taub. Immer wieder versuchte sie mit ganzer Kraft aufzustehen, doch ihr Körper gehorchte nicht mehr. Ihre Hoffnung und ihr Wille waren von Schnee und Eis davongetragen, ließen ihren Kopf und ihr Herz leer zurück. Sie war müde, so entsetzlich müde. Derweil glich ihr Gesicht dem farblosen Schnee, der sie nun verschlang. Das Tosen des Sturms wurde zu einem gellenden Triumphschrei, als Eira langsam ihre Augen schloss.

Vor ihrem inneren Auge sah sie Großmutter Rivka vor dem Kamin sitzen, wie sie Mutter Nanette am Trittwebstuhl Ratschläge gab, die die Webende gar nicht hören wollte. Eira selbst saß hinter ihnen am Esstisch mit einem Buch, las und lächelte. Das sind die schönsten Tage, dachte Eira, als die Bilder langsam verblassten. Kälte und Dunkelheit drückten sie nieder, entzogen ihr das Leben. Es wurde still in ihrem Inneren. Ein letztes Mal blitzten die Gesichter von Nanette und Rivka in Eiras Kopf auf und die Liebe zu ihnen in ihrem Herzen.

Da riss Eira die Augen auf, stemmte sich mühsam auf ihre Beine, erhob sich aus ihrem Grab aus Schnee. Sie wankte, fing sich und stand wieder fest auf beiden Füßen. Ein Feuer brannte in ihrem Herzen, brannte heiß und unaufhaltsam. Ihre Augen funkelten wild und sie schrie in den Sturm hinein, dass kein Schnee und kein Eis sie aufhalten könnten, für die Zukunft ihrer Familie und ihres Zuhauses zu kämpfen. Sie wollte den Sturm aufhalten, sie wollte den Fluch beenden und sie wollte zurück zu ihrer Familie. Das hier würde nicht ihr Ende sein.

Von ihrem Willen angetrieben, lief die junge Frau schnellen Schrittes ihrem Ziel entgegen. Der Sturm schlug seine Pranken nach ihr, warf sich mit aller Kraft auf sie, aber Eira lief einfach weiter. Sie spürte weder Kälte noch Erschöpfung, weder Schmerz noch Zweifel. Denn in ihr brannte die Leidenschaft und der Wille, an ihr Ziel zu kommen.

Und auf einmal durchbrach sie die Sturmwand und gelangte in das Auge des Sturms. Vor ihr standen kleine Häuser, deren Wände und Dächer vollkommen aus Schnee und Eis gefertigt waren. Eira holte tief Luft. Sie hatte es geschafft. Am liebsten hätte sie sich eine Pause gegönnt, doch sie war noch nicht am Ziel und wollte keine Zeit verlieren.

Hier war es fast windstill und keine Schneeflocke fiel vom Himmel. Eira betrat eine Straße, die sie zu den Häusern brachte. Verzierungen und Muster waren in die Wände geschlagen, ließen jedes einzelne Haus wie ein Kunstwerk aussehen. Staunend näherte sich Eira einem der Gebäude, zog ihre Handschuhe aus und fuhr mit den Fingern über die Ornamente, die es zierten.

Langsam ging sie weiter in Richtung des Palastes, dessen eisige Fassade die Strahlen der Sonne brach und das Licht über die gesamte Stadt verteilte. Eira passierte einige Straßen und Gassen, immer den Palast im Blick, der ihr den Weg wies. Ab und zu sah sie durch die Fenster der Häuser. Alles wirkte, als wären gerade eben noch Leute in der Stadt gewesen.

Endlich erreichte sie den großen Marktplatz, den Großmutter Rivka erwähnt hatte. Dann sah sie die Bühne, auf der eine Frau saß, die ihr Gesicht in den Händen vergrub. Ihre Haut, Haare und ihr bodenlanges Kleid waren schneeweiß und glitzerte im Licht der Sonne. Das muss die Schneeprinzessin sein, dachte Eira.

Vorsichtig näherte sie sich der Bühne. Auf halber Strecke konnte sie ein leises Wimmern vernehmen, das deutlicher wurde, je näher sie der Frau kam. Unbemerkt trat sie auf die Bühne und stand nun direkt hinter der Frau, die einst die Prinzessin dieses Reiches gewesen war, die Ewigwinter liebte. Die Frau, die einst verraten worden war, die Ewigwinter verflucht hatte.

»Prinzessin Ginevra?«

Das Weinen verklang und die Frau erhob sich langsam. Sie drehte sich zu Eira um, die nun in das schneeweiße Antlitz der Prinzessin sehen konnte und sich für einen Moment in ihrer Schönheit verlor. Dann erblickte sie den Eiskristall, der auf Höhe des Herzens aus Ginevras Brust herausragte. Die Prinzessin antwortete nicht, sie starrte Eira nur mit ihren leuchtend roten Augen an.

»Mein Name ist Eira«, sagte sie und versuchte das leichte Zittern ihrer Stimme zu unterdrücken, »ich bin zu Euch gekommen, um Euch zu bitten, den Fluch von Ewigwinter zu nehmen.«

»Ewigwinter wurde mit mir zusammen verraten. Die Bürger der Stadt haben den schnellen Wohlstand über den Schutz des Reiches gestellt. Sie haben Ewigwinter nicht so sehr geliebt, wie ich es tat. Lieber soll das ganze Reich von Schnee und Eis verschluckt werden, als von den Lügen und Versprechungen eines Fremden und jenen, die dem Glauben schenken.«

Ginevras Gesichtszüge blieben starr. Selbst als sie sprach, wirkte sie so kalt wie das Eis, aus dem die Stadt erbaut wurde.

»Es ist wahr, dass die Leute eine falsche Entscheidung getroffen haben, doch sie haben Ewigwinter geliebt. Sie lieben es noch immer!«

Zorn nahm das Gesicht der Schneeprinzessin ein, ihre Augen leuchteten bedrohlich auf. In der Ferne sah Eira, dass der Sturm an Stärke zunahm. Sie wusste durch den Kampf mit ihm, dass die Prinzessin gefährliche Kräfte besaß. Doch das ließ Eira nicht zurückweichen.

»Das sind nichts als Lügen! Sie haben sich gegen unsere gemeinsame Zukunft in Ewigwinter entschieden und nun ist es zu spät für Reue! Nie wieder wird es jemand wagen, Ewigwinter zu schaden. Soll es lieber im ewigen Schnee und Eis versinken. Mein Zorn wird alles sein, was von diesem Reich übrig bleibt!«