Käpt'ns Dinner - Gisa Pauly - E-Book

Käpt'ns Dinner E-Book

Gisa Pauly

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Beschreibung

Eine Familienzusammenkunft auf hoher See – was kann da schon schief gehen?

Das denkt sich Maria, als sie als Bordshop-Leiterin auf dem Kreuzfahrtschiff anheuert, dessen Kapitän ihr Bruder Lukas ist. Wenn sie beide schon zusammen in See stechen – warum dann nicht gleich die ganze Familie einladen? Während nach und nach die Verwandtschaft zusteigt, beschleicht Maria jedoch das Gefühl, dass das nicht die beste Idee war. Schließlich ging bei der letzten Zusammenkunft ein Familienmitglied über Bord. Und auch dieses Mal verschwindet ein Passagier spurlos ... Zwischen Kapitänsdinner und Landgängen, zwischen Sonnendeck und Innenkabine müssen sich Maria und ihre Familie mit so manchen Verwechselspielen, Missverständnissen und Geheimnissen konfrontieren. Und am Ende wird es richtig stürmisch an Bord der "Soleil" ...

Eine rasante wie amüsante Familienkomödie der SPIEGEL-Bestsellerautorin Gisa Pauly

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Seitenzahl: 946

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Das Buch

Emily stand da wie erstarrt, konnte den Blick nicht von den Lichtern nehmen, von den winkenden Menschen am Ufer, die nur noch schemenhaft zu sehen waren. Als hätte sie erst jetzt begriffen, was ihr bevorstand. Eine Weltreise!

Als das Kreuzfahrtschiff Soleil in See sticht, kann Emily Krug ihr Glück kaum fassen: drei Monate Weltreise! Doch die junge Frau ahnt nicht, dass dieses Abenteuer sie mitten ins Herz treffen wird. Jonas Liebermann ist ebenfalls an Bord, inkognito als Privatermittler. Für ihn könnte diese Reise regelrecht gefährlich werden, das weiß er. Was er nicht weiß, ist, dass es vor allem sein Herz sein wird, das in Gefahr gerät. Auch Kapitän Lukas Jantzen freut sich auf die Fahrt mit seiner geliebten Soleil. Dass seine Schwester Maria ein Familientreffen auf dem Schiff arrangiert hat, stimmt ihn allerdings etwas mulmig. Schließlich ist bei der letzten Zusammenkunft der Familie sein Schwager von Bord gegangen und für immer verschwunden … Maria Liebermann, Bordshop-Leiterin der Soleil und Hauptorganisatorin des Familientreffens auf dem Schiff, ist normalerweise bestens informiert und weiß Dinge, von denen die anderen Familienmitglieder keine Ahnung haben. Dass im Laufe dieser Reise jedoch wieder ein Mann verschwinden und ein Verbrecher geschnappt werden wird, sich verirrte Herzen finden und gleich mehrere lang gehütete Familiengeheimnisse ans Licht befördert werden, hat jedoch selbst Maria nicht ahnen können …

Die Autorin

Gisa Pauly hat zwanzig Jahre lang als Berufsschullehrerin gearbeitet, ehe sie das Unterrichten an den Nagel hängte und sich ganz dem Schreiben widmete. 1994 erschien ihr erstes Buch »Mir langt’s – eine Lehrerin steigt aus!«, darauf folgten zahlreiche Drehbücher und Romane. Mit den Sylt-Krimis über Mamma Carlotta erobert sie Jahr um Jahr die Bestsellerlisten und die Herzen der Leserinnen und Leser. Ihre historische Sylt-Saga rund um das »Fräulein Wunder« erklomm sofort die Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste und hielt sich dort monatelang. Gisa Pauly zählt zu den erfolgreichsten Autorinnen im deutschsprachigen Raum.

Gisa Pauly

Käpt’ns Dinner

Familienchaos ahoi

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 10/2024

Copyright © 2024 by Gisa Pauly

Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur unter Verwendung von © FinePic®, München

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31381-4V001

www.heyne.de

Dieses Buch ist ein Roman und kein Tatsachenbericht. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind rein zufällig.

Maria

Hamburg, 27.10.

»Siebenmal Gucci, achtmal Prada, sechsmal Armani!«

Nicht zu fassen! Weltreise-Kreuzfahrer hatten anscheinend andere Bedürfnisse als Eine-Woche-Mittelmeer-Kreuzfahrer oder Island-Kreuzfahrer, die entschlossen waren, in ihrem Urlaub vor allem zu frieren. Wie mir schien, bin ich ein bisschen weltfremd geworden während meiner Zeit im Kiosk der Fähre Kiel/Oslo, wo es meist nur um die Frage ging: Pommes mit Mayo oder Pommes mit Ketchup. Käppis mit dem Umriss der Fähre auf dem Schirm oder Halstücher mit den gängigsten Seemannsknoten waren da schon das Teuerste. Ich musste aufpassen, dass niemand merkte, wie wenig ich von Designermode verstand. Als Leiterin des Bordshops auf der Soleil sollte ich souverän sein. Da durfte ich mich nicht offen und vernehmlich darüber wundern, dass jemand viel Geld für ein Hemdchen von Armani ausgab, das im Hamburger Hafen für ein Zehntel zu haben gewesen wäre. Vielleicht nicht in derselben Qualität und natürlich ein No-Name-Produkt, aber wer schaute dabei so genau hin? Ich jedenfalls nicht.

Okay, ich hielt besser meinen Mund und packte die Kartons von Gucci, Prada und Armani aus und räumte die Klamotten ein. Sie würden vermutlich verkauft sein, noch ehe wir im ersten südamerikanischen Hafen eingelaufen waren. Kreuzfahrer hatten ja nichts Besseres zu tun. Weltkreuzfahrer erst recht nicht. Vier Monate lang nichts einkaufen? Das schaffte keiner. Und wer sich in meinem Bordshop blicken ließ, würde sehr aufmerksam bedient werden. Versprochen! Lukas sollte zufrieden mit mir sein. Das war ich ihm schuldig.

Lukas war echt ein guter Typ. Mein Bruder, ich war also nicht wirklich objektiv, aber alle fanden Lukas toll. Schon in der Schule war das so. Dabei war er nicht unbedingt ein schöner Mann, aber interessant, charmant und dadurch dennoch sehr attraktiv. Mit einer anderen Nase wäre vielleicht sogar ein richtiger Beau aus ihm geworden. Aber zum Glück war das bei Lukas so wie bei unserem Vater, der hatte auch einen kräftigen Zinken, sogar mit einem leichten Haken, und war trotzdem überall, wo Frauen auftauchten, Hahn im Korb gewesen. Wir Töchter, Barbara, Helene und ich, waren ja alle heilfroh, dass unser Vater uns seine große, schiefe Hakennase nicht vererbt hatte, wir wären damit vermutlich unglücklich geworden, aber die beiden Männer in unserer Familie hatten dadurch nichts an Attraktivität eingebüßt. Lukas erst recht nicht. Sämtliche Mädchen waren verrückt nach ihm gewesen, angeblich hatte es sogar eine der jungen Lehrerinnen auf ihn abgesehen. Kurz vor dem Abitur. Ob er auf ihre Avancen eingegangen war, wusste niemand. Nicht einmal ich. Lukas war da immer sehr verschwiegen.

Aber ehe nun männliche Leser vor Neid erblassen – so toll ist das gar nicht, von allen Frauen angeschwärmt zu werden. Denn was ist aus Lukas geworden? Kein glücklicher Ehemann, kein stolzer Familienvater. Er gehört zu den Männern, die mit über fünfzig immer noch ledig sind. Wenn die Auswahl zu groß wird, macht das die Entscheidung eben nicht einfacher. Nur ein einziges Mal war er bereit gewesen, sich auf eine Frau einzulassen. Aber ausgerechnet mit ihr hat es nicht geklappt. Warum nicht? Das habe ich ihn oft gefragt. Eine vernünftige Antwort hat er mir nie geben können. Wahrscheinlich weiß er es selbst nicht.

Mit meiner Schwester Barbara habe ich oft darüber geredet. Sie ist nämlich Expertin für Küchenpsychologie. Aber selbst in ihrem reichen Schatz an theoretischen Weisheiten hat sich nie etwas gefunden, was diese Sache erklärt hätte. Beim Gedanken an Barbara fällt mir ein … sie hat mir eindringlich geraten, regelmäßig in den Spiegel zu sehen. Dass ich das bloß nicht vergesse! Hier auf dem Schiff gibt es ja genug davon.

»Als Leiterin des Bordshops darfst du nicht aussehen, als hättest du gerade mit einem undichten Wasserhahn gekämpft und dabei den Kürzeren gezogen.«

Barbara kennt mich eben. Besser als Lukas. Zum Glück! Der kennt eigentlich nur Frauen, die stündlich den Sitz ihrer Frisur kontrollieren, stets ein Auge auf ihre Fingernägel haben und nie ohne ihre künstlichen Wimpern unter Leute gehen. Jedenfalls glaube ich das. Kann aber sein, dass ich ihm damit Unrecht tue. Für Lukas bin ich ja keine Frau, sondern nur seine Schwester. Sie verstehen, was ich meine? Ob ich attraktiv bin oder nicht, schick oder altbacken gekleidet, Make-up aufgelegt habe oder völlig ungeschminkt daherkomme, ist Lukas total egal. Jedenfalls war das bisher so. Aber nun bin ich ja die Leiterin des Bordshops auf der Soleil, auf seinem Schiff. Da könnte sich sein Standpunkt geändert haben. Ich muss achtgeben. Er soll sich auf keinen Fall für mich schämen.

Mir fehlt leider dieser Automatismus, den ich bei attraktiven Frauen immer wieder beobachten kann. Also dieses selbstverständliche In-den-Spiegel-Schauen, bevor man sich in Gesellschaft begibt, dieses An-den-Haaren-Zupfen, wenn jemand in Sicht kommt, der wichtig ist, oder der unauffällige Griff an die Kehrseite, nachdem man sich gebückt hat und der Slip in Ritzen geflutscht ist, aus denen nur eine Könnerin ihn auf dezente Art wieder rausbekommt. Und das Haareschütteln mit zurückgelegtem Kopf, wenn gerade kein Kamm zur Hand ist. Ich muss mich immer bewusst an so was erinnern, während das bei anderen Frauen ganz automatisch funktioniert.

Barbara hat prompt Bedenken angemeldet, als Lukas dafür sorgte, dass mir die Leitung des Bordshops übertragen wurde. Sie meinte, dass modebewusste Frauen erwarteten, von ebenso modebewussten Verkäuferinnen beraten zu werden. Offenbar traut sie mir auf diesem Gebiet wenig zu. Aber ich werde ihr beweisen, dass ich besser sein kann als mein Ruf. Versprochen!

Ich warf einen Blick in den Spiegel, war zwar nicht direkt mit mir zufrieden, wusste aber, dass mehr nicht aus mir rauszuholen war, und machte einen Kontrollgang durch den Bordshop. Wo würden die Sachen von Gucci, Prada und Armani am besten zur Geltung kommen? Schließlich räumte ich ein Regal frei, das Badesachen enthielt. Die brauchten nicht derart prominent angeboten zu werden. Wem eine Badehose oder ein Bikini fehlte, der würde gern danach suchen.

Während ich von jedem der drei Stardesignermarken je ein Teil besonders wirkungsvoll drapierte, öffnete sich die Tür, und Lukas erschien. Crewmitglieder und erst recht der Kapitän wissen, wie man in den Bordshop kommt, auch wenn er eigentlich geschlossen ist. Früher dachte ich, dass jeder Mann in einer Kapitänsuniform schmuck aussieht, aber mittlerweile glaube ich nicht mehr daran. Nein, nicht jedem steht eine weiße Uniform. Lukas aber steht sie wirklich!

»Na, Schwesterchen? Wie sieht’s aus? Alles klar? Die ersten Passagiere treffen ein.«

In diesem Moment klingelte mein Handy, das ich an einer Handykette bei mir trug, natürlich an einer, die es im Bordshop zu kaufen gab, im 2-in-1-Look, entweder als Necklace Case oder ohne Kordel als Schutzhülle zu nutzen, individuell gestaltbar mit zusätzlichen Ketten. Sie haben es gemerkt? Ich bin bereits gut in meinem Metier.

Der Name auf dem Display verursachte mir einen Schweißausbruch. Ausgerechnet! Und ausgerechnet jetzt! Während Lukas Anstalten machte, die Zeit meines Telefonats mit der Inspektion des Bordshops zu überbrücken, lehnte ich die Annahme des Gesprächs einfach ab. Ich drückte die rote Taste, ohne lange zu überlegen. »Das hat Zeit.«

Zum Glück fragte Lukas nicht nach, wollte nicht wissen, ob ich etwa den Anruf eines Mitarbeiters aus der Chefetage der Reederei weggedrückt hatte. So was traute er mir zu, das wusste ich. Spätestens seit ich meinem kleinen Bruder die Grappaflasche unseres Vaters an die Lippen gesetzt hatte, als er nach Wasser verlangte, wusste jeder, wie schusselig ich war. Ich hätte lügen müssen, wenn er mich gefragt hätte. Von diesem Anruf durfte er auf keinen Fall etwas erfahren. Jedenfalls jetzt noch nicht.

An Lukas’ Seite ging ich durch den Bordshop. An langen Ständern mit Oberteilen vorbei, an Rundständern mit Sommerhosen und Jeans, an Kinder- und Babykollektionen, an teuren Schiffsmodellen, an einer Wand mit Kühlschrankmagneten und Schlüsselanhängern, einem sorgfältig errichteten Turm aus Kaffeetassen mit dem Aufdruck des Schiffsnamens, an Stapeln von Gesellschaftsspielen und an Leder- und Stofftaschen, Herren- und Damengürteln, die an Schiffstauen herabbaumelten. Ein riesiges Sortiment. Spezielle Angebote, Kosmetik und Schmuck zum Beispiel, gab es in den Fachgeschäften am Ende der Shoppingmeile. Mein Bordshop war sozusagen das Kaufhaus des Schiffs, er hatte auch den größten Zulauf. Von sündhaft teurer Designermode bis zu Puzzles für Dreijährige und Gummilatschen für Saunabesuche war hier alles zu bekommen.

Lukas hatte mir mal gesagt, eine unauffällige Zählung hätte ergeben, dass jeder Kreuzfahrer täglich mindestens einmal in den Bordshop ginge. Nicht, dass er jedes Mal etwas kaufte! Aber das, was zu Hause den Alltag bestimmte, nämlich die regelmäßigen Besorgungen, musste im Urlaub schließlich Kompensierung finden. Wer täglich einen Besuch im Bordshop machte, hatte das Gefühl, für den nächsten Tag auf See vorgesorgt zu haben. Aber natürlich ging es bei einer Kreuzfahrt auch schlicht und einfach darum, die Zeit totzuschlagen. Wenn wir den Pazifik überquerten und eine ganze Woche nur Wasser sähen, würde in meinem Bordshop vermutlich eine Menge los sein.

»Ich hätte da noch etwas ganz Besonderes im Angebot«, sagte ich grinsend und zog Lukas mit mir in die hinterste Ecke des Shops. »Extra für dich. Wenn du willst, nehme ich sie gar nicht in den Verkauf, sondern lasse alle in deine Kabine bringen.«

Lukas sah mich entgeistert an, er verstand kein Wort. Erst als sein Blick auf einen Ständer fiel, der am Ende der Abteilung »Herren-Mode-Welt« an der Wand angebracht war, begann er zu lachen. Er enthielt Socken in allen Größen und vor allem in sämtlichen Farben und Mustern, die man sich vorstellen konnte. Ich wusste ja, dass Lukas eine Schwäche für bunte, verrückt bedruckte Socken hatte.

Lachend zog er seine Uniformhose ein Stück höher, damit ich sehen konnte, für welche Socken er sich am ersten Tag der Weltreise entschieden hatte: Herbstlaub auf lila Grund. Sie passten natürlich überhaupt nicht zu seiner weißen Uniform, aber Lukas setzte sich seit Jahren darüber hinweg. Das müsste die Reederei akzeptieren, behauptete er dann gern, bunte Socken seien seine einzige Macke. Nun, darüber könnte man sich streiten, ich wüsste noch ein paar Macken, aber diese ist jedenfalls die auffälligste. Mein Bruder hatte einen ganzen Schrank voller bunter Socken, weil ihm natürlich jeder Freund und vor allem jede Frau, die von seiner Vorliebe weiß, bunte Socken schenkte, oft erschreckend geschmacklose und vielfach mit Aufdrucken, die man nur als Wink mit dem Zaunpfahl verstehen konnte. Ziemlich penetrant fand ich die schwarzen Socken mit den roten Herzen, in denen ein Kussmund saß, und am allerschlimmsten die Kamasutra-Socken, die er von einer Freundin geschenkt bekommen und der er gleich darauf den Laufpass gegeben hatte. Sie hatte sich eindeutig zu weit vorgewagt.

Emily

Der Taxifahrer hieß Jan und war ein echter Hamburger. Er erklärte ihr wortreich, völlig untypisch für einen Hanseaten, dass ihm das Taxiunternehmen gehöre und er die Passagiere der Soleil grundsätzlich höchstpersönlich zum Cruise Gate Steinwerder kutschiere. Angeblich hatte er, wenn er jemandem dabei behilflich war, eine Weltreise anzutreten, das Gefühl, ihn ein Stück zu begleiten.

»Vielleicht kann ich mir so was irgendwann auch mal leisten.«

Emily beeilte sich, die Sache richtigzustellen. »Leisten kann ich mir das ganz sicher nicht!« Es wäre ihr unangenehm, wenn der nette Taxifahrer sie für eine verwöhnte Tochter aus reichem Hause oder für eine Influencerin mit einer Million Followern hielte. »Meine Mutter hat die Weltreise in einem Preisausschreiben gewonnen. Und nun ist sie krank geworden, und ich darf an ihrer Stelle fahren.«

»Donnerlüttchen!« Das Taxi bog in das Hafengewirr ein, große Lastwagen fuhren vor ihnen her, folgten ihnen, standen rechts und links von ihnen vor einer Ampel. Eine beklemmende Situation. Das Taxi war mit einem Mal zu einem Matchboxauto inmitten von Bobbycars geworden. »Das Preisausschreiben muss ich wohl übersehen haben. Da hätte ich auch mitgemacht.«

Emily nahm den Blick von den riesigen Rädern eines Gigaliners neben ihr. »Das war ein Preisausschreiben für Eigentümer und Mitarbeiter von Reisebüros.«

»Ihre Mutter arbeitet also in einem Reisebüro?«

»Es gehört ihr«, korrigierte Emily. »Und ich arbeite dort. So konnte ich auch Urlaub bekommen, zusätzlich zu der Weltreise.«

»Donnerlüttchen!«, wiederholte er. »Sie haben ja vielleicht ’nen Dusel.«

»Das kann man wohl sagen! Aber sollte ich die Reise etwa verfallen lassen?«

»Das wäre ja völlig verrückt. Nee, nee, das Glück muss man nehmen und fest drücken, sonst kommt es nie wieder.«

Das glaubte Emily auch. Vor allem wollte sie es glauben. Hätte sie es nicht so unbedingt glauben wollen, hätte sie sich vielleicht noch länger und ausgiebiger darüber gewundert, dass ihre Mutter auf die Reise verzichtete. Denn so richtig krank war sie eigentlich gar nicht. Erkältet, ja, aber das war kein wirklicher Grund. Eine Erkältung hatte man in spätestens einer Woche auskuriert. Magenprobleme auch. Und häufige Kopfschmerzen? Alles keine Gründe, auf eine Weltreise zu verzichten. Emily hatte den üblen Verdacht, dass etwas ganz anderes dahintersteckte. Wahrscheinlich wollte Mama das Geschäft nicht allein lassen, weil sie ihrer Tochter nicht zutraute, vier Monate ganz selbstständig ein Reisebüro zu führen. Das tat ein bisschen weh. Aber wenn ihre Mutter der Meinung war, die Tochter sei mit ihren fast dreißig Jahren noch nicht in der Lage, das Reisebüro zu leiten, in dem sie seit fünf Jahren arbeitete, dann eben nicht! Jan hatte recht. Man musste nach dem Glück greifen und es festhalten, statt sich mit der Frage zu quälen, ob es einem zustand.

Zwischen einem Sattelschlepper und einem Muldenkipper auf der Nebenspur tat sich für einen winzigen Moment der Blick zum Kai auf, an dem die Kreuzfahrtschiffe anlegten. Die Soleil lag dort vor einem grauen Himmel, erhaben und einsam, trotz der Betriebsamkeit und des Gewimmels in ihrer Nähe, von Möwen umschwebt, umflattert, umkreist. Die riesige Sonne auf dem Bug leuchtete weit. Auf den riesigen Parkplatz fuhr ein Auto nach dem anderen, Menschen mit unzähligen Koffern, Taschen und Rucksäcken wurden von der weiten Öffnung im Gepäckraum des Terminals angezogen, wo man ihnen das Gepäck abnahm. Das Taxi schien sich von dem Kai zu entfernen, bog dann aber scharf links ab und hielt nun Kurs auf die Soleil. In Emily regte sich etwas, was nicht nur Vorfreude oder Lampenfieber war. Es war die Ahnung, dass etwas auf sie zukam, das über die Erfahrungen auf einer solchen Reise hinausging. Etwas Gutes? Oder eine Gefahr? Sie konnte das Gefühl nicht beim Namen nennen. Nein, es war keine Angst, nur die Voraussicht, dass sich etwas geändert haben könnte, wenn sie Ende Februar nächsten Jahres wieder an diesem Kai an Land ging.

Jan half ihr beim Ausladen des Gepäcks und ließ es sich nicht einmal nehmen, sie bis zu dem Punkt zu begleiten, an dem sie alle Koffer und Taschen in die Hände eines zupackenden Crewmitglieds übergeben konnte. Nach Entgegennahme eines fürstlichen Trinkgeldes verabschiedete er sich, drückte Emily seine Visitenkarte in die Hand und nahm ihr das Versprechen ab, ihn für die Rückfahrt in vier Monaten wieder zu buchen.

Sie sah ihm nach, als hätte sie sich von einem guten Freund oder nahen Verwandten verabschiedet, dann zog sie ihr Smartphone heraus, noch ehe sie das Schiff betrat, und wählte die Nummer ihrer Mutter. »Angekommen, Mama! Ich gehe jetzt an Bord.«

Ihre Mutter hustete verdächtig demonstrativ, dann wurde ihre Stimme nachdrücklich, sogar ein wenig salbungsvoll. »Pass auf dich auf, meine Kleine. Unternimm keine Landausflüge allein. Immer nur in einer Gruppe, hörst du?! Und mach die Augen auf an Bord.«

»Was meinst du damit?«

»Du sollst aufpassen, mit wem du umgehst.«

»Mama, ich bin kein kleines Mädchen mehr, das Angst vor dem ersten Klassenausflug hat.«

»Ich will ja nur, dass du nette Leute kennenlernst.«

Emily verdrehte die Augen. Was war denn in ihre Mutter gefahren? Aber dann fiel ihr ein, dass sie noch nie länger als vier Wochen voneinander getrennt gewesen waren. Vermutlich war es die lange Zeit, die sie ohne ihre Tochter zubringen musste, die ihre Mutter jetzt so sentimental machte. »Ich melde mich, wenn ich Gelegenheit habe.«

Die gemütvollen Abschiedsworte, die Emily noch zu hören bekam, schüttelte sie ab, als sie die große Halle betrat, in der die Passagiere der Soleil abgefertigt wurden. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie mit allem versehen war, was sie während der nächsten vier Monate benötigte, und bis alles kontrolliert worden war, was sie den Reederei-Mitarbeitern präsentieren musste. Dann endlich war es so weit. Die Gangway war frei, und Emily betrat die Soleil …

Lukas

Kapitän Lukas Jantzen verließ den Bordshop auf Deck 9, winkte Maria noch einmal durch die Schaufensterscheiben zu und sah sich um. Er liebte diese Stunde, wenn das Schiff noch ihm gehörte, wenn es zwar auf die Gäste vorbereitet war, sie es aber noch nicht erstürmten, sondern nur langsam, ganz allmählich in Besitz nahmen. Wenn die ersten hundert Passagiere da waren, wurde es anders. Dann verlor er die Herrschaft über die Soleil, sogar über sich selbst, dann gehörte auch er denen, die in den nächsten vier Monaten mit ihm um die Welt fuhren. Bei Kurzreisen war das anders. Da konnte er sich rarmachen, da reichte es, wenn er sich an einem Abend auf der Bühne des Theaters dem Interview des Entertainment-Managers stellte, aber auf einer Weltreise wurde von ihm erwartet, dass er präsent war, dass er zeigte, wie wichtig ihm sein Beruf und sämtliche Passagiere waren. Wer viel Geld bezahlte, wollte auch viel haben. Lukas sah das ein und war dann immer bereit, sich sehen und seinen Charme spielen zu lassen.

Er lief durch den Gang der Shoppingmeile bis zum Mittelteil des Schiffs, dem Theater, das sich über drei Decks erstreckte. Dort war es kühl und dämmrig, auf der Bühne wurde noch gearbeitet, ein paar Kulissen für die Eröffnungsshow waren anscheinend noch nicht fertig. Eine Handvoll Passagiere geisterte von einem Ende zum anderen auf der Suche nach dem richtigen Deck. Er gab ihnen keine Gelegenheit, ihn zu fragen, er grüßte höflich, aber nur kurz, ohne Augenkontakt, und war schon vorbei, als sie merkten, dass sie gerade dem Kapitän begegnet waren.

Sein Stellvertreter, der Staff-Kapitän, trat auf ihn zu und grinste. »Immer wieder schön, so ein frisch geputztes Schiff ohne Passagiere, oder?«

Lukas bestätigte es. »In zwei Stunden wird es hier schon anders aussehen.«

Sie gingen gemeinsam zur Brücke zurück. Hinter einer Tür, auf der »Crew only« stand, sagte Roland Hengst: »Eine witzige Idee, diese Weltreise mit einem Familientreffen zu verbinden.«

Lukas fühlte so etwas wie Übermut in sich aufsteigen, allerdings gedämpft durch leise rumorende Sorge. »Das haben wir vor fünf Jahren schon einmal gemacht. Ich bin fest entschlossen, das so oft wie möglich zu wiederholen. Meine Familie ist über die ganze Welt verstreut. Dies ist eine super Gelegenheit, sich zu treffen. Meine Schwester Maria ist ja schon an Bord, die anderen werden im Laufe der Reise zusteigen. Ich freue mich schon auf die Familienabende.«

Der Staff-Kapitän kannte Lukas schon lange. Leise sagte er: »Hoffentlich gibt es diesmal kein ähnliches Drama wie vor fünf Jahren.«

Lukas wandte sich ab, als hätte er die Bemerkung nicht gehört. Roland Hengst war der Einzige an Bord, der auch damals dabei gewesen war und mitbekommen hatte, was geschehen war. Aber Lukas vertraute darauf, dass er nicht darüber sprach. Die anderen Crewmitglieder sollten nichts davon erfahren, die Gäste erst recht nicht. Wenn ein Passagier von Bord verschwand und nie wieder auftauchte, wurde der Kapitän oft schief angesehen. Diskretion war deshalb das oberste Gebot. Die Reederei verlangte von der gesamten Crew absolutes Stillschweigen, wenn so etwas geschah.

Irgendwann hatte sich auch in der Familie das Schweigen durchgesetzt, und von Albert war nicht mehr viel geredet worden. Nur Lisa, Alberts Tochter, kam noch gelegentlich mit Vorwürfen, weil Lukas angeblich nicht genug getan hatte, um ihren Vater zu retten. Sie wollte einfach nicht begreifen, wie schwer es war, jemanden zu finden, der über Bord gegangen war. Erst recht, wenn niemand genau wusste, wie, wo und wann das Unglück geschehen war. In Port Louis, dem Hafen von Mauritius, war Albert plötzlich nicht mehr da gewesen. Keiner wusste, wann und wie er verschwunden war. Auch deswegen war eine Suche von vornherein aussichtslos gewesen.

Lukas hatte sich gefreut, als Lisa ihre Teilnahme am Familientreffen auf der Soleil zugesagt hatte, weil er hoffte, sie wollte damit zeigen, dass sie den Tod ihres Vaters überwunden hatte. Dennoch nagte immer noch die Sorge an ihm, sie könnte die Gelegenheit nutzen, über Alberts Verschwinden zu reden, ihrem Onkel, dem Kapitän, Vorhaltungen zu machen und das fröhliche Zusammensein, auf das Lukas sich freute, zu vergiften. Er konnte nur hoffen, dass Maria die Sache in den Griff bekam.

Als die Reederei zugestimmt hatte, Lukas’ Schwester zur Leiterin des Bordshops zu machen, war er sehr erleichtert gewesen. Wo Maria ihre Hand im Spiel hatte, ging selten etwas schief. Sie hatte nicht nur das Herz auf dem rechten Fleck, sie behielt auch immer die Bodenhaftung und auf jeden Fall den Überblick. Die Nerven sowieso! Wie oft hatte ihr gemeinsamer Vater sich die Haare gerauft, wenn er sich um Marias Zukunft sorgte! Mehr als einmal hatte es so ausgesehen, als würde Maria auf der schiefen Bahn, bei der Sozialhilfe oder auf irgendeinem Abstellgleis landen. Aber sie hatte sich aus jedem Schlamassel an den eigenen Haaren herausgezogen und anschließend eine Menge zu erzählen gehabt. Maria war eben mit allen Wassern gewaschen. Aber war sie deshalb auch die Richtige als Leiterin des Bordshops? Ganz sicher war Lukas noch immer nicht, so froh er andererseits auch war, dass sie auf diese Weise bei dem Familientreffen dabei sein konnte. Sein Vertrauen in Marias Fähigkeiten war beinahe grenzenlos. Damit meinte er jedoch nicht ihre Qualitäten im Kassenwesen, im Marketing, in der Werbung und der Kundenberatung, sondern im zwischenmenschlichen Bereich.

Auf der Brücke wurde er von heiteren Mienen empfangen. Alle freuten sich auf die Reise, die vor ihnen lag. Außer Stefan Schöner natürlich, der frisch verheiratet war, der Geburt seines ersten Kindes entgegensah und seit dem Abschied von seiner Frau darüber klagte, dass er bei der Geburt nicht würde dabei sein können, falls das Baby zu früh zur Welt kommen sollte. Die Planung war äußerst knapp. Die Soleil sollte im nächsten Jahr am 21. Februar wieder in Hamburg anlegen, und der errechnete Geburtstermin war der 3. März. Trotzdem hatte Stefan sich entschieden, das Angebot der Reederei anzunehmen, und auch seine Frau hatte ihm zugeraten, die anscheinend froh war, ein Schwangerschaftsrisiko los zu sein: ihren nervösen Ehemann und seine exzessive Fürsorglichkeit.

»Wann wird Ihre Familie beisammen sein?«, fragte Roland Hengst.

Lukas winkte ab. »Das dauert noch. Barbara wird in Argentinien zusteigen und Lisa in Chile. Spätestens dann werden die Korken knallen.«

»Wir fangen also mit zwei Familienangehörigen an«, stellte Roland Hengst lächelnd fest.

Lukas grinste. »Nicht ganz. Es gibt noch eine Überraschung …«

Maria

Ich hatte in jeden Spiegel geschaut, ehrlich. Und das waren viele. Dadurch sah ich natürlich nicht besser aus, aber immerhin wusste ich, dass es nicht schlimmer geworden war. Mir standen nicht die Haare zu Berge, weil ich auf der Suche nach fahrlässig angebrachten und abgefallenen Preisschildern unter einem Kleiderständer herumkriechen musste, meine Hose war nach wie vor fleckenlos, sämtliche Knöpfe meiner Bluse waren geschlossen, und die Wimperntusche war auch nicht verschmiert. Besser ging bei mir nicht.

Das Schiff füllte sich allmählich. Immer wieder erschienen Leute an der Tür des Bordshops, die lange Hälse machten und es nicht erwarten konnten, ihre Reisekasse bei mir zu erleichtern. Ich winkte dann immer freundlich und gab ihnen pantomimisch zu verstehen, dass ich mich auf sie freute. Aber eben nur in Vereinbarung mit den Öffnungszeiten.

Während ich den Kassenscanner ausprobierte, klingelte mein Telefon schon wieder. Diesmal konnte ich das Gespräch annehmen. Erleichtert sank ich auf den Stuhl, den ich neben die Umkleidekabine gestellt hatte, damit ein begleitender Ehemann es bequem hatte, während seine Gattin etwas anprobierte. »Tut mir leid, dass ich eben deinen Anruf wegdrücken musste. Lukas war bei mir.«

Ich hörte Dorothees leises Lachen. »Das dachte ich mir.«

»Es läuft alles wie geplant?«

»Natürlich! Glaubst du, dass du mir gelegentlich Bescheid sagen kannst, ob es funktioniert?«

»Hast du etwa Zweifel?«

»Nein! Aber selbst du kannst nicht alles im Griff haben.«

»Na, hör mal! Willst du mich beleidigen?«

Wieder dieses leise Lachen. »Auf keinen Fall! Du weißt doch, dass ich dir eine Menge zutraue.«

»Ich bin hier so weit fertig und werde gleich mal an Deck gehen. Vielleicht sehe ich sie.«

»Sie trägt eine neongrüne Windjacke, darunter einen rosa Pulli.«

»Ihre Fotos liegen in der Schublade unter der Kasse. Wenn sie in den Bordshop kommt, erkenne ich sie auf jeden Fall.«

»Und wenn nicht?«

»Jede Frau kommt irgendwann in den Bordshop. Außerdem kenne ich ihre Kabinennummer. Wenn es mit dem Bordshop nicht klappt, werde ich sie auf anderem Weg finden.«

Dorothee seufzte schwer. »Hoffentlich geht alles gut.«

»Natürlich.«

»Schade, dass dein Sohn nicht auch dabei sein kann.«

Prompt wurde mir das Herz schwer. Sosehr ich mich auf die Weltreise und das Familientreffen freute, so traurig war ich, dass Jonas nicht daran teilnehmen konnte. Er war mein einziges Kind. Seit er bei mir ausgezogen war, merkte ich erst, wie gerne ich seine dreckigen Socken vom Boden aufgeklaubt und die Pizzakartons mit den ekligen Resten unter seinem Bett hervorgeholt hatte. Aber er hatte ja recht. Ich war in den letzten Jahren so selten zu Hause gewesen, dass er sich genauso gut selbstständig machen konnte. Hotel Mama hatte meistens geschlossen, seit ich auf der Fähre arbeitete, und jetzt erst recht. Schließlich würde ich volle vier Monate nicht daheim sein. Warum also sollte Jonas noch zu Hause wohnen wollen?

Er verdient jetzt ja auch ganz gut, er kann sich eine eigene Wohnung leisten. Noch vor ein paar Jahren dachte ich, aus meinem Jungen würde nichts. Für ihn stand von klein auf fest, dass er zur Polizei wollte. Barbara hat immer versucht, ihn davon abzubringen. Sie wusste ja von seinem Augenfehler. Und Barbara ist Polizistin, sie kennt die gesundheitlichen Anforderungen dieses Berufs. Jonas hat auf dem rechten Auge nur zwanzig Prozent Sehkraft. Als kleiner Junge musste er jahrelang mit einem zugeklebten Brillenglas über dem gesunden Auge rumlaufen, da das schwache Auge gestärkt werden sollte, aber am Ende wurde doch klar, dass es nicht viel besser geworden war. Für den normalen Alltag kein großes Problem, aber für den Polizeidienst eben doch. Jonas bewarb sich trotzdem, aber alles kam so, wie Barbara es vorhergesehen hatte: Er wurde wegen seines Augenfehlers nicht genommen. Was nun? Er heulte monatelang, dann beschloss er, auf andere Weise zum Ermittler zu werden. Er wollte Detektiv werden, Privatdetektiv!

Ganz ehrlich, begeistert war ich nicht. Ein zweiter Wilsberg? Da hatte ich mir für meinen Sohn etwas Besseres gewünscht. Oder einer wie Josef Matula? In Cowboystiefeln und ständig knapp bei Kasse? Nein, lieber nicht. Dann schon eher Philip Marlowe, der war wenigstens immer sehr gut gekleidet. Aber eigentlich will ich für meinen Jungen weder das eine noch das andere, sondern einen Job, in dem er nicht ständig in Gefahr ist, nicht mit schweren Jungs und leichten Mädchen zu tun hat, sondern mit anständigen Leuten, gut situierten Menschen, die ihn für eine Dienstleistung großzügig bezahlen. Anwalt zum Beispiel, wenn es denn unbedingt etwas sein musste, was mit Recht und Gesetz zu tun hatte. Aber als es mit dem Abitur nicht klappte, konnte Jonas das Jurastudium natürlich vergessen. Die Ausbildung zum Kanzleigehilfen war auch nicht das Richtige für ihn, aber immerhin hielt er durch bis zur Abschlussprüfung. Damit hatte er bessere Karten, denn große Detekteien verlangen eine abgeschlossene Ausbildung. Die hatte Jonas nun vorzuweisen und wurde tatsächlich in einer großen Privatdetektei angestellt. Das reichte, eine gesetzlich geregelte Ausbildung zum Privatdetektiv gibt es ja nicht. Aber immerhin hatte Jonas noch eine Art Lehre bei der »Zentralstelle für die Ausbildung im Detektivgewerbe« auf sich genommen. Damit hat er gut vorgesorgt und nennt sich seitdem Privatdetektiv. Dass er an der Rezeption eines Facharztes oder bei einer Polizeikontrolle dann immer misstrauisch angesehen wird, stört ihn nicht, es amüsiert ihn sogar. Ich muss gestehen, bei mir ist es ein bisschen anders. Ich würde den Leuten auf Nachfrage lieber erzählen, mein Sohn sei Beamter, IT-Fachmann oder Garten- und Landschaftsbauer. Bei einem Privatdetektiv denken alle gleich an eine verkrachte Existenz. Anscheinend werden gern Leute zu Detektiven, die auf anderen Gebieten gescheitert sind.

Aber Jonas mag seinen Job. Natürlich hat er sich schon einige Flausen aus dem Kopf pusten lassen müssen, denn so spannend, wie er es sich erträumt hatte, ist der Detektivalltag offenbar nicht immer. Stundenlang hinter einer Litfaßsäule zu stehen und auf das Erscheinen eines Liebhabers zu warten, damit er ihn fotografieren und den Ehemann zufriedenstellen kann, klingt ja tatsächlich nicht nach Abenteuer. Aber gelegentlich ermittelt er auch bei Urkundenfälschungen, Abwehr von Betriebsspionage, Wettbewerbsverstößen, Diebstahl und Betrug, und das scheint ihm Spaß zu machen. Er trägt sich sogar mit dem Gedanken, sich mit einer eigenen Detektei selbstständig zu machen. Das gefällt mir allerdings nicht besonders. Sie können es sich denken: die Sicherheit. Als Mutter will man eben, dass das Kind einen krisensicheren Job hat. Was ist, wenn die Zeiten schlechter werden und sich niemand mehr einen Detektiv leisten kann? Jonas meint sogar, dass ich ihm vielleicht unter die Arme greifen kann, wenn er ein eigenes Detektivbüro aufmacht. Ich war ja schon mal Sekretärin bei einem Privatermittler. Vor vielen Jahren und nur ganz kurz, gerade so lange, wie ich mit dem Matula-Verschnitt liiert war. Das weiß Jonas aber nicht. Er hat damals nicht so genau mitbekommen, warum sein Vater auszog, der es empörend fand, dass ich ihn mit einem Schnüffler betrog. Aber das regelte sich schnell, als ich merkte, dass mein Privatdetektiv ein ziemlicher Reinfall war. Blöd nur, dass ich für ihn den Job in der Buchhandlung aufgegeben hatte. Als mein Mann zu mir zurückkam, musste ich mir also was Neues suchen, meine Stelle in der Buchhandlung war längst anderweitig besetzt. Dass ich eine Weile in einem Sexshop gearbeitet habe, weiß Jonas auch nicht. Aber irgendwie muss man ja sein Geld verdienen. Mein Mann nannte sich Autor, manchmal auch Schriftsteller oder Journalist, wie es gerade am besten passte. Doch so gut das auch klang, auf einen grünen Zweig gekommen ist er damit nicht. Ich musste also regelmäßig Geld verdienen, anders ging es nicht. Aber in dem Sexshop habe ich auch nur so lange gearbeitet, bis ich was Besseres fand. Das war bei einem Friseur, der häufig betrunken war und dann immer jemanden brauchte, der dafür sorgte, dass niemand es merkte. Mit den Lockenwicklern kam ich schnell sehr gut zurecht, aber fürs Haarschneiden sollte man schon eine Ausbildung haben. Das weiß ich heute. Es reicht nicht, dass der Chef allen erzählt, ich wäre eine erfahrene Fachkraft. Der erste Kunde, dem ich einen Schnitt verpasst habe, glaubte das jedenfalls nicht, und so musste ich mir bald schon wieder was Neues suchen. Es ist eben nicht gut, wenn man als junger Mensch, als großes Kind, als Jugendliche meint, sich durchs Leben lavieren zu können, ohne was Vernünftiges gelernt zu haben. Auch das weiß ich heute. Damals aber wollte ich es nicht wahrhaben. Mein Vater hat mit Engelszungen auf mich eingeredet, aber schließlich aufgegeben. Seitdem hält er mir immer wieder vor, dass mein Bruder und auch meine Halbgeschwister es alle zu etwas gebracht haben. Nur ich nicht …

Habe ich schon erwähnt, dass unser Vater mehrmals verheiratet war? Lukas und ich sind die einzigen Vollgeschwister, Barbara und Helene haben andere Mütter. Vor einem Jahr ist unser aller Vater zum vierten Mal in den Hafen der Ehe eingelaufen. Er kann es einfach nicht lassen. Kaum verliebt er sich, denkt er schon an Hochzeit. Und das mit über achtzig. Lernt man eigentlich nie aus? Und dann noch ausgerechnet zu der Zeit, für die Lukas das Familientreffen auf der Soleil geplant hatte. Angeblich hatte Papa es vergessen. Kann aber auch sein, dass er seiner Ehefrau ein Familientreffen noch nicht zumuten mochte und deswegen absichtlich seine Flitterwochen in diese Zeit gelegt hat. Mehrere Monate auf einem Schiff zusammen mit der geballten angeheirateten Familie zu verbringen, ist womöglich wirklich ein Risiko. Spätestens bei der vierten Ehe sollte man vielleicht etwas vorsichtiger sein. Das hat sich unser Vater möglicherweise gesagt, und wenn, dann war es ja ziemlich schlau von ihm.

Meine beruflichen Fehlschläge leistet er sich also im Privaten. Aber natürlich lässt er solche Vergleiche nicht zu, ist ja klar. Obwohl ich ihm immer wieder vorgehalten habe, dass er es in der Liebe nicht viel weiter gebracht hat als ich im Beruf. Ich war immerhin nur einmal verheiratet. Dass mein Mann vor seiner Zeit starb, dafür kann ich nun wirklich nichts.

Aber warum erzähle ich Ihnen das? Eigentlich wollte ich doch nur erwähnen, dass mein Sohn Jonas leider nicht mit auf die Weltreise gehen kann, weil er natürlich keine vier Monate Urlaub bekommt. Ich wäre ja schon froh gewesen, wenn er einen Teil der Reise hätte mitmachen können, aber das geht auch nicht. Irgendein wichtiger Auftrag. Dabei hat Lukas sich so angestrengt, um alle Familienmitglieder unter einen Hut zu bekommen!

Fred

Fred Alswede war ein kleiner, korpulenter Mann, der aussah wie der Hausmeister einer Gesamtschule, der Kummer gewöhnt war. Immer Ärger mit aufsässigen Schülern, mit nachlässigen Lehrern und verständnislosen Eltern! Für alles wurde er verantwortlich gemacht, obwohl er am wenigsten verdiente. Wer etwas wollte, wandte sich an ihn, aber wenn es darauf ankam, war er nur der dumme Hausmeister auf der untersten Sprosse der Entscheidungsleiter. Und Dankbarkeit? Die bekam er nie! Jedenfalls stellte sich Fred Alswede das Leben eines Schulhausmeisters so vor. Diese Rolle hatte er mittlerweile derart tief verinnerlicht, dass es ihm manchmal schon vorkam, als hätte er sich tatsächlich für diesen Job entschieden. Er wirkte sehr glaubwürdig, das wusste er. In den meisten Fällen, die er zu erledigen hatte, war das ausgesprochen vorteilhaft.

In diesem besonderen Fall musste er sich jedoch etwas anderes überlegen. Wie sollte sich der Hausmeister einer Schule eine Weltreise leisten können? Vielleicht ein unverhofftes Erbe? Oder ein Lottogewinn? Er hatte sich noch nicht entschieden, als er die Abfertigungshalle betrat. Aber er merkte schnell, dass er es gut machen würde, egal, welche Ausrede er erfand, denn er brauchte sich nicht zu verstellen. Seine Gefühle waren garantiert genau richtig, er musste niemandem etwas vormachen. Er würde das große Schiff bestaunen wie jemand, der selten reiste oder noch nie über einen Campingplatz an der Ostsee hinausgekommen war, würde wie geblendet stehen bleiben, wenn er an Bord ging, und fühlte sich mit einem Mal wie ein kleiner Junge im Wunderland. Das würde man ihm ansehen, er war sicher. Tatsächlich hatte er ja noch nie ein Kreuzfahrtschiff betreten. Sein Staunen und die Freude waren also echt, das konnte nur gut sein. Er würde dabei bleiben, sich als Schulhausmeister vorzustellen, der im Lotto gewonnen und vier Monate unbezahlten Urlaub genommen hatte. Ein Leben lang gespart, immer bescheiden gelebt, da würde er sich das mal leisten. Ja, so musste es gehen.

Noch immer war er stolz darauf, dass er gewagt hatte, auf einer Balkonkabine zu bestehen. Sein Auftraggeber war steinreich, der würde dieses Extra aus der Portokasse bezahlen. Aber Fred hatte auch schon oft die Erfahrung machen müssen, dass die Leute immer geiziger wurden, je mehr Geld sie hatten. Das musste auch der Grund sein, warum die Wahl auf ihn gefallen war, obwohl er garantiert von niemandem empfohlen worden war und auch keinen exzellenten Ruf in der Branche genoss. Aber er hatte sich nichts anmerken lassen. Eine Weltreise! Die ließ er sich nicht entgehen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte er von Mitarbeitern gesprochen, die alle anderen Aufträge während seiner Abwesenheit erledigen würden. Zuverlässige Leute, auf die er sich verlassen konnte, die selbstständiges Arbeiten gewöhnt waren. Dass seine ganze Firma nur aus seiner Person bestand, dass er sich nicht einmal eine Sekretärin leisten konnte, musste er ja niemandem auf die Nase binden. Viel Geld sprang bei dem Auftrag zwar nicht heraus, aber dafür unternahm er eine Weltreise auf einem Kreuzfahrtschiff auf Kosten seines Auftraggebers. Und wenn alles gut lief, würde er die Reise genießen können. Der Arbeitsaufwand würde überschaubar sein. Er konnte sich nicht erinnern, schon mal ein so großartiges Angebot bekommen zu haben. Als er alle Einzelheiten des Auftrags erfahren hatte, war ihm auch klar geworden, warum man sich für ihn entschieden hatte. Seine Tagessätze waren wesentlich niedriger als die der großen Kollegen in den bekannten Firmen. Und für diese Aufgabe musste man wahrlich nicht der Beste seiner Zunft sein. Er brauchte nur die Augen offen zu halten und gelegentlich Berichte zu schreiben. Wenn er Glück hatte, würde gar nichts passieren, was den Auftraggeber in Sorge versetzte. Und selbst wenn: Er hatte es nicht mit einem Kriminellen, sondern mit einem honorigen Geschäftsmann zu tun. Völlig ungefährlich war die Angelegenheit also auch noch. Total easy! Aber mit einer Innenkabine hatte er sich dennoch nicht abspeisen lassen wollen. Es war ihm verdammt schwergefallen, den Auftrag zu riskieren, indem er auf dieser Forderung beharrte. Aber es hatte sich gelohnt. Ein unbezahlter Luxusurlaub! Manchmal liebte er seinen Job. Von wegen Schulhausmeister!

Die sonstigen Zusagen von Ron Helbing waren allerdings schwammig gewesen. Natürlich, die Weltreise sei komplett gebucht worden, hatte es geheißen, selbstverständlich dürfe er bis Ende Februar an Bord bleiben, aber vermutlich wolle der Detektiv sein Büro nicht monatelang allein lassen, wenn der Auftrag gelöst sein sollte. Dafür habe er Verständnis, hatte Ron Helbing getönt und sich generös gegeben. Er würde es ohne Weiteres akzeptieren, wenn Fred Alswede von Bord gehen wolle, sobald er alles herausgefunden und geregelt hatte, was sein Auftraggeber wissen und erledigt haben wollte. Den Rest der Reise würde man dann stornieren können, Ron Helbing kannte da ein paar Tricks …

Klar, der ganze Kerl bestand aus Tricks. Zu so einem Vermögen kam man nicht, wenn man von Grund auf ehrlich war. Aber da würde Fred Alswede nicht mitmachen, das hatte er sich fest vorgenommen. Er würde seine Beobachtungen wohldosiert durchgeben. Immer so, dass noch mehr möglich sein konnte, immer so, dass der Vater von Alexandra Helbing noch Schlimmeres erwarten konnte. Denn das hatte Ron Helbing klipp und klar gesagt: Er wollte alles wissen, einfach alles! Und wenn bis zum Ende der Weltreise nichts geschehen war, dann wollte er auch das erfahren, und zwar schriftlich.

Nur noch zwei junge Frauen vor ihm, dann würde man auch ihn zur Sicherheitskontrolle und anschließend zu der Treppe winken, die nach oben führte, vor Deck 5, wo alle Kreuzfahrer an Bord gehen sollten.

Er erschrak mit einem Mal und war heilfroh, dass sein Auftraggeber nicht sehen konnte, wie ungeschickt er sich anstellte. Natürlich hätte er gleich auf die beiden jungen Frauen aufmerksam werden müssen, die sich vorgedrängt hatten, um eher an Bord zu gelangen als er, der Hausmeister, dem man ansah, was für eine kleine Nummer er war. Er hatte es geschehen lassen, um nicht aufzufallen und ohne auf die Idee zu kommen, dass ihm soeben sein Job besonders einfach gemacht wurde. Aber wie hätte er auch darauf kommen können? Er suchte nach einer alleinreisenden Frau, nicht nach zwei Freundinnen.

»Madame Helbing?« Der junge Mann, der dafür zuständig war, die Reisenden mit ihren Bordkarten auszustatten, sprach eine der beiden freundlich an.

Der Name Helbing fuhr wie ein Blitz in Freds Gedanken. Sollte er das Glück haben, sie schon jetzt zu finden, ohne sie gesucht zu haben?

»Alexandra Helbing?«

Gut, dass die beiden Frauen nicht merkten, wie entgeistert er auf ihre Hinterköpfe starrte.

Die linke junge Frau, die angesprochen worden war, zeigte auf die rechte. »Das ist Alexandra Helbing.«

Sie waren beide groß und sehr schlank. Von hinten sahen sie aus, als wären sie auf dem Weg zu »Germanys Next Topmodel«. Beide trugen Blue Jeans, hatten sich Hoodies um die Hüften gebunden, die Linke einen weißen, die Rechte einen dunkelblauen. Und beide hatten sie lange glatte Haare, die Linke blonde, die der Rechten glänzten sogar noch ein bisschen heller. Aber bei ihr sah man auf den ersten Blick, dass sie gefärbt waren. Schon vor einigen Wochen vermutlich, denn der Haaransatz dunkelte bereits nach. Tatsächlich waren sie einander ziemlich ähnlich. Beide trugen auch auffällige Brillen, große, mit breiten schwarzen Rahmen. Solche Modelle sah man jetzt viele, diese Brillenmode war zurzeit modern, das war sogar Fred Alswede nicht entgangen.

Die jungen Frauen bekamen ihre Bordkarten ausgehändigt. »Ihre Panoramakabine ist schon fertig«, erfuhr die rechte der beiden. Dann wurde die Stimme des Reedereimitarbeiters bedauernd. »Ich bin aber nicht sicher, ob die Innenkabine auch schon bereit ist.«

»Macht nichts«, hörte Fred die linke der beiden Frauen sagen. »Ich gehe solange zu meiner Freundin in die Kabine.«

Freundin? Von einer Freundin war nie die Rede gewesen, da war Fred ganz sicher. Gut, dass er zufällig den Namen gehört hatte, sonst hätte er womöglich lange und völlig vergeblich nach einer alleinreisenden jungen Frau Ausschau gehalten. Wieso hatte der alte Helbing ihm nicht gesagt, dass seine Tochter mit einer Freundin reiste? Fred Alswede schüttelte ärgerlich den Kopf. Gutes Briefing war das A und O in seinem Gewerbe. Unverzeihlich, so eine schlampige Vorbereitung!

Fotos hatte er auch nicht erhalten. Der alte Helbing war der Meinung gewesen, dass Fred seine Tochter auch so finden würde. Anscheinend wollte er nichts aus der Hand geben, was später als Beweis dienen könnte. Er traute Fred zu, unvorsichtig mit so einem Foto umzugehen, es womöglich in einer Bar liegen zu lassen oder so auffällig aus der Tasche zu ziehen, dass jeder es sehen konnte? Unverschämtheit! Aber andererseits hatte er natürlich recht gehabt. Die Kabinennummer reichte vollkommen aus. Fred hatte beabsichtigt, sich auf die Lauer zu legen. Irgendwann hätte er sie reingehen oder rauskommen sehen. Aber das war nun gar nicht mehr nötig. Er kannte sie bereits und wusste, wie sie aussah. Die Sache lief wirklich viel besser, als er angenommen hatte.

Jonas

Jonas Liebermann stieg aus dem Taxi und dehnte sich ausgiebig. Dann sprang er hinzu, als der Taxifahrer sich anschickte, sein Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.

»Lassen Sie nur, ich mache das schon.«

Der Taxifahrer, ein Tunesier, der schon so lange in Hamburg zu Hause war, dass er genauso vierschrötig wie ein Hafenarbeiter geworden war, staunte nicht schlecht. »Sie?«

Offenbar war er noch nie daran gehindert worden, sich mit schweren Koffern abzumühen. Auch seit er die sechzig überschritten hatte, war es nach wie vor selbstverständlich für ihn, dass er jungen, kräftigen, dynamischen Fahrgästen das Gepäck vor die Füße stellte. Dieser junge Kerl, der aussah, als käme er gerade vom Wellenreiten aus Portugal zurück, wollte ihm zeigen, dass er ein alter Mann war? So weit kam es noch! Er war der Fahrer, also war er dafür zuständig, das Gepäck aus dem Kofferraum zu heben. Das hatte er sich nicht einmal nehmen lassen, als er unter den Folgen eines akuten Bandscheibenvorfalls litt. Dieser blonde Sonnyboy wollte sich vermutlich um das Trinkgeld drücken?

Aber er hatte sich geirrt. Das Trinkgeld war zwar nicht üppig, aber angemessen, der Sonnyboy wollte auch nicht, dass der Fahrer ihm half, die Koffer in die Halle zu befördern, in der das Gepäck gesammelt und später zu den Kabinen gebracht wurde. Er kam mit seinen zwei riesigen Koffern, einem Rucksack und der Laptoptasche bestens zurecht. Und er gehörte zu den wenigen, die das Schiff nicht bestaunten. Zu häufig hatte er schon seinen Onkel auf der Brücke besuchen dürfen, hatte bereits als kleiner Junge ein bisschen durchs Fernglas sehen und das Funkgerät bedienen dürfen. Dennoch war er nicht weniger aufgeregt als die anderen Weltreisenden. Schließlich würde er als personifizierte Überraschung an Bord gehen! Hoffentlich löste er wirklich Freude und keinen Schrecken aus, der sich am Ende noch gesundheitsschädigend auswirkte. Und hoffentlich gelang die Überraschung wirklich. Sollte er vorher schon gesehen werden, würde die Überrumpelung nicht gelingen und der Spaß nur halb so gut werden.

Das Gepäck war schnell abgegeben, aber die Abfertigung dauerte eine Weile. Jonas trainierte, während er in der Schlange stand, unauffällig sein Sixpack und seine Oberschenkelmuskulatur, indem er sie anspannte und losließ, anspannte und losließ und somit das Gefühl hatte, die Zeit des Wartens nicht sinnlos vertan zu haben. Das hatte er sich angewöhnt, seit er beruflich so häufig zu warten hatte.

Schließlich war er mit allem ausgestattet, was er brauchte, die Bordkarte steckte in der Brusttasche seines Hemds, das Handgepäck wurde durchleuchtet, und er hatte die Wahl zwischen einer Treppe mit breiten Stufen, einem Aufzug und der Rolltreppe, die von den meisten Passagieren bevorzugt wurde. Er entschied sich selbstverständlich für die Treppe, er nutzte immer jede Möglichkeit, sich zu bewegen und körperlich zu ertüchtigen.

Eine Cheerleader-Gruppe empfing alle Passagiere, gab jedem einzelnen das Gefühl, ein besonderer Gast zu sein, und Jonas stellte fest, dass es auch bei ihm gelang. Er freute sich!

Kurz darauf schritt er über den Steg, der ins Schiff führte, dort atmete er auf. Geschafft! Er brauchte sich nicht in das Gedränge vor der Übersichtstafel zu schieben, er wusste, wohin er gehen musste. Er kannte sich auf diesem Schiff aus. Dass seine Kabine noch nicht bezugsfertig war, fand er nicht wichtig. Den Rucksack würde er irgendwo abstellen, und seine Laptoptasche störte ihn nicht weiter.

Bevor er sich zu seinem Ziel aufmachte, zog er sein Handy heraus und holte eine Nummer aus dem Speicher. »Jonas Liebermann«, meldete er sich. »Hat sich etwas geändert? Wissen Sie mittlerweile, wann es losgeht?« Er hörte sich die Antwort an, dann nickte er. »Okay, ich werde die Augen offen halten.«

Er verabschiedete sich, steckte sein Smartphone wieder in die Gesäßtasche seiner Jeans und ging an Deck. Dort stellte er sich an die Reling. Der Wind hatte aufgefrischt, aber dennoch war es nicht so kalt, wie es Ende Oktober durchaus hätte sein können. Die Natur hatte jedoch längst die Farben des Herbstes angelegt. Der Himmel war grau, an vielen Stellen sogar dunkelgrau, die Möwen, die über dem Hafengelände schwebten, waren ebenso grau, weiß schimmerten sie nur, wenn sie von der Sonne beschienen wurden. Auch das Wasser war von einem kalten Grau. Farbig waren lediglich die Container, die an einem anderen Kai verladen wurden. Ein durch und durch aschfahler Tag. Ein Hafen wie der von Hamburg war ja niemals bunt, heute aber war er besonders farblos.

Zwei Tage Zeit! Hier im Hamburger Hafen würde ein anderer ein Auge auf die zusteigenden Passagiere haben. Alles andere wäre zu auffällig. Aber niemand rechnete damit, dass es schon in Hamburg so weit sein könnte, derart einfach würde es nicht werden. Im ersten spanischen Hafen würde er dann sehr aufmerksam sein müssen. Bis dahin konnte er Privatmann sein, auf See würde nichts passieren.

Er nahm die Treppe, immer zwei Stufen auf einmal, um zum Deck 9 zu gelangen. Vor den Aufzügen standen ganze Trauben von Passagieren, die ihr Handgepäck nicht die Treppe hochtragen oder so schnell wie möglich in die nächste Bar wollten, um darauf zu warten, dass ihre Kabinen bezugsfertig waren. Dort hatten die Kellner garantiert schon mit Cocktails zu tun.

Auf Deck 9 war es ruhig, denn die Shops waren natürlich noch nicht geöffnet. Zwar drückten sich schon einige Einkaufslustige die Nasen an den Schaufenstern platt, aber die meisten wussten, dass die Läden erst außerhalb der Häfen, in der zollfreien Zone, geöffnet wurden. Jonas wurde auf eine junge Frau in seinem Alter aufmerksam. Sie hatte dunkle, gewellte Haare und schöne braune Augen, das fiel ihm in dem winzigen Moment auf, in dem ihr Blick auf ihn fiel, als sie ihm entgegenkam. Ihre Haut war gebräunt, als hätte sie bereits einen Urlaub hinter sich, aber vermutlich gehörte sie zu den Menschen, die nie blass waren.

Er nahm sich die Freiheit, stehen zu bleiben und sich nach ihr umzusehen. Er wollte ihre Figur betrachten, ihren Gang, die Art, wie sie sich bewegte. Schlank war sie, grazil und biegsam, ihre Bewegungen waren flink, sie schien temperamentvoll und quirlig zu sein. Obwohl sie ja ihren Urlaub antrat und vermutlich durch die Shoppingmeile schlenderte, um sich alles anzusehen, bewegte sie sich mit schnellen Schritten. Sie schien zu denen zu gehören, denen Langsamkeit nicht lag, auch das mochte er. Schwunglose oder gar phlegmatische Frauen, die träge und kraftlos wirkten, waren nicht sein Fall. Groß war sie, hatte lange Beine und eine schmale Taille. Sie trug einen rosa Pullover, der ihr gut stand, und hatte eine neongrüne Jacke um ihre Hüften geknotet. Es fiel ihm schwer, seine Augen von ihr zu lösen. Aber er würde sie sicherlich irgendwann wiedersehen. Zweitausend Passagiere bildeten zwar ein ganzes Dorf, aber wenn er mittags und abends die Restaurants durchstöberte, würde er sie früher oder später treffen. Und dann wollte er sie ansprechen, das nahm er sich fest vor. Obwohl er damit noch nie viel Erfolg gehabt hatte. Er war nicht gut im Flirten, das wusste er. Was er leider nicht wusste, war, was er eigentlich falsch machte. Wie sollte man sich verbessern, wenn man seine Fehler nicht kannte? Jonas wusste nur, dass er den Frauen auf den ersten Blick zwar gefiel, dem zweiten aber meist nicht standhielt. Er wusste, dass er gut aussah, dass er den Frauen auffiel, aber merkwürdigerweise hatte es mit der großen Liebe noch nicht geklappt. Dabei ging er stramm auf die dreißig zu. Es konnte doch nicht wahr sein, dass er es nicht schaffte, eine hübsche Frau zu heiraten und Kinder zu kriegen!

Aber jetzt gab es erst mal Wichtigeres …

Er sah seine Mutter schon, bevor er an der Tür des Bordshops angekommen war. Eigentlich sah er nur ihr Hinterteil, aber dass sie es war, die auf dem unteren Brett eines Regals etwas suchte, wusste er ganz sicher. Er klopfte an die Eingangstür, aber es erfolgte keine Reaktion. Er klopfte lauter, doch der Oberkörper seiner Mutter ließ sich noch immer nicht blicken. Das Vibrieren, das mit einem Mal durch ihr Hinterteil fuhr, ließ vermuten, dass sie sich einer unlösbaren Aufgabe widmete, die jeden Muskel beanspruchte. Sie setzte ihre ganze Kraft ein, das tat sie immer, wenn sie mit Geschicklichkeit nicht weiterkam, ein Punkt, der bei ihr schnell erreicht war. Jonas war sicher, dass sie jetzt vor sich hin murmelte: »Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt«, oder ihr dieser Satz zumindest durch den Kopf geisterte. Dann verschwand, was von ihr zu sehen gewesen war, verdächtig ruckartig, irgendetwas hatte nachgegeben, seine Mutter war offenbar bäuchlings vor dem Regal gelandet. Nur ihre Schuhsohlen waren noch zu sehen, die so lange herumzappelten, bis Jonas nervös wurde. Wie konnte er seiner Mutter helfen?

Aber dann erschien ihr Hinterteil erneut und schließlich auch der Rest seiner Mutter. Er sah, dass sie sich die Hände abklopfte, als wären sie entweder sehr schmutzig geworden oder als wäre ihr etwas gelungen. Er vermutete Letzteres, denn dass es auf dem Schiff, das heute im Hamburger Hafen gründlich gereinigt worden war, eine schmutzige Ecke gab, war undenkbar. Seine Mutter musste es geschafft haben, irgendeinen Missstand zu beheben. Eigentlich sehr unwahrscheinlich, weil alles, was sie während Jonas’ Kindheit repariert hatte, in kürzester Zeit erneut kaputtgegangen war. Ihre Versuche, sich nach dem Tod seines Vaters handwerklich so geschickt anzustellen wie er, waren allesamt grandios gescheitert. Irgendwann war Jonas dann selbst in der Lage gewesen, das Erbe seines technisch begabten Vaters anzutreten und sich um kaputte Lampen, verstopfte Abflüsse und das Anbringen von Fußleisten zu kümmern.

Jonas begann zu winken, als sich seine Mutter von dem Werk, das ihr anscheinend gelungen war, wegdrehen und ihm zuwenden wollte, da ertönte in ihrem Rücken ein Riesengepolter, das sogar durch die geschlossene Tür zu hören war. Das Regal hinter ihr war in Schieflage geraten, und sämtliche Gesellschaftsspiele, die dort lagerten, rutschten auf den Boden, zunächst die von den unteren Regalbrettern, dann auch sämtliche Schlüssel- und Gepäckanhänger, Buddelschiffe, Grußkartenstapel und Modellbausätze vom oberen Brett. So viel zum Thema gelungene Reparatur!

Jonas erschrak mindestens genauso sehr wie seine Mutter. »Mama! Lass mich rein!«, rief er und war froh, dass gerade niemand in der Nähe war, der die Situation hätte missverstehen können und einen Offizier alarmierte, weil er eine Gefahrensituation vermutete.

Doch seine Mutter hörte ihn nicht. Sie war erneut herumgefahren und starrte auf das, was sich in ihrem Rücken ereignet hatte. Es musste schlimm aussehen.

»Mama!« Jonas pochte an die Glasscheibe.

Nun endlich war seine Stimme zu seiner Mutter durchgedrungen. In Zeitlupe wandte sie sich um, ungläubig, in der sicheren Erwartung, dass das Schicksal ihr einen Streich spielte. Er sah, dass ihre Lippen seinen Namen formten, dann kam sie auf die Eingangstür zugestürzt. »Jonas!« Nun konnte er sie hören. »Was machst du denn hier?«

Sie schoss auf die senkrecht angebrachten Griffe zu, mit denen die Tür aufzuschieben war, und rüttelte daran, erinnerte sich dann jedoch schlagartig, dass sich die Tür des Shops nur öffnen ließ, wenn sie zuvor aufgeschlossen wurde, rannte in den Kassenbereich, um dort nach dem Schlüssel zu suchen, schien ihn aber vor lauter Aufregung nicht auf Anhieb zu finden. Währenddessen sah sie immer wieder zu ihm, schüttelte den Kopf, um zu zeigen, dass sie nicht verstand, warum er auf dem Schiff war, raufte sich die Haare, weil sie den Schlüssel nicht fand, und brachte so viel durcheinander, dass Jonas fürchtete, die Alarmanlage könnte anspringen. Als sie endlich auf die Tür losrannte, mit dem Schlüssel in der Hand, sah sie aus wie jemand, der sich vor einer Katastrophe in Sicherheit bringen wollte. »Jonas!«

Er schaffte es gerade noch, den Laden zu betreten, da wurde er von seiner Mutter in die Arme gerissen, die ihn immer wieder fragte, was um Himmels willen er auf der Soleil mache, ohne ihm jedoch die Gelegenheit zum Antworten zu geben.

Irgendwann gelang es ihm, sich aus ihren Armen zu lösen. Er griff ihr mit beiden Händen in die Haare, um daraus so etwas wie eine Frisur zu formen, was seine Mutter geschehen ließ, ohne ihn abzuschütteln. Schon als kleiner Junge hatte er dafür gesorgt, dass ihr Erscheinungsbild weder seine Freunde noch seine Lehrer erschreckte. »Ich fahre nun doch mit, Mama! Ich weiß nicht, wie lange, aber … ich werde es dir in Ruhe erzählen. Du musst mir jedoch versprechen, kein Wort darüber verlauten zu lassen. Es ist topsecret!«

In diesem Augenblick hörte er ein Geräusch in seinem Rücken, drehte sich um und stellte fest, dass noch jemand eingetreten war. Eine junge Frau, die anscheinend glaubte, der Shop hätte geöffnet. Sie trug einen rosa Pulli und hatte eine neongrüne Jacke um die Hüften gebunden, hatte dunkle gewellte Haare und wunderschöne braune Augen.

Emily

Sie hatte es genau gesehen. Ihm selbst war offenbar nicht aufgefallen, dass sich in einer der Glasscheiben des Bordshops sein Bild spiegelte. So hatte sie erkennen können, dass er sich umdrehte, als sie vorübergegangen war. Und sein Gesicht hatte durchaus so ausgesehen, als hätte ihm das Bild, das sie abgab, gefallen. Emily dachte an ihre Mutter, die sie gewarnt hatte, und musste grinsen. Sie war noch nicht einmal richtig angekommen, da war ihr schon ein Mann begegnet, der genau ihr Typ war. Wie ein Sonnyboy sah er aus, temperamentvoll, schlaksig, unkonventionell. Die Jeans mit den durchlöcherten Knien war sehr cool, das Sweatshirt im Used-Look ebenfalls, und von den Boots wusste sie, dass sie richtig teuer waren. Er war also nicht zufällig so gekleidet, wie sie sich einen Mann vorstellte, der ihr gefallen könnte, sondern ganz bewusst. Sie mochte so was. Auch das blonde kurz geschnittene Haar, die Bräune, die auf längeren Aufenthalt im Freien, am Wasser, in den Bergen hindeutete, die von der Sonne gebleichten Augenbrauen. Anscheinend hatte er einen längeren Sommerurlaub als Surfer, Radfahrer oder Bergsteiger hinter sich. Ob er so wie sie übers Schiff schlenderte, um herauszufinden, was die Soleil während der nächsten vier Monate zu bieten hatte? Wenn sie ihm noch einmal begegnen wollte, würde sie sich vermutlich am Pool, auf dem Jogging-Parcours oder im Fitnessraum umsehen müssen.

Ihre Kabine lag auf Deck 7. Sie hatte sie nur kurz in Augenschein genommen, hatte ihr Gepäck hineingestellt, das vor der Tür auf sie wartete, und war wieder auf den Gang hinausgetreten. Lange, sehr lange Gänge waren das, mit einem Teppichboden gepolstert, der wie ein Giraffenfell gemustert war. Alle Türen an diesem Gang waren gelb, es gab jeweils zwei Ausgänge, die ins Treppenhaus und vor die Aufzugsanlagen führten. Das ganze Innenleben des Schiffs wirkte fröhlich, nicht etwa elegant, als wäre es für vornehme Passagiere gebaut worden. Bunte Farben griffen ineinander, auch Farben, die auf den ersten Blick nicht miteinander harmonierten, Rot und Orange, Pink und Lila. Aber im großen Zusammenhang passten sie eben doch zusammen, es kam Emily so vor, als müsste ein Farbenspektakel sich nur weit genug ausstrecken, um etwas zu ergeben, das schön und stilvoll war. Sie fühlte sich auf Anhieb wohl.

Sie stieg aufs obere Deck, um von dort das Ablegen zu beobachten. Der Hafen lag düster und schmuddelig unter ihr. Auf der Backbordseite schaute sie über das Terminal-Gebäude und den dahinter liegenden Parkplatz hinweg, auf gestapelte Container und unzählige Maschinerien, die den Hafen in Gang hielten. Die Oktoberluft war schon kalt, erinnerte bereits an den November, aber der Wind war noch mild und machte den Aufenthalt an der frischen Luft erträglich. Emily freute sich darauf, dass der kommende Winter für sie weder Eis noch Schnee zu bieten haben würde. Die Reise ging zunächst gen Süden und dann nach Westen. Sie würde monatelang im Sommer leben, wenn es in Deutschland kalt und ungemütlich war, Regen, Schnee oder Glatteis den Alltag schwer machten. Sie sah auf die Uhr. Noch eine Stunde bis zum Auslaufen.

Mit Schrecken fiel ihr ein, dass sie etwas vergessen hatte. Ausgerechnet das, was man als Frau gern griffbereit hatte, man wusste ja nie. Wo mochte es Tampons geben? Im Bordshop? In der Parfümerie? Oder in dem Kiosk auf dem unteren Deck, wo man auch so profane Dinge wie Zahnpasta und Allzweckcreme bekam?

Sie beschloss, es im Bordshop zu versuchen und sich, wenn er geschlossen hatte, zu informieren, wann er geöffnet wurde. Sie ging zurück ins Innere des Schiffs und vertiefte sich in die Übersicht, die neben jedem Aufzug hing. Aha, Deck 9! Die Einkaufsmeile. Ein ziemlich pompöser Begriff für die paar Läden, die es dort gab, aber es war den Ausstattern tatsächlich gelungen, so etwas wie eine weitläufige Ladenstraße zu erschaffen, die größer wirkte, als sie war.

Sie stellte fest, dass der Bordshop geöffnet sein musste. Jedenfalls sah sie eine Verkäuferin im hinteren Teil des Ladens und einen Mann, von dem allerdings nicht viel zu erkennen war. Er machte sich an einem Regal zu schaffen. Vielleicht kein Kunde, sondern ein Handwerker? Die Tür war geöffnet, wie schön!

Erfreut trat sie ein und rief: »Guten Tag!«

Eine weibliche Stimme antwortete ihr aus der Ferne: »Noch geschlossen!«

»Die Tür ist aber offen«, gab Emily zurück.