Kaputter Nebel - Carolin Gmyrek - E-Book

Kaputter Nebel E-Book

Carolin Gmyrek

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Beschreibung

Während eines schweren Sturms verschwindet die sechsjährige Tiiu spurlos. Jahrzehnte später taucht sie nicht gealtert wieder auf und die Welt gerät aus den Fugen. Die Menschheit beginnt hinter dem Nebel nach Antworten zu suchen und findet sprechende Schweine, winzige Drachen und Substanzen, die ihn in neue Sphären schweben lässt. Der Nebel, der die Welten voneinander getrennt hatte, ist verschwunden und die Gesellschaft muss sich neuen, übernatürlichen Herausforderungen stellen. Welche Magie darf verwendet werden? Wie gefährlich sind die Tränke und Stoffe der wilden Hexen? Welche Rechte haben sprechende Tiere? »Kaputter Nebel« ist eine Märchendystopie zwischen dem Menschsein und Nichtsein. Es treffen »Rotkäppchen«, »Des Nebelbergs König«, »Blaubart« und viele andere Märchen aus der ganzen Welt aufeinander. Sie suchen nach ihrem eigenen Sein und ihrem Platz zwischen den Menschen.

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Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11

Kaputter Nebel

Carolin Gmyrek

© 2022 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat: Lilly RautenbergerUmschlaggestaltung: Christian Günther Atelier Tag Eins | tag-eins.de

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-492-7ISBN E-Book – 978-3-95869-493-4Printed in the EU

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1/22

Prolog

Der Tag begann mit einem derart blauen Himmel, dass die Vögel irritiert Pirouetten schlugen. Die Sonne strahlte ein wunderschönes Lächeln in die Welt, der Wind wiegte sanft die Bäume in den Schlaf und der Mensch vergaß in seiner Sorglosigkeit, dass es Flauschewolken überhaupt jemals gegeben hatte. Ein paar Insekten summten ein wirr sirrendes Lied vom Morgentau auf Gräserspitzen.

Ein grünes Wiesenmeer breitete sich vor uns aus und bebte unter unseren erwartungsvollen Blicken. Ich hatte Gänseblümchen im Haar. Sie dufteten süß wie Omas frischgewaschene Sofakissen. Es waren kleine Pflänzchen, die wir in unserem kindlichen Tatendrang gebrochen hatten, um uns mit ihren Leichen zu behängen. Sieben an der Zahl; und zwei von ihnen ließen bereits die Köpfchen sinken, während wir sie uns gegenseitig ins Haar flochten.

Wer waren die anderen Kinder? Ich weiß es nicht mehr. Sie waren da, so wie sie immer dagewesen waren. Hübsche, kleine Menschen, die ihre Gesichter verloren hatten und an deren Stelle schwarze Flecken waren. Nicht einmal ihre Namen kenne ich noch. Dabei spielten wir oft miteinander. So oft, dass ich glaube, niemals etwas anderes getan zu haben, als mit diesen Kindern auf der Wiese hinter unserem Haus zu spielen. Wir rannten und sangen und tanzten und taten so viel, was eben kleine, naive Rotznasenkinder in diesem Alter taten. Jedenfalls glaube ich das. Ich erinnere mich nicht mehr.

Aber ohnehin war dieser wolkenlose, sonnige Sommertag etwas Besonderes. Ich hatte es damals schon gewusst … oder ich glaube, es damals schon gewusst zu haben. Spielt das eine Rolle? Ich war ein Kind, wie jedes andere. Ich liebte es, zu toben, zu raufen und die Welt zu entdecken. An diesem Morgen hatte ich einen Kakao von meiner Mutter bekommen, mit Sahne und ein paar bunten Streuseln. Sie gab mir einen Kuss, bevor ich übermütig aus dem Haus rannte, vorbei an den hundert weißen Rosen und dem kleinen Teich mit den Kröten. Die hatten an diesem Tag besonders laut gequakt. Unser Grundstück war groß und mit einem hellbraunen Lattenzaun umgeben. Grüner Efeu rankte sich an einer Stelle über das Holz und suchte sich einen Weg in die Freiheit.

Ein Stück vom Haus entfernt, nur wenige Schritte für einen Erwachsenen, doch eine Abenteuerreise für einen unfertigen Menschen wie mich, stand das Tor zur Wiese immer offen. Der Rost hatte die Scharniere zerfressen und niemand hatte sich darum gekümmert. Es war nicht nötig gewesen.

Die anderen hatten auf mich gewartet. An diesem wunderschönen Sommertag wollten wir hinunter zum Bach nahe dem kleinen Wald und dort ebenso kleine Papierschiffchen schwimmen lassen. Eins der Ohngesichtskinder hatte einen Eimer für die Kaulquappenjagd dabei.

Ich trug ein gelbes Kleid. Ja. Ich wollte Fische fangen. Ich wollte unbedingt kleine Fische für den Teich im Garten, als Freunde für die Kröten. Ein anderes Kind erzählte irgendwelche dummen Witze, über die ich lachte, wie ich über alles lachte, was eins der anderen Ohngesichter erzählte. Dabei war mir die Stille schon damals viel lieber gewesen.

Ich liebte die Geräusche am Bach. Tue es auch jetzt noch. Die Stille und das leise Spiel des Wassers. Es klingt, als würde jemand auf den Steinen eine süße Senate spielen. Als hätte der Bach ein Klavier in die Natur gebrochen, mit steinernen Tasten und sandigen Saiten. Ein Chor aus Tauben und Spatzen begleiteten ihn.

Wir saßen dort Stunde um Stunde. Die Zeit verging, und weil wir vergessen hatten, dass es überhaupt Wolken gab, erkannten wir zu spät das nahende Gewitter.

Mit Pauken und Trompeten krachte es über uns herein. Sturzbachähnliche Wasserfälle fluteten unsere kleinen Körper und verwandelten den Bach in einen gefräßigen Lindwurm. Dem Wasser folgte der Sturm. Eiskalter Wind zog an dem gelben Stoff, als würde er selbst mein Kleid besitzen wollen. Er zerrte und zog, bis ich den Halt verlor und von den glatten Steinen in den Bach rutschte. Sofort ergriff mich der Drache und schickte seine Schuppen, um mich in den Schlamm zu bannen. Ich schluckte Wasser und ruderte mit den Armen. Die Panik ließ mich vergessen, dass ich größer war, als ein Wurm; dass ich eine Drachenkriegerin war, eine Kämpferin gegen diese Urgewalt.

Ich drückte mich wieder an die Luft und wurde sofort vom donnernden Applaus der Himmelswesen begrüßt. Schlamm und Dreck verklebten mir die Augen. Ich schrie, doch niemand antwortete. Die anderen waren längst zum Haus geflüchtet. Ob sie mich da bereits vergessen hatten?

Eine übermütige Welle versuchte, mich wieder in den Schlamm zu drücken, doch ich weigerte mich, ihr nachzugeben. Standhaft zog ich mich an das rettende Ufer, keuchte und fauchte und wütete gegen den Bach, der mir einst so ein musikalischer Freund gewesen war und nun mein schlimmster Widersacher.

Nasse Haarsträhnen klebten mir an Wangen und Hals. Die Gänseblümchen waren längst vergangen und irgendwo riefen die Raben nach mir. Ich wusste nicht, wo ich war. Der Bach hatte mich irgendwohin getragen, ohne mir nur einen Hinweis zu geben, wie ich wieder nach Hause gelangen könnte. Selbst das kurze Aufflammen eines Blitzes in der Ferne half mir nicht weiter. Der Himmel war schwarz vor Zorn, die Bäume schlugen mit ihren Ästen nach mir und ich weinte. Ich weinte, wie ich nie zuvor geweint hatte.

Ich hatte mich verloren. Mich; den Weg; die Gänseblümchen und die Ohngesichter. Stundenlang starrte ich in Regen und Sturm den Wald an, als könnten mir die paar Bäume und Büsche verraten, wie ich wieder nach Hause fand. Ich hätte einfach dem Bachlauf folgen können, doch irgendwas innerhalb dieses Waldes beeindruckte mein kindliches Gemüt so sehr, dass ich daran gar nicht dachte. Ich kann es nicht beschreiben, doch es lockte mich. Vielleicht war es ein altes Kinderlied, dass von Fern an meine Ohren klang. Oder der Geruch von Lebkuchen und Zimt.

Ein beruhigendes Licht schimmerte durch die Äste, lockte und schmeichelte mir, bis ein warmer Nebel mich bei der Hand nahm und unter das schützende Blätterdach führte.

Eine wohlige Wärme trocknete mir die Tränen, während ich immer tiefer in den Wald vordrang. Ich folgte einem uralten Pfad, der nie existiert hatte. Ich ging einen Weg, der sich nur mir auftat, für mich allein und nach mir wieder verschwand wie ein flüchtiger Atemzug.

Ich fühlte mich sicher. Geborgen, ja. All die Angst, die Furcht und die Wut hatte ich an dem kleinen Bach zurückgelassen. Und der Sturm tobte weiter. Er fuhr unbarmherzig durch die Baumwipfel, spuckte und spie eiskaltes Wasser auf das Leben und donnerte seinen Zorn durch den Himmel. Aber in diesem Moment meiner Wanderschaft hatte ich ihn völlig vergessen.

Keine Ahnung, wie lange ich unterwegs gewesen war. Meine Füße waren vom Schlamm und Dreck verkrustet, vermutlich unterkühlt. Ich spürte es nicht. Meine Arme waren von den Ästen der Bäume zerkratzt, meine Finger blau vor Kälte und mein Kleid zerrissen. Aber genauso hätte ich bei einer heißen Schokolade mit meiner Mutter unter einer Decke kuscheln können; ich hätte keinen Unterschied gemerkt.

Irgendwann lichteten sich die Bäume. In der Ferne tanzte ein Leuchten, reckte sich nach allen Seiten und brannte sich in den weißen Nebel. Ich folgte ihm und trat kurz darauf auf eine kleine Lichtung.

Und vielleicht hätte ich an diesem Punkt merken sollen, das etwas nicht stimmte. Der Regen schlug ein grausames Stakkato. Trommelnd gingen unzählige Regentropfen auf die Blätter des Waldes nieder. Doch hier, auf dieser Lichtung, schien das Gras unberührt. Angenehm kühl passte es sich jeden einzelnen Schritt an. Sanft umwaberte der Nebel meine nackten Beine. Er zog mich weiter. Ich hörte seine Stimme. Rau und alt. Komm mit uns, flüsterte er. Komm mit uns.

Und wie er mich durch den Wald geführt hatte, so brachte er mich zum Herzen der Lichtung. Es strahlte.

Im Mittelpunkt flackerte ein kleines Lagerfeuer, hübsch und warm. Und an diesem Feuer saß eine gebeugte Gestalt in einem alten, grauen Wollumhang und mit einem riesigen Schlapphut. Das Gesicht war nicht zu erkennen. Er hielt es gesenkt, während er mit einem langen Stock im Feuer herumstocherte.

»Setz dich, Kind!«, sprach er und ich leistete keine Widerworte. Schweigend nahm ich auf einem umgeworfenen Baumstamm Platz und starte in die Flammen. Sie tanzten, warfen ab und an freche Funken und schmiegten sich leidenschaftlich in die Richtung des Alten. Ja … alt … an seiner Stimme hatte ich es erkannt. Sie war ruhig und sanft, aber es war auch deutlich zu erkennen, wie sie im Zorne klingen mochte.

»Hast du Hunger?«, fragte er. Ich nickte. Und als ich wieder zum Feuer schaute, stand in diesem ein Topf mit einer leckeren, wohlriechenden Suppe. Der Alte hatte statt seines Stockes einen Holzlöffel in der Hand und eine Schüssel mit eben dem, was ich in dem Topf vermutete. Er reichte es mir und lächelte… Und ich sah zum ersten Mal sein runzliges, graues Gesicht und seine wunderschönen, eisblauen Augen. Sie funkelten gütig. Sie lächelten, ja lachten mehr, als es sein Gesicht je könnte. Seine Augen machten ihn stark und unbesiegbar, während sein restliches Gesicht vom Alter gezeichnet war. Seine Lippen waren dünn und farblos, seine Wangen eingefallen und seine Nase lang und gebogen. Er erschien wie jeder andere alte Mann, abgesehen von seinen Augen.

»Danke!«, flüsterte ich in die Schüssel hinein. Natürlich war mir bekannt, dass man von fremden Menschen nichts annehmen sollte, aber mein Magen knurrte von den Anstrengungen der letzten Stunden und der Duft der kargen Mahlzeit verführte meine kindliche Neugierde. Die Suppe sah wunderbar aus. Klar wie Wasser mit Kräutern, Pilzen, Möhren und anderen Ingredienzien, die ich in meinem jungen Alter noch nicht zuordnen konnte.

Ich setzte die Schüssel an meine Lippen und kostete die wohl leckerste Speise, die ich bis zu diesem Augenblick hatte essen dürfen. Süß wie Honig. Ich schmeckte den ganzen Wald, die Wiese, den Nebel, die Sterne und den Mond. Der Alte schaute mir lächelnd zu, bevor er mir die leere Schale wieder abnahm und neben sich auf die Wiese stellte.

»Es scheint dir geschmeckt zu haben. Gut.«, sagte er. Sein Blick wanderte in den Himmel. Meine Augen folgten ihm. Der Sturm war vergangen, jedenfalls an diesem kleinen Ort. Stattdessen war ein riesiges Sternenzelt über uns gespannt. Der Mond schien so nahe zu sein, dass ich ihn hätte berühren können; und um ihn herum tanzten die Sterne zu des Baches Senate und dem lieblichen Chor der Nachtigallen. Ich war von ihrem Anblick wie gelähmt, sie. Ihre Schönheit betörte mich.

»Sie sind meine Töchter.« Stolz hob der Alte seine Arme, als würde er den Himmel umarmen wollen. »Junge Tiiu. Ich bin froh, dass du mich gefunden hast. Der Graue wollte dich schon holen, denn in deiner Brust ruht der Sturm. Ich bitte dich zu bleiben, bis dieser Sturm vergangen ist. Tiiu. Schwester der Nebeltöchter.«

»Ich erinnere mich an seine Worte. Ich höre sie noch heute, als würden sie mir gerade ins Ohr geflüstert. Aber das ist nicht wahr. Es ist nicht möglich. Er ist gegangen und hat uns in dieser Welt zurückgelassen.«

Tiiu atmete tief durch. Sie war mit ihrer Geschichte am Ende angelangt. Doch sie ahnte, dass die Menschen sich mit diesem Ende nicht zufriedengeben würden. Sie brauchen mehr. Sie brauchen immer mehr. Zum Beispiel Antworten, die Tiiu ihnen nicht geben konnte oder wollte.

»Wie ging es weiter, Tiiu? Was geschah dann?«, fragte Tillmann und sie musste gleichzeitig lächeln und die Augen genervt verdrehen. Sie hatte das erwartet. Besonders von dem überambitionierten Psychiater, der sich damit brüstete, als erster anerkannter Fachmann für ›Übernatürliche und Verlorene‹ zu gelten. Die Regale an seinen Wänden zierte die kleine Auswahl an bisher publizierten Fachwerken einiger Kollegen und selbsternannter Forscher aus Biologie, Psychologie, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, sowie aus Literatur und Kunst. Vermutlich hatte er sich ein hervorragendes Wissen aneignen können, dass nicht einmal ansatzweise stimmte. Eben Halbwahrheiten und Schwurbeleien, die sich die Menschen in den letzten 30 Jahren zusammengereimt hatten, nachdem sie die eigentlichen Forschungsobjekte soweit vernichtet hatten, dass sie eigentlich gar keine Forschung mehr betreiben konnten.

Tillmann versuchte wenigstens die Übernatürlichen und Verlorenen in seinen Sitzungen sprechen zu lassen. Ungeschickt und zermürbend zwar, aber doch produktiv. Dieser Mensch hatte etwas Unerklärliches, das ihr ein vertrautes Gefühl vorgaukelte. Deshalb war sie heute hier. In diesem kleinen, grauen Raum, wo sich das Licht der untergehenden Sonne einen Weg durch die Rollos bahnte und ein Gefühl von Gefangenschaft an die gegenüberliegenden Wände warf.

Mit ihr und Tillmann waren noch drei weitere Menschen hier in diesem Raum. Sie waren Opfer. Sie waren tragische Kreaturen, gebeutelt vom Schicksal. Und ihre Geschichten waren schon tausendmal erzählt worden. Sie litten. Sie hatten Angst und waren hier, um ihre Erlebnisse zu verarbeiten und diejenige zu sehen, die ihnen diesen Schmerz gebracht hatte. Hätten sie es denn anders je gemerkt?

»Darüber spreche ich nicht!«, sagte Tiiu. Sie lehnte sich ein wenig zurück und starrte Tillmann in die Augen, vermied jedoch die Blicke der drei anderen. Der Psychiater tippte nachdenklich mit dem Mittelfinger gegen sein Bein, bevor er sich seinem Klemmbrett zuwandte und etwas notierte, begleitet von unverständlichem Gemurmel und Kulikratzen. Erst, als er mit seinen Notizen fertig war, hob er wieder den Blick.

»Ich kann mir vorstellen, dass sogar noch nach all den Jahren das Trauma …«

»Ich habe kein Trauma, Dr. Tillmann. Das sagte ich Ihnen bereits. Ich habe nur keine Lust mehr, darüber zu sprechen. Welchen Sinn hat das schon? Scheinbar weiß die gesamte Menschheit ohnehin mehr als ich.«

Tillmann seufzte. Er kannte die Verbohrtheit seiner Patientin zu Genüge. Besonders, wenn es um die Geschehnisse nach ihrem damaligen Verschwinden ging. Dennoch gab er nicht auf. Er klammerte sich an sie, wie eine Zecke an einen Ochsen. Tiiu wusste von dem Buch, das er gedachte zu schreiben. Ein Buch über sie, wie es schon so viele davor gab. Doch dieses Mal wollte der Autor zumindest versuchen, vorher mit ihr zu sprechen.

»Möchtest du uns denn gar nichts sagen? Vielleicht vom Schloss, von den Gärten, den Nebel …«

»Nein!«, unterbrach Tiiu barsch. »Sie kennen die Fotos und Videos. Es ist Vergangenheit. Also warum von etwas erzählen, dass es nicht mehr gibt und für die meisten ohnehin hätte nie geben dürfen?«

Tillmann rutschte in seinem Sessel gleichzeitig aufgeregt, als auch nervös hin und her. Er konnte seine Neugierde kaum bändigen. Die drei anderen dagegen schienen ängstlich. Viele Menschen waren ängstlich. Jedenfalls bis zu dem Moment, da die Angst und die Unwissenheit zu Hass und Hass zu Gewalt wurden. Mittlerweile hatte Tiiu ein Gespür dafür entwickelt, wann die Stimmung kippte.

Tillmann schnalzte mit der Zunge, während er sich mit seinem Körper auf eine für den Betrachter unbequeme Sitzposition einigte. Das Schnalzen seiner Zunge kannte Tiiu. Er dachte über seine nächste Frage nach, die er ihr stellen wollte, ohne ihr die Möglichkeit zum Ausweichen zu lassen. Seine drei anderen Patienten vernachlässigte er dabei gewissenhaft. Er schaute sie nicht an, sprach nicht mit ihnen und reagierte nicht einmal auf ein Handzeichen. Ein Fehler, dachte Tiiu. Das würde sich rächen. Besonders der braunhaarigen Frau, die Tiiu schräg gegenüber saß, konnte man die Anspannung und die Wut sehr gut ansehen. Bald würde sie platzen.

Und genau das tat sie auch, als Tillmann zu seiner Frage ansetzte. Während er Luft holte, begann sie bereits zu zischen wie eine kampfbereite Kobra. Tillmann zuckte zusammen, die Frau sprang von ihrem Stuhl. Ihre Augen fixierten Tiiu.

»Du undankbare Göre!«

Tiiu seufzte und schloss die Augen im stillen Einverständnis mit dieser Frau. Sie fragten sich beide, was Tiiu hier zu suchen hatte. Tiiu wusste es nicht, die Frau verstand es nicht.

»Wir sitzen hier schon eine Stunde herum und hören dieser dummen Verlorenen zu. Diese alte Geschichte haben wir doch nun schon tausendmal gehört. Jeder verdammte Mensch kennt sie. Aber es ändert nichts daran, dass wir dieses Gör gerettet haben und sie uns dafür verdammt hat! Sie kann ihr beschissenes Maul aufreißen und hier sitzen und sich weigern zu reden, wie sie tolle Suppe und neue Spielgefährten bekommen hat. Währenddessen liegen die Überresten meines Sohnes in einem Grab und das Herz seines Vaters in einem steinernen Gefäß.«

»Katharina, Bitte! Beruhige dich erst einmal! Und dann …«

Doch Katharina wollte sich nicht beruhigen. Ihre Wut türmte sich zu einem Gebirge auf. Sie war verletzt und sie fühlte sich um ihre Trauer betrogen. Tiiu konnte das durchaus nachvollziehen. Vor einigen Jahren hätte die Frau vermutlich nicht einmal gewusst, was ihrem Sohn geschehen und warum ihr Mann so geworden war. Nun hatte sie eine Schuldige vor sich sitzen und sie konnte ihrer Wut freien Lauf lassen. Fast ungehindert. Der schmächtige Tillmann mit seiner Drahtbrille würde nicht dazwischen springen und die beiden anderen Herren schienen in einem inneren Zwiespalt, der sich nicht so leicht beiseitelegen ließ. Tiiu konnte nur hoffen, dass sie der Braunhaarigen nicht zur Hilfe sprangen.

»Ich sollte gehen!«, sagte sie und stand ebenfalls von ihrem Platz auf. Einen Moment lang schien es so, als würde die Frau Tiiu den Weg zur Tür versperren, doch dann trat sie tatsächlich zurück.

»Ist wohl besser so, Verlorene!«

Tiiu nickte. Sie wollte sich nicht mit der trauernden Frau streiten. Es war ohnehin eine schlechte Idee gewesen, auf die Bitte von Tillmann zur Sitzung zu kommen. Was hatte er sich dabei gedacht? Hatte er sich vielleicht sogar eine solche Reaktion erhofft? Eine emotionale Auseinandersetzung, an deren Ende Tiiu aus Scham und Schuld über die Vorkommnisse vor 30 Jahren sprechen würde? Eigentlich hatte sie den Psychiater nicht so berechnend eingeschätzt; eher etwas zerstreut und forsch. Dennoch konnte sie ein Glitzern in seinen blauen Augen erkennen, und dann Wissen. Das Wissen, dass sie nun gehen würde. Er konnte sich in diesem Moment keine Blöße geben. Nicht vor der Frau, nicht vor den beiden anderen, die noch immer still und unscheinbar auf ihren Plätzen saßen. Tillmann zögerte, doch er konnte nichts anderes tun, als aufzustehen, zwischen seine Patientinnen zu treten, Tiiu die Hand zu geben und: »Schade«, zu flüstern. »Sicherlich hätten wir viel von dir lernen können, Tiiu. Sehen wir uns in der nächsten Woche?«

Tiiu nickte, dann verließ sie das graue Gefängnis, um in eine Realität zu flüchten, die sie ebenso wenig haben wollte, wie die Realität Tiiu haben wollte.

Kapitel 1

Jede Nacht trifft sich das Rudel unter den Brücken der Stadt.

Über ihnen rauscht der Lärm des Lebens und darunter fressen sich die Würmer satt.

Das Feuer wärmt ihre Körper und Flaschen machen sie kalt.

Zwischen Endorphinen und Testosteron grinst das Elend der Gewalt.

Wenn einer lacht, dann lachen alle mit; tritt einer zu, bleibt keiner zurück.

Sie schnaufen und stampfen und heulen zum Mond.

In dieser Nacht wird niemand verschont.

Und dann läutet die Glocke.

Und es erklingt der Schrei.

Es beginnt mit einem Sturm und es ist niemals vorbei.

Katharina erzählte ihre Geschichte, als hätte sie ihr langes Leben nichts anderes getan. Peter war sich sicher, dass dies auch der Fall war. Geübt begann sie an den richtigen Stellen zu weinen, verwandelte ihre Trauer innerhalb von Sekunden in Wut und Hass und verfiel am Ende in eine scheinheilige Resignation. Das Theater war perfekt und die Anwesenden konnten gar nicht anders, als für die rundliche Witwe Mitleid zu empfinden.

Ähnlich wie bei Tiiu war Katharinas Geschichte durch die Presse gegangen. Die Bilder des von einem Rudel Wölfe zerfleischten Jungen hatten die Nation schockiert. Die Entschleierung war erst ein paar Tage her und noch nicht wahrnehmbar gewesen. Bis auf ein paar aufgetauchte Riesen und eine verendete Meerjungfrau in einem Fischernetz, hatten die Menschen nicht viel, worüber sie nachdenken mussten. Ihr Leben ging einfach weiter.

Und dann verschwand dieser Junge und tauchte als Gulasch wieder auf. Zuerst dachten die Menschen nicht, dass etwas Übernatürliches daran beteiligt gewesen sein könnte. Mit der Vernichtung des Königs war in ihren Augen alles unerklärlich Böse aus ihrer Welt verschwunden. Da die Überreste des Jungen in einem Wald gefunden worden waren, schlussfolgerten Idioten daraus, dass Wölfe sich ein leckeres Festessen gegönnt hatten. Und da es keine andere Erklärung gab, begann die Jagd. Hunderte Menschen waren mit Knüppeln, Bögen und Schusswaffen in den Wald gestürmt, um das Monster und sein Rudel zu suchen. Sie fanden sie und schossen sie nieder; ein Wolf nach dem anderen, während sich Mama und Papa Gulasch im Hintergrund die Hände rieben.

Vermutlich hätten die Menschen jedes einzelne Raubtier getötet, wenn nicht einer der Wölfe um sein Leben zu flehen begonnen hätte und damit offenbart hatte, dass er über eine gewisse Intelligenz verfügte.

Nun, die hatten die Wölfe auch schon vor der Jagd gehabt, genauso wie Gefühle und Gedanken. Aber Menschen sind nicht sonderlich klug und sprechen erst dann einem Lebewesen eine Seele zu, wenn dieses in leichtverständlichen Worten zu reden beginnt.

Und auf einmal wurden sich die Menschen bewusst, dass sie darauf nicht vorbereitet gewesen sind. Was sollten sie tun? An ein weiteres Totprügeln war nicht mehr zu denken. Andererseits konnten sie die restlichen Wölfe schlecht vor Gericht zerren. Und am Ende fing man die letzten drei Welpen ein, sperrte sie in einen Zoo und ließ sie dort vor sich hin vegetieren.

Es dauerte fünf Jahre, bis die ersten Gesetze zur Regulierung der Übernatürlichen verabschiedet wurden. So durfte keine offensichtliche Magie verwendet werden, keine Wahrnehmungen beeinflusst oder Gegenstände verändert werden.

Nach weiteren fünf Jahren entschieden die Gerichte, dass Tieren, die zu sprechen begannen, menschenähnliche Rechte zustanden. Das bedeutete zwar nicht, dass sie wählen durften, aber immerhin durften sie weder gegen ihren Willen festgehalten, geschlachtet oder anderweitig missbraucht werden. Die Zoos verloren ihre Ausstellungsstücke, die Bauern ihre Milchkühe und die Schlachter ihre Schweine.

Doch leider galten diese Gesetze nicht für alle nichtmenschlichen Lebewesen. Egal, ob ein Huhn zur Familie eines sprachbegabten Federviehs gehörte oder nicht, solange es nicht selber Worte aus seinem Schnabel kreischte, wurde es weiter zur Eierablage gezwungen. Gefangene blieben Gefangene, Tiere ohne Sprache blieben … eben Gegenstände. Und das ist bis heute so.

Im Endeffekt war es egal. Die drei Wolfswelpen hatten die Zeit im Zoo ohnehin nicht überlebt.

Doch wie ging es für Katharina weiter? Die mediale Aufmerksamkeit, die diese Frau erhielt, schien den Verlust ihres Sohnes gut zu ersetzen. Während sie durch Spenden und Auftritte Geld verdiente, brach das Herz ihres Mannes. Peter wusste nicht, was damals wirklich geschehen war. Es hieß, dass der Vater des Jungen unter der Last nicht mehr leben konnte, aber auch seine Frau nicht im Stich lassen wollte. Deshalb verkaufte er sein Herz an einen Holzriesen und lebte noch ein paar herzlose Jahre als emotionsloses Arschloch, bevor er sich von einem Hochhaus in die Tiefe stürzte.

Natürlich war das ein schreckliches Schicksal für die liebe Katharina. Erst der Sohn, dann der Mann … hatte sie überhaupt nur ein einziges Mal deren Namen genannt? Nun ja, vielleicht konnte es ihr verkohltes Stück Herz nicht ertragen, die Namen ihrer verlorenen Familie auszusprechen.

Und Peter machte es wütend. Jedes Wort dieser Frau brachte sein Blut zum kochen. Jedes Schluchzen hätte er am liebsten mit seinen eigenen Händen in wohliges Röcheln verwandelt. Doch er konnte nicht. Nicht, solange die beiden anderen Männer noch anwesend waren.

Tillmann hörte der Frau aufmerksam zu und stellte ab und an eine Frage, die Katharina nur zu gerne leidvoll beantwortete. Sie schniefte und weinte und Hagen – der zweite männliche ›Patient‹ neben Peter – reichte ihr ein mit Stickereien verziertes Taschentuch.