Karls Wiederkehr - Rudolf Alexander Mayr - E-Book
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Karls Wiederkehr E-Book

Rudolf Alexander Mayr

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Beschreibung

Tirol, 1975. Der Extrembergsteiger Karl Platz, wie immer in Geldnöten, begegnet seinem ehemaligen Schulkollegen Angelus Korff wieder, mit dem ihn einige traumatische Jugenderlebnisse verbinden und der mittlerweile zu den reichsten Unternehmern des Landes gehört. Die beiden treffen eine fragwürdige Vereinbarung. Widerwillig nimmt Karl den zwielichtigen Bekannten mit zu einer Expedition in den Himalaya. Eine Expedition, die alte Wunden aufreißt und beiden zum Schicksal wird. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich ein poetischer Thriller, der intensiv um die Frage nach der menschlichen Bestimmung und dem Wunsch nach Erlösung kreist. Faszinierend und geheimnisvoll, fesselnd bis zum Schluss.

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Rudolf Alexander Mayr

Karls Wiederkehr

FÜR ANNINA

Rudolf Alexander Mayr

KARLS WIEDER KEHR

Ein Bergroman

Tyrolia-Verlag · Innsbruck-Wien

Es ist schwierig zu lügen,wenn man einen Roman schreibt.John Williams

I

Als Karl, ein Tiroler Bergsteiger, anlässlich einer Reise für einige Monate wie vom Erdboden verschluckt blieb, war dieser Umstand nicht weiter auffällig. Denn Karl hatte sich in seinem Bergsteigerleben schon oft auf Expeditionen begeben, meistens ohne sich vorher groß zu verabschieden (so wie es andere oft taten), und war nach einigen Wochen oder Monaten von irgendeinem Ort der Welt zurückgekommen, ohne ein großes Wiedersehensbrimborium zu veranstalten. Einmal war er sogar ein ganzes Jahr weg gewesen und hatte, wie nur wenige Eingeweihte wussten, diese Zeit in einem Iñupiatdorf verbracht, mitten unter alaskanischen Eskimos.

Aber dieses Mal mehrten sich die Monate seiner Abwesenheit und wurden zu einem Jahr, und aus diesem Jahr wurden zwei, und schließlich wurde Karls lange Abwesenheit zum Hauptgesprächsstoff in jenem Gasthaus, das am Fuß des Berges lag, auf dem Karls Hütte stand.

Einige der Gäste dort waren schon immer reiselustig gewesen, so wie es Tiroler oft sind, wenn sie ihrem Trogtal entkommen wollen. Also erzählte einer, der jedes Jahr nach Alaska fuhr, des Fischens wegen, er habe Karl gesehen, in der Bar einer kleinen Goldgräberstadt, wie er ruhig sein Bier trank und einheimischen Geschichtenerzählern zuhörte. Er habe einen sehr ruhigen, fast glücklichen Gesichtsausdruck gehabt.

Ein anderer an diesem Gasthaustisch war gerade vor zwei Monaten von einer Wanderung im Himalaya zurückgekehrt. Er berichtete von einem kleinen Ort namens Junbesi, von dem aus man in einer guten Fußstunde das höher gelegene Thubten-Chöling-Kloster erreichen konnte. Dorthin sei er am Abend gegangen, obwohl er durch den Tagesmarsch vorher schon recht müde war. Als er von den Klosterbrüdern freundlich in den großen Saal gebeten wurde, brannten dort schon Tausende Kerzen und gaben dem Raum einen warmen Schein und auch den Hunderten Betenden, bei denen es sich um Männer und Frauen handelte, wie er herausfand, nachdem er den betenden Stimmen gelauscht hatte. Sie alle, Männer wie Frauen, hätten glatt rasierte Köpfe gehabt, berichtete der Reisende an diesem Gasthaustisch. Aber nur einer von ihnen habe einen langen Bart getragen, fast so, wie man Konfuzius von Bildern her kennt. Und auf einmal habe der sich umgedreht, mitten im Gebet, und ihn, den Reisenden, angesehen. Es sei Karl gewesen, unverkennbar Karl, und er habe ihm in die Augen gesehen, vielleicht eine, vielleicht zwei, vielleicht fünf Minuten lang. Er, der Reisende, würde diesen Blick nie mehr vergessen, denn er hatte in ihm eine Art Frieden ausgelöst, ja sogar Glück, und dieses Gefühl habe ihn seither nie mehr verlassen, auch wenn es jetzt nur mehr Erinnerung war. Ihm, dem Reisenden, war gewesen, als hätte Karl gewollt, dass er diesen Blick mit sich nahm, mit sich nach Hause nahm, wie eine eiserne Reserve für Notfälle, ein Proviant, wenn ihm einmal das Glück nicht mehr zur Seite stünde.

Ein anderer der Vielreisenden wollte ihn in Kangsha gesehen haben, einem malerischen kleinen Dorf in Nepal, auf viertausend Metern Höhe gelegen, am Fuße der großen Berge Tarke Kang und Gangapurna, mit schönen kubischen Steinhäusern und kunstvoll geschnitzten Eingangstüren und Fensterstöcken. Hier wollte er ihn gesehen haben, im Schatten eines großen Mythenbaumes, den man im Himalaya Carsso nennt, und Karl, der in einheimischer Tracht gekleidet war, hatte, offensichtlich als Lehrer, dort mit den Kindern Bockspringen veranstaltet.

Allen diesen Erzählern gemeinsam war, dass sie sich über die Begegnung mit Karl so weit entfernt von ihrer Heimat gefreut hatten und zugleich kein Bedürfnis verspürt hatten, ihn anzusprechen, vielleicht aus Andacht oder vielleicht, weil ihnen alles das so selbstverständlich und logisch erschienen war.

Einer der Anwesenden glaubte gar, Karls Gesicht in einem Moose, einem jener riesigen Elche im Norden Alaskas, erkannt zu haben, was bei den Zechbrüdern an dem Wirtshaustisch große Heiterkeit hervorrief, und wieder ein anderer, ein Skitourengeher aus dem gleichen Ort, hatte Karls Gesicht wie gemeißelt in einem Gletscher des Berner Oberlandes gefunden und fotografiert. Aber wie sehr die Wiedergabe dieses Fotos auch anfangs verblüffte, die Trinkkumpane taten die Skulptur als reinen Zufall oder Laune des Gletscherflusses und des Windes ab.

An dieser Stelle der Erzählungen mischte sich Otto ein, der Briefträger des Ortes.

Er sagte, dass solche Gesichter universal seien ab einem bestimmten Grad der menschlichen Reife und deshalb verwechselbar oder eben auch nicht. Man finde sie selten, aber doch verstreut über die ganze Welt, sagte Otto, was für alle an diesem Tisch seltsam klang, denn alle glaubten, dass Otto noch nie die Grenzen ihres Heimatortes überschritten hatte. Eben wegen ihrer Universalität, sagte Otto, hätten wahrscheinlich alle recht, die Karl in Alaska, in Junbesi, in Kangsha oder im Berner Oberland gesehen hatten.

Da saßen alle erstaunt und für eine Weile schweigsam da. Denn noch nie hatten sie Otto eine so lange Rede halten gehört.

* * *

Zwei Ereignisse, auf den ersten Blick nicht zusammenhängend, doch in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander die darauffolgenden Ereignisse zwingend nach sich ziehend, waren es, die Karls Abgang von der Schule bewirkten.

Beider Ereignisse Handlungsort war Gnadenwasser, die bischöfliche Knabenschule. Nur einmal monatlich, an einem Sonntag von sechs Uhr früh bis sechs Uhr abends, hatten die Schüler Ausgang und durften sich außerhalb der Mauern bewegen: endlich reichliches und schmackhaftes Essen bei den Eltern und dem Mief der dunklen Gänge zwischen Studiersaal, Schule, Kirche, Speise- und Schlafsaal entkommen, wo sich der Geruch von kalter, klumpiger Brennsuppe, abgestandenem Apfelmus und der mit Stärke gebügelten Kleidung der Ordensangehörigen mischte.

Das erste der beiden Ereignisse spielte sich im Speisesaal ab, und zwar im Monat Mai, am zwanzigsten, genau genommen Schlag zwölf Uhr, wie die Glocken der hauseigenen Kapelle bezeugten, als Schwester Ludmilla, eine hagere Person mittleren Alters mit teigig weißer Haut in streng gebügelter Ordenstracht, die Essensausgabe überwachte, die von ihren Hilfskräften, durchweg Freigänger aus einem nahen Heim für geistig Behinderte, durchgeführt wurde.

Sie hatte geschnetzelte Leber mit Reis gekocht – wirklich ein wunderbares Essen, wenn sie an ihre eigene Jugendzeit dachte. Doch die Schüler der Oberstufe, berechtigt, als Erste das Essen auszufassen, dachten nicht daran, die Gottesgabe zu loben; schweigend standen sie in der Reihe, mit aufgehaltenem Teller den Schlag mit dem Schöpflöffel erwartend. Die Kleinen, die Zöglinge der Unterstufe, warteten dahinter, ebenfalls in einer langen Reihe, die bis auf den Gang hinausreichte, ihrerseits beaufsichtigt von Präfekt Kantner, der, ließ sich ein übermütiger Aufrührer nicht durch hochgezogene Augenbrauen allein einschüchtern, stets seinen großen Schlüsselbund warf, gezielt und mit Nachdruck.

Endlich saßen alle an den langen Tischen, standen jedoch gleich wieder auf und sprachen das Tischgebet unter Anleitung des Präfekten: ein Vaterunser, ein »Gegrüßet seist du, Maria«, ein letztes »und segne, was du uns bescheret hast«.

Das Sprechen war während der Mahlzeiten untersagt, und Schwester Ludmilla ging, in den Händen den Rosenkranz, ihre Lippen schweigend in Bewegung, die schmalen Gänge zwischen den Bankreihen auf und ab und hielt im Beten nicht einmal inne, wenn sie dem einen oder anderen Esser, sich ein wenig vorbeugend, über die Schulter blickte. Es durfte nichts übrigbleiben.

Das lauter werdende Klappern und Schaben der Löffel zeigte an, dass die Mahlzeit bald beendet sein würde. Zufrieden nickte Schwester Ludmilla, sie war am Ende des Ganges angekommen, drehte sich um, und eine neue Perle des Rosenkranzes wurde zärtlich in die Finger genommen. Sie blickte kurz auf, zum Ende des Saales. Da saß ein blasser Dreizehnjähriger, den gehäuften Teller noch vor sich. Sie beschleunigte ihre Schritte, vergaß sogar auf den Rosenkranz, bis sie, auf den Zehen wippend, vor Karl stand. Der Zorn hatte ihre Wangen rosig gefärbt.

»Du isst nicht!«, sagte sie.

»Ich kann nicht!«, antwortete Karl und dachte immerzu: »Du sollst nicht lügen, du sollst nicht lügen.«

»Und warum nicht?«, fragte die Schwester.

»Ich habe das hier im Reis gefunden«, sagte Karl, ein grauschwarzes Stück, einem kleinen Stein ähnlich, auf der flachen Hand vorzeigend.

»Das – ist nur ein kleiner Stein!«, sagte Schwester Ludmilla.

»Freilich«, sagte Korff, der an Karls linker Seite saß, und grinste. »Es ist nur ein kleiner Stein. Ist eben bei der Reisernte mitgegangen.«

»Es ist die Einlage eines Zahns«, sagte Karl in die plötzliche Stille des Saals hinein, »eine Plombe.« Er dachte an die geistig behinderten Hilfsköchinnen und schluckte.

Schwester Ludmillas Augen hinter den Brillengläsern waren größer geworden wie aus Entsetzen, ihr Auf- und Abwippen auf den Zehenballen wurde schneller. Hilfesuchend drehte sie ihren Kopf nach dem Präfekten, der während des Essens unter der Tür stehen geblieben war und nun, so schnell es seine kurzen Beine erlaubten, näher kam. So standen die beiden vor Karl und blickten zu ihm herab, Präfekt Kantner drehte mit Daumen und Zeigefinger den Siegelring an seiner rechten Hand. Karl wusste, was dies bedeutete. Er zuckte schon zurück, als Kantners Hand nach dem Tellerrand ging, das auf ihm liegende Fundstück aufnahm und es auf der flachen Hand, einen Kreis beschreibend, dem Saale zeigte. Pflichtbewusstes Lachen war die Folge. Dann baute er sich wieder vor Karl auf, wiederholte dessen Worte: »Eine Plombe also!«, lachte ihn freundlich an und warf mit einer wippenden Bewegung der Hand das Stück zur Decke. Karl folgte ihm mit den Augen und hatte schon links und rechts zwei gewaltige, durch den Siegelring verstärkte Ohrfeigen empfangen.

Das Tischgebet war bald beendet. »... Dank für Speis und Trank«, klang es in Karls Ohren nach, als die ganze Horde mit Rufen des Übermuts aus dem Saal stürmte, denn man schrieb einen Samstag, wie die heulenden Sirenen der Stadt bezeugten. Der Nachmittag war für die Schüler frei. Kein Ausgang in die Stadt, nach der die Schule ihren Namen trug, aber doch frei zum Spazierengehen innerhalb des Internatsgeländes, um in der Sonne zu liegen oder zum Spielen auf dem Fußballfeld, von dem jetzt Rufe herüberdrangen, über all die Gebäude hinweg bis hinein in den Speisesaal, in dem Karl ganz allein saß, den Teller vor sich, ein Würgen in der Kehle.

An diesem Nachmittag erfuhr Karl, dass Erwachsene Lügner waren, denen man die jenseitigen Geschichten – mochten sie noch so Augen rollend vorgebracht werden – besser nicht glaubte, weil man ihnen das Diesseitige, das Überprüfbare nicht glauben konnte: Ihre Reden von Barmherzigkeit und Güte, denen zum Trotz er nun den Nachmittag im Saal verbringen musste, unter der Aufsicht Schwester Ludmillas, die auf dem Gang draußen betend auf und ab ging. Jedes Mal, wenn sie die Türöffnung passierte, warf sie einen Blick auf Karl – und auf seinen Teller, der sich nur langsam leeren wollte – die Unsitte bedauernd, dass man den Karzer auf Druck der weltlichen Behörden vor einem Jahr hatte abschaffen müssen. Dorthin hätte der Frevler gehört, um über die Lästerung der Gottesgabe nachzudenken.

Und Karl würgte Bissen für Bissen hinunter. Die Aufgabe nahm ihn den ganzen Nachmittag in Beschlag. Er dachte zurück an seinen ersten Abend im Internat, an die Begrüßung der Zehnjährigen durch die Schwester: »Ich bin jetzt eure Mutter!«, und daran, dass er sie gleich mit dem vertraulichen »Du« angesprochen hatte, was Karls erste Ermahnung nach sich gezogen hatte.

Wir müssen nun aber nicht annehmen, dass alle Lehrer, alle Erzieher in das Feindbild Karls miteingeschlossen wurden. Freilich gab es da noch den Mathematiklehrer Skopal, nicht von spontaner Brutalität, kein Schläger und Schlüsselwerfer wie Kantner, aber ein übler Klemmer, Zwicker und Haarezieher, der sich immer schräg hinter dem sitzenden Sünder aufbaute, sich dessen Schläfenhaare zwischen Daumen und Zeigefinger griff und ihn so mit grinsenden Lippen, die Zähne fletschend und durch die geschlossenen Zahnreihen die Worte »Was haben wir denn da, Oberhauser! – Lechner! – Müller!« herauspressend, langsam vom Stuhl hochzuziehen pflegte.

Dann gab es noch, unter vielen anderen, Professor Watzlawek. Seine Fächer waren die Geographie sowie die Leibeserziehung – er war der Spontanste von allen, ein Bär von einem Mann. Vor seiner Unterrichtsstunde, als sein Kommen über die Stiege herauf geahnt wurde – das übrigens immer lautlos vor sich ging, als schleiche er sich an –, war es still wie auf einem Friedhof. Nur einmal hatte ein Schüler gemeint, seinem Nachbarn noch einen Scherz zurufen zu müssen, als schon der Gewaltige in der Tür stand. Die große Mappe und das hölzerne Lineal des Professors flogen in weitem Bogen aus dem Türrahmen auf das mehrere Meter entfernte Pult und landeten dort krachend, während sich Watzlawek selbst in rasender Wut seinen Weg durch die neben den Bänken stehenden Schüler bahnte, hin zum Ruhestörer. Das Klatschen der nun folgenden Ohrfeigen drang durch die Gänge hinunter bis zum Geistlichen, der an der Pforte Dienst tat.

Watzlawek war gefürchtet, aber nicht gehasst. Die stille Zuneigung Karls hatte er sich erworben, als eines Tages der schmächtige, hochaufgeschossene Haneburger zur Prüfung antreten musste und Watzlawek ihm, dem Stotterer, Zeit ließ, ihm bei jedem erfolgreich herausgestammelten Wort aufmunternd zunickte und, als Korff ein kurzer Lacher auskam – vielleicht aus Verlegenheit, wie Karl Jahre später dachte –, er diesen mit seinen Schlachterhänden fürchterlich maßregelte. Von da an lachte niemand mehr, wenn Haneburger zu einer Prüfung antrat.

Um diese Dinge drehten sich Karls Erinnerungen, während noch immer zwei oder drei Fleischstückchen auf dem Teller lagen, äußerlich schon weißgrau und ausgetrocknet, mit der erkalteten, verdickten Soße am Teller haftend und einen kleinen Berg bildend, den ersten, den Karl in seinem Leben zu bezwingen hatte.

Damit war der Nachmittag, der Strafe hatte sein sollen, vergangen. Das Hinunterschlucken des letzten Löffels Reis beendete ihn, und Karl dachte im Nachhinein, dass es gar nicht so schlimm gewesen war, hier zu sitzen, mit all den Gedanken an das, was geschehen war. Was blieb, war noch eine Stunde bis zur Abendandacht, und Karl kam auf das Spielfeld gerade zur rechten Zeit, um beim Wählen der neuen Mannschaften dabei zu sein.

Nemetz stand da, unbekleidet bis auf die kurze Sporthose. Selbstbewusst stellte er seinen gut gewachsenen Oberkörper zur Schau, die Hände auf dem Rücken verschränkt, und sammelte seine Mannschaft um sich. Der andere Kapitän war Korff, etwas größer und bulliger als Nemetz, infolge zweimaligen Sitzenbleibens auch zwei Jahre älter als dieser, kein so guter Kopfballspieler wie der, doch berüchtigt für seine Konterangriffe und seine Härte im Spiel, die einige Tage vorher sogar den stürmenden Erzieher – wiewohl letztlich durch dessen eigene Schuld, da waren sich alle einig – ein gebrochenes Bein gekostet hatte.

Korff war mit Hose und Leibchen bekleidet, er stand für die Gegenpartei. Beide hatten jetzt die Arme auf dem Rücken verschränkt, um versteckt mit ihren Fingern Zahlen zu bilden. Sie blickten sich in die Augen, Nemetz rief »Grad!« und Korff »Ungrad!« und beide riefen »A-Do-Megg!« und rissen zugleich die Arme mit den verzifferten Fingern in die Höhe: Nemetz hatte die erste Wahl.

Selbstbewusst gesellte sich einer nach dem anderen zu seiner Partei, bis nur mehr Karl und zwei weitere Burschen zur Auswahl standen. Karl blickte in die Sonne und schloss die Augen. Er hätte lieber mit Nemetz gespielt, aber was, wenn der ihn jetzt, in diesem Moment, wirklich wählen würde? Er müsste mit nacktem Oberkörper spielen, gegen Korff zwar, der ihn oft und oft bei geringster Veranlassung gepeinigt hatte – aber mit nacktem Oberkörper? Karl wollte sein Leibchen nicht ausziehen, er fühlte sich klein und dick, Korff und seine gesamte gegnerische Mannschaft, und schlimmer noch, auch die eigene, ja Nemetz selbst, konnten ihn mit einem Blick vernichten.

»Oberhauser!«, hörte er Nemetz rufen, öffnete erleichtert die Augen und sah, wie der breitschultrige Bauernbub, dem irgendeine außerhalb der irdischen Ordnung stehende Macht in Ermangelung eines brauchbaren Kopfes kräftige Beine mitgegeben hatte, sein Leibchen abstreifte. Gleich rief Korff Karls Namen, »Platz!«, ohne auch nur hinzusehen, während sich der übrig gebliebene Haneburger ohne weitere Aufforderung zur Mannschaft Nemetz gesellte. Doppeltes Glück, dachte sich Karl. Nicht der Letzte und nicht bei den Nackten.

Im abendlichen Schlafsaal war es ruhig geworden. Karl lag unter der Decke, in der einen Hand hielt er eine Taschenlampe, in der anderen einen Abenteuerroman. Gerade wollte er eine Seite umblättern, bemüht, kein Geräusch zu verursachen, als er durch die Wolldecke einen Puffer erhielt. Korff kniete neben Karls Bett.

»Ich weiß nicht«, flüsterte er, seinen Mund weit aufsperrend, »ich habe das Gefühl, als fehlte mir etwas. Könntest du wohl so lieb sein und einmal nachsehen?«

Karl gehorchte ahnungslos, leuchtete mit der Taschenlampe in Korffs Mund.

»Weiter links«, sagte Korff, »musst du schauen!«

Und jetzt sah er es: ein großes Loch in einem der Backenzähne, gerade als ob eine Plombe herausgebrochen wäre.

* * *

Das zweite Ereignis, das Karl zu der Tat veranlasste, die zu seinem Ausschluss aus der Gemeinschaft führen sollte, folgte wenige Tage später an einem Mittwoch.

Professor Skopal nahm die Verteilung der Klassenarbeiten vor, die am Montagmorgen absolviert worden waren. Karl sah dieser Zeremonie mit nicht geringem Grauen entgegen. In Skopals Fach, der Mathematik, hatte er niemals geglänzt.

Wie immer inszenierte Skopal an diesem Mittwoch seinen Auftritt dahingehend, dass die Hierarchie unter den Schülern gewahrt blieb. Namen und Noten wurden verlesen, nach Leistung gestaffelt, also mit »sehr gut« beginnend. Mit dem Verlangsamen seines Vortrages nahm auch die Spannung zu, desgleichen das Grinsen des Professors. Nur wenige Namen waren noch zu verlesen, das letzte »Genügend« hatte Tschurtschenthaler erhalten, der Banknachbar Karls. Diesen blickte Skopal jetzt an: »Platz«, sagte er und zog den Namen genüsslich in die Länge, legte eine Pause ein, zog die Lippen wieder hoch und entließ das Wort in die atemlose Stille: »ungenügend«. Vor Karl stehend, ließ er die Blätter von seinen ausgestreckten Händen auf das Pult fallen, wie um die Nutzlosigkeit der Arbeit zu unterstreichen. »Das wird ein schöner, arbeitsreicher Sommer werden«, fuhr er fort, als freue er sich, Karls Zeugnisnote auszusprechen und die unwiderrufliche Gewissheit, dass im Herbst die Prüfung zu wiederholen sei.

Während Skopal sich die verbliebenen Unglücklichen vornahm, verglich Karl seine Arbeit mit der seines Banknachbarn Tschurtschenthaler, der mit einem »Genügend« davongekommen war. Es war die gleiche Arbeit, da man voneinander abgeschrieben hatte, und der einzige Grund für die unterschiedliche Benotung war, wie Karl erkennen musste, die Tatsache, dass der zarte, stille Tschurtschenthaler von allen Lehrern geliebt wurde. So sehr, dass es Tschurtschenthaler am vergangenen Sonntag, wie mehrere Schüler zu berichten wussten, sogar erlaubt gewesen war, auf dem Rücken Professor Skopals beim Sonnenliegen im Städtischen Schwimmbad die Sonnencreme aufzutragen.

An diesem Mittwoch versäumte Karl das Mittagessen, schlich sich in die Stadt, erstand eine Schachtel Zigaretten, schwänzte das obligate Studium im Studiersaal, rauchte währenddessen im Schlafsaal und ließ sich dabei – seelenruhig auf der Fensterbank sitzend – von Präfekt Kantner erwischen und dem Regens melden. Seine Zukunft in diesem Haus war also zumindest schon fraglich, als er sich am nächsten Tag, während die Klasse vom Studiersaal im ersten Stock hinunter zum Andachtsraum im Parterre ging, von der Seite an Korff heranmachte, den Beginn der langen Marmorstiege abwartete, wo er diesen von der Prozession der Schüler abschnitt und ihn plötzlich, ihm dabei gelassen in die Augen sehend, mittels Beinschere zu Fall brachte und ruhig zusah, wie er sich überschlagend die Stufen hinunterfiel.

Beide verließen sie das Internat noch am selben Tag, Korff im Auto des Präfekten auf dem Weg zum Arzt, Karl mit gepacktem Koffer im Auto der Eltern.

* * *

Gab es die Wiedergeburt? Und wenn es sie wirklich gab, erfolgte sie dann individuell oder kollektiv? Das waren die Fragen, die Karl beschäftigten, jetzt beschäftigten, wiewohl er wusste, dass sich schon Parmenides darüber Gedanken gemacht hatte, vor zweitausendfünfhundert Jahren, und dass die frühen Christen dieser Vorstellung zugeneigt waren, wenigstens in den ersten paar hundert Jahren des Christentums, ehe sie dann in den Apokryphen, den außerkanonischen Schriften, für immer aus der offiziellen Lehre verbannt worden ist. Das war aber nicht Teil des Unterrichts in Gnadenwasser gewesen. Dort hatte man die Schüler nur gelehrt, dass die Tibeter zu dumm zum Beten seien und deshalb unablässig ihre Mühlen drehen mussten.

Doch was Karl jetzt sah, erschien ihm im Nachhinein, Jahre später, durchaus wie eine Wiedergeburt, zumindest eine Erscheinung aus einem anderen Jahrhundert.

Er stand vor der heimatlichen Bergsteigerhütte und beobachtete die hoch gewachsene Figur, die sich gemächlich näherte, schon von Weitem, und erkannte trotz der sonderlichen Verkleidung recht bald seinen alten Kindheits- und Schulfreund Gregor, mit dem er hier verabredet war.

Gekleidet war Gregor wie ein englischer Bergsteiger, der sich im Jahre 1865 aufmachte, um als Erster das Matterhorn zu besteigen. Das einzige Gegenwärtige, das Gregor trug, waren seine Bergschuhe, und auch das, was er alsbald vortrug, schien Karl gegenwärtig zu sein, wenngleich es mit fremder Tonalität und mangelnder Sprachmelodie dargebracht wurde. Karl verstand ohnehin nichts davon. Sein Kindheitsfreund, den er durch die Jahre in Gnadenwasser aus den Augen verloren hatte, hatte angefangen, das Bergsteigen und seinen tieferen Sinn durch mathematische Formeln zu erklären. Auch wenn Karl ein Vorzugsschüler des berüchtigten Professor Skopal gewesen wäre, hätte er nichts von alledem verstanden, aber er war eben in Mathematik gescheitert und dadurch erst recht dazu verurteilt, seinem Freund staunend zuzuhören, der sich insofern in ungeahnte Höhen steigerte, als er einen möglichen Weltfrieden auch noch mathematisch erklärte, woraus sich zwingend ergab, dass es zum Weltfrieden erst kommen könnte, wenn alle Menschen Bergsteiger würden.

Karl würde diese Formeln nie in seinem Leben verstehen können, aber jener Abend zu Ostern knapp vor seinem vierzehnten Lebensjahr würde ihm immer in Erinnerung bleiben und erst dann einige Aufhellungen erleben, als Gregor viele Jahre später auf achttausend Metern am Kalten Berg für immer verschwinden sollte.

Jetzt aber, in dieser Stunde, als es langsam zu dunkeln begann, verstand Karl überhaupt nichts, weder die mathematischen Formeln noch die Erscheinung Gregors, der wie aus einer Requisitenkammer gekommen schien. Und trotzdem war alles so klar, als sei es immer so gewesen, schon vor sehr langer Zeit, und nur die neuwertigen Bergschuhe Gregors, die so gar nicht zum restlichen Aufzug passten, verrieten das Ziel der beiden Halbwüchsigen, das durchaus gegenwärtig war: die Besteigung der Kristallwand, und zwar in der Nacht. Denn untertags wären sie sicher nicht weit gekommen und von irgendwelchen Erwachsenen davon abgehalten worden. So warteten die beiden bis nach zehn Uhr, als die Hüttenruhe eingehalten wurde und die letzten Lichter ausgingen, mit Ausnahme der starken Freilampe, die von einer Ecke der Hütte leuchtete.

Über ihnen, mit dem aufgehenden Mond, leuchtete die Kristallwand in ihrer silbrigen Weißheit, als wären ihre Pfeiler und Grate aus Wismut gebaut. Karl dachte über die Worte Gregors nach: dass die Rundheit der arktischen Tiere und ihre Größe und damit die Oberfläche ihrer Haut im günstigen Verhältnis zu ihren Organen stehen, große Tiere also den Vorteil haben, dass ihre Körperoberfläche im Verhältnis zum Körpervolumen relativ klein ist und damit auch der Wärmeverlust, und wie Gregor das alles in eine mathematische Formel gebracht hatte. Und er übersetzte gleich für Karl, der nichts von der Formel verstand: Eine Kugel war derjenige Körper mit der kleinsten Oberfläche im Verhältnis zu seinem Volumen. Je runder also ein Lebewesen gebaut ist, desto weniger Energiezufuhr braucht es zur Erhaltung der Körpertemperatur.

Und dann die Schönheit der Kristallwand im Mondlicht: Sie hatte Gregor dazu gebracht, sie in platonischen Körpern zu erklären. Erinnerlich waren Karl am Ende nur Gregors Folgerungen, dass alle diese kristallinen Strukturen auf geometrischen Regelmäßigkeiten basierten.

Zu keinem Zeitpunkt vermochte er zu sagen, ob er dumm war oder intelligent, einmal schien ihm Ersteres, dann Zweites zuzutreffen; manchmal kam ihm die Idee, dass es viele verschiedene Arten von Intelligenz gebe, wie es viele verschiedene Arten von Liebe gibt. Doch nicht einmal dies erschien ihm gesichert. Vielleicht hatte er keinerlei mathematische Intelligenz oder aber im Gegenteil eine sehr hohe, hatte es doch noch niemand geschafft, ihm zu erklären, warum zwei mal zwei vier war. Als Kind hatte man ihm Streichhölzer aus einer Schachtel vorgezählt, immer und immer wieder, vier, verstehst du, vier, natürlich verstand er, aber glaubte es nicht. Warum gibt es einen Gott? Weil es ihn gibt? Gnadenwassersche Erklärungsmethoden – schon damals. (Viel später, im reiferen Erwachsenenalter, sollte er über Pestalozzi, den Schweizer Erziehungsneuerer, lesen, dass seine Schüler hatten lernen dürfen: Zwei mal zwei ist vier mal eins).

* * *

Um Mitternacht brachen die beiden auf. Karl hatte keine richtigen Bergschuhe, sondern nur innen gefütterte Pelzschuhe mit einer geriffelten, weichen Kreppsohle. Und natürlich besaßen die beiden auch kein Seil. Dieser Wunsch sollte sich erst ein Jahr später erfüllen, in einem Sportartikelgeschäft, mit dem ersparten Taschengeld, wie in einem heiligen Akt.

Aber jetzt kamen sie schnell höher. Manchmal blickte Karl nach unten und betrachtete die Abdrücke seiner Kreppsohlen, die auf dem Harsch mangels Profils nur seichte Einkerbungen hinterließen, kleine abgeschattete Kuhlen in einer vom Mond ausgeleuchteten, glänzenden endlosen Fläche, die sich zum Einstieg der Kristallwand hinaufzog. Dort begann die Wand. Vielleicht waren es auch nur einige ineinander verschachtelte Felsen, nicht sehr steil und nicht sehr hoch, dreihundert Meter etwa, mit den Augen eines erfahrenen Bergsteigers gesehen. Doch jetzt, in diesen Stunden, war es eine wirkliche, ernste Wand für Karl und Gregor. Eine teils helle, teils in ihren vom Mondlicht abgewandten Schluchten düstere steile Wand, in der man längliche Streifen glänzenden Eises vermuten musste.

Nur selten blickte Karl zurück und hinunter. Die seichten Stapfen verschmolzen der Tiefe zu mit dem ungewissen Licht und dem Widerschein des Schnees. Flackernd und wie im Vorüberfahren die Sterne. Die weißen Flächen langsam ins Blau wechselnd. In diesem dunklen und zugleich ungewissen Blau wie kosmische Partikel die widerglänzenden Kristalle. Als spiegelte sich der Himmel. Zugleich in ihnen die Helligkeit eines neuen Tages. Die durchsichtiger werdende Scheibe des Mondes, als löste sie sich auf. Am Beginn der Felsen erreichten sie den kältesten Punkt, wie immer in der Stunde, die sich zwischen Tag und Nacht nicht entscheiden kann. Karl stapfte mit den Füßen gegen einen Stein und schlug die Arme kreuzweise gegeneinander. Den Rucksack hatte er währenddessen nicht abgenommen, um den schweißnassen Rücken nicht dem stärker werdenden Morgenwind auszusetzen. Den Zustand des Tages musste man jedoch noch als Dunkelheit bezeichnen.

Trotzdem stiegen sie los. Durch eine rinnenartige Einkerbung in der Wand, die ihnen ihre Ängste vor der Ausgesetztheit nahm, kamen sie schnell höher. Zwar ragten immer wieder, verirrten großen Pilzen gleich, Schneepolster aus der Wand, die der Wind geformt hatte und die teilweise mühsam überstiegen werden mussten (ein kaltes Vergnügen; der rieselnde Schnee in den Ärmeln und im Gesicht), doch leisteten dabei Felszacken, kleine Pfeiler, die aus der Rinne ragten, eine große Hilfe. Schließlich waren sie auf dem Grat angekommen und mit ihnen das Tageslicht.

Doch wie seltsam sah dieser Grat aus. Er wirkte mit seinen Zacken wie eine Ansammlung von ermatteten und dennoch einschüchternden müden alten Büßern, die Seite an Seite und manchmal Rücken an Rücken saßen. Wie untereinander uneinige Büßer, als hätten sie sich zerstritten, als wären sie einander auf der langen Fahrt fremd geworden in ihrer Gleichheit und säßen nun da, noch immer ein wenig Stolz in ihrer gebückten Haltung, und sahen in entgegengesetzte Richtungen. Ein Pilgerzug, der an einem Wegrand zum Stillstand gekommen war. So saßen sie, einer hinter dem anderen in leicht ansteigender Richtung dem Gipfel zu, und als sich Karl in seiner aufkommenden Müdigkeit kurz auf den Rucksack setzte, um zu rasten, schien es ihm, als hätten einige dieser Figuren durchaus menschliche Formen, Köpfe, Antlitze, die ihn in ihrer Vertrautheit an das erinnerten, dem er eben entstiegen war.

Siebenhundert Höhenmeter unter ihnen lag die Kristallwandhütte. Nur die Freilampe, an einem Eck der steinernen Außenmauern angebracht, leuchtete in den stärker werdenden Morgen hinein. Sie brannte immer, auch bei Tage, wie es die Vorschrift des Alpenvereins bestimmte. Für die verirrten Bergsteiger im Nebel und in der Nacht.

Karls Blick folgte dem langen, gewundenen Bergtal nach unten und außen, der Ebene zu, dem breiteren Tal, das wie der leicht abgewinkelte Arm eines Menschen zwischen den großen Bergketten verlief, eine Aneinanderreihung von schmalen Leuchtketten, die sich in der Mitte des Tales zu einem unerhörten Muskel verdickten.

Targanz und die Korff’schen Werke. Dort wurden Dinge produziert und in die Welt verkauft, die man brauchen konnte. Aber noch mehr Dinge wurden produziert und in die Welt verkauft, die niemand wirklich brauchte. Das war das Hauptgeschäft von Korff und hatte ihn und seine Großfamilie reich gemacht. Ihretwegen hatte es Karls Vater, seine Mutter auf diese Hütte verschlagen, und Karl damit nach Gnadenwasser. So saßen sie schweigend nebeneinander, die beiden kindlichen Abenteurer, auf ihren umgedrehten Rucksäcken. Die Stimmung zwischen ihnen war feierlich, und doch konnte Karl ein wenig später nicht anders, als an jenen Tag zurückzudenken, als er am Ende des ersten Besuchssonntags die Hütte wieder verlassen sollte, um nach Gnadenwasser zurückgebracht zu werden. Zu dieser Stunde hatte ihn eine so abgrundtiefe Verzweiflung und Angst überkommen, dass er sich weinend an das Sofa in seinem bescheidenen Zimmer geklammert hatte und ihn schließlich seine Eltern in brutaler und gemeinsamer Kraftanstrengung losgerissen und zum Auto gebracht hatten.

Ihm kam auch jener Tag in den Sinn, als der Mann der Köchin den damals elfjährigen Karl bei der Hand nahm, sie umdrehte und seelenruhig seine Zigarette auf dem Handrücken ausdrückte. Das Auslöschen der Zigarette auf dem Handrücken des Elfjährigen war für Karl wie eine Besiegelung dessen, was am ersten Oktobersonntag, dem ersten Besuchstag, geschehen war. Es war wie eine Bestätigung des unmenschlichen Losreißens vom Sofa und zeigte Karl, dass dieses Losreißen kein nebelhafter Schemen war, den man aus der Erinnerung löschen möchte, sondern die Brandnarbe war ein Siegel des endgültigen Alleinseins, der Auslöschung jeder emotionalen Verbindung Karls zu seinen Eltern, die ja ihrerseits, sinn- und hilflos, alles unternommen hatten, ihn als Sohn zu behalten. Doch für Karl war es aus und vorbei zwischen ihnen, wenn auch gefolgt von fürchterlich schlechtem Gewissen, vielen Jahren des schlechten Gewissens, länger, viel länger, als die jahrzehntelange Heilung bis zur Unsichtbarkeit der Narbe benötigte.

Doch wie sehr sich Karl auch bemühen sollte: Das eingefrorene Kind von damals würde nie wieder auftauen. Das Kind hatte sich schon lange nach einer Ersatzfamilie umgesehen. Und endlich hatte es sie gefunden: Es waren die Bergsteiger, und Gregor, der noch immer schweigend neben Karl saß, war einer von ihnen.

* * *