Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer - Campino - E-Book

Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer E-Book

Campino

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Beschreibung

Von Erich Kästner über seine »Opel-Gang« bis zu Billy Bragg – Campino spricht als Heinrich-Heine-Gastprofessor über Lyrik, das Songtexten und die Wirkung von Musik. Dabei wird er politisch und persönlich, erzählt von Düsseldorf und Kunst, vom Einfluss des englischen Punk, von deutscher Nazi-Vergangenheit und dem eigenen Älterwerden. Seine Gedanken sind ein inspirierender, leichtfüßiger Gang durch die deutsche Zeitgeschichte und die eigenen, in vierzig Jahren entstandenen Texte. Der Band enthält alle vorgetragenen Songs und Gedichte und wird ergänzt um exklusive neue Texte und Passagen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: Dirk Rudolph

Coverabbildung: Tereza Mundilová (Foto)

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort

Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer.Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik

Heinrich-Heine-Universität DüsseldorfErste Vorlesung, 2. April 2024, Hörsaal 3 A

Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik also.

Alle haben was zu sagen. Die Kakophonie unserer Zeit

Heinrich-Heine-Universität DüsseldorfZweite Vorlesung, 23. April 2024, Hörsaal 3 A

Kakophonie bedeutet Missklang

1   Gegenwind

2   Der Zwang zur Positionierung

3   Wandel des Sagbaren

4   Wahrheit und Lüge

5   Künstliche Intelligenz – dein Freund und Helfer?

Epilog

Danksagung

Textnachweise

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Vorwort

Die Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität verleiht seit den späten Achtzigerjahren hin und wieder eine Gastprofessur an Personen des öffentlichen Lebens. Dies soll dem Austausch von Gedanken und Ideen zwischen Kultur, Politik und Wissenschaft dienen. In diesem Jahr erreichte auch mich die Einladung, die mit zwei Vorlesungen zu einem Thema meiner Wahl verbunden war. Darüber habe ich mich sehr gefreut, denn als ehemaliger Student der HHU hatte ich es damals gerade mal bis in die Mensa geschafft. Weiteren akademischen Anforderungen konnte ich leider nicht gerecht werden, denn das Leben mit den Toten Hosen war anstrengend genug. Durch die Gastprofessur würde ich (vierzig Jahre später) endlich mal in den Hörsaal kommen.

Die Themenwahl fiel mir leicht. Texte und Kommunikation sind ein Lebensthema für mich, und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als andere Menschen mit meiner Lust auf Gedichte und Lieder anzustecken und hoffentlich zu begeistern. Damit war der Inhalt der ersten Vorlesung für mich klar. Mindestens so spannend wie die Beschäftigung mit Texten aus der Vergangenheit ist aber auch die Frage, wie wir in Zukunft mit Sprache und Kommunikation umgehen wollen. Hierauf sollte der Fokus meiner zweiten Lesung liegen, sie war also thematisch deutlich anders gelagert, deshalb habe ich dort auf Werke anderer Autoren weitgehend verzichtet und mich hauptsächlich auf eigene Texte bezogen.

Vor Ihnen liegt nun eine »erweiterte« Abschrift dieser beiden Veranstaltungen. Sämtliche besprochenen Beiträge sind hier enthalten, ich habe mir aber erlaubt, noch weitere Werke und Gedanken hinzuzufügen, die mir beim Verschriftlichen in den Kopf gekommen sind. Auch habe ich die zweite Vorlesung, die eigentlich im Dialog mit meinem Freund, dem Journalisten und Buchautor Philipp Oehmke, stattgefunden hat, zum besseren Verständnis als Fließtext verfasst.

Dem Prinzip der Gebrauchslyrik hoffentlich entsprechend, habe ich mir schon immer herausgenommen, meine eigenen Liedtexte gelegentlich zu aktualisieren und Worte auszutauschen, wenn es mir im Wandel der Zeit nötig schien. Wundern Sie sich also bitte nicht, wenn die Ursprungsversionen hier und da leicht variieren.

Meine verspätete Zeit an der Uni – sie war mir ein Vergnügen.

Campino, im August 2024

Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer.Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik

Heinrich-Heine-Universität DüsseldorfErste Vorlesung, 2. April 2024, Hörsaal 3 A

Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik also.

 

Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik also.

Vielleicht hilft es, wenn ich Ihnen zu Beginn eine Art Beipackzettel mitgebe, damit Sie wissen, was Sie erwartet. Ich habe in den letzten Wochen mit Begeisterung Texte und Gedichte gelesen von Menschen, die mich in meinem Leben beeindruckt haben. Es war eine Riesenfreude, diesen Texten wiederzubegegnen und auch neue zu entdecken. Bitte erwarten Sie aber keine germanistischen Analysen oder minutiöse Interpretationen. Mir geht es darum, Ihnen großartige Lyrik und Songtexte ans Herz zu legen, die Ihnen eventuell noch nicht begegnet sind oder die Sie über die Jahre vergessen haben. Vielleicht berührt das ein oder andere Gedicht Sie ganz besonders, und Sie stellen fest: »Das war verdammt gut, das hat getroffen. Das muss ich bei Kästner oder Brecht noch mal selbst nachlesen.« Wenn das gelingt, dann hätte ich schon einiges erreicht.

 

Gebrauchslyrik – den Ausdruck hat wohl Bertolt Brecht erstmalig 1927 benutzt, als er unter diesem Motto zu einem Lyrikwettbewerb aufrief. Mir ist er das erste Mal bei Erich Kästner untergekommen. So hat er seine Gedichte bezeichnet, und ich finde es grandios, dass Kästner damit von vornherein jegliche Überhöhung seiner Person und seines Werkes verweigert hat. In seinem Lyrikband Lärmim Spiegel schreibt er: »Zum Glück gibt es ein oder zwei Dutzend Lyriker – ich hoffe fast, mit dabei zu sein –, die bemüht sind, das Gedicht am Leben zu erhalten. Ihre Verse kann das Publikum lesen und hören, ohne einzuschlafen; denn sie sind seelisch verwendbar. Sie wurden im Umgang mit den Freuden und Schmerzen der Gegenwart notiert; und für jeden, der mit der Gegenwart geschäftlich zu tun hat, sind sie bestimmt. […] Es gibt wieder Verse, bei denen auch der literarisch unverdorbene Mensch Herzklopfen kriegt oder froh in die leere Stube lächelt. […] Daß jemand ausspricht, was ihn bewegt und bedrückt – und andere mit ihm –, ist nützlich. Wem das zu einfach gesagt ist, der mag es sich von den Psychoanalytikern erklären lassen. Wahr bleibt es trotzdem.«

Ich begreife Kästners Texte als kleine Lebenshilfe zum täglichen Gebrauch. Sie waren ein Gegenentwurf zur Blümchen- und Wiesenpoesie der Romantik. Mit dem Zeitgeist der Neuen Sachlichkeit in den Zwanzigerjahren wurde die Gebrauchslyrik zu einer Stilrichtung, der sich auch andere Schriftsteller anschlossen. Außer Brecht und Kästner zählten sich auch Tucholsky und Ringelnatz dazu. Tucholsky stellte einmal fest: »Es hat zu allen Zeiten eine Sorte Lyrik gegeben, bei der die Frage nach dem Kunstwert eine falsch gestellte Frage ist: Ich möchte diese Verse Gebrauchslyrik nennen … Die Wirkung [auf die Massen] soll sofort erfolgen, sie soll unmittelbar sein, ohne Umschweife.«

Sie können sich vorstellen, diese Aussage hat mich direkt gepackt, weil sie in Worte fasst, was ich mit meinen eigenen Texten erreichen will. Sie sollen schlicht und leicht zugänglich, mit einer Haltung verfasst sein, und im besten Fall auch als kleiner Leitfaden fürs Leben dienen. Wenn man mich fragen würde, was die Toten Hosen seit vierzig Jahren textlich versuchen, fühle ich mich mit der Bezeichnung Gebrauchslyrik so wohl wie mit keiner anderen. Und was die Punkbewegung angeht, ist das für mich nichts anderes – a punch in the face.

 

Eine Sache vorab: Es gibt einen Riesenunterschied zwischen Gedichten, die geschrieben werden, um für sich zu stehen, und Liedtexten. Weil ich aus der Musik komme, nähere ich mich dem Schreibprozess ganz anders als ein Dichter.

Bei den Toten Hosen funktioniert es so, dass wir im Proberaum gemeinsam Musik machen und dabei Songideen entwickeln. Dazu singe ich in einer Fantasiesprache, um mir die Melodie zu merken. Diese ersten Versuche nehmen wir als Demo auf. Zu Hause höre ich die Aufnahmen dann immer und immer wieder ab, so lange, bis sich mir irgendwann eine Zeile oder gar ein kompletter Text gewissermaßen aufdrängt. Die Stimmung der Musik treibt die Worte zu mir. Eine solche Vorgehensweise, über die Musik einen Text zu erschaffen, wird ein Dichter wohl nicht wählen. Der hat eine Idee im Kopf und bringt sie dann zu Papier. Bei einem Gedicht muss, wenn es gut sein soll, jede Silbe stimmen, während ich bei einem Lied schon mal mit der einen oder anderen schwachen Zeile davonkomme. Also braucht das Schreiben eines Liedes einen anderen Ansatz, und Sie verzeihen mir hoffentlich, dass ich deshalb immer wieder hin- und herspringen werde zwischen Dichtung und Musik.

Musik ist eine eigene Sprache. Sie kann uns bedrohen, sie kann uns Mut machen, sie kann Texte ins Lächerliche ziehen. Sie ist in der Lage, Stimmungen zu erzeugen, denen wir uns nicht entziehen können, und sie hat solch fantastische Magie, dass wir uns alle im selben Moment zu einem Chor zusammenschließen können, ins selbe Tempo gehen, ein Kollektiverlebnis haben. Das ist bei einem Gedicht nicht der Fall oder auch nicht beim Betrachten eines Gemäldes.

Meine Gedanken zur Gebrauchslyrik führen immer wieder zu den klassischen Themen: Liebe, Sinn des Lebens, Nachdenken über sich selbst, Erwachsenwerden, das Altern.

 

Wann ist mir Lyrik eigentlich das erste Mal im Leben begegnet, was verbinde ich mit dem ersten bewusst wahrgenommenen Gedicht? Da brauche ich nicht lange zu überlegen, das war in der vierten Klasse. Auswendiglernen. Ich stand an der Tafel vor meiner Lehrerin Frau Falkenthal und den Mitschülern, und der Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland brachte mich ins Schwitzen:

Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland,

Ein Birnbaum in seinem Garten stand,

Und kam die goldene Herbsteszeit

Und die Birnen leuchteten weit und breit,

Da stopfte, wenn’s Mittag vom Turme scholl,

Der von Ribbeck sich beide Taschen voll,

Und kam in Pantinen ein Junge daher,

So rief er: »Junge, wiste ’ne Beer?«

Und kam ein Mädel, so rief er: »Lütt Dirn,

Kumm man röwer, ick hebb ’ne Birn.«

 

 

Und dann riss der Text in meinem Kopf ab. Ich hatte jedes weitere Wort vergessen. Eine Woche hatten wir Zeit gehabt, den Text zu lernen. Frau Falkenthal versuchte noch, mich mit Stichworten anzuschieben, aber es war hoffnungslos, eine Blamage.

In der siebten Klasse begegnete ich der »Bürgschaft«, und es wurde nicht besser:

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich

Damon, den Dolch im Gewande;

Ihn schlugen die Häscher in Bande.

»Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!«

Entgegnet ihm finster der Wüterich.

»Die Stadt vom Tyrannen befreien!«

»Das sollst du am Kreuze bereuen!«

 

»Ich bin«, spricht jener, »zu sterben bereit

Und bitte nicht um mein Leben;

Doch willst du Gnade mir geben,

Ich flehe dich um drei Tage Zeit,

Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;

Ich lasse den Freund dir als Bürgen,

Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.«

 

Da lächelt der König mit arger List,

Und spricht nach kurzem Bedenken:

»Drei Tage will ich dir schenken …

 

 

Auch hier war ich in der dritten Strophe raus. Die Schule, die Gedichte und ich – das war ein einziges Drama. Ich fand einfach keinen Zugang. Schon beim Herrn von Ribbeck hatte ich nie verstanden, was das mit dem Birnenverschenken überhaupt sollte. Die geklauten waren für mich eh immer die leckersten.

Diese ersten Begegnungen mit der Lyrik haben dazu geführt, dass ich mich für viele Jahre von ihr verabschiedete. Ich bin lieber in die Welt von Lederstrumpf abgetaucht, war mit Jules Verne zwei Jahre in den Ferien und las Abenteuerromane wie den Seewolf und Moby Dick.

Trotzdem hat der schulische Früherziehungsversuch von Frau Falkenthal in Sachen Lyrik wohl Spuren bei mir hinterlassen. Denn einige Jahre später begann ich selbst mit dem Verfassen von sich reimenden Textzeilen. Und was passiert, wenn man den »Herrn von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland« und »Die Bürgschaft« mehrere Jahre im Kopf eines renitenten Jugendlichen gären lässt? Dann kommen solche Ergebnisse dabei heraus:

 

OPEL-GANG (1983)

Den Arm aus dem Fenster, das Radio voll an

Draußen hängt ein Fuchsschwanz dran

In jeder Karre sitzen vier Mann

Die Bullen eben in der Stadt abgehängt

Mit 110 einen Ford versengt

Und einen Fiat ausgebremst

Wir haben neue Schluffen drauf

Und uns Ralleystreifen gekauft

 

Wir sind die Jungs von der Opel-Gang

Wir haben alle abgehängt

 

Einmal rund um den Häuserblock

Danach wird die Karre aufgebockt

Und sich unter die Kiste gehockt

Samstags nachmittags um halb vier

Fußballreportage und ein Bier

Kavaliersstart wird ausprobiert

Dann geht’s los in tollem Spurt

Wir schließen nie den Gurt

 

Wir sind die Jungs von der Opel-Gang

Wir haben alle abgehängt

 

 

Ich möchte zu meiner Verteidigung anmerken, dass dieses Lied ganze zehn Jahre vor den albernen Manta-Manta-Filmen entstanden ist. Sich über dieses Auto und seine Fahrer lustig zu machen, war ein noch unbeackertes Feld. Die Zeilen des Songs führten leider zum ersten großen Missverständnis in der noch jungen Karriere der Toten Hosen, denn wir hatten dieses Lied eben nicht geschrieben, um die Opel-Fahrer abzufeiern. Wir wollten sie persiflieren.

Die Idee zu dem Stück hatten wir, weil um die Ecke von unserem Proberaum ein Laden eröffnet hatte, in dem Tuning-Sachen für Autos verkauft wurden. Da sind ständig diese typischen Raser, Tüftler und Autofrisierer aufgetaucht und haben ihre Karren aufmotzen lassen. Wir haben uns über die Jungs totgelacht, und so kam es dann zu dem Text »Opel-Gang«. Dass dieses Lied als ernsthafte Hommage an die Welt der Heizer begriffen wurde, war vielleicht ein erster Hinweis, dass ich nicht der beste Texter bin.

Die Leute liebten ihn so sehr, dass der Song uns gewissermaßen selbst überholte, woraufhin wir jegliche Ironie über Bord warfen und sogar anfingen, diese Opel gut zu finden. Tatsächlich kauften wir uns selbst welche. Unser Bandbus war ein Opel Blitz, und zum seriösen Repräsentieren, wie etwa bei Familienfeiern, teilten wir uns einen weißen Opel Admiral (»Der Junge hat’s geschafft!«). Ich selbst hatte einen roten Opel Manta mit Flammen an den Kotflügeln, einem Fuchsschwanz, einer riesigen 69 an der Fahrertür und dem Aufdruck »Love Machine« auf der Heckscheibe. Wir wurden also stolze Opel-Gang-Mitglieder und freundeten uns mit vielen Leuten aus dieser Szene an. Es ging dabei aber nie um die Marke, sondern um den Typus Autofahrer, der von einem großen Porsche träumt, ihn sich aber nicht leisten kann und das Beste aus seiner Lage macht.

 

Wie auch immer – der »Herr von Ribbeck« und »Die Bürgschaft« hatten bei näherem Überlegen vielleicht doch nichts damit zu tun, dass ich begann, mich für Lyrik und Liedtexte zu interessieren. Der entscheidende Auslöser war die Rockmusik aus England und Amerika, die ich über meine älteren Geschwister entdeckte. Auf einmal blieben ganze Textungetüme mit endlosen Strophen in meinem Kopf hängen, und ich konnte sie ohne jede Mühe vor mich hin singen. Meine Geschwister hörten ausschließlich englischsprachige Musik; alles, was aus Deutschland kam, stand für sie und die meisten ihrer Generation nicht zur Debatte.

Dabei existierte auch hier, bis zur Machtergreifung der Nazis, in Musik und Kultur eine große Vielfalt an tollen, zum Teil sehr kritischen Künstlern und frechen Leuten. Da gab es vom einfachen Gassenhauer bis hin zu raffinierten Couplets alles, was das Herz begehrte. Avantgardistische Musik war genauso vertreten wie satirische Lieder über Armut und Hunger. Erst mit der Machtergreifung der Nazis wurde diese freigeistige Kultur zerstört, und alle Leute, die politisch unbequem waren, vor allem großartige jüdische Künstler, wurden verhaftet, vertrieben oder ermordet. Nach zwölf Jahren Nazi-Diktatur war nicht mehr viel übrig geblieben, was frech, kreativ oder provokant gewesen wäre.

Nach 1945 und dem verlorenen Krieg saßen im Kulturbetrieb und in der Musik immer noch dieselben Leute, die bei den Nazis für Unterhaltung gesorgt hatten. Sie brachten zwar keine Nazi-Texte mehr, hielten sich jedoch politisch sehr zurück und lieferten brave Hausmannskost. Dienst nach Vorschrift. Da kam nichts Frisches oder Provokantes, auch im Film nicht. Es dauerte eine Weile, bis sich in Deutschland junge Künstler wieder trauten, etwas anderes zu produzieren. Etwas, das wieder mit mehr Lust und Lebensfreude verbunden war – und nicht zuletzt auch mit deutlicher Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen. Im krassen Gegensatz dazu etablierte sich zunächst aber der deutsche Schlager mit überwiegend seichten und banalen Texten. Ein Versuch, von der Realität zerstörter Städte und den allgegenwärtigen Existenzängsten abzulenken. Kein Wunder also, dass ein Großteil der Nachkriegsjugend nichts mehr mit dem klassischen Deutschsein zu tun haben wollte. Das Dritte Reich hatte die Volksmusik missbraucht, Deutschtümelei grotesk gefördert und den Menschen damit die Kehle zugeschnürt, sodass sich nach Kriegsende die Jugend in der Bundesrepublik in englische und amerikanische Musik flüchtete.

Das Konzert von Bill Haley 1958 im Berliner Sportpalast – das war’s, worum es ging, der Lebenshunger, nach dem die Jugend lechzte: Masseneuphorie, wilde Krawalle und ein geschocktes Establishment.

1960 gründeten sich dann die Beatles und entfachten ein noch größeres Feuer. Im selben Jahr spielten sie zum ersten Mal in Hamburg und ermutigten auch deutsche Bands, textlich und musikalisch mehr zu wagen, wenn die auch meistens noch auf Englisch sangen. Achim Reichel gründete die Rattles, es gab die Lords, die Poor Things und einige andere. Eine dieser Bands waren die Blizzards. 1966 schrieben sie ein bemerkenswertes Lied mit tollem ruppigen deutschen Text, der mir wie eine Blaupause vorkommt für alles, was dann später Ton Steine Scherben gemacht haben:

HAB KEINE LUST HEUT AUFZUSTEHEN (1966)

Hab keine Lust, heute aufzustehen,

ist mir viel zu blöd, jetzt in das Bad zu gehen.

Mit den bloßen Füßen über einen kalten Flur,

hab keine Lust, heute aufzustehen.

Wär sie noch hier, doch sie ist weg,

es ist zum Schreien, so ganz allein.

Ich rühr mich nicht vom Fleck,

warum bringt mir keiner den Kaffee ans Bett?

Hab keine Lust, heute aufzustehen,

ich bleib im Bett den ganzen Tag,

ich schlaf wieder ein,

weil ich nicht aufstehen mag.

Nach dem kurzen Haarekämmen, welch ein Graus,

seine dünnen Haare fallen ihm ja doch bald aus,

hab keine Lust, heute aufzustehen.

 

 

Das ist schon dramatisch gut gewesen für 1966. Aber es wurde zurückgeschossen aus der Welt der Spießer, der ehemaligen Nazis, der Kriegsverlierer, der Leute, die einfach nur den Mund gehalten, aber im Grunde selbst als Biedermann gelebt hatten. Zur Stimme dieser Menschen machte sich damals Freddy Quinn. Er hat im selben Jahr folgenden unglaublich reaktionären Text rausgehauen, eine totale Kriegserklärung an die Jugend:

WIR (1966)

Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? WIR!

Wer sorgt sich um den Frieden auf Erden? WIR!

Ihr lungert herum in Parks und in Gassen,

Wer kann eure sinnlose Faulheit nicht fassen? WIR!

Wer hat den Mut, für euch sich zu schämen? WIR!

Wer lässt sich unsere Zukunft nicht nehmen? WIR!

Wer sieht euch alte Kirchen beschmieren,

Und muß vor euch jede Achtung verlieren? WIR!

Denn jemand muß da sein, der nicht nur vernichtet,

Der uns unseren Glauben erhält,

Der lernt, der sich bildet, sein Pensum verrichtet,

Zum Aufbau der morgigen Welt.

Die Welt von Morgen sind bereits heute WIR!