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Campino

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Beschreibung

Er ist einer der populärsten Musiker Deutschlands. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Die andere Hälfte fängt mit Kevin Keegan an, dem englischen Stürmer mit den wilden Locken. Der wurde in den 70ern zu Campinos großem Idol: Als zehnjährigem Sohn einer englischen Mutter und eines Richters aus Düsseldorf war ihm dieser Keegan Erlösung und Vorbild zugleich – ein cooler Engländer, der ihm zeigte, auf welcher Seite er zu stehen hatte. Seitdem verbinden sich in der Entscheidung für den besten Fußballverein der Welt die ganze Widersprüchlichkeit seiner Herkunft und die Liebe zu einem Land, das irgendwo zwischen Beatles und Brexit steht. – Von alldem, seiner Familie und der rasenden Leidenschaft zum Liverpool FC erzählt Campino in diesem Buch.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de© Piper Verlag GmbH, München 2020Covergestaltung: Dirk RudolphCovermotiv: Robert EikelpothAbbildungen: Jennie und Joachim Frege, frühe Fünfzigerjahre (Campinos Eltern), © privat; Andreas Frege, © Paul Ripke (Campino)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Fotos

Motto

1 Becoming a Brit

2 Es begann mit Kevin Keegan

3 Freunde

4 TSV Metzkausen

5 Deutschland gegen England am Burscheidter Weg

6 Amerika oder die Sehnsucht nach Liverpool

7 Auswärtsspiel

8 Burnley

9 Us and Them

10 Englische Woche

11 Liverpool Lime Street

12 Heysel

13 This is Anfield

14 Peter

15 Jennie

16 Support Your Local Hero

17 Willkommen in Österreich

18 Champions in der Wüste

19 For the Sake of Love

20 Boxing Day

21 Bude – The Seasiders

22 Hope Street

23 The Voice of Anfield

24 Prince Philip

25 You’ll Never Walk Alone

26 Henkelpott

27 Corona-Crash

28 Wie ich englischer Meister wurde

EPILOG

With a little help from my friends

 

 

Long Way From Liverpool

My heart it gets so heavy

by the end of May,

but when it gets to August

you know I’ll feel okay.

I didn’t choose to be born here,

it’s just a freak of birth,

but before I die here

I wanna kiss that turf.

Cause it’s a long, long way from Liverpool,

where the boys go crazy and the girls are cool,

and no one sings like the Kop can do.

We love you.

The bread’s on the table,

the car’s in the drive.

But I don’t wanna stay here,

I just wanna survive.

I know I’ll never walk alone

and my favourite colour’s red,

as long as I’m so far away

I may as well be dead.

Die Toten Hosen – 1994

1 Becoming a Brit

Wo hast du den Hut her?

Prince Philip zu seiner Frau Queen Elizabeth II nach ihrer Krönung 1953

 

»I, Andreas Frege, do solemnly, sincerely and truly declare and affirm that on becoming a British citizen, I will be faithful and bear true allegiance to Her Majesty Queen Elizabeth Second, her Heirs and Successors, according to law. I will give my loyalty to the United Kingdom and respect its rights and freedoms, I will uphold its democratic values. I will observe its laws faithfully and fulfil my duties and obligations as a British citizen.«

Diesen Eid auf die Queen und die britische Demokratie schwor ich am 25. März 2019 in der Britischen Botschaft in Berlin und wurde damit im Alter von 56 Jahren endlich britischer Staatsbürger. Anwesend waren der Botschafter Sir Sebastian Wood und seine Frau, meine Schwester Judy, meine Verlobte und einige Mitarbeiter des Hauses. Ich hatte meinen Sohn ein paar Tage zuvor gefragt, ob er zu diesem für mich sehr wichtigen Ereignis mitkommen wolle. Lenn ist fünfzehn und hat einen dichten Terminkalender.

»Lenn, am Montagnachmittag werde ich offiziell britischer Staatsbürger! Es wird eine kleine Zeremonie für mich geben, und ich fände es schön, wenn du dabei bist.«

»Wann ist das? Montag? Nö, lass mal, Papa. Da hab ich bestimmt was vor.«

Mein geliebter Junge. Ich schaute ihm zu, wie er gelangweilt auf seinem Handy herumdaddelte, und konnte mir nicht verkneifen, ihn genervt anzubrummen: »Musst du nicht noch was für die Schule machen?«

Ich war das ganze Wochenende über schon nervös und konnte in der Nacht auf Montag kaum schlafen. Ich dachte an meine Mutter und daran, dass sie ihre Sehnsucht nach England in den fünfzig Jahren, die sie in Deutschland verbracht hatte, nie losgeworden war. Wie sie immer, wenn die Fähre mit ihr und uns Kindern Richtung Festland ablegte, alleine an Deck stand und mit Tränen in den Augen auf die weißen Felsen von Dover zurückblickte, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Sie war als junge Frau mit 23 Jahren aus Liebe zu meinem Vater nach Deutschland gekommen, hatte mit ihm dort eine Familie gegründet und sechs Kinder großgezogen.

Die eigene Heimat hatte sie dafür aufgegeben, aber nie aufgehört zu vermissen.

Sie würde sich heute sicherlich sehr über meinen Schritt freuen, nun auch offiziell zu meinen englischen Wurzeln zu stehen. Drei von uns sechs Geschwistern haben ohnehin schon seit Geburt britische Pässe – John, Judy und Lizzie –, während sich bei Mike (Geburtsname Michael), Maria und mir wohl unser Vater durchgesetzt hatte. Ich hatte es immer als Unglück empfunden, einen deutschen Vornamen zu haben, und wenn die Kinder in der Grundschule riefen:

»Andreas, du bist ja gar kein Engländer, zeig doch mal deinen Ausweis!«, war ich machtlos.

In meinem besten und einzigen Anzug, den ich sonst nur bei Hochzeiten, Beerdigungen oder in der Director’s Box des Liverpool FC trage, machte ich mich an diesem Montag mit meiner Verlobten auf den Weg zum Brandenburger Tor. Dort trafen wir Judy und gingen dann gemeinsam hinüber zur Botschaft.

Als wir die Sicherheitsschleuse passiert hatten, empfing uns Botschafter Wood und führte uns in einen kleinen Saal, in dem auf einem marineblauen Teppich ein Rednerpult sowie ein großes Porträt der Queen aufgestellt waren. Eine Union-Jack-Fahne hing daneben.

Nach dem Eid überreichte mir der Botschafter meine Urkunde, alle klatschten, und wir stießen mit Champagner an. Ich blickte auf das Porträt der Queen und erinnerte mich an den Moment, an dem wir uns schon mal begegnet waren. Ich muss ungefähr acht gewesen sein und war mit meinen Eltern und Geschwistern in den Sommerferien in Cornwall. Von dort fuhren wir manchmal für ein paar Tage zu Auntie Marigold nach Dartmouth. Marigold war die Patentante meiner Schwester Lizzie, und ich bewunderte sie. Sie hatte Sommersprossen und rote Haare, war Mitglied im Bogenschützenverein und holte uns stets mit ihrem Bentley Continental in dieser wundervollen Farbe ab: British Racing Green. Immer mit Vollgas, Typ Draufgänger. Eine Hand war ständig auf der Hupe, um auf den engen, mit Hecken dicht bewachsenen Straßen vor jeder Kurve klarzumachen, dass Gefahr im Verzug war. Sie hatte eine raue Stimme und ein lautes, ansteckendes Lachen.

»I love these Cornish roads! You never know what’s coming«, schrie sie hinter dem Steuer und lachte schon wieder. Ihre beiden Katzen hießen Mercedes und Porsche, und ihr Haus war vollgestopft mit Büchern und Standuhren. Sie lebte mit ihrem Mann Tom auf einem Hügel genau an der Flussmündung des River Dart, ihr Garten reichte bis ans Ufer, und Onkel Tom musste immer ihr Motorboot steuern, obwohl er Nichtschwimmer war. Mit diesem Boot machten wir einige Ausflüge, und als wir einmal in einen Sturm gerieten und die Wellen es wie eine Nussschale hin und her warfen, stand Tom hinterm Steuer wie ein alter Seebär und rief:

»Hold on tight now! There’s a big one coming. We’re gonna get wet.«

Dann schlug das Wasser über uns zusammen, und Marigold und Tom lachten.

Beim Abendessen schenkten sie uns Kindern in riesigen Gläsern Rose’s Lime Juice nach, so viel, dass ich manchmal mitten in der Nacht aufwachte, weil ich ins Bett gemacht hatte. Meiner Mutter war das so peinlich, dass sie noch im Morgengrauen das Laken wusch, bevor alle anderen wach waren.

Jedenfalls stand ich in diesem Garten von Auntie Marigold und Onkel Tom, als Queen Elizabeth II mir einmal winkte. Die königliche Familie war mit ihrer Yacht Britannia in die Bucht gekommen, um Dartmouth zu besuchen. Sie machte einen Spaziergang durch die Stadt, und an den Straßenseiten jubelten die Menschen ihr zu. Wir Kinder standen dabei und fanden alles großartig, obwohl wir kaum etwas sehen konnten. Als wir zum Haus zurückkamen, war Marigolds Haushälterin Amy vor Glück in Tränen aufgelöst. Auch sie hatte am Straßenrand gestanden, und der junge Prince Charles war auf sie zugegangen und hatte sie angesprochen. Das war zu viel für Amy.

»He asked for my name and he liked my dress! He was so charming.«

Sie war den ganzen Tag nicht mehr einsatzfähig.

Tante Marigold drehte sich zu mir: »I’ve got a plan and I think you’re going to like it!« Sie nahm mich am Arm, ging mit mir zum Bootshaus, kramte ein altes Flaggentuch aus einer Kiste und fand auch noch einen langen Stock.

»When they leave the harbour you’ll wave them goodbye, Andreas«, krächzte sie wie ein Rabe und band Tuch und Stock fest zusammen. Außer mir vor Freude kam ich mit der Fahne auf die Terrasse, wo die anderen bei Kaffee und Kuchen in der Sonne saßen.

»Wenn das Schiff kommt, werde ich sie schwenken!«

Zwei Stunden später war es so weit. Mit lautem Hupen lief die Britannia wieder aus und verließ den Hafen. Von unserer hoch gelegenen Terrasse aus konnte ich erkennen, dass die königliche Familie sich an Deck versammelt hatte und sich von den Menschen am Pier winkend verabschiedete. Sie musste noch drei- oder vierhundert Meter fahren, bis sie an unserem Grundstück vorbeikam. Ich raste los, um nach unten in den Garten zu kommen, mein Bruder Mike wollte hinter mir her, aber mein Vater rief:

»Mike, du bleibst hier! Das ist doch Blödsinn, nicht wahr?« Er fand, Mike sei für so etwas zu alt.

So stand ich allein auf der Wiese, niemand war in meiner Nähe, und an Deck der Britannia wurde es auch leerer. Als sie sich der Flussmündung näherte, hielten sich nur noch die Queen und Prince Philip dort auf und schauten über die Reling. Wie wild fing ich an, meine Fahne zu schwenken, hin und her, ohne Unterlass. Und dann kam der Moment: Queen Elizabeth drehte sich in meine Richtung, erblickte den kleinen Jungen mit der Fahne auf der Wiese und winkte ihm mehrere Sekunden lang zu. Dieser Gruß galt nur ihm, und oben auf der Terrasse hatten es alle gesehen.

 

»Congratulations, Andreas«, sagte nun ein halbes Jahrhundert später Botschafter Wood und riss mich aus meinen Gedanken. Ich kenne ihn und seine Frau schon länger. Sie sind sogar bei ein paar Konzerten der Toten Hosen gewesen und laden mich gelegentlich zu Empfängen der Botschaft ein.

Eine Stunde später waren wir wieder auf der Straße. Ich trug meine Urkunde stolz in der Hand und fühlte mich erleichtert. Schon in meiner Kindheit und Teenagerzeit wäre mir diese Staatsbürgerschaft so unglaublich wichtig gewesen, aber wohl aus Rücksicht auf meinen Vater hatte sich meine Mutter bei Maria, Mike und mir nicht um diese Formalitäten gekümmert.

Mit sechzehn hatte ich meine Mutter noch mal auf einen britischen Pass angesprochen. Sie vermutete damals jedoch, dass ich ihn nur haben wollte, um dem deutschen Wehrdienst zu entgehen, und verweigerte mir ihre Unterstützung.

So ganz unrecht hatte sie damit nicht, ich wollte wirklich nicht zur Bundeswehr, aber die Sache mit dem Pass hatte für mich eine viel tiefere Bedeutung. Mir ging es nicht anders als vielen Millionen Menschen, die sich nach dem Land ihrer Wurzeln sehnen, aber vielleicht nie dort gewohnt haben – und es deshalb idealisieren. Oft werden sie patriotischer als mancher, der dort sein Leben verbringt. Die Liebe zur Musik, zum Fußball, zu London und meinem Cornwall – all das hatte sich fest in mir verschraubt, und als ich Punk wurde, war England die Antwort auf jede Frage, die mich interessierte. Ich verehrte einfach alles: den Geruch auf den Bahnhöfen, Full English Breakfast, Schuluniformen und Linksverkehr. Ich verherrlichte sogar das Wetter! London wurde zu meinem Mekka, und wenn ich dort war und an einem Abend zwanzig verschiedene Konzerte gleichzeitig stattfanden, die ich alle gerne gesehen hätte, dann wusste ich: So einen Ort gibt es nur einmal auf der Welt.

Ich bin mit den Toten Hosen in vielen Ländern der Erde aufgetreten, von Amerika bis Tadschikistan, und wir sind immer im Angriffsmodus auf die Bühne gegangen, nach dem Motto: Uns kann nichts passieren, wir haben nur Angst, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt. Bloß in Großbritannien habe ich diese großmäulige Haltung auf der Bühne nicht hinbekommen. Ich hatte immer das Gefühl, Eulen nach Athen zu tragen, als wollte der Lehrling dem Meister zeigen, wie das Handwerk geht.

Einmal haben wir in Birmingham gespielt, meine Verwandtschaft war extra aus der Nachbarstadt Wolverhampton angerückt. Sie hatten nie zuvor ein Konzert von uns gesehen. Ausgerechnet an diesem Abend kam es zu einer wüsten Schlägerei, als Manfred Meyer, unser Security-Mann und langjähriges Mitglied des Rockerclubs Black Devils, mit drei Zuschauern in Streit geriet. Eine Band auf Tour hat einen Ehrenkodex, wie Matrosen auf hoher See. Also sprang ich, als die ersten Fäuste flogen, von der Bühne, die anderen hinter mir her. Ich warf mich in den Mob und schlug mit dem Mikrofon auf jeden Kopf, der in Reichweite kam. Bei jedem Treffer knallte es aus den PA-Boxen in den ganzen Saal, während man mich schreien hörte: »I’ll kill you! I’ll kill you!«

Irgendwann beruhigte sich die Situation, und wir konnten mit unserem Programm fortfahren, aber als das Konzert zu Ende war, ist mir das alles unendlich peinlich gewesen. Ich wusste zuerst nicht, ob meine Verwandten inzwischen nach Hause gefahren waren.

Irgendwann tauchten sie dann doch backstage auf, und mein Cousin Stephen bemerkte trocken: »Very interesting show, Andreas!«

Nur in England habe ich mich für solche Vorfälle geschämt, als wäre es schon respektlos von uns, als deutsche Band überhaupt in dem Land aufzutreten, wo der Punk begann und explodierte.

Mit den Jahren und den vielen Reisen verschob sich mein Blickwinkel sowohl auf England als auch auf Deutschland. Wo wir mit den Toten Hosen hinkamen, hat man uns – zu Recht – als »deutsche Band« angekündigt. Wir wurden, ob wir wollten oder nicht, immer mehr zu Botschaftern unseres Landes.

Ich lernte mit der Zeit andere wunderbare Länder kennen, die meine Begeisterung für England relativierten. Australien zum Beispiel kam mir vor wie England, nur ohne Regen, mit unglaublicher Natur und unendlichen Weiten. Oder Argentinien, ausgerechnet das Land, das mit Großbritannien in den Achtzigerjahren Krieg geführt und obendrein England bei der WM 1986 so gedemütigt hatte. Da machte Maradona die englische Abwehr lächerlich, schoss das Team alleine aus dem Turnier und sprach anschließend von der »Hand Gottes«. Voller Vorurteile kam ich Anfang der Neunzigerjahre zum ersten Mal nach Buenos Aires und habe mich trotzdem, sofort und für immer, in die Menschen und das Land verliebt.

Meine späte Entscheidung, die britische Staatsbürgerschaft mit 56 Jahren noch anzunehmen, hat ihre Wurzeln nicht in der juvenilen Begeisterung meiner jungen Jahre. Sie hat auch nichts damit zu tun, dass ich Großbritannien für perfekt halten würde wie damals zu meinen Teenagerzeiten.

Vielmehr kommt es mir vor wie ein Kreis, den ich für mich schließen möchte. So wie ich zu Deutschland gehöre, so fühle ich mich auch mit England verbunden, und dieses lächerliche Stück Papier, dieser Ausweis, hat die Kraft, mir das Gefühl zu geben, dass ich in England kein Gast bin, sondern zu Hause. Und gerade jetzt, wo durch den Brexit eine weitere Trennlinie gezogen worden ist, bedeutet mir das viel.

 

Durch den Tod meiner englischen Großmutter 1987 kam mir ein starker Bezugspunkt zu dem Land abhanden, der Mensch, der dort immer auf uns gewartet hatte. Und als schließlich meine Mutter im Jahr 2000 starb, ging die wichtigste Verbindung verloren. Es gab keine Brücke mehr. Meine Orientierung nach England war, wenn ich es mir von heute aus betrachte, eh nie etwas anderes als eine verdeckte Liebeserklärung an meine Mutter. Wir wollten für sie englisch sein, damit sie England nicht so vermissen musste. Nun war das vorbei.

London war da schon weggefallen, das allerdings einige Jahre zuvor: Als dort die Punkbewegung, die mich geprägt und mir so viel gegeben hatte, Mitte der Achtziger tot und begraben war, fühlte sich die Stadt für mich nur noch an wie eine verflossene Freundin. England schien mir mehr und mehr durch die Finger zu rinnen.

Geblieben ist die Liebe zu Cornwall, der Gegend meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Und ein anderer Draht wurde nie gekappt, sondern immer nur stärker, eine Beziehung, die mich begleitet, seit ich ein kleiner Junge bin: mein Bündnis mit dem Liverpool FC.

Seit Jahrzehnten fahre ich zu allen Spielen, die ich irgendwie erreichen kann, quetsche sie zwischen Tourpläne, Studioaufnahmen und Restleben. Erst spät habe ich begriffen, dass ich da nicht nur zu Fußballspielen fahre. Unterbewusst habe ich auf diesen Reisen mein Englischsein ausgelebt, mein Bedürfnis, dazuzugehören und es fühlen zu können. Ich ziehe mir mein rotes Hemd an und bin in Sekunden verwandelt. Mit tausend anderen laufe ich durch die Straßen zum Stadion, singe dabei seltsame Lieder und bin glücklich. Das klappte damals, das klappt noch heute.

2 Es begann mit Kevin Keegan

Es gibt nur eines, was noch sinnloser ist als Fußballspielen. Nachdenken über Fußball.

Martin Walser

Community Shield, 4. Aug. 2019: Liverpool – Manchester City 1:1 (4:5 n. E.)

Tore: Raheem Sterling 11’, Joel Matip 77’. Gesehen: Wembley-Stadion, London. Fazit: Im ersten Spiel gleich den ersten Sieg verschenkt.

 

 

Manchmal fallen mir auf meinen Fußballfahrten Dinge ein, die lange verschüttet waren. Besondere Spiele, Familienerinnerungen, Freundschaften. Und dann kommen mir die Fahrten vor wie Reisen zu mir selbst.

Jetzt, im August 2019, gehe ich in meine 47. Saison mit dem Liverpool FC, und alles geht wieder von vorne los. Die kommende Spielzeit ist besonders schwierig, denn wir haben viel zu verlieren. Wir sind amtierender Champions-League-Sieger.

Seit dem Titelgewinn vor zwei Monaten lebe ich in dem Hochgefühl, Chef im Ring zu sein. Zwei Monate, in denen der Fußball Sommerpause hatte. Zwei Monate lang große Fresse, ohne am folgenden Spieltag einen Preis zahlen zu müssen. Mit Genugtuung zerknirschte Glückwünsche von den Fans rivalisierender Vereine und bayerischen Freunden entgegennehmen. Entspannt im Hier und Jetzt, eine herrliche Zeit.

Ich hatte mit den Toten Hosen noch ein paar Festivals und Konzerte zu spielen und konnte mir die übrigen Tage selbst einteilen. Das bedeutete vor allem: ohne Fremdbestimmung durch einen Ligaplan.

Doch diese Zufriedenheit hielt nicht allzu lange an. Ich wusste immer weniger mit mir anzufangen, vor allem an Samstagen. Die Versuche meiner Verlobten, die fußballfreien Wochenenden sinnvoll mit Kunst und Kultur zu füllen, lösten bei mir eher eine stille Traurigkeit aus. Ich begann, mich sozial zu isolieren, wurde immer fahriger und erwischte mich dabei, dass ich nachts auf YouTube alte Liverpool-Spiele aus den Siebzigerjahren anschaute. Tagsüber kam mir das lächerlich vor.

Gut, dass das endlich vorbei ist. Heute geht es wieder los – an einem wunderschönen Vormittag in London. Ich stopfe mir noch schnell den Rest eines Hotdogs in den Mund und springe an der Praed Street in die Bakerloo Line Richtung Wembley Park.

Unsere Sommerferien in Cornwall sind gerade zu Ende gegangen, und gestern habe ich Lenn am Flughafen Heathrow verabschiedet. Die Umarmung war herzlich, und irgendwie waren wir beide auch ein bisschen froh: Lenn, weil er nicht mit zum Fußball musste, und ich, weil ich mich nun in Ruhe auf das Spiel konzentrieren konnte.

Ich hatte alles perfekt geplant, um beim symbolischen Saisoneröffnungsspiel, dem sogenannten Curtain Raiser, vor Ort zu sein. Eine Woche vor dem regulären Ligastart spielt im Wembley-Stadion traditionell der Meister der Premier League gegen den Gewinner des FA Cups um den Community Shield. Sportlich gesehen hat dieses Duell kaum eine Bedeutung, aber es taugt als Beruhigungsmittel für Fans mit Entzugserscheinungen. Und da Manchester City in diesem Jahr unglücklicherweise gleich beide Wettbewerbe gewonnen hat, ist Liverpool als Vizemeister gefordert. Natürlich muss ich dabei sein.

Plötzlich macht die U-Bahn eine Vollbremsung. Nach gerade einmal vier Stationen ist die Fahrt in Queens Park zu Ende. Lautsprecherdurchsagen weisen darauf hin, dass Reisende nach Wembley bitte in die als Schienenersatzverkehr zur Verfügung stehenden Busse umsteigen mögen. Ich bin gut in der Zeit, Anstoß ist erst in zweieinhalb Stunden, kein Grund zur Panik. Folgsam steige ich aus dem Zug und trotte gelassen einem Pulk von Schlachtenbummlern beider Lager hinterher, der sich, auf der Suche nach der Bushaltestelle, zum U-Bahn-Ausgang bewegt. Doch draußen auf der Straße sind keine Busse zu sehen. Gutmeinendes Servicepersonal, das jedoch keine Ahnung hat, schickt uns in verschiedene Richtungen und sorgt damit für aufkommende Unruhe. Ich beschließe, auf eigene Faust loszulaufen, und erwische nach etlichen Straßenecken tatsächlich einen Bus, der mich mitnimmt. Wie in einer Sardinendose rolle ich nun mit anderen Havarierten ein paar Hundert Meter weiter geradewegs in einen Vollstau. Nichts geht mehr.

Wir sind fünf Meilen vom Stadion entfernt, inzwischen sind es nur noch 90 Minuten bis zum Anpfiff. Irritation und Ratlosigkeit schlagen nun doch in wachsende Verzweiflung um. Wild Entschlossene machen kurzen Prozess und brechen die Bustüren auf, um sich zu Fuß durchzuschlagen. Auch aus anderen Fahrzeugen springen Menschen heraus und eilen Richtung Stadion. Ich springe hinterher. Innerhalb weniger Augenblicke sieht es aus wie beim Londoner Marathon, nur ohne Anreichung der Wasserflaschen. Die Sonne brennt uns im Nacken, und auf den englischen Regen ist heute kein Verlass. Schweißgebadet traben wir über die Asphaltwüste der Harrow Road und erreichen nach einer gefühlten Ewigkeit kurz vor Spielbeginn doch noch unser Ziel. Ich muss lachen: Ich bin also offensichtlich 57 Jahre, in einer der interessantesten Städte der Welt mit den besten Museen Europas, laufe mit mir gänzlich unbekannten Menschen singend und Rot tragend durch einen Vorort, um mir ein gänzlich unwichtiges Spiel meiner Lieblingsmannschaft anzuschauen.

Und ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.

Es geht wieder los, und ich bin wieder dabei, wie lange jetzt eigentlich schon?

Ich weiß, dass ich vor 45 Jahren, fast auf den Tag genau, am 10. August 1974, ebenfalls den Saisonauftakt verfolgt habe. Damals habe ich zu Hause in Mettmann-Metzkausen im Esszimmer auf unserem grünen Teppich vor dem Transistorradio gelegen. Meine Eltern waren 1965 aus Düsseldorf in die Vorstadt gezogen, in den Burscheidter Weg 101, ins Grüne, eine Doppelhaushälfte mit Garten. Hier lebten wir zu acht: meine Mutter Jennie, mein Vater Joachim, meine beiden älteren Brüder John und Mike, meine ebenfalls älteren Schwestern Judy und Maria und meine kleine Schwester Lizzie.

»Wenn man in Deutschland sechs Pferde besitzt, gilt man als vermögend. Wenn man sechs Kinder hat, ist man asozial«, sagte meine Mutter einmal. Es hatte auch noch Peter gegeben, er war der Drittälteste. Doch er starb nur wenige Monate alt 1955 an einer Lungenentzündung. So war ich nun die Nummer fünf und als jüngster Sohn so etwas wie das Lieblingskind meines Vaters.

»Andreas, willst du nicht rausgehen und mit den anderen spielen?«, rief Mummy aus dem Flur. Draußen schien die Sonne, es war Hochsommer.

»Why don’t you go and enjoy the sun? It’s such a shame!«

»Such a shame« waren jene Worte des Bedauerns, die ich im weiteren Verlauf meiner Jugend noch sehr häufig hören würde, und zwar immer auf Englisch. Meine Mutter lebte zwar seit 1948 in Deutschland, doch das Hin- und Herspringen zwischen den Sprachen ist sie nie losgeworden.

An jenem Tag war mir die Sonne egal. Liverpool spielte. Als amtierender Pokalsieger musste das Team gegen den damaligen Meister Leeds United antreten, unseren Erzrivalen damals. Das Spiel ging 1:1 aus (wir gewannen anschließend im Elfmeterschießen), aber ich erinnere mich vor allem daran, dass in der 60. Minute mein Held Kevin Keegan einen Faustkampf mit Billy Bremner anzettelte, einem schottischen Eisenfuß und dem Kapitän von Leeds. Beide sahen Rot – und das bei einem Benefizspiel. Dass Keegan den Platz verlassen musste, erschien mir ungerecht. Er musste seinen Grund gehabt haben, diesem Unsympath das Maul zu stopfen.

Ich war ein paar Wochen zuvor zwölf Jahre alt geworden und hatte von meinen Eltern einen Philips-Kassettenrekorder bekommen. Der Rekorder steckte in einer schwarzen Lederhülle zum Umhängen mit eingestanzten Löchern über dem Lautsprecher. Mein ganzer Stolz aber war ein dazugehöriges Mikrofon, das ich mit einem Kabel anschließen konnte, Modell Rasender Reporter.

Mit dem Gerät hatte ich mich schnell angefreundet und schon an Hörspielen versucht, bei denen ich Autor, Tonmann, Sprecher und Regisseur in Personalunion war. Ich verfasste Detektivromane, Tierfabeln und Horrorstorys, aber am besten waren, laut meiner Mutter, der ich die Werke stets zuerst präsentierte, meine Wild-West-Geschichten. In der jüngsten Episode waren zwei Indianer zu einem Wasserfall geflüchtet, verfolgt von einer Horde weißer Banditen. Diese Sequenz hatte ich bei uns im Badezimmer im ersten Stock aufgenommen. Der Hall dort, fand ich, kam dem in einem Canyon sehr nahe. Das Rauschen der Dusche gab einen perfekten Wasserfall her. Auszug aus dem Sprechtext:

Bandit 1: »Wir werden sie umzingeln und räuchern sie dann aus!«

Bandit 2: »Okay!!«

Aber an diesem 10. August 1974 musste sich das Mikrofon ernsthaft bewähren. Seit meinem Geburtstag hatte ich geplant, bei diesem ersten Spiel der Saison 1974/75 die Fangesänge des Liverpool FC aus dem Radio aufzunehmen. Das Spiel wurde auf BFBS übertragen, dem Radiosender für in Deutschland stationierte britische Soldaten, den meine Mutter immer hörte.

Mein Vorhaben gestaltete sich schwieriger als erwartet. Ich saß, mein externes Mikrofon aufnahmebereit, vor dem großen Radiogerät. Um Punkt 15:45 Uhr wurde live ins Wembley-Stadion geschaltet, im Hintergrund hörte ich schon den 30 000 Kehlen starken Chor der Red Army:

 

»Oh, when the Reds,

oh, when the Reds,

oh, when the Reds go marching in …«

 

Doch jedes Mal, wenn ich mit zwei Fingern gleichzeitig auf die Play- und die Recordtaste drückte, zerredete der Reporter diesen heiligen Moment. Und wenn er mal Luft holen musste, sabotierten die Leeds-Fans meine Aufnahme mit ihrem Lärm. Verstanden die alle nicht, dass hier die berühmten Shankly-Boys sangen? Der Kop Choir? Und dass ein kleiner Junge aus Metzkausen gerade seinen ersten großen Fußballmoment plante?

 

»We’ll be coming, we’ll be coming,

We’ll be coming down the road,

When you hear that noise of the Bill Shankly Boys,

We’ll be coming down the road …«

 

Eine störungsfreie Aufnahme gelang mir während des gesamten Spiels nicht. Einzige Ausnahme (und für mich gewissermaßen der Trostpreis) war der Moment, als die Nationalhymne gespielt wurde und alle im Stadion gemeinsam sangen. »God save the Queen.« Da war auch der Reporter ruhig, und ich bekam eine Gänsehaut.

Mit zwölf hatte ich mich längst entschieden. Ich fühlte mit England, vor allem im Sport. Das ging schon ein paar Jahre so. Mit England verband ich Sorglosigkeit, Freiheit, Top of the Pops und Rockmusik. Und vor allem keine Schule. In den Ferien ging es zu unserer Großmutter Alice, den anderen englischen Verwandten oder ins Sommerferienhaus nach Cornwall.

Am liebsten aber besuchte ich Andy und Paul, meine in etwa gleichaltrigen Cousins, die mit ihrer Mutter in Chislehurst lebten, einem Vorort von London. Ihnen verdankte ich mein ganzes Fußballwissen, denn bei ihnen lagen kistenweise Shoot-Magazine herum, eine wöchentlich erscheinende Fußballzeitschrift mit großartigen Fotos, Berichten und Spielerporträts. Nach jeder Ankunft lag ich bald auf Andys Bett und tauchte in die neuesten Ausgaben ab.

Die Namen solcher Vereine wie Crystal Palace, West Bromwich Albion oder Queens Park Rangers klangen wie Zauberworte im Gegensatz zu Wuppertaler SV, Rot-Weiß Essen oder Hannover 96. Im Kinderzimmer von Andy und Paul hatte ich alle Zeit der Welt, für mich meinen Verein zu finden. Blackpool klang wie eine Stadt aus einem Edgar-Wallace-Film, Nottingham Forest schillerte wie Robin Hood. Und auch die Namen der Spieler: Peter Lorimer spielte für Leeds, George Best war bei Manchester United, Liverpool hatte Steve Heighway. Heighway. Was für ein Name.

Der Star bei Liverpool aber war Bill Shankly, ihr Trainer. Ich lernte, dass man in England nicht Trainer sagt, sondern Manager. Er war der Boss, und seine Mitarbeiter waren die Coaches. Der englische Manager steht auf dem Platz und sitzt auf der Bank, stellt aber, anders als der deutsche Trainer, auch den Kader zusammen. Von Shankly las ich folgende Sätze: »Einige Leute halten Fußball für einen Kampf um Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich versichere Ihnen, dass es viel ernster ist.«

So richtig verstand ich nicht, was er damit meinte, aber ich ahnte, dass es hier um etwas Großes ging. Ich beschloss, das sollte in Zukunft auch meine Einstellung zum Fußball sein.

Andy und Paul waren zwar Leeds-Fans, aber nette Kerle und sehr großzügig. Leeds kam für mich nicht infrage, und deshalb erlaubten sie mir, alle Liverpool-Fotos und Berichte auszuschneiden und mit nach Mettmann zu nehmen. Dort klebte ich alles an die Wand meines Zimmers. Einen solchen Schatz hatte in Deutschland 1971 niemand anderes, behaupte ich. Es war schön, diese Liverpool-Welt für mich alleine zu haben.

Mein ältester Bruder John hatte wegen anhaltender Schulprobleme zur Oma nach Berlin ziehen müssen und war halbherziger Hertha-Fan geworden. Mike hatte sich für Fortuna Düsseldorf entschieden. Einmal sah ich ihn, wie er in unserer Waschküche im Keller ein Bettlaken in einen Putzeimer tunkte, den er mit roter Farbe gefüllt hatte. Doch die bei Spielwaren-Franz gekaufte Farbe war teuer, und es reichte nur für ein Tütchen. Das etwas missglückte, lediglich blassrosa statt fortunarote Ergebnis montierte Mike an einen Besenstiel, mit dem er stolz ins Rheinstadion aufbrach. Er behauptet noch heute, dass seine Fahne an jenem Nachmittag im Dezember 1972 der Fortuna geholfen habe, Eintracht Braunschweig 2:0 zu besiegen. Er hat sie aus nie genannten Gründen trotzdem nicht mehr zurück nach Hause gebracht; der Anblick der professionellen Fahnen und Banner um ihn herum auf den Tribünen muss ihn zu sehr eingeschüchtert haben.

Meine erste wirkliche Begegnung mit dem Liverpool FC fand am 23. Mai 1973 statt. Meine Helden kamen endlich zu mir, oder jedenfalls fast. Im nur 25 Kilometer entfernten Gladbacher Bökelbergstadion spielte Liverpool im Rückspiel des UEFA-Pokalfinales gegen Borussia Mönchengladbach.

Auch wenn ich die Spieler selbst natürlich nie zu Gesicht bekam und auch nicht zum Match durfte, begeisterte mich bereits der Anblick einer Handvoll englischer Fans. Ich sah sie am Spieltag mitten in der Düsseldorfer Innenstadt auf der Schadowstraße, fünf Gestalten mit roten Trikots, Schals und Mützen, einer trank sogar aus einer Bierdose. Sie wirkten ein bisschen verloren und mussten aus der Altstadt gekommen sein, und jetzt wollten sie wahrscheinlich zum Hauptbahnhof, um zum Spiel nach Mönchengladbach zu fahren. Meine Mutter und ich waren gerade auf dem Weg zur Bushaltestelle, es war halb vier am Nachmittag, sie hatte mich mit in die Stadt zur Bücherei genommen, danach hatten wir bei der Bäckerei Oehme Brot und Kuchen für die Woche besorgt.

Abends durfte ich das Spiel, bereits im Schlafanzug, an unserem Transistorradio auf BFBS mitverfolgen. Zu meinem Entsetzen führte Gladbach durch zwei Heynckes-Tore schon zur Halbzeit 2:0, und Liverpools mir zunächst so komfortabel erschienener 3:0-Vorsprung aus dem Hinspiel drohte zu schmelzen. Zwei Wochen zuvor, in Liverpool, hatte Kevin Keegan ein unglaubliches Kopfballtor gemacht. Das wusste ich aus der Rheinischen Post, die am Morgen danach bei uns auf dem Frühstückstisch lag. Unter Keegans Foto auf der Aufmacherseite stand die Zeile: »Wie ein fliegender Fisch«.

Nun litt ich mich vor dem Radio durch die zweite Halbzeit, doch die berüchtigte Liverpool-Abwehr um Ian Callaghan und Tommy Smith hielt. Gladbach gewann 2:0, aber dank des Torverhältnisses bekam Liverpool trotzdem den Pokal. Ich schaltete das Radio aus, ging zu Bett und konnte die halbe Nacht nicht schlafen. Das ganze Rheinland trauerte, nur ich nicht. Das war der Moment, in dem ich wusste: Ich würde nie, nie, niemals aufhören, Liverpool-Fan zu sein! Es war vier Wochen vor meinem elften Geburtstag.

 

Heute bin ich 57 und suche meinen Sitzplatz irgendwo auf dem Unterrang des Wembley-Stadions. Ein idealer Fußballtag, die Sonne scheint, das Haus ist ausverkauft. Vorhang auf zur neuen Saison! Beide Mannschaften treten schon in Bestbesetzung an. Sie legen gleich richtig los, schenken sich nichts und kämpfen um jeden Ball. Liverpool schießt siebzehnmal auf Citys Tor, trifft zweimal den Pfosten. Die anderen halten dagegen, das Spiel geht 1:1 aus wie damals 1974, es kommt wieder zum Elfmeterschießen.

Wijnaldum verschießt. Wir verlieren.

3 Freunde

Es ist nicht wichtig, was die Leute denken, wenn du kommst. Es ist wichtig, was die Leute von dir denken, wenn du gehst.

Jürgen Klopp auf seiner ersten Pressekonferenz in Anfield

PL-Matchday 1, 9. Aug. 2019: Liverpool – Norwich 4:1

Tore: Grant Hanley 7’ (ET), Mohamed Salah 19’, Virgil van Dijk 28’, Divock Origi 42’, Teemu Pukki 64’. Gesehen: Garderobe Rocco-del-Schlacko-Festival. Fazit: Singing in the rain. Die ersten 3 Punkte sind da!

 

 

Ich befinde mich in einer Container-Garderobe im Backstage-Bereich des Rocco-del-Schlacko-Festivals, irgendwo im Saarland. Ich muss gleich auf die Bühne und mit den Toten Hosen hier spielen. Wer plant eigentlich diese Festivals? Heute Abend ist Saisonstart in England! Zum Glück ist unser Auftritt erst für 22 Uhr angesetzt, sodass ich mir Hoffnungen mache, den Großteil des Liverpool-Spiels noch hier in der Garderobe gucken zu können. Aus Erfahrung bin ich auf solche Notsituationen natürlich eingestellt.

Draußen regnet es schon den ganzen Tag in Strömen, dicke Tropfen klatschen an die Container-Fenster. Unser Auftritt wird eine Wasserschlacht mit 20 000 Leuten werden, was will man machen. Gummistiefel und Regencapes sind heute heiß begehrt, und jedes Crew-Mitglied, das in unsere Garderobe kommt, zieht eine Schlammspur hinter sich her.

Hier drinnen ist die Stimmung entspannt, das typische Warten ein paar Stunden vor der Show. Ein mit Bier gefüllter Kühlschrank, ein ungemütliches schwarzes Kunstledersofa, zwei dazugehörige Sessel, Salzstangen, Möhrenstreifen mit Dip und belegte Brote auf einem kleinen Beistelltisch, mehrere Kleiderständer und die unvermeidlichen Plastikpflanzen als gut gemeinte Deko. An der Wand klebt die heutige Running Order und ein Passwort fürs WLAN.

Es werden ein paar müde Witze gemacht, und jeder ist irgendwie mit sich selbst beschäftigt. Lustlos knetet Physio Flo an meinen Waden rum. Er sagt: »Ehrlich jetzt, wird bestimmt ein Bombenabend.«

Er ist sicher ein guter Physiotherapeut, aber als Motivator ist er Weltklasse.

Wir haben in diesem Jahr schon etliche Konzerte gespielt, alles ist geliebte Routine. Von der nahe gelegenen Bühne hört man die letzten Akkorde der Donots über das Gelände dröhnen.

Ich hatte mir extra wegen der Übertragungen der englischen Liga ein Pay-TV-Abo besorgt und mache nun voller Vorfreude fünf Minuten vor Anpfiff in unserer Garderobe mein iPad an. Liverpool FC gegen Norwich City. Ich habe drei Punkte fest eingeplant. Unsere Show beginnt glücklicherweise erst in anderthalb Stunden. Die Internetverbindung scheint stabil zu sein, obwohl wir hier mitten im Niemandsland sind. Trotzdem bekomme ich Probleme. Sky verweigert mir den Zugriff. Ein Info-Fenster poppt auf: zu viele Geräte auf Sendung.

»Zu viele Geräte? Was soll die Scheiße? Ritchy!!«

Ich rufe nach einem unserer Roadies, den ich in solchen Computerfragen für am versiertesten halte. Kein guter Moment für Ritchy. Er sitzt gerade im fünfzig Meter entfernten Catering-Zelt und muss sein geliebtes Chili con Carne im Stich lassen, das dampfend vor ihm steht. Widerwillig stapft er durch den Regen zu uns rüber und erreicht unseren Container mit der entsprechenden Ladung Matsch an den Schuhen. Verzweifelt erkläre ich mein Problem. Er drückt ein paar Tasten, macht das Gerät aus und an und schaut dann mitleidig. »Nichts zu machen. Da kommste nicht rein.«

»Was gedenkst du jetzt zu tun?«, frage ich knapp.

Ritchy ist ratlos. Er versucht, Zeit zu gewinnen. »Wie jetzt? Na ja, ich …«

Zu spät. Das war nicht, was ich hören wollte.

»WASDUJETZTZUTUNGEDENKST?!«, schreie ich in einer Lautstärke, die ihm die Haare nach hinten fliegen lässt.

»Ich suche nach einer anderen Lösung«, sagt Ritchy und bleibt locker. Er kennt mich. Ich habe inzwischen schon Schaum vorm Mund und wähle die Nummer von Marcel in Düsseldorf. Ich belle ins Telefon: »Marcel, was hast du mir da für einen Scheißvertrag besorgt? Ich bitte dich nicht um viel, aber darum habe ich dich gebeten: Die gottverdammte Übertragung heute Abend sollte einwandfrei geregelt sein! Es ist Anstoß, und ich komme nicht rein! Verdammter Mist!!«

Der arme Marcel ist der sogenannte IT-Beauftragte bei unserer bandeigenen Plattenfirma JKP und hat es generell nicht leicht mit mir. Vor ein paar Wochen ist er noch auf dem Jakobsweg gewandert. Es sind sicherlich auch solche Anrufe, die ihn dazu gebracht haben.

»Was’n los?« Es ist Freitagabend, und er hat Wochenende.

»Hier erscheint die ganze Zeit die Meldung, es seien zu viele Geräte angemeldet, wie kann das sein?« Gelangweilt erklärt er: »Pro Account können nur vier Geräte benutzt werden. Soviel ich weiß, hast du dein Handy, dein iPad, deinen Fernseher in Düsseldorf und den in der Berliner Wohnung verbunden. Könnte noch jemand anderes dranhängen?«

»Blödsinn!«, rufe ich und schmeiße das Handy auf die Kunstledercouch. In diesem Moment kommt Ritchy grinsend zurück und bietet mir auf seinem Computer einen illegalen Stream an. »Ich weiß nicht, wie lange das hält. Wenn es abbricht, ruf mich.« Er hat ein großes Herz und mir mein Gebrüll verziehen.

Ich erahne die ersten Spielminuten dieser Saison mehr, als ich sie sehe, denn ein reichlich verzerrter und verschneiter Bildschirm lässt mich nur vermuten, wo sich der Ball auf dem Feld befindet. Dafür ist der Ton brillant – ein leidenschaftlicher Kommentator bemüht sich im besten Russisch, das Geschehen wiederzugeben. In der fünften Minute wird der Bildschirm schwarz.

»Ritchy …!!!« Drei Minuten später sind wir wieder auf Sendung, anscheinend führt Liverpool inzwischen mit 1:0. Doch nach ein paar hoffnungsvollen Sekunden bricht der Stream wieder ab. Ritchy, der inzwischen nicht von meiner Seite weicht, versucht es noch ein paarmal, aber es scheint sinnlos. Mein Telefon klingelt, es ist Marcel: »Oder kann es sein, dass gerade noch jemand gleichzeitig auf deinem Account guckt?«

Mittlerweile ist auch noch die Handyverbindung so miserabel, dass man sich draußen in den Regen stellen muss, um überhaupt etwas zu verstehen.

»Kann nicht sein.«

In diesem Moment habe ich eine böse Ahnung.

Tennis.

Meine Verlobte schaut für ihr Leben gern Tennis, selbst die unbedeutendsten Vorbereitungsspiele. In meiner Fantasie male ich mir aus, wie gerade Alexander Zverev gegen die Nummer 168 der Weltrangliste im Tiebreak kämpft, während sie vor dem Fernseher sitzend mit einer Freundin telefoniert. Wortlos breche ich das Gespräch mit Marcel ab und rufe, mittlerweile völlig durchnässt, in Berlin an. Natürlich ist besetzt. Ich koche. Nach dem fünften Versuch höre ich endlich ihre Stimme: »Hallo, Schatz!«

»Guckst du etwa gerade Tennis auf Sky?!«

»Wieso?«, flötet es zurück, während ich um Fassung ringe.

»Wieso?! Bist du wahnsinnig? Liverpool spielt, und ich komme nicht in meinen Account!«

»Echt? Die spielen gerade? Und du? Musst du nicht auf der Bühne sein?« Die Spielzeiten von Zverev scheint sie besser im Kopf zu haben als meine.

»Mach bitte endlich das verdammte Ding aus!«, japse ich, lege grußlos auf und werde mich dafür später noch wochenlang in aller Form entschuldigen müssen. Zwei Minuten später bin ich zurück in der Garderobe und probiere ein letztes Mal, mich einzuloggen, und siehe da – klares Bild, klarer Ton.

Berlin hat den Fernseher ausgemacht.

Virgil van Dijk köpft soeben ein, zum 3:0 in der 28. Spielminute. Ich beruhige mich, endlich kann ich mich auf das Spiel konzentrieren. Ich lasse mich auf das unbequeme Sofa fallen, ziehe mir die dreckigen Schuhe von den Füßen und greife zu den Salzstangen. Andi setzt sich zu mir. Er war schon dabei, als ich zum ersten Mal in Liverpool war, im Sommer 1979, da sind wir in England all den Punkbands hinterhergefahren. Gitarrist Breiti schaut ab und an über unsere Schultern. Mit ihm bin ich zur Schule gegangen, bei jedem Landschulheim-Aufenthalt waren wir im selben Zimmer. Auch er hat mich schon nach Anfield begleitet, aber neuerdings ist ihm »der Kommerzfußball« zuwider. Er guckt lieber Zweite Liga, ehrlichen Fußball, wie er sagt. Besser gelaunt sieht er auf der Bühne deshalb auch nicht aus.

Vom sitzt Rosé trinkend in der Ecke und klopft Sprüche. Seine Mick-Jagger-Imitation, die er manchmal nachts im Tourbus zum Besten gibt, gehört zum Lustigsten, was man auf einer Hosen-Tour erleben kann. Er ist in Billericay, Essex, geboren, aber immer schon Tottenham-Fan gewesen. Schlagzeuger sind oft seltsame Menschen.

Kuddel macht sich nicht viel aus Fußball und beschäftigt sich im Nebenraum mit einer seiner 67 Gitarren. Trotzdem ist er oft der Erste, der mich nach einer Liverpool-Niederlage anruft und fragt, wie es mir geht.

Bis zur 70. Minute können wir nun störungsfrei das Spiel verfolgen, dann kommt Tonmann Chrischi rein, um uns zu verkabeln. In der 80. Minute müssen wir uns dann wirklich vom Bildschirm lösen, es ist höchste Zeit, auf die Bühne zu gehen. Liverpool führt inzwischen 4:1, da wird nichts mehr anbrennen, die ersten drei Punkte sind sicher. Flo hatte recht: Heute Abend wird es ein gutes Konzert.

 

So sehr ich den Verein auch liebe, es ist mir klar, dass ich nicht bei jedem Spiel dabei sein kann. Das war schon immer so. Die längsten Strecken als Fan der Reds bedeuteten in meiner Jugend vor allem Sehnsucht nach etwas fast Unerreichbarem. Ich kannte niemanden in Liverpool, meine Verwandten wohnten in London oder Wolverhampton, und selbst wenn ich für eine Reise an die Merseyside das Geld gehabt hätte, wäre es schwer gewesen, ohne Beziehungen an eine Eintrittskarte zu kommen. Heute ist das für mich zum Glück kein Problem mehr, ich habe sogar ein Season-Ticket, aber es gibt dummerweise noch ein anderes Leben, das es zu führen gilt.

Seit ich zehn war, begleite ich den Liverpool FC, mal mehr, mal weniger intensiv. Als ich den Punkrock entdeckte und Sänger in einer Band wurde, haben Musik, Partys und Tourneen meinen Verein ein bisschen an die Seite gedrängt. Dann kam die Katastrophe von Heysel im Mai 1985, bei der 39 Menschen ihr Leben verloren. Nachdem ich dieses Europapokal-Finale zwischen Liverpool und Turin geschockt im Fernsehen verfolgt hatte, wollte ich vom Fußball erst mal nichts mehr wissen.

Aber er ließ mich eben doch nicht los. Über die Jahre kehrten die Gefühle wieder zurück. Das hatte auch mit meinem Heimatverein Fortuna Düsseldorf zu tun, mit dem die Toten Hosen immer enger zusammenwuchsen. Und auch Liverpool hatte mich bald zurück, ich begann, die Spiele und Ergebnisse meiner Reds wieder zu verfolgen.

Heute stehe ich dem Verein vielleicht so nah wie nie, was vor allem an Jürgen Klopp und seiner Familie liegt. Jürgen trat seinen Trainerjob beim Liverpool FC am 8. Oktober 2015 an und löste damit den glücklosen Brendan Rodgers ab. Die Mannschaft dümpelte zu diesem Zeitpunkt auf Tabellenplatz 10 herum, weit unterhalb der eigenen Ansprüche. Ein möglicher Meisterschaftsgewinn war im vorangegangen Jahr ausgerechnet durch die Legende Steven Gerrard knapp verstolpert worden. Nennenswerte Erfolge waren lange her. Nun klammerten sich all ihre Hoffnungen an Jürgen. Lustigerweise scherzten Freunde und Bekannte in Liverpool schon mehrere Wochen vor seiner tatsächlichen Unterschrift mit mir: »You’re German, can’t you call Jurgen and convince him to come down and sort us out?«

Er war der absolute Wunschkandidat der Liverpooler Fans, einige hatten sich schon Masken mit seinem Konterfei gemacht und trugen sie während eines Spiels, obwohl es zu diesem Zeitpunkt über einen möglichen Trainerwechsel nur Gerüchte gab. Als es dann tatsächlich so kam und er der Presse vorgestellt wurde, fiel dieser mittlerweile legendäre Spruch: »I’m the normal one!«

Das war seine Antwort auf die Frage, wie er sich sehe im Vergleich zu José Mourinho, der bei Chelsea behauptet hatte, er sei »the special one«. Mit diesem einen Satz eroberte Jürgen die Herzen der Fans. Fußball-England war begeistert.

Seine perfekte Mischung aus Lässigkeit und Bescheidenheit hat auch mich beeindruckt. Ich nahm mir vor, mich bei ihm zu melden und ihm viel Glück zu wünschen. Natürlich war Jürgen mir als Trainer von Mainz und Dortmund und als Fernsehexperte lange bekannt, aber wir waren uns bis dahin nie begegnet.

Ein Freund aus Dortmund gab mir seine Telefonnummer, und ich tippte: »Hi Jürgen, welcome to my club! Please do me a favor and don’t fuck it up!«

In letzter Sekunde löschte ich die Worte wieder und entschied mich für eine mildere Version: »Lieber Jürgen, wollte dir nur sagen, wie sehr ich mich freue, dass du der neue Trainer der Reds bist. Bin seit meiner Kindheit harter Fan des LFC und habe auch in dieser Saison wieder eine Jahreskarte für alle Heimspiele. Wünsche dir viel Erfolg für deine Zeit in Liverpool. Vielleicht sieht man sich ja mal auf der Insel bei einem Bier im Pub, Campino.« Seine Antwort kam bald: »Würde mich sehr freuen!!!! Geiler Club  Macht richtig Spaß! Große Herausforderung und großes Abenteuer! Vielen Dank und bis bald! Jürgen.«

Ein paar Wochen später plante ich, das Ligaspiel gegen Swansea City an der Anfield Road zu besuchen, und schrieb Jürgen eine Nachricht, dass ich vor Ort sein würde. Er antwortete: »Hallo aus Liverpool, melde dich einfach, wenn du hier bist. Herzlichen Gruß, Jürgen. P. S.: Gibt es ›Tage wie diese‹ auch in Englisch? Wäre wichtig … Am Sonntag ist hier nämlich Helene Fischer gelaufen, auf Deutsch!!!«

Tatsächlich hatten wir vor Jahren eine englische Demo-Version aufgenommen, die bei uns im Hosen-Archiv lag. Ich versprach, sie ihm mitzubringen.

So kam es schließlich zu unserer ersten Begegnung. Am Morgen des Spieltags meldete ich mich noch mal: »Bin in Liverpool, wie sollen wir es machen?« Ich bekam eine Nachricht: »Hi Campino, hier ist Dennis, Jürgen hat mir deine Nummer gegeben. Lass uns nach dem Spiel telefonieren und vereinbaren, wo wir uns treffen!«

Ich wusste, dass Dennis einer der beiden Söhne von Jürgen und seiner Frau Ulla ist, hatte ihn aber nie getroffen und ahnte noch nicht, dass er in den kommenden Jahren ein guter Freund und Leidensgenosse werden würde.

Gegen Mittag fuhr ich mit meinem Liverpooler Kumpel Mike zum Stadion. Mike verkauft mir seit einigen Jahren das Saisonticket seines verstorbenen Großvaters. Vermutlich gehört die Hälfte aller Sitzplätze an der Anfield Road mittlerweile lange dahingeschiedenen Fans, deren Saisontickets stillschweigend weitergereicht werden. Es ist heutzutage fast unmöglich, eine Dauerkarte regulär zu erwerben, die Wartezeiten sind länger als die Bestellzeiten eines Trabant-Automobils zu Zeiten der DDR.

Wie immer gingen wir nach einem ersten Bier zu unseren Sitzplätzen, Anstoß war um 16 Uhr. Wir sahen einen mühevollen 1:0-Arbeitssieg. Egal, Hauptsache drei Punkte. Nach Ende des Spiels gingen wir rüber zum Albert Pub, feierten noch ein bisschen mit den anderen und fachsimpelten über die Partie. Es ist immer wieder erstaunlich, wie lange man selbst über solch dünne Spiele nachdenken und diskutieren kann.

Mein Telefon klingelte. Dennis war dran und fragte, wo wir sind.

»Um die Ecke vom Stadion, im Albert Pub!«, rief ich gegen den Kneipenlärm an.

»Bleib da, wir holen dich ab«, sagte er, und ein paar Minuten später kam ein großer, drahtiger Typ mit hellblonden Haaren breit grinsend durch die Tür. Er war um die dreißig, trug eine schmale dunkelblaue Anzughose, dazu ein weißes Leinenhemd, und ich wunderte mich, wie elegant man hier im Pub auftauchen konnte. Ohne ihn je gesehen zu haben, wusste ich, dass das Dennis ist.

»Hi Campino, schön, dich zu treffen, lass rausgehen, die anderen warten im Wagen.«

Ich nuschelte Mike eine Entschuldigung ins Ohr und eilte Dennis hinterher. Draußen sprangen wir in ein dunkles Auto, am Steuer saß Jürgens Co-Trainer, mit dem er, wie ich später erfuhr, seit Mainzer Tagen zusammenarbeitet: »Hi, ich bin Pete! Na, dann woll’n wir mal!« Er gab eine Adresse ins Navi ein, offensichtlich kannten sie die Wege noch nicht so gut, alles war ja neu.

Auf der Fahrt erzählte Pete von seiner allerersten Begegnung mit dem Liverpooler Scouse-Dialekt. Er war allein und ohne seine Frau in Liverpool und hatte Hunger. »Also gucken wir mal, wo es hier einen McDonald’s gibt, und bin in den McDrive gefahren. Ich wollte einen BigMac, einen Hamburger und eine Pommes und habe bekommen: einen FishMac, einen Kaffee und einen Milchshake. Da hat das eine überhaupt nicht zum anderen gepasst, und ich wusste echt nicht, welche Sprache die mit mir spricht. Die kann sich nur gedacht haben: Was ist denn das für einer?«

Auf jeden Fall einer, der offenbar ziemlich gut aussieht. Denn am Eingang vom Trainingsgelände, erzählte Pete weiter, hätte er die Leute ihm hinterherrufen hören: »Good look, mate, good look!« Es dauerte eine Weile, bis er darauf kam, dass sie ihm in Wirklichkeit nicht zu seinem Aussehen gratulierten, sondern viel Glück wünschten: good luck.

Sie alle hätten die ersten Wochen im Zentrum Liverpools in einem Hotel in der Hope Street gewohnt. Vor wenigen Tagen seien Jürgen und er mit ihren Familien nach Formby, einem Vorort am Meer, gezogen und wohnten dort nun in derselben Straße. Da fuhren wir jetzt hin, es war inzwischen dunkel geworden und regnete leicht.

Als wir nach einer halben Stunde unser Ziel erreichten, stand Jürgen schon in der Tür, das Klopp-Grinsen im Gesicht: »Komm rein und leg deine Jacke ab. Schön, dass wir uns mal kennenlernen!«

Ich folgte ihm ins Haus. In der großen Küche war schon eine lockere Runde versammelt – Freunde, Familie, Trainerstab. Jürgen stellte mir Ulla vor.

Eine große blonde Frau strahlte mich an. Heute weiß ich, dass sie es ist, die abseits des Platzes das Team Klopp zusammenhält. She’s the boss. Ohne ihr Einverständnis wäre Jürgen heute bestimmt nicht Trainer in Liverpool. Und wenn Jürgen Urlaub macht, weiß er bis kurz vorher nicht, wo, wann und mit wem er in die Ferien fährt. Bei Spielen erscheint Ulla oft als Erste auf ihrem Platz im Stadion, damit Jürgen sieht, dass sie da ist. Wenn sie zu Auswärtsspielen mitkommt, steht sie bei uns mitten im Fanblock. Unter Liverpool-Fans ist sie längst eine Legende, seit sie während der Champions-League-Siegesparade auf eine Mülltonne kletterte und von dort ihrem Mann zujubelte. »Ulla On The Bin« titelten am nächsten Morgen die Zeitungen.

»Bier ist im Kühlschrank«, sagte Jürgen.

»Oder willst du lieber etwas anderes haben?«, fragte Ulla.

Anstatt auf das angebotene Bier steuerte ich auf eine offene Flasche Rosé-Champagner zu, die auf dem Tisch stand.

»Ich nehme einen Schluck davon, wenn ich darf.«

Ein Riesenfehler, Jürgen zieht mich heute noch damit auf. Damals sagte er: »Champagner? Ich dachte, du bist Punkrocker!«

Riesengelächter in der Runde.

Jürgen hat gut reden, er selbst trinkt meist nur Bier. Wenn es ganz wild wird, mixt er sich eine Rotweinschorle.

Es wurde ein langer Abend, und es gab viel zu erzählen: von den ersten Eindrücken der Stadt, der Freundlichkeit der Liverpooler und der Lust aller auf dieses englische Abenteuer.

Jürgen und seine Familie waren immer noch dabei, das frisch bezogene Haus für sich zu entdecken, in dem zuvor auch schon die Liverpool-Legende Steven Gerrard und Jürgens Vorgänger Brendan Rodgers gewohnt hatten (»Schaut mal, Leute! Hinter der Tür ist ein Fitnessraum!«).

Gegen zwei Uhr morgens wollte ich ein Taxi für die Fahrt zu meinem Hotel am Flughafen Manchester bestellen. Doch niemand wusste, wo man mitten in der Nacht in Formby einen Wagen herbekommt. Dennis telefonierte mehr als eine Stunde verschiedene Taxiunternehmen ab, bis sich ein Fahrer bereit erklärte, noch mal aus dem Bett zu steigen.

4 TSV Metzkausen

Okay, Jungs, gutes Spiel! 3:1 gegen Hösel, ich geb ’ne Runde Cola aus.

E-Jugend-Trainer Endrulat vom TSV Metzkausen

UEFA Super-Cup, 14. Aug. 2019: Liverpool – Chelsea 2:2 (5:4 n. E.)

Tore: Olivier Giroud 36’, Sadio Mané 48’, 95’, Jorginho 101’. Gesehen: Queen Victoria Pub, Ibiza. Fazit: Elfmeterschießen in Istanbul, das klappt bei uns immer.

PL-Matchday 2, 17. Aug. 2019: FC Southampton – Liverpool 1:2

Tore: Sadio Mané 45 + 1’, Roberto Firmino 71’, Danny Ings 83’. Gesehen: Queen Victoria Pub, Ibiza. Fazit: Das geht schnell. Wir sind Tabellenführer. Vorsprung auf Platz 2 (Arsenal): 0 Pkt.

PL-Matchday 3, 24. Aug. 2019: Liverpool – Arsenal London 3:1

Tore: Joel Matip 41’, Mohamed Salah 49’ (E), 58’, Lucas Torreira 85’. Gesehen: Bahnhof Hamm. Fazit: Toller Kopfball von Matip, toller Bahnsteig in Hamm. Vorsprung auf Platz 2 (Man City): 2 Pkt.

Mein Leben lang führe ich einen analogen Kalender, und ich kann mir nicht vorstellen, das jemals zu ändern. Halbjährlich bekomme ich eine frische Version vom Büro ausgedruckt, in die ich als Allererstes mit ritueller Liebe den Spielplan von Liverpool eintrage. Danach erst folgen meine eigenen beruflichen Termine. Diese versuche ich, so gut es geht, um die Spieltage von Liverpool herumzubauen, was leider nicht immer möglich ist. Auch die Mitarbeiter in unserem Büro sind seit Langem sensibilisiert und berücksichtigen Premier-League- und Champions-League-Daten bei der Jahresplanung, vor allem im Hinblick auf unsere Konzerte und Reisen. So gelingt es mir fast immer, die Spiele live zu erleben, zumindest am Fernseher. Selten muss es dazu kommen, dass ich mir einen kleinen Monitor an den Bühnenrand stellen lasse, um auch während unserer Auftritte wenigstens grob informiert zu sein. Solange ich keine zu großen Textaussetzer habe, lassen die anderen mich gewähren.

Die ersten Wochen der laufenden Saison 19/20 sind für mich eine Art Saure-Gurken-Zeit, denn sie vergehen leider, ohne dass ich es zu einem weiteren Spiel schaffe. Na gut, so sauer sind diese Tage auch wieder nicht, denn ich kann mir nach unserer Sommertournee eine kleine Pause in Spanien gönnen, bevor es für ein paar Aufnahmen ins Studio geht und ich Ende August weiter in die USA muss. Acht volle Tage im ruhigen Norden von Ibiza. Schwimmen im Meer, in der Sonne dösen, Tischtennis spielen und Fisch grillen. Wo sind eigentlich die guten alten Zeiten geblieben? Koksen, in die Clubs gehen und dann im Morgengrauen ins Meer springen – oder hat es das etwa nie gegeben?

So verfolge ich das in Istanbul ausgetragene Super-Cup-Spiel gegen Chelsea (wir gewinnen den Pokal im Elfmeterschießen) und auch die Auswärtspartie gegen Southampton in meiner Lieblingskneipe auf der Insel, dem Queen Victoria Pub in Santa Eulària.

Der kleine Laden ist ein Treffpunkt für britische Aussteiger und hängen gebliebene Rentner, die dort bei Bingo-Abenden und schlechtem Sunday Roast ein Stück Heimat suchen. Kurze Hosen, verbrannte Haut, Socken in Sandalen und immer einen Spruch auf den Lippen. Glücklich mit einem Pint Cider oder einem englischen Bier vom Fass in der Hand. Meist spielen ein paar Jungs Billard am Tisch rechts vom Eingang, an der Theke trinken die Stammgäste, schlecht blondierte Ladys rauchen auf der kleinen Terrasse im Hinterhof und tauschen sich über die neuesten Inselgeschichten aus.

Ich komme seit vielen Jahren immer wieder mal hierher, um in Ruhe Fußball zu gucken; ich fühle mich wohl in dieser leicht heruntergekommenen und unangestrengten Atmosphäre. Wenn ich schon nicht im Stadion sein kann, ist das hier eine brauchbare Alternative. Beim Verlassen des Queen Victoria fühlt es sich immer so an, als könnte man mit einem Schritt von England aus direkt in die spanische Sonne treten. Bestens gelaunt fahre ich zum Strand. Da unser Hauptkonkurrent Manchester City parallel nur unentschieden gespielt hat, sind wir bereits am zweiten Spieltag auf Platz eins. Es ist herrlich, an diesem Sommerabend als Tabellenführer ins Meer zu springen.

Ende der Leseprobe