Kein Erbe ohne Tod - Agatha van Wysn - E-Book

Kein Erbe ohne Tod E-Book

Agatha van Wysn

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Beschreibung

Frankfurter Südfriedhof. Ein Toter wird auf einem Grab gefunden, das Gesicht zerschlagen, keine Schuhe, die Füße in einem Karton, jedoch liebevoll aufgebahrt. Irgendeinem scheint der Tote wichtig gewesen zu sein. Kommissar Michael Oders Chef ist anderer Meinung, denn der Fall verspricht keine Schlagzeile, mit der er glänzen kann. So gewährt er Oder nur eine Woche, bevor der Fall zu den Akten soll. Aber das Umfeld des Toten schweigt. Um Antworten zu bekommen, mischt er sich unter die Gefährten des Toten, die Ausgestoßenen der Gesellschaft, und bald schon fragt er sich: Wer ist hier die bessere Gesellschaft?

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Inhalt

Zum Inhalt

Widmung

Impressum

Autor

Schwarzer Freitag

1. Abschied

2. Ruhe sanft

Montag

3. Besprechungen

4. Auf der Straße

Mittwoch

5. Neue Wege

6. Geldsorgen

7. Metamorphose

8. Wo bist du?

9. Nächtliche Umtriebe

10. Kontakt

11. Etwas Schwund ist immer

12. Vier von zweihundert

Donnerstag

13. Almosen

14. Wir oder sie?

15. Höllenfeuer

16. Goldgräber

17. Bittere Erkenntnis

Freitag

18. Gier ist immer hungrig

19. Durchbruch

20. Erfolg liegt in der Luft

21. Pläne

22. Hintergründe

Samstag

23. Ja-ja-oh-jaaaaaaa!

24. Ein Lama namens Kalle

25. Rückschläge

26. Reaktionen

27. Bittere Bestätigung

28. Die Lebenden und die Toten

29. Quo vadis?

Sonntag

30. Dressed for success

31. Zukunftssicherung extrem

32. Boxerfreud und Boxerleid

33. Allein

Montag

34. Gegenwind

35. Trauer will geübt sein

Mittwoch

36. Das Grauen hat einen Namen

37. Höllisches Temperament

38. Wo die Eitelkeit anfängt …

39. Teestunde

40. Die bessere Gesellschaft

Letzte Gedanken

Endnoten

Kein Erbe ohne Tod

Zum Inhalt

Zum Inhalt:

Frankfurter Südfriedhof. Ein Toter wird auf einem Grab gefunden, das Gesicht zerschlagen, keine Schuhe, die Füße in einem Karton, jedoch liebevoll aufgebahrt.

Irgendeinem scheint der Tote wichtig gewesen zu sein.

Kommissar Michael Oders Chef ist anderer Meinung, denn der Fall verspricht keine Schlagzeile, mit der er glänzen kann. So gewährt er Oder nur eine Woche, bevor der Fall zu den Akten soll.

Widmung

Kollegen können so wunderbar sein!
Diese Widmung ist ein Dank an alle meine tollen ehemaligen Kollegen, deren ich mehr habe, als hier aufzuzählen Platz wäre,
stellvertretend
an Matthias, das Finanzgenie,
(Siehst Du, ich halte meine Versprechen!)
aber nicht an Aurelia.
(Sie tötete meinen vorletzten Nerv.)
Immer eine Inspiration für Kreative.
Kein Erbe ohne Tod
Krimi

Impressum

Ausführliche Information über unsere Autoren und Bücher erhalten Sie unter www.JustTales.de

Krimi von Agatha von Wysn 1. Auflage Januar 2019 Ungekürzte Taschenbuchausgabe Januar 2019 JustTales Verlag, Bremen Geschäftsführer Andreas Eisermann Copyright © 2019 JustTales Verlag

An diesem Buch haben viele mitgewirkt, insbesondere: Lektorat: Britta-Chr. Engel Schlusskorrektorat/Buchsatz: André Piotrowski Einbandgestaltung: Hannah Böving Druck & Bindung: Europa Paperback (ISBN 978-3-947221-34-9) Auch erhältlich als E-Book (ISBN 978-3-947221-35-6)

Autor

Agatha von Wysn

Die bekennende Exil-Hessin zog es einst der Liebe wegen in den Norden. Zwar fehlen ihr noch immer schmerzhaft die sanften hessischen Hügel, aber bereut hat sie es dennoch nicht. Wer weiß, ob es ohne dieses Umfeld je ein Buch von ihr zu lesen gegeben hätte?

Nun sind es schon zwei Krimis rund um Kommissar Michael Oder. Nach Morgenmuffel (11/2017) ist Kein Erbe ohne Tod

Schwarzer Freitag

1. Abschied

Sie waren ihr ein bisschen zu groß, aber das machte nichts. Mit etwas Zeitungspapier vorne bei den Zehen würde es schon gehen. Paule hatte ja glücklicherweise für einen Mann recht kleine Füße gehabt. Schuhgröße 40. Ihr Glück, sein Pech, denn gebrauchte Herrenschuhe in Größe 40 gab es im Altklamottencontainer nicht oft. Und bei der Heilsarmee oder den anderen Stellen, wo man Kleidung bekam, auch nicht.

Evchen zog Paule den linken Schuh aus und stopfte ihn aus. Liebevoll strich sie noch einmal über das Leder, dann zog sie ihn an. Er war schon kalt geworden, Paules Wärme verflogen.

Sie seufzte.

Es half ja nichts. Ihm würden sie nichts mehr nützen und er hatte sie ihr versprochen.

„Evchen, wenn ich mal nicht mehr sein sollte, dann nimm dir meine Schuhe. Damit es dir gut geht. Versprich mir das, ja? Es sind feine Schuhe. Du wirst es nicht bereuen“, hatte er immer wieder gesagt.

Und nun war er tot.

Sie seufzte erneut. Er würde ihr fehlen. Die Gespräche würden ihr fehlen. Paule hatte was auf dem Kasten gehabt, nicht wie die anderen Penner, die sich mit ihnen den Platz unter der Brücke im Sommer und das verfallene Lagerhaus im Winter teilten. Gerne wären sie auch im Sommer hier geblieben, aber die Arbeiter des benachbarten Kieswerks scheuchten sie immer weg. Im Winter, wenn die Bauarbeiten allgemein weniger wurden, lagen die Arbeiten brach, da interessierte sich keiner für die Penner. Penner wie sie.

Evchen griff zum rechten Schuh und wiederholte die Prozedur des Ausstopfens. Dann zog sie auch diesen an. Die selbst gebastelte Sohle von Paul, bestehend aus einigen Lagen Papier, umwickelt mit einer Plastikfolie, ließ sie drin. Leder war langlebig, aber schützte nur bedingt vor der Kälte des Pflasters. Vermutlich hatte Paule deshalb sich ein Polster in die Schuhe gelegt. Und die Plastikfolie, damit das Papier nicht gleich verschliss, wenn er die Schuhe tagtäglich anhatte.

Ihre eigenen Schuhe hatten ihre besten Zeiten hinter sich. Bei Regen kroch Wasser immer von unten durch die Schuhe wie kalte Würmer. Als wollten sie daran erinnern, dass sie schon auf Evchen warteten. Sie hasste diesen Moment mehr als alles andere. Er machte ihr bewusst, dass dies nicht das Leben war, das sie hatte führen wollen. Nein, gewiss nicht.

Eva Dapberg, wie sie wirklich hieß, war einst eine Schönheit gewesen, der die Welt zu Füßen lag. Jürgen und sie waren der Mittelpunkt einer elitären Jetset-Clique, die jede Woche in irgendeiner Yellow Press zu finden war. Sie hatten einen großen Freundeskreis, bestehend aus lauter gut situierten Leuten mit hervorragenden Aufstiegschancen oder zumindest einem großen Portemonnaie des Vaters. Unter einem erfolgreichen Model als Freundin ließ sich keiner der Männer sehen. Ehen jedoch waren eher selten. Geheiratet wurde, was der Familie nutzte. Basta! Und der nutzte es leider nicht, dass Eva irgendwann Jürgen hatte sagen müssen, sie sei schwanger von ihm.

„Was soll ich mit einem Kind? Mein Leben fängt gerade erst an. Und was wird meine Familie dazu sagen? Das hast du doch mit Absicht gemacht. Ich will noch kein Vater werden.“

Jedes seiner Worte war wie ein Schlag in die Magengrube gewesen.

Ja, was sollte er mit einem Kind, er war doch selber noch grün hinter den Ohren; das hatte sie verstanden.

War das noch derselbe Mann, den sie zu lieben geglaubt hatte?

Die schöne, heile, immer fröhliche Welt hatte sie geblendet. Sie war ein hübsches Anhängsel, das in absehbarer Zeit nicht mehr ganz so vorzeigbar sein würde.

Schwanger! In Zeiten von Leihmutterschaften ruinierte man sich doch nicht mehr die Figur. Sie konnte heute noch die hämischen Bemerkungen hören und die schmerzhaften Gedanken waren über die Jahre nicht weniger geworden. Zeit heilte eben doch nicht jede Wunde.

Sie seufzte bei dem Gedanken an damals.

Zwei bis drei Monate würden ihr bestimmt noch bleiben, bis man es ihr ansah, hatte sie sich gedacht. Insgeheim hatte sie gehofft, er würde es sich noch anders überlegen, würde ihr gemeinsames Kind, seinen Nachkommen, doch noch akzeptieren und mit der Zeit sogar lieben … aber dem war leider nicht so. Wie sollte es auch anders sein? Er hätte teilen müssen und das hatte er nie gelernt.

Jürgen hatte sie nicht gleich rausgeworfen, aber er war deutlich auf Distanz gegangen. Wenn sie miteinander schliefen, dann nur noch mit Kondom. Völlig krank, hatte sie gedacht, denn was hätte noch passieren können? Sie war doch schon schwanger, mehr schwanger ging nicht.

Erst Jahre später kam ihr der Gedanke, dass es wohl eine letzte, unbewusst rücksichtsvolle Geste ihres Exgeliebten gewesen war, denn er musste zu dem Zeitpunkt schon anderweitig versorgt worden sein. Und von dieser neuen Gespielin war wohl nur der nötige AIDS-Test noch nicht eingetroffen.

Die Kühle in der Beziehung, die Tatsache, dass er es nicht seiner Familie erzählte: All das hatte sie dann veranlasst, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Klein hatte sie sein müssen, denn mit einem dicken Bauch bekam man keine Modelaufträge mehr. Zumindest nicht so viele. Jürgen war so erleichtert gewesen, als sie endlich die Koffer packte, dass er sogar einen Briefumschlag bereithielt, als sie mit den Koffern in der Tür stand.

„Für die Einrichtung. Du hast da ja nichts.“ Mit gerümpfter Nase wegen der ‚Absteige‘, aber gleichzeitig einer sichtbaren Zufriedenheit, sie endlich aus dem Haus zu wissen, ohne einen Gedanken, dass er als Vater mit einer Unterhaltsklage zu rechnen hatte, schob er sie aus der Tür. Getreu dem Motto: „Was man nicht sieht, ist auch nicht da“, würde er sie beide wohl vergessen haben, noch ehe die Woche rum war.

„Dein Taxi wartet schon. Dann mach es gut. Und wenn was ist …“

… nicht anrufen, ich werde nicht rangehen. Meine Änderung der Telefonnummer ist schon beantragt, hatte sie in Gedanken ergänzt und sich davongemacht. Im Taxi öffnete sie den Umschlag. 10 000 € war sie ihm wert gewesen. Ihm, der die ersten beiden Millionen von Papa erhalten hatte, als er gerade 18 geworden war. Und mittlerweile musste das Konto im mittleren zweistelligen Millionenbereich liegen.

„Geld verdirbt den Charakter“, hatte schon ihre Mutter gesagt. Es musste stimmen. Jürgen war der lebende Beweis.

Mit Jürgen verlor sie allerdings nicht nur die Wohnung, nein, der gesamte Freundeskreis hatte sich abgewandt. Auf Anrufe wurden nicht zurückgerufen, ihre beste Freundin empfahl ihr eine Abtreibungsklinik, und als sie den Zettel mit der Adresse zurück über den Tisch geschoben hatte, waren ein verständnisloses Kopfschütteln und ein schneller Aufbruch gefolgt. „Wir sehen uns dann!“ Eine fromme Lüge, nichts weiter.

Nur einmal hatte sie eine ehrliche Antwort zu ihrem Stellenwert bekommen, wenn auch erst auf hartnäckige Nachfrage. „Evchen, du musst das verstehen.“

Ach ja, musste sie das?

„Wir sind länger mit Jürgen befreundet als mit dir. Wir sind mehr seine Freunde als deine. Er kommt heute Abend mit seiner neuen Freundin, da können wir dich doch nicht einladen. Das würde ihn verletzen.“ Als wenn Jürgen etwas verletzen könnte. Er musste Aktien des Teflon-Konzerns haben, so wie alles an ihm abglitt. Eine seelische Antihaftbeschichtung. – Zumindest erhielt sie so die Bestätigung, dass er sie schnell ausgetauscht hatte.

Es lief auch weiterhin gut für ihn, weniger für sie.

Die kleine Wohnung war schnell eingerichtet. Von Jürgens Geld hatte sie ein Babybettchen, eine Wickelkommode und die Erstausstattung gekauft. Für sich nur eine Schlafcouch. Jeden Tag hatte sie mit ihrem Kind gesprochen, den Bauch gestreichelt, ihm Lieder vorgesungen. Jeden Tag – bis zu dem schrecklichen Tag im November, als der Arzt ihr gesagt hatte, dass ihr Christkindl schon bei den Engeln war und sie eine Geburt einleiten mussten, weil sie sonst von dem abgestorbenen Fötus eine Blutvergiftung bekommen würde.

Evchen liefen still die Tränen herunter, ohne dass sie es merkte.

Eine Woche später stand sie hier am Friedhof und begrub ihr totgeborenes Kind und mit ihm ihr Leben.

Hier, wo sie auch Paule fand. Paule, dessen erste Frau ganz in der Nähe lag. Gemeinsam saßen sie eines sonnigen Tages nebeneinander auf der Bank, die der Friedhof für seine Besucher aufgestellt hatte, und blickten über das Gräberfeld.

Sie waren ins Gespräch gekommen. Paule und sie. Immer öfter.

Und nun war er auch tot. Irgendein Schwein hatte ihm das Gesicht zerschlagen und, an einen Stuhl gefesselt, liegen gelassen. Mitten im Schutt des halb verfallenen Lagerhauses.

2. Ruhe sanft

„Was für eine Saukälte“, meckerte Stefan Weber, Kommissar Oders neuer Kollege. „Konnte der nicht im U-Bahnhof krepieren wie jeder anständige Penner auch? Die warmen Plätze waren wohl schon alle belegt, was?“

„Weber!“ Oder funkelte ihn an. „Halt dein loses Mundwerk in Zaum! Oder willst du, dass irgendwann mal einer so über dich redet? Die Gefahr ist groß. Kriminaler sterben nicht immer zu Hause im Bett.“

„Nääh“, meckerte Weber. „So was passiert mir bestimmt nicht. Im Betrugsdezernat ist ein Büroposten frei. Ich hab meinen Schwiegervater schon drauf angesetzt. Das hier ist nur ein durchlaufender Posten. Glaubst du echt, ich hab Bock auf so eine Scheiße? Ich kann mir was Besseres vorstellen, als mir hier meine Zehen abzufrieren. Jetzt mit einem schönen, heißen Espresso im Büro mein Mandelhörnchen mampfen …“ Er verdrehte die Augen.

Michael Oder ließ ihn weiter träumen.

Das sind mir die Richtigen, fluchte er innerlich, während er sich der Fundstelle näherte. Hinter sich hörte er Weber weiter lamentieren.

Durchzug, Oder, einfach die Lauscher auf Durchzug, kommandierte er sich selbst und keuchte den Friedhofshügel hinauf.

Wann ist noch mal dieser Drecks-Fitnesstest? Irgendwann nächsten Monat, aber wann genau? Er sollte doch noch einige Einheiten im Sportstudio absolvieren. Letztes Mal hatte der Prüfer ihn so scharf angesehen, dass ihm etwas flau in den Knien geworden war. Konnte aber auch vom Sport gewesen sein. Er ging lieber in die Kneipe zu Manni auf ein Bierchen, als in einer Sporthalle zu schwitzen. Da hatte er wenigstens immer Unterhaltung; bessere zumindest, als den Muskelprotzen mit ihren Aufbaushakes in der Hand zuzusehen, wie sie die arroganten Klappspaten von Gymnastikmäusen anbaggerten. Falls die es überhaupt noch brachten und nicht von den vielen Anabolika schon …

Egal. Deren Bier. Oder eben nicht Bier. Hehe.

Er blieb kurz stehen, um durchzuschnaufen. Knapp vierzig Jahre gutes Essen und die Bierchen bei Manni fingen an, sich unangenehm bemerkbar zu machen. Aber Sport? Vielleicht reichte es auch, wenn er den Aufzug im Kommissariat links liegen ließ und öfter die Treppe nahm. Einen Versuch wäre es wert.

Sein Atem bildete kleine weiße Wolken um die Nase. Michael Oder drehte sich einmal um die eigene Achse und ließ die Landschaft auf ihn wirken.

Schönes Fleckchen für eine letzte Ruhestätte. Keine Bäume, die die Aussicht versperrten. Die kamen erst oben auf dem Hügelkamm, weiß von Raureif und bizarr die kahlen Äste in den Himmel streckend. So knapp unter der Hügelkuppe hatte man einen weiten Blick und er konnte sich vorstellen, bei Sonnenuntergang musste es bezaubernd sein. Nur wer würde seine Freundin mit auf den Friedhof nehmen für ein Stelldichein, es sei denn, er wäre ein Gothikfreak? Bänke hätte es hier genug gegeben. Alle paar Reihen war eine.

Endlich mal praktisch gedacht, stellte Oder fest.

Wer hier lag, hatte meist sein Leben hinter sich – und dessen Angehörigen in den meisten Fällen wohl auch. Da war eine Bank für die (des Lebens) müden Füße angesagt.

Hmm, das Wortspiel muss ich mir für Teichi merken.

Noch zwei Gräberreihen weiter; dort musste er sein, der Fundort. Er konnte schon von Weitem den Aufmarsch sehen. Die ganze Truppe wuselte um ein Grab herum und zertrampelte gnadenlos die benachbarten Gräber. Von der Leiche konnte er noch nichts sehen. Die Kollegen verstellten die Sicht.

„Toter Obdachloser auf dem Friedhof“, hatte es in der Meldung geheißen.

Kommissar Oder vermutete Erfrieren, nicht unüblich bei den Temperaturen. Kam immer wieder vor und würde es bis in alle Ewigkeit geben. Umso besser, wenn dem so war. Er wollte es nicht offen zugeben, aber auch ihm war saukalt. Der Wind pfiff eisig auf dem Hügel und riss noch die letzte Wärme mit sich.

Oder krempelte den Mantelkragen hoch und näherte sich der Truppe.

„Morgen allesamt!“

Vielstimmiges, gemurmeltes „Morgen!“ kam als Antwort auf Oders Gruß aus dem Mund der Umstehenden und ein Ring an Kondenswölkchen erhob sich in die Luft und verwehte.

„Ah, Oder. Auch schon da?“, grinste Fritz Teichmeyer, der diensthabende Rechtsmediziner.

„Was heißt hier: ‚Auch schon da?‘! Ist nicht mal acht Uhr und mir fehlt mein Kaffee. Hatte erst zwei Tassen. – Sag mir lieber, was du da hast, du alter Quacksalber.“ Oder pflaumte zurück, wohl wissend, bei wem es ankam.

Fritz erhob sich, zog die Latexhandschuhe aus und packte seine Tasche zusammen. Er war etwas älter als Oder, seine ursprünglich schwarze Haarfarbe hatte bereits ein Straßenköter-Grau angenommen. Wie häufig in seinem Beruf pflegte er einen bissigen Humor, den nicht jeder verkraftete. Aber Oder und er hatten sich auf Anhieb verstanden, als Oder das erste Mal in die Rechtsmedizin gekommen war. Vermutlich, weil Oder doch selber ‚anthrazitfarben-humorig‘ unterwegs war.

Nach dem ersten, gemeinsam gelösten Fall hatte ‚Teichi‘, wie nur wenige ihn nennen durften, in seinen Schreibtisch gegriffen und eine Flasche Irish Whiskey hervorgeholt.

„Für Notfälle und andere Gelegenheiten“, war sein Spruch, als er Oder ein Glas hinhielt und das Du anbot. Was ein Notfall war, konnte sehr weit gefasst sein. Ein kniffliger Fall oder auch eine Belohnung nach einem solchen … wer würde da richten?

Fritz Teichmeyer wies ruckartig mit dem Kopf in eine Richtung und bot Kommissar Oder an: „Kannst gerne zugreifen. Da hinten liegt mein Rucksack. Da ist meine Thermosflasche drin. Ein Schluck sollte noch drin sein für Notfälle.“

„Ne, danke, aber lass mal. So schlimm, dass ich deinen Pralinenkaffee brauche, kann es mir gar nicht gehen. – Der fällt in Brocken in die Tasse und den kann man lutschen.“ Oder grinste schief über seinen eigenen Witz, dann fuhr er fort.

„Dein Gebräu weckt Tote auf … na ja, den hier vielleicht nicht, aber zumindest Halbtote, und so schlimm ist es auch nicht. – Hatte nur wenig Schlaf … Lass uns schnell machen, damit wir wieder aus der Kälte kommen. Erfrierung, oder? Das Übliche!“

Teichi schüttelte den Kopf.

„Diesmal nicht. Komm mal rüber. Das musst du dir ansehen, Oder!“

„Alle Fußspuren schon gesichert?“

„Klar! Komm endlich. Du willst doch wieder ins Warme.“

Kommissar Oder zwängte sich auf dem schmalen Plattenweg zwischen den Gräbern in Richtung Leiche.

Ein schlanker älterer Mann lag dort auf einer Seite eines Familiengrabs, als hätte man ihn kurz abgelegt, um zu messen, ob er in das Grab auch reinpasste. Seine Kleidung war alt und abgetragen. Und für die Jahreszeit zu dünn, vermutlich ein Obdachloser. Eine Angabe zum Alter konnte auf Anhieb keiner geben, denn das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen. Jemand musste sich hier mit unbändiger Wut ausgelassen haben. Erstaunlich jedoch, dass die Lider geschlossen waren und das Blut im Gesicht wie mit einem Lappen weggewischt war. Die Haare gekämmt, die Hände auf dem Bauch gefaltet, gestützt von Tannenzweigen, damit sie bei Nachlassen der Leichenstarre nicht am Körper herunterrutschen würden. Einige Erikastängel, teilweise noch mit Wurzel dran, und eine gelbe Papierchrysantheme waren zwischen die Hände gesteckt. Über allem lag ein Hauch von Reif, der die Blumen glitzern ließ.

Wie liebevoll aufgebahrt, schoss es Oder durch den Kopf.

Nur der Karton passte nicht dazu. Jemand hatte die Füße des Toten in einen Karton gesteckt.

„Hat jemand was an der Leiche verändert?“ Oder sah in die Runde, aber es kam nur kollektives Kopfschütteln.

„Nein, er wurde so von dem Friedhofsgärtner gefunden.“

„Also war der Karton schon so?“

„Ja.“

„Merkwürdig.“

„Wird noch merkwürdiger. Der Penner hat keine Schuhe mehr an.“ Weber hatte aufgeschlossen und mit spitzen Fingern den Karton etwas gekippt. Die Schuhe fehlten, stattdessen war der Karton mit Zeitungspapier gefüllt, das man sorgfältig um die Füße gewickelt hatte.

Oder trat dichter an Weber heran und zischte ihm zu: „Weber! Das Wort ‚Penner‘ will ich nicht hören! Und latsch mir nicht über die Gräber! Wohl mit dem Düsenjäger durch die Kinderstube, oder was? Was denkst du wohl, wofür die Platten sind? Bestimmt nicht als Radweg gedacht.“

Reiß dich zusammen, Oder! Nicht vor anderen den letzten Respekt vor der Abteilung riskieren! Müssen die aus der Gerichtsmedizin ja nicht unbedingt mitbekommen, was für Armleuchter jetzt für die Kripo arbeiten. Lauter fuhr er fort. „Und …wieso merkwürdiger? Das macht die Sache doch eher rund.“

Webers Gesicht war das personifizierte Unverständnis.

Oder seufzte genervt. Was zum Teufel hat man denen auf der Polizeischule beigebracht?

„Lernt ihr denn nichts mehr? Schuhe sind ein wertvolles Gut unter Obdachlosen. Gute Schuhe sind überlebenswichtig. Aber hier wollte jemand zwar die Schuhe, jedoch nicht, dass der Tote friert. Jemand hat sich um ihn gesorgt.“

„Pfff!“ Weber spuckte abwertend Luft aus, drehte gelangweilt die Augen nach oben, verkniff sich aber weitere Bemerkungen. Wenn er noch die Stelle beim Betrug haben wollte, konnte er sich keine negativen Beurteilungen durch Oder leisten. So sicher war das noch nicht, auch wenn sein Schwiegervater einigen Einfluss hatte. Er brauchte eine gute Beurteilung, also verkniff er sich eine Entgegnung.

Oder schnüffelte derweil am Toten wie ein Spürhund. Über das Gesicht des Toten gebeugt, drehte er den Kopf leicht zu Fritz Teichmeyer und sah in fragend an.

„Ja, ist mir auch aufgefallen. Auf den ersten Blick kein Alkohol. Aber Genaueres kann ich dir erst sagen, wenn ich ihn im Labor untersucht habe.“

„Macht mir noch einer ein Bild von dem Grabstein?“

„Haben wir schon, Oder. Sind doch keine Anfänger. – Na dann wollen wir mal. Ab mit ihm in die Gerichtsmedizin.“

Montag

3. Besprechungen

Referatsbesprechung mit Polizeirat Impe.

Konnte es etwas Nervigeres geben?

Polizeirat Impe, von den Kollegen auch gerne ‚Seine Impertinenz‘ genannt, war der Vorgesetzte von Kommissar Michael Oder. Ein Ehrgeizling und Selbstdarsteller. Nie in Jeans, immer Maßanzug und Lederschuhe. Im Kreis der Kollegen wirkte er damit wie ein Fremdkörper.

Statt der üblichen Polizeilaufbahn hatte er nur ein Praktikum absolvieren müssen, die Stelle verdankte er allein seinem Studium. Dass die Praxis fehlte, war leider immer wieder spürbar und trug nicht zur Beliebtheit bei seinen Untergebenen bei. Sein Ziel, eine Stelle im Innenministerium schneller als der jetzige Amtsinhaber zu erreichen, hatte er immer noch nicht geschafft. Langsam wurde seine Zeit knapp.

Oder hatte sich eine große Eintracht-Tasse mitgebracht, an der er gelangweilt nippte. Er hasste diese lästige Pflichtveranstaltung, eine Bühne, auf der Impe bestand, auch wenn es außer ihn keinen interessierte. Das Referat konnte über Arbeit nicht klagen und jede Minute am Schreibtisch wäre sinnvoller gewesen. Gerade jetzt, montagmorgens, wenn die Meldungen des Wochenendes hereinkamen, konnte keiner über Arbeitsmangel klagen.

Oder war mit seiner Meinung nicht allein. Er brauchte nur in die Runde zu gucken. Außer Weber, dem Speichellecker von Impes Gnaden, kümmerte sich keiner um das Gesabbel. Peters kritzelte auf seinem Block am Rand die Kästchen voll. Wolbinger hatte den Sportteil der Zeitung zusammengefaltet unter seinem Block und verglich seinen Tipp-Kick mit den Zahlen. Engelbrecht sah durch Impe hindurch aus dem Fenster, als wären die Meisen im Baum das Wichtigste der Welt. Lamentowski war krank – hatte er zumindest ausrichten lassen. Oder wusste aber, dass er eine neue Freundin hatte, 15 Jahre jünger. Er schätzte, ‚chronische Montag-igitt-is‘ würde es eher treffen. Verdenken konnte er es ihm nicht.

Was sollte Impe schon zu erzählen haben? Nicht von ungefähr kursierte in der Abteilung der Spruch: „Wichtiges kommt per E-Mail, Unwichtiges von Impe.“

Oder musste wieder an den Toten auf dem Friedhof denken. Ob der auch so einen Chef gehabt hatte, dass er die subjektive Freiheit einem geregelten Leben mit Frau und Kindern vorgezogen hatte? Hinter jedem Obdachlosen steht eine Geschichte und nicht immer ist sie traurig, hatte man ihm in der Ausbildung beigebracht. Nur meistens.

Unbewusst krakelte Michael Oder einige Worte auf seinen Block und versuchte nebenbei, ein interessiertes Gesicht beizubehalten. In seinem Büro lag der vorläufige Obduktionsbericht von Teichmeyer und wartete auf eine Sichtung.

„Was ist mit dem Toten auf dem Friedhof? Kann der Fall endlich zu den Akten?“ Impes Stimme drang an Michaels Ohr. Zwei Sekunden – mehr brauchte er nicht, um zu registrieren, dass er gemeint war, aber das reichte Weber für einen Kommentar.

„Schlägerei im Pennermilieu. Wir haben schon rumgefragt, aber da ist nichts rauszukriegen. Das Pack hält dicht.“

Kommissar Oder funkelte Weber an, aber der sah bewusst nicht zu ihm. Seine langen Haxen waren auch zu weit von Oders Schuhen entfernt. Für einen Tritt hätte er aufstehen müssen. Mist!

„Na dann schließt das Ding endlich. Mit so einem Fall kann man keinen Blumentopf gewinnen.“

Er war auf einen Schlag hellwach. Das ging ja gar nicht. Die wollten seinen Fall dichtmachen. „Moment mal. Ich muss da noch was überprüfen. Mein Bauch meldet mir, da stimmt was nicht. Das ist noch nicht alles“, meldete sich Oder.

„Ach Sie mal wieder mit ihrem legendären Bauchgefühl. Wir werden von anständigen Bürgern bezahlt, die ein Anrecht darauf haben, dass wir uns um die wichtigen Fälle kümmern. Und kommen Sie mir nicht mit dem Argument ‚Mord bleibt Mord‘. – ‚Schlägerei bleibt Schlägerei‘, sage ich und die passiert nun mal laufend unter alkoholisierten Obdachlosen. Kommen Sie zum Ende, oder haben Sie sonst keine Arbeit? … Unsere Kriminalstatistik ist diese Woche gekommen. Wir liegen wieder nur im Mittelfeld. So geht das nicht, Kameraden. Ich will hier eine mustergültige Arbeit sehen.“

„Aber …“

„Kein Aber. Wenn Sie nicht ausgelastet sind, kann ich gerne von Lamentowski noch einige Fälle abziehen. Wo ist der eigentlich wieder?“

„Hat sich krankgemeldet!“ Weber. Immer zur Stelle, wenn er nicht gebraucht wurde.

„Schon wieder? – Okay, Oder. Haben wir uns verstanden? Nächste Woche will ich hören, dass der Fall abgeschlossen ist, sonst … Lamentowski freut sich bestimmt.“

Was bildete sich dieser Impe denn ein? Hatte nicht mal die Akte aufgeschlagen und maßte sich ein Urteil an. Aber er konnte sich schon denken, woher der Wind pfiff. Er hatte munkeln hören, Impes Beförderung wäre abgelehnt worden. Nix mit ‚jüngster Staatsrat‘ von Hessen. Kein Wunder also, dass er es nun über die Statistik versuchte. Ehrgeizling. Passte zu Weber wie Arsch auf Eimer.

Apropos Weber, komm du mir nachher nicht unter die Finger!

Michael Oder zog die Augenbrauen zusammen und hielt die Klappe. Impe jetzt gegen sich aufzubringen, konnte nur die Ermittlungen behindern. Und er würde ermitteln. Das, oder er würde wieder nächtelang nicht schlafen können. Wie lautete noch mal der Spruch der Models? Kein Schlaf ist auch keine Lösung.

Und schon schweiften die Gedanken von Kommissar Oder wieder ab und er kritzelte weiter auf seinem Block, als würde er mitschreiben. In Wirklichkeit konnte er nicht ferner sein. Er war auf dem Friedhof bei dem Karton.

Warum?Warum dort?Warum nicht auf einer Bank mit Aussicht?Und wer hatte das Gesicht sauber gewischt und die Füße eingepackt?

Es musste jemanden geben, der den Toten kannte. Derjenige hatte ihn zur letzten Ruhestätte gebettet, gemäß dem Spruch: ‚Tote gehören auf den Friedhof.‘

Zumindest, nachdem unser Leichenfledderer aus der Gerichtsmedizin sie freigegeben hat.

Michael Oder beschloss, lieber selbst bei Fritz vorbeizusehen, als sich durch den Bericht zu quälen.

Für seine Zurückhaltung eben bei Impe hatte er sich eine Belohnung verdient. Die würde er sich jetzt bei Fritz abholen.

„Fritz, bist du da?“

„Mom, komme gleich. Nur noch kurz verstauen. Pack mal mit an, dann geht es leichter.“ Fritz Teichmeyer legte noch schnell einige Innereien eines Toten in eine Schüssel und stellte diese zwischen die Beine des Obduzierten.

„Willst du das nicht noch zumachen?“

„Nee, muss ich nicht. Macht gleich Andrea, wenn sie aus der Pause zurück ist.“

„Andrea? Neue Karbolmaus?“

„Nein, ausgebildete Ärztin. Hat sich auf Rechtsmedizin spezialisiert und heute hier angefangen. Sie übernimmt nach der Einarbeitung die Stelle vom Thomas. Der ist ja nun in Ruhestand und allein schaff ich es hier nicht. Ein Glück, dass sie so schnell anfangen konnte. Normalerweise sitzen die Personaler das ja aus, aber ich habe denen gedroht, wenn ich nicht bald eine Hilfe bekomme, lass ich einige Leichen draußen stehen. Meine Schränke sind voll, es wäre mir ein Leichtes, die auf dem Flur zu parken. Hättest mal sehen sollen, wie schnell die sich auf einmal bewegt haben. Ein stinkendes Leichenschauhaus vor dem Bürozimmer wollte dann doch keiner.“ Er lachte meckernd.

Oder fiel in das Gelächter ein. Es tat gut, herzhaft zu lachen. Wie schnell konnte das vorüber sein? Was ihn wieder auf den Zweck seines Besuches brachte.

„Sag mal, Teichi, was hast du über den Toten vom Friedhof rausbekommen?“

„Hast du nicht die Akte bekommen? Die müsste doch längst bei dir sein.“

„Schon, aber Impe hatte wieder seine wöchentliche Beweihräucherung. Bin noch nicht dazu gekommen und könnte eine Belohnung gebrauchen, dass ich ihm nicht den Hals umgedreht habe … und Weber, diesem Arschkriecher, gleich mit.“

„So schlimm …?“ Fritz Teichmeyer griff sich im Vorbeigehen aus einem Regal zwei Glasbecher, die zum Anrühren von Flüssigkeiten gedacht waren, und strebte zu seinem Schreibtisch. Dort griff er zur bewährten Stelle, zog eine halb volle Flasche heraus und füllte die beiden Becher großzügig.

„Schlimmer. Die wollen den Fall zu den Akten legen, nur weil es sich um einen Obdachlosen handelt. Damit kann Impe keine Blumen gewinnen, also lässt er den ein zweites Mal sterben. – Hast du gehört: Seine Bewerbung haben sie wohl abgelehnt. – Oh Mann, muss der sauer gewesen sein! All das Geschleime für nichts.“ Ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund und brachte den männlichen Dreitagebart interessant zur Geltung.

Michael Oder nahm einen Schluck und ließ ihn genießerisch auf der Zunge zergehen. Langsam fiel der Frust von ihm ab.

„Tja, Impe. Bin ich froh, hier mein eigener Herr zu sein. – Aber zu dem Toten: schätzungsweise Ende 50, Tod kam durch eine gerissene Bauchschlagader infolge von stumpfem Trauma. Da muss einer mit einem Schlagring mit voller Wucht zugeschlagen haben. Der Mann ist schlichtweg verblutet. Vermutlich hat er nicht lange leiden müssen. Die Kopfwunden waren schwer, aber nicht tödlich. Der Blutverlust durch den Bauchschlag dagegen so heftig, dass er schnell bewusstlos geworden sein muss.“

„Schlagring? Seit wann benutzen Obdachlose unter sich einen Schlagring?“

„Werden keine gewesen sein. Ich habe Fesselspuren an den Hand- und Fußgelenken festgestellt. Von der Form und Größe tippe ich auf Kabelbinder. Der Mann wurde definitiv gefesselt, bevor man ihn zu Brei schlug. Außerdem habe ich das hier gefunden.“ Teichmeyer hielt ein Tütchen mit weißgrauem Staub und kleinen Steinchen hoch.

„Was ist das?“

„Mörtel und Beton, einige Holzsplitter. War tief in den Wunden auf der einen Seite. – Wenn ich vermuten darf: Der wurde auf einer Baustelle oder einem Abbruchhaus festgehalten. Als er bewusstlos wurde, ist er umgekippt und in den Dreck gefallen. Bring mir entsprechenden Dreck und ich sag dir, ob es ein möglicher Tatort sein kann, aber momentan ist nicht mehr drin.“

„Könntest recht haben. Obdachlose schlafen oft in solchen Häusern. Nur wer schlägt einen so zusammen, dass das Gesicht nicht mehr zu erkennen ist?“ Oder wurde immer leiser, während er seine Überlegungen vor sich hin murmelte.

Er nahm noch einen tiefen Schluck aus dem Glas und reichte es Teichmeyer.

„Noch einen?“

„Nein danke. Ich muss noch klar denken können.“

Oder wandte sich nachdenklich zur Tür. Er hatte die Klinke schon in der Hand, als Teichmeyers Stimme ihn stoppen ließ.

„Ich sag dir dann den Namen, sobald ich die Meldung kriege.“

„Welche Meldung?“

„Na die Meldung von dem Hersteller. Sag bloß, du hast das auch nicht gelesen. Mensch, Michi, du lässt nach. – Der hatte doch ein künstliches Kniegelenk. Da stand eine Seriennummer drauf und die habe ich angefragt.“

„Und das sagst du mir erst jetzt?“ Oder wurde vor Aufregung laut.

Gerichtsmediziner Teichmeyer kratzte das nicht. Er kannte das schon von Michael Oder. Der war eben mit Leib und Seele Kriminalist.

„Ich dachte, du wüsstest das“, entgegnete er nur lakonisch mit einem Achselzucken.

„Sah sehr teuer aus. Da hast du mal echt einen Nobel-Wohnsitzlosen. Der hat auch noch nicht lange auf der Straße gelebt, möchte ich schätzen. Dazu war er noch zu gepflegt. Selbst seine Fingernägel waren gefeilt. Und die Kleidung war mal teuer. So was findest du nicht bei der Heilsarmee.“

Oder nickte nachdenklich.

„Was ich immer sage: Jeder Obdachlose hat seine Geschichte. Gibt nur wenige, die bereit sind zuzuhören.“

Erneut strebte Oder der Tür zu, diesmal, ohne aufgehalten zu werden. Er hatte viel zu tun und wenig Zeit. Eine Woche hatte Impe ihm gegeben. Eine Woche, in der dieser ihm nicht auf den Zeiger gehen würde. Die galt es zu nutzen.

4. Auf der Straße

Oder wickelte die Daunenjacke dichter um seinen Körper und vergrub die Nase in einem dicken Schal. Es hatte ihn im Kommissariat nicht länger gehalten.

Mochte Weber auch die Akten von dem einen Schreibtischende auf das andere schieben, ohne auch nur den Ansatz zu machen, etwas darin zu bearbeiten.

Oder hatte das schon öfter beobachtet. Wenn Arbeit drohte, verteilte er erst auf jeder Ecke einige Akten, wobei er sie immer leicht quer zur jeweils darunterliegenden legte, damit es nach mehr aussah, dann stellte er seine Kaffeetasse mit dem Logo eines teuren Golfclubs der näheren Umgebung dazwischen, eingekreist von mindestens drei weiteren Aktendeckeln und einem Ordner mit Arbeitsanweisungen, den er so aufklappte, dass er dahinter abtauchen konnte. Als Nächstes holte er einen Bleistiftspitzer, schärfte alle Bleistifte und verteilte sie zwischen den Aktendeckeln. Dann seufzte er mehrfach herzergreifend, sah sich anschließend um, ob auch wenigstens einer sein Seufzen gehört hatte, reinigte hinter dem Aktenordner seine Fingernägel und … schlug die Zeitung mit den vier großen Buchstaben auf, um das Kreuzworträtsel zu lösen.

Wäre es das Rätsel aus der ‚Zeit‘ oder der ‚Welt‘ oder irgendeiner anerkannt intelligenten oder auch nur halbintelligenten Zeitung gewesen, er hätte vielleicht noch einen Hauch Achtung gehabt, aber so …

Er wünschte ihm Glück mit der angestrebten Stelle, auf dass er endlich weg wäre.

Als Oder wieder nach seinem Besuch bei Teichmeyer ins Büro gekommen war, hatte sich Weber schnellstens verpisst. Angeblich wollte er Ablage machen.

Lächerlich! Der kann ja nicht mal das Alphabet.

Oder schnaufte empört, ließ es aber sofort wieder bleiben. Der Atem kühlte an der Luft umgehend ab, kondensierte im Schal und legte sich als feuchter Belag auf die Nase. Ekelig.

Mittlerweile hatte er die Akte des Toten gelesen, viel mehr allerdings nicht herausbekommen. Das Wichtigste hatte Fritz ihm schon erzählt.

Oder hatte sich aber einiger Kontakte zu ehemaligen Polizeischülern erinnert, die bei ihm Praktikum gemacht hatten. Einer davon, Georg, war ein aufgewecktes Bürschchen, der nahe dem Bahnhof in der Wache 4 Dienst tat, zu deren Einzugsbereich der Hauptbahnhof und mit ihm eine Vielzahl an Obdachlosen gehörte. Ein Anruf hatte genügt; jetzt war er auf dem Weg, um Georg zu treffen. Gemeinsam wollten sie die Quartiere abfahren und nach Informanten suchen. Kommissar Oder hoffte auf die guten Kontakte, die Georg ihm zugesichert hatte.

An der Ecke Weserstraße/Kaiserstraße stand sich Georg die Beine in den Bauch, als jemand ihm auf die Schulter tippte.

„Hallo, Herr Kommissar! Kalt, was?“

Oder nickte nur und brummte einen unverständlichen Gruß in seinen Schal, während er Georg eine behandschuhte Hand zum Gruß hinhielt.

„Na dann wollen wir mal. Immerhin liegt wenigstens kein Schnee; da trifft man größere Gruppen. Ich habe mal eine Liste gemacht, damit Sie notfalls auch alleine losziehen können.“

Er zog ein DIN-A4-Blatt aus seiner schwarzen gepolsterten Lederjacke, vorne und hinten dicht beschrieben.

Oder warf einen kurzen Blick auf die Angaben und stöhnte. Das würde eine echt blöde Woche werden.

Und er sollte recht behalten.

Die Kälte hielt die Stadt fest in ihrem Griff. Für die Suche sicher praktisch, denn an den wenigen warmen Plätzen fanden sich mehr Obdachlose ein, aber mittlerweile war es Mittwoch und Oder war keinen Schritt weiter als zuvor. Georg hatte sich einen ganzen Tag Zeit genommen, um Oder einzuführen und ihm einiges beizubringen, was man als Polizist so von den Obdachlosen erfuhr, aber dann musste er wieder seinen Schichtdienst antreten und konnte nicht weiter helfen.

Von den Männern, die sich um die Wagen der Obdachlosenhilfe scharten, um eine warme Suppe oder einen Becher Kaffee zu bekommen, erfuhr Oder nichts. Schweigen, wo immer er hinkam. Kurze Blicke verrieten ihm, dass da mehr sein musste, aber keiner wollte reden.

Einzig von einem Sozialarbeiter konnte er in Erfahrung bringen, dass der Tote vermutlich ‚Paul‘ oder ‚Paule‘ hieß. Das war es aber auch schon. Kein Nachname. Der Sozialarbeiter klärte Oder auf.

„Wissen Sie, Nachnamen gehören zum alten Leben, mit dem die meisten abgeschlossen haben. Mit Nachnamen war man noch wer. Hatte eine Arbeit, eine Familie, eine Zukunft.“

Oder nickte. So hatte er das noch nie betrachtet, aber es war einleuchtend.

„Was nützt einem ein großer Name, wenn man jeden Tag um eine Übernachtung kämpfen muss und diese Nacht die letzte sein kann? Herr Kommissar, glauben Sie, es sind nur Hilfsschüler und Abbrecher auf der Straße? Bei Weitem nicht. Vom Ingenieur bis zum Handwerker, von der Putzfrau über die Künstlerin bis zur Frau Doktor. Die Not macht nicht vor einer Mahagonietür halt. Jeder hat seine Geschichte und nicht jedem stand an der Wiege geschrieben, dass er mal auf der Straße landen würde. Sehen Sie die Dame da hinten?“

Der Sozialarbeiter wies mit seinem Kopf in eine Richtung.

„Das war mal eine tolle Opernsängerin, bis sie ihre Stimme verlor. Im sogenannten ‚normalen Leben‘, einem Bürojob, fand sie sich nicht mehr zurecht nach den langen Jahren des Herumziehens von Bühne zu Bühne.“

Michael Oders Blick folgte der Richtung, in die der Sozialarbeiter mit seinem Kopf deutete. Eine ältere Frau, mit Abertausend Runzeln im Gesicht, saß dort und aß ein Stück Gewürzkuchen. Auffällig waren der verfilzte Pelzmantel und die vielen Schals um den Hals, die sie auch in der gut geheizten Stube des Wohlfahrtsvereins nicht ablegte. Als müsse sie immer noch ihren Hals gut einpacken, um die Stimme zu schonen.

Oder nickte bedächtig.

Als er ging, öffnete er sein Portemonnaie und holte einen Hunderter heraus. Den hielt er dem Sozialarbeiter hin.

Mittwoch

5. Neue Wege

Die Erzählung des Sozialarbeiters gab Kommissar Oder mächtig zu denken. Grübelnd entschied er, Teichi aufzusuchen. Er brauchte jemanden, der seine Sprache führte. Im Büro Kollege Weber beim Aktensortieren zuzusehen und seine blöden Sprüche zu hören, würde ihn nur zu etwas hinreißen, was er später bereuen würde.

Er organisierte noch einen 15 Jahre alten Whiskey, einen ‚Dalwhinnie‘, in der Ringeltaube, dem Laden am Flughafen. Nicht günstig mit knapp 35 € für eine Flasche, und das im Sonderangebot, aber Teichi hatte Geburtstag und er hoffte, mit dieser Eintrittskarte sich seinen Frust von der Seele reden zu können.

„Morgen! Ist es erlaubt einzutreten in deine heiligen Hallen?“, schmetterte er, als er in der Rechtsmedizin ankam. Zu seinem Erstaunen antwortete eine weibliche Stimme.

„Klar, auch wenn die Hallen hier alles andere als heilig sind.“

Neugierig ließ Oder seinen Blick schweifen, woher die Stimme wohl kam, denn der Raum war leer.

„Kommen Sie ruhig rein, ich bin gleich da. Ich muss mir nur kurz das Blut von den Armen waschen. Unser Praktikant war etwas ungeschickt, als er seinen ersten Schnitt setzen sollte.“

Die Stimme kicherte.

Für eine Frau eine unerwartet tiefe, leicht rauchige Stimme, aber ungemein sexy. Ein ansteckendes Kichern wohnte ihr bei, fand Oder.

Eine Stimme zum Verlieben. Hoffentlich passt der Rest dazu, schoss es ihm durch den Kopf. Das war ja leider nicht immer der Fall. Viel zu häufig war man enttäuscht, wenn nach vielversprechendem Erstkontakt am Telefon einen beim ersten Treffen die raue Realität überfiel. Er erwischte sich dabei, wie er in der Manteltasche den Daumen seiner freien Hand drückte. Irritiert zog er die rechte Hand aus der Tasche und wechselte den Griff an der Flasche, um sich durch diese banale Handlung wieder in den Griff zu kriegen.

„Wo ist denn Teichi?“

„Herr Teichmeyer ist zu Hause. Er hat doch heute Geburtstag. Da durfte er schon mittags heimgehen.“

Oder konsultierte überrascht seine Armbanduhr und musste feststellen, dass der Morgen doch schneller herumgegangen war, als er es gedacht hatte. Es war schon 13 Uhr.

Mist!

An die Regelung, am Geburtstag einen halben Tag freizubekommen, hatte er nicht mehr gedacht.

„Zu blöd. Ich hatte extra noch eine Flasche für seine Notapotheke besorgt“, rief er in den benachbarten Raum.

Die Tür zum Nachbarraum öffnete sich vollends und eine große, gut gebaute Frau kam händereibend auf ihn zu. Ein Hauch von Desinfektionsmittel umgab sie wie ein Parfüm.

„Ach, seinen Whiskeyvorrat? Keine Sorge, ich bin eingeweiht.“ Sie grinste Kommissar Oder an und die Sonne ging auf.

Sprichwörtlich.

Kurze rötliche Locken umrahmten das Gesicht wie ein Heiligenschein und brannten sich in sein Gedächtnis. Ein Rauschgoldengel in der Rechtsmedizin? Wo sonst …

Irritiert trat Oder einen Schritt nach hinten. Der Standortwechsel klärte den Effekt auf. Der ‚Heiligenschein‘ war nur eine Sinnestäuschung, hervorgerufen durch eine Schreibtischlampe, die im Nachbarraum brannte. Ihr Kopf hatte die Hauptquelle abgeschirmt, wodurch die Korona die Locken so dramatisch in Szene setzte, dass es selbst einem alten Hasen wie ihm kurz die Sprache verschlagen hatte.

Mit Verspätung konzentrierte er sich auf ihr Gesicht. Ein puppenhaftes Gesicht – wie in dem Film Curly Sue, nur als Erwachsene, dachte er sich. Alles an ihr war pures Leben. Ihr Lächeln entwaffnend, die Mundwinkel besuchten fast die kleinen Ohren mit den goldenen Steckern. Ihre grün-grauen Augen funkelten lebhaft, einige Sommersprossen tanzten auf ihrer Nasenspitze und schienen die Bestätigung, dass die schulterlangen, kastanienroten Haare, die sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, nicht aus einer Tube kamen. Etwas anderes als echt konnte er sich bei ihr auch nicht vorstellen.

Die Flasche wechselte erneut zurück und Oder ergriff die hingehaltene Hand zum Gruß.

„Willkommen! Ich bin Kommissar Michael Oder, ein alter Freund von Teichi. Und Sie sind seine neue Unterstützung?“

„Ja. Andrea Mars, frisch geprüfte Forensikerin. Sie können mich Andrea nennen. Kann ich Ihnen als Ausgleich einen Kaffee anbieten?“

„Oh ja, das wäre klasse! Ich bin etwas durchgefroren. Aber meinetwegen müssen Sie jetzt nicht extra einen brühen.“

„Das geht schon in Ordnung. Ich wollte selbst gerade eine kleine Pause machen. Und ohne Kaffee läuft der Motor nur auf Sparflamme“, lachte Andrea.

Dem konnte Michael Oder nur zustimmen. Auch sein Motor lief besser mit Kaffee. Er machte es sich auf dem Besucherstuhl von Teichi so bequem, wie es irgend ging, und beobachtete Andreas Bewegungen, wie sie durch den Raum huschte, um die Zutaten für den Kaffee zusammenzutragen.

Andrea war ungefähr 1,75 Meter groß, schlank, aber nicht von der ausgemergelten Sorte. Eher von der, mit der man ohne Probleme in eine Pizzeria gehen konnte und Salat nur die Beilage blieb.

Ihre Löckchen mussten echt sein, sie wippten anmutig bei jeder Bewegung. Einzelne Locken standen eher wirr vom Kopf ab. Vielleicht war das beim Abziehen der Schutzkleidung passiert, aber es wirkte, als wäre Andrea sich mit der Hand durch die Frisur gefahren, ohne auf den korrekten Sitz derselben zu achten.

Sehr sympathisch.

„Milch und Zucker?“, riss sie ihn aus seinen Betrachtungen.

„Nur Milch. Ich muss auf meine Linie achten“, feixte Oder. „Ich habe demnächst wieder den Check-up.“

Sie grinste. „Kenn ich, musste ich bei der Einstellung auch durch.“ Andrea hielt ihm eine Tasse hin, mit der anderen griff sie nach einem Tetrapak 3,5%iger H-Milch.

„Kondensmilch haben wir keine, aber die hier trink ich viel lieber“, meinte sie und ließ sich auf Teichis Sessel nieder.

„Find ich auch besser. Danke.“ Oder griff zu und für die nächsten Momente war andächtiges Schweigen im Raum, während jeder an seiner Tasse nippte. Oder seufzte.

„Na das klang aber, als hätten Sie eine schwere Last zu tragen.“

„Schwer? Na wie man’s nimmt. Ich suche die Nadel im Heuhaufen und habe nur noch eine halbe Woche Zeit, bevor mein Fall zwangsweise geschlossen wird.“

„Oh, das klingt ja nicht gut. Was genau suchen Sie denn?“

„Sie können mich ruhig duzen. Ich bin Michael!“ Oder reichte ihr die Hand über den Schreibtisch. Ihr Händedruck war kräftig zupackend, aber nicht zu stark.

„Andrea!“, antwortete sie. „Was suchen Sie … suchst du denn?“

„Einen Obdachlosen.“

Andrea nickte verstehend. „Ah, der Tote mit dem eingeschlagenen Gesicht. – Dann versteh ich dich. Das liegt in der Natur der Sache, dass man sie nur schwer findet. Viele wollen nicht gefunden werden.“

„Oh ja“, nickte Oder, „… und wenn du sie nicht sehen willst, sind sie überall, aber suchst du einen, findest du keinen. Zumindest keinen, der reden will. Nicht mal für Geld. Ich hab’s versucht. Seit drei Tagen lauf ich ihnen hinterher, aber keiner will auch nur ein bisschen rausrücken. Dabei geht es doch um einen der Ihren.“