Kein guter Ort - Bernhard Stäber - E-Book

Kein guter Ort E-Book

Bernhard Stäber

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Beschreibung

Spannender Norwegen-Krimi um ein verlassenes Hotel

Arne Eriksen ist nach seinem letzten Fall nach Südnorwegen gezogen und arbeitet dort als Psychiater an einer Klinik. Hier hört er auch von den mysteriösen Morden im Hotel Rabenschlucht. Damals hat ein Unbekannter ein junges Mädchen vor den Augen seiner Schwester umgebracht. Doch nicht erst seit dieser Tat gilt die Rabenschlucht als ein Ort, an dem seit jeher schlimme Dinge geschehen. Der Ort und die Geschehnisse lassen den Psychologen nicht los und Arne stellt auf eigene Faust Nachforschungen zum tragischen Tod des jungen Mädchens an. Und muss feststellen, dass ihn sein Leben in Norwegen verändert hat: Er lässt sich immer mehr von seiner Intuition und den uralten Riten der Samen leiten - und kommt damit dem Täter so nah, dass er selbst in tödliche Gefahr gerät...

Mit dem dritten Teil der Reihe um Arne Ericksen ist dem Autor erneut ein packendes Buch gelungen, das unter die Haut geht!

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Inhalt

Über dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumFreitag, 03. Juni 20161234567Freitag, 17. Juni 201689101112Samstag, 18. Juni 2016131415161718Sonntag, 19. Juni 2016192021222324Montag, 20. Juni 20162526272829Dienstag, 21. Juni 20163031323334353637383940414243Freitag, 29. Juli 201644Hinter dem Vorhang

Über dieses Buch

Arne Eriksen ist nach seinem letzten Fall nach Südnorwegen gezogen und arbeitet dort als Psychiater an einer Klinik. Hier hört er auch von den mysteriösen Morden im Hotel Rabenschlucht. Damals hat ein Unbekannter ein junges Mädchen vor den Augen seiner Schwester umgebracht. Doch nicht erst seit dieser Tat gilt die Rabenschlucht als ein Ort, an dem seit jeher schlimme Dinge geschehen. Der Ort und die Geschehnisse lassen den Psychologen nicht los und Arne stellt auf eigene Faust Nachforschungen zum tragischen Tod des jungen Mädchens an. Und muss feststellen, dass ihn sein Leben in Norwegen verändert hat: Er lässt sich immer mehr von seiner Intuition und den uralten Riten der Samen leiten – und kommt damit dem Täter so nah, dass er selbst in tödliche Gefahr gerät …

Über den Autor

© Arild Richard Janzon-Eikrem

Bernhard Stäber, geboren 1967 in München, hat unter dem Pseudonym »Robin Gates« bereits mehrere Fantasyromane veröffentlicht. »Kein guter Ort« ist sein dritter Thriller mit dem Psychologen Arne Eriksen. Bernhard Stäber lebt und arbeitet in der Provinz Telemark in Südnorwegen.

BERNHARD STÄBER

Kein guter Ort

Thriller

beTHRILLED

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Digitale Originalausgabe

Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt

Redaktion: Stefanie Zeller

Covergestaltung: www.buerosued.de

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-4235-2

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Freitag, 03. Juni 2016

1

Der Kaffee in dem Pappbecher schmeckte wie öliger Rost. Kari Bergland verzog das Gesicht, trotzdem nahm sie einen weiteren tiefen Schluck. Im Augenblick war sie nicht wählerisch, das Zeug war heiß und enthielt Koffein, damit hatte es seinen Zweck erfüllt. Sie rammte den Becher in den Tassenhalter zwischen Fahrersitz und Beifahrersitz ihres Golfs. Letzterer war im Moment nicht besetzt, da ihr Kollege Torolf Vangen ausgestiegen war.

Sie blickte durch die verdreckte Windschutzscheibe nach draußen. Ihr Gesicht spiegelte sich blass und geisterhaft vor dem Abendlicht. Der Himmel über den Zapfsäulen der Esso-Tankstelle im Kanalveien hatte eine kobaltblaue Farbe angenommen. Wo sie auf das dunkle Moosgrün der bewaldeten Hügel traf, die Bergen an Norwegens Westküste von drei Seiten umgaben, verschmolzen die beiden Farben allmählich miteinander zur Dämmerung. Der lange Tag wich jetzt, Anfang Juni, nur spät einer kurzen Nacht. Viel war passiert, und ihr Dienst war noch lange nicht beendet.

Während sie mit ausgeschaltetem Motor darauf wartete, dass Torolf den Tank auffüllte, drifteten Karis Gedanken zu Marius Dahle, der nur wenige Minuten von hier in einem Bett des Universitätskrankenhauses lag. Während der Notoperation hatten Torolf und sie stundenlang auf dem Gang vor der Doppeltür zur Intensivstation gewartet. Den glatzköpfigen Riesen, der Dahles Kollege und bester Freund war, hatte es nicht für fünf Minuten auf einem der Plastikstühle gehalten. Stattdessen war er unruhig den Gang auf und ab getigert.

Sie selbst hatte mit gesenktem Kopf nahe dem Eingang gesessen und auf den grauen Boden gestarrt. Hatte Torolfs Schritte gezählt, einundzwanzig vorwärts, einundzwanzig zurück, während sie gleichzeitig darauf lauschte, dass sich die Tür zur Intensivstation öffnete. Darauf, dass irgendjemand, ein Arzt oder eine Schwester, scheißegal wer, Hauptsache jemand mit Ahnung, ihnen sagte, wie es um ihren Kollegen stand.

Schließlich hatte ein hagerer älterer Mediziner mit aschgrauem Kettenrauchergesicht die Doppeltür aufgestoßen. Torolfs Schritte rissen sofort ab. Die Operation sei vorüber, verkündete der Arzt.

»Und was heißt das jetzt, verdammt?«, hatte Torolf ihn gereizt angeblafft.

Der Hagere hatte den muskelbepackten Glatzkopf vor ihm mit der enervierend geduldigen Miene eines Leichenbestatters gemustert und ruhig erwidert: »Das heißt, dass wir abwarten müssen, ob ihr Kollege die Nacht übersteht. Die Chancen stehen fifty-fifty. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Für einen winzigen Moment hatte Kari geglaubt, Torolf würde sich auf den Mann stürzen. Doch bevor sie ihm in den Arm fallen konnte, hatte er sich bereits wortlos umgedreht und war den Gang Richtung Foyer hinuntergestiefelt. Kari hatte dem Hageren mit einem Nicken gedankt und war ihrem Kollegen schnell gefolgt. Er hasste Krankenhäuser, das wusste sie. An dem Tag, als seine Lara geboren wurde, hatte er sich mit einem Flachmann in der Jackentasche am Eingang zur Klinik herumgedrückt und auf den erlösenden Anruf gewartet, eine Hand am Mobiltelefon, als hoffte er, die Vibration noch vor dem Klingelton zu erspüren.

Kari hörte, wie Torolf Vangen den Tankdeckel zuschraubte und den Zapfhahn mit einem harten metallischen Klicken zurück in die Säule hängte. Die Tankstelle war bereits für die Nacht geschlossen, aber er hatte seine Visa-Karte am Automaten benutzt, weil Kari ihre eigene vergessen hatte. Eigentlich war heute ihr freier Tag gewesen, aber als Torolf sie angerufen hatte, war sie sofort in ihren Wagen gestiegen und losgefahren. Die beiden waren ihre engsten Kollegen.

Das schier unzertrennliche Machogespann hatte es ihr am Anfang, als sie frisch von der Polizeischule Oslo in Bergen angefangen hatte, nicht einfach gemacht. Der riesige Vangen, glatzköpfig und mit Bodybuilder-Statur, und der schmale Dahle mit seinem fusseligen dunklen Vollbart hatten auf sie wie die erwachsene Version eines Schulhofschlägers und seines schmächtigen Kumpanen gewirkt. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Kari, die nicht wie die beiden aus Bergen, sondern aus Haugesund weiter im Süden stammte, ihnen Respekt abgerungen hatte. Aber es hatte nicht nur an ihrer Herkunft gelegen. Als Frau musste man sich in diesem Job noch immer besonders anstrengen, um den anderen zu zeigen, dass man dem Druck tatsächlich gewachsen war. Inzwischen hatten ihre beiden Kollegen sie nicht nur akzeptiert, sie war beinahe so etwas wie ein inoffizielles drittes Mitglied ihres Zwei-Mann-In-Clubs geworden.

Ein hartes Klopfen gegen das Seitenfenster auf der Beifahrerseite ließ ihren Kopf herumfahren. Torolf deutete zum Laden der Tankstelle. Sie nickte, und er wandte sich dem Eingang zu. Wahrscheinlich waren ihm die Zigaretten ausgegangen. In den letzten Stunden hatte Kari ihn mehr als in einer halben Woche rauchen sehen.

Vangen und Dahle hatten in einem Fall ermittelt, bei dem einem niederländischen Drogenkurier namens Anders Koning der Schädel eingeschlagen worden war, direkt in der Einfahrt des Hauses, in dessen zweiten Stock er gewohnt hatte. Der Täter hatte einen stumpfen Gegenstand benutzt, wahrscheinlich einen Baseballschläger. Die Tatwaffe war noch immer verschwunden. Eine Anwohnerin hatte den Angriff mit ihrem Handy gefilmt, und die Auswertung des Videos hatte die beiden Beamten der Bergener Kriminalpolizei zu Sander Moldvær geführt.

Der Mann war kein unbeschriebenes Blatt, sondern wegen Gewaltdelikten mehrfach vorbestraft. Die beiden Polizisten hatten ihn vor zwei Jahren schon einmal im Zusammenhang mit gefährlicher Körperverletzung vorgeladen, hatten ihm damals aber nichts nachweisen können, da das Opfer, eine amphetaminabhängige junge Frau, vorgegeben hatte, sich an den Angriff nicht mehr erinnern zu können. Seit Kurzem arbeitete er im Containerhafen von Haugesund als Geräteführer.

Das Handyvideo der Zeugin in dem Mordfall an dem Drogenkurier war leider so verwackelt gewesen, dass Vangen und Dahle Sander Moldvær nicht eindeutig hatten identifizieren können. Doch zu der daraufhin geplanten Gegenüberstellung im Polizeipräsidium war es nie gekommen. Sander hatte kaum die Wohnungstür geöffnet und die beiden Beamten erblickt, als die Situation bereits eskalierte. Wie aus dem Nichts war ein schlankes, aber dafür langes Messer zum Ausnehmen von Fischen in seiner Rechten aufgetaucht. Er stach hart und gezielt auf Marius Dahle ein, der ihm am nächsten stand, und stieß ihn gegen seinen Partner, um an den Polizisten vorbei und die Treppe hinab zum Hauseingang zu stürmen. Torolf war ihm ein halbes Stockwerk hinterhergerannt, bevor er innegehalten hatte – der einzige Grund, warum Marius immer noch am Leben war. Torolf hatte mit seinem Handy den Rettungsdienst alarmiert und so gut wie möglich versucht, den Blutverlust der tiefen Bauchwunden seines Kollegen einzudämmen.

Der Wagen schwankte leicht, als er jetzt einstieg und sich neben Kari in den Beifahrersitz fallen ließ. Selbst im Sitzen sah er hünenhaft aus.

»Hast du was Neues vom Krankenhaus gehört?«

Es war gerade einmal fünf Minuten her, dass sie vom Gelände der Klinik herunter waren, aber Kari rieb ihm das nicht unter die Nase. Sie schüttelte nur den Kopf.

»Nichts. Nygård hat kurz angerufen. Jeder verfügbare Kollege ist im Einsatz. Die nehmen sich gerade den Containerhafen vor.«

Ihr Kollege fuhr sich mit der flachen Hand über den spiegelblanken Schädel und schnaubte frustriert. »Die denken doch nicht wirklich, dass er so blöd ist, sich da zu verstecken.«

»Ich glaub’s auch nicht«, erwiderte Kari. »Was ist mit seiner Familie?«

»Seine Eltern leben seit gut zehn Jahren in Portugal, und er hat eine Schwester auf den Lofoten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er zu ihr fliehen würde. Laut seiner Akte hat er keinen Kontakt mehr zu seiner Familie, seitdem er zum ersten Mal eingesessen hat.«

»Was ist mit seinem Freundeskreis?«

»Der wird gerade überprüft, genauso wie seine Arbeitsstelle.« Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Nygård sagte, wir hätten schon genug Zeit im Krankenhaus verplempert. Wir sollen unsere Hintern hochbekommen und uns an der Suche beteiligen. »Eigentlich hatte sie erwartet, dass Marius’ Kollege und Freund bei diesem Satz ausrasten würde. Aber Torolf reagierte kaum. Nur sein mahlender Kiefer zeigte ihr, wie erregt er war.

»Hast du eine Idee? Irgendeinen Ort, auf den die anderen vielleicht noch nicht gekommen sind?«

Torolf dachte nach. Eine tiefe Falte war in der Mitte seiner Stirn erschienen und grub sich bis zu seiner Nasenwurzel.

»Moment mal«, murmelte er, als spräche er mit sich selbst. »Ist heute Abend nicht ein Konzert von Cimmeria in der Brennerei?«

»Wie kommst du jetzt darauf?«, fragte Kari verwirrt. Sie überlegte, ob sie Plakate dieser norwegischen Band im Zentrum aushängen gesehen hatte, aber sie konnte es nicht sagen.

»Bevor Sander den Job im Containerhafen bekommen hat, war er für ein paar Monate Security-Mann in der Brennerei. Hat das Publikum am Eingang gefilzt und aufgepasst, dass keiner aus dem Moshpit auf die Idee kam, auf die Bühne zu klettern. Was man eben als Security bei Konzerten so macht.« Er holte tief Luft und wich ihrem Blick aus. »Das steht nicht in seiner Akte. Ich weiß es, weil ich mal eine Ex von ihm vorgeladen hatte, wegen einer anderen Sache.«

Kari hegte den Verdacht, dass an der Geschichte noch mehr dran war als nur eine Vorladung, aber sie hakte nicht weiter nach. Die Zeit war knapp.

»Moment mal – du glaubst doch nicht etwa, dass er dahin geflohen ist? In einen Nachtclub? Torolf, wenn Cimmeria spielt, tobt da heute der Bär, und sein Fahndungsfoto ist in allen Nachrichten zu sehen? Da fällt er doch sofort auf.«

Torolf zuckte genervt die Achseln. »Was weiß ich, was in dem Hirn von diesem durchgeknallten Dreckskerl vorgeht. Der war ja auch bescheuert genug, zwei Polizeibeamte anzugreifen, die sich einfach nur mit ihm unterhalten wollten. Vielleicht will er dort irgendwelche Kontakte von früher anzapfen, um unterzutauchen.«

Kari seufzte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sander längst aus Bergen geflohen war oder sich irgendwo in seinem Bekanntenkreis versteckt hielt, war bei Weitem größer als ein voller Nachtclub während eines Konzerts. Andererseits: Vielleicht glaubte er ja tatsächlich, dass die Menschenmenge ihm eine Tarnung verlieh.

»Was sagt dir dein Instinkt?«, fragte sie ihn.

Torolf zog eine gequälte Grimasse. »Mein weibliches Bauchgefühl?«

»Nenn’s von mir aus Polizistenspürsinn, wenn es deine männlichen Gefühle beleidigt. Ohne lange nachzudenken: Wo sollen wir hinfahren?«

Er zögerte keinen Moment. »Brennerei.«

Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss um und startete den Golf. »Alles klar, Harry,« sagte sie auf Deutsch. Die Bemerkung wie ihren passablen Akzent hatte sie sich von der deutschen Krimiserie »Derrick« abgeschaut, die seit gefühlten hundert Jahren im norwegischen Vorabendprogramm lief. »Gehen wir ein Konzert besuchen.«

Torolf reagierte nicht, sondern zog sein Mobiltelefon hervor, starrte auf das Display und schob es wieder in die Jackentasche zurück. Plötzlich wandte er sich ihr zu.

»Marius ist Laras Taufpate.« Seine Stimme war rau und leiser als sonst. »Die ist ein richtiges Schreikind. War sie immer, sogar jetzt noch. Wenn ihr was gegen den Strich geht, brüllt sie, dass die Tapete von der Wand blättert. Aber als Marius sie bei ihrer Taufe im Arm hielt, war sie völlig ruhig. Sie hat keinen Mucks von sich gegeben, nicht mal, als der Pastor ihr das Wasser über den Kopf gegossen hat. Sie hat sogar gegrinst. Marius hat das fertiggebracht. Dabei hat der Typ nicht mal eigene Kinder.«

Er schwieg, während seine Augen die verlassene Tankstelle absuchten. Kari wartete ab, während der Motor im Leerlauf lief.

»Er wird es nicht schaffen, oder?«, hörte sie Torolf sagen. Die Leere in der Stimme des riesigen Mannes ließ sie die Zähne aufeinanderbeißen.

»Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, haben sie gesagt«, brachte sie schließlich heraus. »Bei einer Wette würde ich mein Geld auf ihn setzen.«

Torolf antwortete nicht. Kari legte den ersten Gang ein und drückte den Fuß aufs Gaspedal. Sie schwiegen, als der Golf auf die Straße fuhr. Aber die Gedanken an ihren Kollegen, der im Universitätsklinikum mit dem Leben rang, füllten die Stille zwischen ihnen, während sich die blaugrüne Dämmerung über den nahen Hügeln zur Nacht verdunkelte.

2

Es ist Zeit. Pack deinen Rucksack und mach dich auf den Weg.

Arne Eriksen blickte von seinem Notebook auf und sah aus dem Schreibtischfenster. Zu seinen Füßen hob Kuling, der große belgische Schäferhund, den schwarzen Kopf und sah ihn fragend an. Arne hatte den Hund, dessen eigentümlicher Name auf Norwegisch so viel wie Starkwind bedeutete, von seinem Freund Magnus Skog Sandmo übernommen. Erst hatte er Anja Sofia Turi gehört, der alten Sami-Frau, bei der Magnus bis zu ihrem Tod gelebt hatte. Als sie vor über einem Jahr gestorben war, war ihr Hof in Nordland oberhalb von Bodø verkauft worden, und Magnus hatte nicht mehr weiter dort wohnen können. Er war nach England gegangen, nach Cambridge, wo er noch ein paar Verbindungen aus Studententagen besaß. Mit deren Fürsprache hatte er dort eine Anstellung erhalten und unterrichtete nun als Fellow für Anthropologie. Zunächst einmal befristet auf zwei Semester, aber besser als nichts. Kuling hatte er nicht mitnehmen können, und so hatte Arne dem Hund ein Zuhause gegeben.

Kuling war eine lebendige Erinnerung an die Zeit, die Arne selbst auf dem Hof von Akka, wie alle sie genannt hatten, verbracht hatte, damals vor zwei Jahren, als er spontan aus Deutschland nach Norwegen gezogen war. Jetzt gab er ein kurzes, fragendes Jaulen von sich, das sich fast wie ein Gähnen anhörte. Arne vernahm es nur am Rande. Er starrte gedankenversunken auf den lang gezogenen Fleck des Kviteseidsees hinaus. Die Wasseroberfläche verschwand in der einbrechenden Nacht wie dunkle Farbe in einer Schale mit einer noch dunkleren Flüssigkeit. Die Hausdächer des Stadtzentrums direkt vor dem gekippten Fenster verdeckten ihn nur an wenigen Stellen. Kviteseid in der Provinz Telemark im südlichen Norwegen besaß gerade einmal knapp achthundert Einwohner. Im Sommer, während der Touristensaison, kam der Ort regelmäßig über die Tausender-Grenze. Im Winter zog vor allem der benachbarte Ort Vrådal mit seinem Wintersportareal und dem dazugehörigen Hüttenpark Feriengäste aus Oslo und dem Ausland an.

Arne lebte seit dem letzten Sommer in Kviteseid. Er war aus Haugesund an der Westküste hergezogen. Die dortige Wohnung hatte nicht ihm gehört, sondern seiner Tante Ingrid, die sich für mehrere Monate in Spanien aufgehalten hatte. Ursprünglich war er hierher, ins Land seines verstorbenen norwegischen Vaters, gekommen, um eine Weile von seiner Arbeit in Berlin Abstand zu gewinnen, nachdem er beinahe von einem seiner Patienten getötet worden wäre. Es war eine Flucht gewesen, ein Weglaufen, vor diesem für ihn so traumatischen Ereignis. Er hatte nicht daran gezweifelt, dass er nach ein paar Wochen oder Monaten nach Berlin zurückkehren würde.

Doch schließlich hatte Arne sich entschieden, in Norwegen zu bleiben – nicht, weil die Erinnerungen an Deutschland zu schwer gewogen hätten: Hin und wieder wurde er noch immer von Panikattacken heimgesucht, aber die Abstände zwischen den einzelnen Anfällen hatten sich im Lauf der Monate vergrößert. Er war im Land seines Vaters geblieben, weil er sich hier im Laufe der Zeit mehr und mehr zu Hause gefühlt hatte.

Im vergangenen Sommer hatte er eine Anstellung als Psychologe in der psychiatrischen Klinik der Kleinstadt Seljord gefunden, eine halbe Autostunde entfernt von Kviteseid, wo er am Dorfrand eine Wohnung im oberen Geschoss eines Zweifamilienhauses angemietet hatte. Es war ein typisches Telemark-Haus, mit tiefrot gestrichenen Holzwänden über einem niedrigen Steinfundament. Wenn es von der Sonne bestrahlt wurde, leuchtete die Farbe wie Burgunder in einem Weinglas.

Die neue Stelle erinnerte ihn ein wenig an die Arbeit im Betreuten Wohnen, der er in Berlin nachgegangen war, nur mit dem Unterschied, dass seine Patienten in der Seljorder Klinik hauptsächlich Menschen mit Abhängigkeitsproblemen waren. Er hatte sich schnell eingelebt, und die Tatsache, dass er halber Norweger war, hatte ihm dabei geholfen. Er war akzeptiert. Aber er bemerkte auch, dass es ihm nicht mehr so leicht wie früher fiel, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Er besaß ein paar enge Freunde, wie die Polizistin Kari Bergland aus Bergen oder Magnus, mit dem er regelmäßig skypte, nachdem dieser nach Cambridge gegangen war, aber es waren bei Weitem nicht mehr so viele wie in der Zeit, als er noch in Berlin gelebt hatte. Ob es das natürliche Ausdünnen von Freundschaften war, das mit jedem weiteren Jahr voranzuschreiten schien, sobald man die Ausbildung hinter sich und die dreißig überschritten hatte? Oder hatte das Erlebnis, wegen dem er in ein fremdes Land geflüchtet war, ein Land, das ihm allmählich ans Herz wuchs, ihn doch stärker beschädigt, als er es wahrhaben wollte?

Arne konnte es nicht sagen. Er wusste nur: Heute war Freitagabend, und anstatt etwas in Seljord zu unternehmen oder ein paar Kilometer weiter in die nächste Universitätsstadt Bø zu fahren, um etwas zu trinken und Leute kennenzulernen, saß er hier in seinem Büro und ging eine Patientenakte durch.

Bis vor ein paar Sekunden.

Geh. Jetzt! Du hast keine Zeit zu verlieren!

Da war sie wieder, die Stimme in seinem Inneren, die sich nicht unterdrücken ließ, kaum vernehmbar unter seinen anderen Gedanken, die um den Text vor ihm auf dem Notebookbildschirm kreisten, aber deswegen nicht weniger deutlich vernehmbar.

Henry Storheim, vierundzwanzig Jahre, Stapelfahrer in der Ringnes Brauerei in Oslo. Gamma-Alkoholiker, sprich: Trinken bis zum Kontrollverlust. Wird im Zusammenhang mit hartem Sprit schnell gewalttätig, fast ausschließlich gegenüber Frauen. Aufnahme am 18.05., also einen Tag nach dem Nationalfeiertag, seinem letzten Besäuf…

Arne. Ignoriere das Ziehen nicht länger. Hör für heute auf und mach dich auf den Weg!

Er blinzelte und blickte erneut am Notebookbildschirm vorbei aus dem Fenster. In der Ferne, auf der anderen Seite des lang gezogenen Sees, öffneten sich zwei dicht bewaldete Hügel zu einem dahinterliegenden Tal. Die untergehende Sonne war schon beinahe hinter dem rechten verschwunden. Der Anblick war mehr als eine Einladung. Er war eine Aufforderung. Und Arne Eriksen hatte seit seiner Zeit bei Magnus und der alten Akka gelernt, Aufforderungen wie diese nicht zu überhören, sondern ihnen Folge zu leisten.

Er klappte das Notebook zu und stand auf.

Das Schwierigste war, die innere Stimme überhaupt wahrzunehmen. Der Rationalist in ihm, der sich gerne als Wissenschaftler betrachtete, hatte sich während seines Studiums der Psychologie vor allem mit Behaviorismus beschäftigt. Verhalten und Erleben, das war in Experimenten mess- und greifbar, alles andere war Lesen im Kaffeesatz.

Beinahe amüsiert musste er an diesen anderen Arne Eriksen zurückdenken, während er ins Schlafzimmer ging und seinen Rucksack aus dem untersten Fach des Kleiderschranks fischte. Der Rationalist war immer noch vorhanden. Aber er war in der Zeit, die er in Norwegen und besonders oben am Polarkreis, in Nordland, verbracht hatte, immer wieder mit einer anderen Sichtweise konfrontiert worden – einem regelrecht magischen Weltbild, das seine eigene nüchterne Wahrnehmung der Realität um sich herum und die Menschen darin stets aufs Neue herausforderte.

Oh nein, Arne. Da machst du dir etwas vor. Du warst nie ein Rationalist. Du hattest nur Angst, dich auf deine innere Stimme zu verlassen. Tatsächlich das zu tun, was sie dir rät, anstatt sie mit Buchwissen zu übertönen, mit Normen, Verhaltensregeln und all dem, was man dir im Lauf von über dreißig Jahren ansozialisiert hat.

Er stopfte eine Stabtaschenlampe in den Rucksack, einen Kompass und sein Handy. Er hatte diese Tour in den letzten Monaten schon mehrmals unternommen, und er war inzwischen gut darin, die wichtigsten Dinge für eine Bergwanderung einzupacken, ohne sich zu überladen. Eine Plastikflasche mit Wasser zum Beispiel war praktisch, letztendlich aber in einer Gegend, in der man ständig auf Gebirgsbäche und Wasserfälle traf, nicht wirklich notwendig. Wichtiger war ein Becher, und vor allem ein zweites Paar Socken. Nichts störte mehr, als stundenlang mit nassen Füßen durch den Wald zu laufen.

Kuling wanderte zur Wohnungstür und starrte Arne erwartungsvoll aus tiefbraunen Augen an, als er sah, wie dieser sich die festen Schuhe zuband.

»Mach dir keine Hoffnungen, Kumpel«, sagte Arne und richtete sich auf. »Heute bleibst du zu Hause. Ich bin bald wieder zurück.«

Er ignorierte Kulings enttäuschtes Brummen und schob sich an ihm vorbei durch die Tür und ins Treppenhaus.

In der Wohnung im Erdgeschoss lief der Fernseher auf voller Lautstärke. Es klang nach irgendeiner Reality TV-Show wie »Idol« oder »Norske Talenter«. Wahrscheinlich war Kirsti, die erwachsene Tochter seiner Nachbarin Henriette Hennum, mal wieder übers Wochenende zu Besuch. Sie studierte Pädagogik in Bø, eine knappe Autostunde von Kviteseid entfernt, und wohnte dort in einem Studentenwohnheim.

Nicht zum ersten Mal schoss es Arne durch den Kopf, dass er sich weit von der Berliner Großstadtpflanze entfernt hatte, die er einmal gewesen war. In Berlin hatte er absolut nichts über die Nachbarn in dem Charlottenburger Haus gewusst, in dem er gewohnt hatte. Es hätte eine Altachtundsechziger-WG, die Russenmafia oder ein privater Swingerclub sein können – es wäre ihm nicht aufgefallen. Hier, auf dem Land, wusste er genau, wer seine unmittelbaren Nachbarn waren, wann sie Besuch bekamen, und besonders, wer Probleme hatte, mit seinem Leben zurande zu kommen. Gerade über Letzteres kursierten Neuigkeiten mit Überschallgeschwindigkeit. Wahrscheinlich wussten sie auch so einiges über den zurückgezogen lebenden Halbnorweger, der montags bis freitags nach Seljord fuhr, um seinem Job als Seelenklempner nachzugehen.

Draußen war die Dämmerung angebrochen. Ein einziger Stern war am südwestlichen Himmel sichtbar. Wahrscheinlich würden sich heute Nacht auch nicht mehr viele dazugesellen. Hier in Südnorwegen verblassten die Sterne etwa ab Mitte Mai und blieben bis in den August hinein unsichtbar, um erst wieder im Spätsommer zu erstrahlen. Der Himmel war trotz des nächtlichen Dunkels zu hell.

»Sieht ganz so aus, als ob es heute Nacht noch rumpeln würde«, hörte er Henriette sagen, die, einen Eimer mit Rosendünger neben sich, im Vorgarten kniete. Sie war eine stämmige Mittvierzigerin mit dunklem Haar und einem runden Gesicht, das bereits jetzt, im Spätfrühling, die natürliche Bräune von häufiger Arbeit im Freien aufwies. Ihre Hände steckten in modischen Gartenhandschuhen mit Blümchenmuster. Sie zog sie aus und wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht, während sie zum Himmel hinter dem Haus deutete. Im Osten hatten sich schmutzig graue Wolken zusammengezogen, und über den Bergen in Richtung Seljord und Bø flackerte Wetterleuchten.

»Denkst du, das Gewitter wird uns erreichen?«, fragte Arne, wobei er die Schulterriemen seines Rucksacks straffer zog.

»Bestimmt. Das wird eine laute Nacht.« Sie musterte ihn skeptisch. »Du willst doch nicht jetzt noch wandern gehen?«

»Nur einen kurzen Spaziergang um den See herum«, wehrte Arne ab. »Bis es ungemütlich wird, bin ich längst wieder zurück.« Dass er tatsächlich vorhatte, trotz des nahenden Gewitters auf einen Berg zu steigen, behielt er lieber für sich. Er wollte nicht für noch verschrobener gehalten werden, als er vermutlich ohnehin schon wirkte.

»Na, du bist derjenige, der nass wird«, erwiderte Henriette leichthin, als wäre damit alles gesagt. »Hauptsache, du machst nicht einen auf typisch deutscher Tourist und bist auf einmal mit einem Outdoor-Unfall in den Nachrichten. Erinnerst du dich noch an die australische Studentin, die vom Trollzungen-Felsen bei Odda gestürzt ist?«

»Und ob. Das war aber auch preisverdächtig bizarr. Hat sie nicht mit ihrem Handy ein Selfie von sich machen wollen?«

»Genau. Der erste tödliche Unfall in all den Jahren.«

»Sieht ganz so aus, als ob nicht alle Orte auf dieser Welt für soziale Medien geschaffen sind«, gab Arne trocken zurück.

Henriette grinste. »Hab eine schöne Tour!« Sie schlüpfte wieder in ihre Gartenhandschuhe, um sich dem Düngen ihrer Rosen zu widmen.

In der Einfahrt kam Arne an seinem geparkten schwarzen VW Polo vorbei. Er hielt kurz inne, ging dann aber doch weiter, ohne einzusteigen. Den Weg, den er heute vor sich hatte, musste er zu Fuß zurücklegen. Aufs Gaspedal treten und an seinem Ziel auszusteigen, das wäre zu einfach gewesen. Sich dem Ort, den er aufsuchen wollte, allmählich zu nähern, war mindestens so wichtig, wie ihn zu erreichen.

Er folgte einer von mehreren schmalen Nebenstraßen, die ihn um das Nordende des Sees herumführten. Auf einem kleinen Hügel zu seiner Rechten blickte die steinerne Kirche von Kviteseid auf ihre Kleinstadt hinab. Die meisten Häuser drängten sich in der Senke um das Seeufer, wo sich auch fast alle Läden befanden. Die Mehrzahl der Wohnhäuser stand entlang des Nordosthangs des langen, vom See in Tausenden von Jahren gegrabenen Tals, durch das die Straße zwischen Brunkeberg und Vrådal verlief. Es waren auch die Häuser, die ab Mittag am meisten Sonne abbekamen.

Arne hatte den starken Verdacht, dass in den wenigen Häusern und Bauernhöfen auf der anderen Seite des Sees mehr getrunken und Antidepressiva geschluckt wurden als auf der sonnigen Seite, wo er wohnte. Als er seinen Job in der psychiatrischen Klinik in Seljord begonnen hatte, hatte er immer wieder mit dem Gedanken gespielt, die Patientenakten daraufhin zu prüfen, ob sich bei Sucht- und Depressionsdiagnosen ein Zusammenhang zwischen Wohnort und Auftreten der Krankheit herstellen ließ. Beim Entstehen von psychischen Erkrankungen spielten immer mehrere unterschiedliche Faktoren eine Rolle.

Im Betreuten Wohnen in Berlin hatte er sich keine großen Gedanken darüber gemacht, inwieweit der Wohnort eines Patienten zum Ausbrechen einer psychischen Erkrankung beitragen mochte. Aber seitdem er etwas Zeit in Nordland verbracht hatte, und besonders seit seiner Begegnung mit dem Anthropologen Magnus Skog Sandmo und der Schafbäuerin Anja Sofia Turi, genannt Akka, war er empfänglicher für das geworden, was die alte Samin »den Geist eines Ortes« genannt hatte. In Akkas Welt war alles belebt gewesen.

Arne fand es schwer, an etwas Übernatürliches zu glauben, an Dinge, die sich nicht rational erklären ließen. Aber dass manche Orte eine spürbare Atmosphäre verströmten, die man beinahe schon als Persönlichkeit bezeichnen konnte, hatte er begriffen, seitdem er zum ersten Mal längere Zeit auf Akkas Hof nördlich von Bodø verbracht hatte. Das alte Haus und die es umgebenden Schafwiesen und schroffen Hügel entlang des Nordfjords zum Rago Nationalpark hin waren ihm wie die Gliedmaßen eines gewaltigen Körpers vorgekommen. Ein Riese hatte sich in der Landschaft ausgestreckt und träumte eigenartige Träume, die in die Gedanken derjenigen sickerten, die ihr Leben in seinem Schatten teilten.

Es war ein wilder, kraftvoller Ort gewesen, an dem er zum ersten Mal geglaubt hatte, ein Gefühl für dieses Land zu bekommen. Auch auf den Inseln der Vesterålen, wo Magnus und er Akkas Asche im Meer verstreut hatten, war es ihm so gegangen.

»Die Inseln sind nichts für Schwächlinge«, hatte Akka ihm einmal unverblümt gesagt, als er sie nach ihrer Herkunft gefragt hatte und sie ihm von Langøya erzählt hatte, wo sie aufgewachsen war. »Nur starke Menschen können hier leben, Leute, die es aushalten, von Wind und Meer regiert zu werden, und die mit der Dunkelheit im Winter zurechtkommen.«

Als seine Tante Ingrid vor einem Jahr aus Spanien zurückgekehrt war und Arne sich eine neue Bleibe hatte suchen müssen, hatte er sich nicht nur an Arbeitsgelegenheiten orientiert. Er hatte einen Ort finden wollen, dessen Ausstrahlung er mochte. Bevor er der Klinikleitung in Seljord zugesagt und sich auf Wohnungssuche gemacht hatte, war er ein Wochenende lang durch die Provinz Telemark gefahren und hatte die Landschaft auf sich wirken lassen. Eine Wohnung ließ sich renovieren oder neu einrichten, die darum liegende Gegend nicht. Er hatte von der erhöht nach Vrådal verlaufenden Straße Kviteseid schräg unter sich aus dem Autofenster geblickt, das Sonnenlicht war in gleißenden Reflexionen auf die Seeoberfläche getroffen, und er hatte sofort gewusst, dass er an diesem Ort bleiben wollte. Weil er ihn an der richtigen Stelle und im richtigen Moment zum ersten Mal gesehen hatte. Das hatte er von Akka und Magnus gelernt: ein Zeichen zu erkennen – und ihm zu vertrauen.

Arne umrundete zu Fuß den See und erreichte die Kreuzung, an der die eine Straße weiter am anderen Seeufer entlangführte, während die andere aufwärts und zwischen zwei Bergen in ein dahinterliegendes Tal verlief. Er folgte der unasphaltierten zweiten Straße und bog kurz darauf nach rechts in einen Fußweg ein. Bald war er zu beiden Seiten von Wald umgeben.

Was Arne von Wäldern wusste, hatte er vor allem dem Grunewald und den Müggelbergen am Rand von Berlin zu verdanken. Anfangs hatte er noch die in Deutschland allgegenwärtigen Eichen und Buchen vermisst. Aber inzwischen hatten ihn die kargen, hin und wieder von Wachholder durchbrochenen Birken– und Fichtenwälder in ihren Bann gezogen.

Er schritt rascher aus, den Blick auf den Himmel gerichtet, der sich trotz der abendlichen Stunde schneller verfinstert hatte, als er es erwartet hatte. Sein Ziel war eine Lichtung mit einer Klippe, auf der er früher schon einmal geklettert war. Auf halber Höhe befand sich ein Vorsprung, der genug Platz bot, um sich bequem darauf niederzulassen und über die Lichtung hinweg in das Tal von Kviteseid zu blicken.

Der Wetterbericht hatte einen Gewittersturm vorhergesagt. Das hatte er bereits am Morgen im Radio gehört. Es würde nass und ungemütlich werden.

Aber das alles spielte keine Rolle. Heute war es wichtig, dort zu sein. Also musste er hinauf.

Vor einem Jahr hatte er mit der Hilfe seines Freundes Magnus eine eigene Rahmentrommel gebaut und selbst bespannt. Aber schon bevor er von zu Hause aufgebrochen war, hatte er gewusst, dass es mit dem bevorstehenden Unwetter sinnlos sein würde, die Trommel auf den Hügel zu schleppen. Aus einem nassen Fell bekam man keinen vernünftigen Klang heraus. Stattdessen hatte er sich unter den Musikdateien auf seinem Notebook einen schnellen, aber gleichförmigen Trommelrhythmus ausgesucht, von dem er hoffte, dass er ihm helfen würde, sich in Trance zu versetzen. Noch vor ein paar Jahren wäre er niemals auf den Gedanken gekommen, so etwas zu tun. Er wäre sich völlig lächerlich vorgekommen, wie einer dieser Esoterik-Spinner in Berlin, die im Sommer in den Parkanlagen vom Tiergarten oder der Hasenheide arrhythmisch auf Djembes einschlugen.

Doch dann war er an den Polarkreis gereist. Menschen wie Magnus oder die alte Akka, die noch um die Traditionen ihres Volkes gewusst hatte, waren ganz absichtlich in Bewusstseinszustände eingetaucht, die den Intellekt, den ständig aufmerksamen Zensor, für eine Weile in den Hintergrund drängten. In den kurzen Momenten, in denen der Verstand nicht das Steuer innehatte, standen die Tore zum Unbewussten weit offen, um das an die Oberfläche dringen zu lassen, was gerade wichtig war, aber für gewöhnlich übersehen wurde.

Es gab unterschiedliche Methoden, um dies zu erreichen. Magnus, der auf der Yucatan-Halbinsel bei einem indigenen Mayastamm gelebt hatte, war immer an psychoaktiven Pflanzen interessiert gewesen. Einmal hatte er Arne mit getrockneten Fliegenpilzen in einen rauschartigen Zustand versetzt, der ihm geholfen hatte, mit dem Tod seines Vaters Ingvar Eriksen endlich seinen Frieden zu schließen.

Arne dagegen bevorzugte die monotonen Schläge einer Rahmentrommel, wie er es erlebt hatte, als Akka für ihn getrommelt und gejoikt hatte. Joik – so hießen die kehligen Gesänge der Sami. Es war die wahrscheinlich ursprünglichste Form der Musik, die nichts erklärte oder beschrieb. Ein Joik war ein Lied im Moment, er handelte nicht vom Wind, dem Regen oder dem Zug der Rentiere über die Tundra, ein Joik war der Wind, der Regen oder die Rentiere. Das machte seine urtümliche Kraft aus.

Auch wenn Arne selbst nie zu joiken gelernt hatte, so half ihm doch der beständige Schlag einer Rahmentrommel, in kürzester Zeit einen Trancezustand zu erreichen, in dem er seinen Intellekt aushebelte. Er hoffte darauf, dass der Effekt sich ebenso schnell einstellte, wenn er die Schläge über die Kopfhörer seines iPods vernahm.

Die ersten Regentropfen platschten wie kleine Geschosse vor ihm auf den staubtrockenen Pfad und schlugen ihm kalt ins Gesicht. Er zog den Kopf ein und lief schneller, in einem beständigen Trab, die Augen auf seine Füße gerichtet. Um ihn herum verdunkelte sich das Dickicht. Die schattenhaften Umrisse der Bäume zogen sich in die dahinterliegende Dunkelheit zurück, bis um ihn nur noch Regen und Nacht war.

Arne blieb stehen und tastete in seinem Rucksack nach der Taschenlampe. Sie flackerte kurz hell auf und erlosch wieder. Er schüttelte sie, drückte mehrmals auf den Einschaltknopf, öffnete das Batteriefach, veränderte die Reihenfolge der Batterien und drückte erneut auf »on«, aber sie blieb ausgeschaltet. Mit einem lauten Fluch stopfte er die nutzlose Lampe wieder in den Rucksack und bemühte sich, Schritt für Schritt dem Pfad zu folgen, den er im Dunkeln kaum noch erkennen konnte.

Über ihm zuckte der erste Blitz über den Himmel und verwandelte die Umrisse der Bäume in grässliche, zugespitzte Palisaden. In die Wände eines Labyrinths. Nicht zum ersten Mal kam es ihm vor, dass dieses albtraumhafte Bild wieder und wieder in seinem Leben auftauchte, die endlosen Gänge eines riesigen Labyrinths, die er einen nach dem anderen ablief, beständig auf der Suche nach dem, der sich in dessen Mitte verbarg. Dem gleißenden Licht folgte ein Donnerschlag, der über Arne hinweg den Hügelkamm entlangrollte wie ein Felssturz.

Abrupt blieb er stehen. Der Regen prasselte auf ihn herab, und er hatte sein Ziel längst noch nicht erreicht. Aber seine Füße wollten ihn nicht weiter vorwärtslassen. Das Brüllen des Donners hatte ihn versteinert, er steckte in einer Statue fest, die seine Züge trug, und das Einzige in seinem Körper, das sich bewegte, war sein Herz. Es hämmerte ihm hart bis in den Hals hinein und würgte ihm die Luft ab.

Ein weiterer Blitz riss über ihm den Himmel auf.

3

»Das ist ein Polizeiausweis und kein Ticket«, brummte der Mann am Einlass. Er blickte abschätzig auf die kleine Frau mit dem strengen Pferdeschwanz hinab. Ihre Miene, mit der sie ihm ihre Legitimation der Bergener Polizei vor die Nase hielt, war ebenso streng, aber in seinem Job hatte er es sich angewöhnt, sich von so etwas nicht beeindrucken zu lassen. Er deutete auf ihren dunkelgrünen Parka. »Sie sind nicht in Uniform. Woher will ich wissen, dass Sie überhaupt im polizeilichen Auftrag hier reinmöchten? Vielleicht wollen Sie sich ja einfach nur einen schönen Abend machen.«

»Ich brauche keine Uniform, um als Polizistin unterwegs zu sein«, erwiderte Kari ungerührt. Sie starrte zurück, ohne zu blinzeln. Von dem Security-Mann der Brennerei würde sie sich garantiert nicht wie ein Schulmädchen abweisen lassen. »Dafür habe ich ja diesen hübschen Ausweis hier.«

Der untersetzte Mann mit der Kühlschrank-Figur verschränkte die Arme vor der Brust. »Selbst dann müssen Sie mir entweder einen schriftlichen Durchsuchungsbefehl zeigen« – er machte eine Pause, und seine Miene bekam einen Anflug von Gehässigkeit – »oder ein Ticket.«

In Gedanken zwang sich Kari zur Ruhe. In den letzten zwei Jahren war es ihr zunehmend schwerer gefallen, in Situationen wie dieser einen kühlen Kopf zu bewahren. Vielleicht machte sie diese Arbeit schon zu lange, ohne Pause, ohne Veränderung. Was auch immer der Grund sein mochte, es war ihr klar, dass ihre Lunte mit der Zeit kürzer und kürzer brannte. Aber gerade heute, mit einem Torolf Vangen im emotionalen Ausnahmezustand an ihrer Seite, war es umso wichtiger, nicht auszurasten.

Sie holte tief Luft. »Bei Gefahr im Verzug entscheide ich selbst, ob ich einen Ort auch ohne Durchsuchungsbefehl betrete. Und wir haben Gefahr im Verzug.«

Sie bezweifelte, dass die Dienstaufsichtsbehörde diesen Begriff ebenso großzügig auslegen würde, wenn der Mitarbeiter des Konzertclubs sich über ihr Vorgehen beschwerte, aber egal. Ein guter Bluff war oft die beste Eintrittskarte.

Kari zückte ihr Handy und vergrößerte das Foto auf dem Display. »Ist dieser Mann heute Abend hier aufgetaucht?«

Der Security-Mann schüttelte den Kopf. »Kenn den Typ nicht. Wer soll das sein?«

»Sander Moldvær«, blaffte Torolf. Er hatte der Ticketverkäuferin, einer spindeldürren Enddreißigerin mit mehreren Lagen Make-up im Gesicht, ebenfalls ein Bild des Gesuchten auf seinem eigenen Mobiltelefon unter die Nase gehalten, aber nur ein Kopfschütteln geerntet. Jetzt war er zu Kari und dem Security-Mann getreten.

»Falls dir der Name nichts sagt, dann schau mal in die Nachrichten. Er wird gerade mit Großfahndung wegen versuchten Totschlags an einem Polizeikollegen gesucht. Noch vor ein paar Monaten hat er in der Brennerei dieselbe Arbeit wie du erledigt.«

Der Mann zog ein verärgertes Gesicht. »Ich hab doch gerade schon gesagt, dass ich den Typ nicht kenne! Und wenn ihr beide da drin nach ihm suchen wollt, dann kauft euch entweder ein Ticket, oder zeigt mir einen Wisch mit der Unterschrift von einem Richter!«

»Jetzt pass mal auf, Freundchen«, sagte Torolf. Er trat dicht an den Security-Mann heran. Karis Körper spannte sich in Sekundenbruchteilen an, bereit, dazwischenzugehen, sobald die Situation weiter eskalierte.

»Ein Kollege von mir liegt auf der Intensivstation«, fuhr Torolf mit bemüht beherrschter Stimme fort. »Ist gut möglich, dass er die Nacht nicht überlebt. Du kannst dir vielleicht vorstellen, dass wir ziemlich motiviert sind, den Mann zu finden, auf dessen Konto das geht, hm?«

Er stierte sein Gegenüber an, als wollte er mit seinem Blick ein Loch hineinbohren. Der Security-Mann runzelte die Stirn. Dann nickte er schließlich. Mit einer abfälligen Geste trat er zur Seite.

»Macht schon. Aber wenn ihr da drin eine Panik verursacht, dann geht das auf eure Kappe!«

Ohne ein Wort marschierte Torolf an ihm vorbei. Kari folgte ihm. »Niemand wird in Gefahr gebracht«, raunte sie dem Mann im Vorübergehen zu. »Wir verhaften ihn erst, wenn es sicher ist.«

Sie achtete nicht darauf, wie ihr Kollege auf diese Plattitüde reagierte, sondern beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten, während er den Gang zum Hauptsaal entlanghastete. In dem schummerig beleuchteten Schlauch mit den schwarzen Wänden hielt sich kaum Publikum auf. Nur am Verkaufsstand kurz vor dem Eingang standen ein paar Leute herum und sahen sich die Band-T-Shirts und ausgelegten CDs an.

Niemand wird in Gefahr gebracht. Wenn es nur so einfach wäre. Sie musste ihren Kollegen im Auge behalten. Insgeheim hoffte sie, dass sie Sander Moldvær als Erste entdeckte. Sie würde sofort Verstärkung anfordern und Torolf dazu anhalten, Sander bis zu ihrem Eintreffen nur im Auge zu behalten. Aber wenn Torolf ihr zuvorkam…

Donnerndes Gebrüll und Gejohle brandete vor ihr auf und riss sie aus ihren Gedanken. Dicht vor ihr hatten sich eben noch drei junge Männer am Tresen links vom Eingang die leeren Plastikbecher mit Bier aufgefüllt. Jetzt schwangen sie beinahe gleichzeitig herum, die Mienen erwartungsvoll gespannt. Einer der drei, ein schlaksiger Typ in einer scheußlichen senfbraunen Lederjacke, reckte sein Bier in die Höhe und stieß einen heiseren spitzen Schrei aus – zu mehr schien seine überrumpelte Lunge nicht in der Lage zu sein. Seine Hand zitterte, und ein Schwall Bier landete auf Karis Schulter. Die Support-Band, wer immer es auch gewesen sein mochte, war mit ihrem Act zu Ende, und Cimmeria hatte die Bühne am anderen Ende des Saals erklommen.

Kari kannte nicht viele Metal-Bands, aber die hier war ihr ein Begriff. Obwohl die Jungs bisher nur zwei EPs aufgenommen hatten, waren sie recht bekannt, seitdem sie mit Kvelertak auf Tour gegangen waren. So wie es aussah, war das Publikum bereits ziemlich aufgeheizt. Selbst bei dem für ihren Stil verhältnismäßig ruhigen Gitarrensolo, mit dem der erste Song begann, reckten sich in der Menge vor Kari die Metal-Hände mit ausgestrecktem Zeigefinger und kleinem Finger in die Höhe. Die Silhouetten der Rücken und Köpfe direkt vor ihr waren eine sich hin und her wiegende Mauer, die ihr die Sicht auf die Band versperrte – ihr altes Problem bei Konzertbesuchen: Sie war einfach zu klein.

Der leicht bittere Biergeruch auf ihrem Parka stieg ihr in die Nase, aber sie vermied es, den Typen, der ihre Kleidung eingesaut hatte, zur Rede zu stellen. Stattdessen sah sie sich nach Torolf um. Er hatte sich über den Tresen gebeugt und hielt einer der beiden Barkeeperinnen sein Handydisplay entgegen. So stark wie die Adern an seinem Hals hervortraten, brüllte er ihr mit voller Lautstärke ins Ohr. Kari verstand jedoch kaum etwas, denn der Frontmann Vidar Eilertsen hatte eben sein Gitarrensolo beendet, und in der Halle donnerte die Musik der restlichen Band von einem Moment zum nächsten mit der Wucht eines Düsentriebwerks los.

Torolf beugte sich zu ihr herab. »Sie glaubt, dass sie Sander vom Foto wiedererkennt!«, schrie er. Vor dem Hintergrund von Eilertsens Grölen, das aus den Verstärkern dröhnte, klang seine Stimme wie ein Flüstern.

»Sollen wir Verstärkung rufen?«, schrie Kari zurück.

Torolf schüttelte heftig den Kopf. »Noch nicht. Sie ist sich nicht sicher. Aber wenn er es tatsächlich war, dann hat er sich vor dem Beginn des Konzerts hier im Saal herumgetrieben.«

Kari fragte sich, warum sich Sander so offen zeigen und damit das Risiko eingehen sollte, erkannt zu werden. Doch mit seinem nächsten gebrüllten Satz lieferte Torolf ihr bereits einen Teil der Antwort.

»Wir müssen nach jemandem Ausschau halten, der sich die Haare fast komplett abrasiert hat. Vergiss seine Frisur auf dem Fahndungsfoto!«

Kari nickte. »Ich versuch mal, weiter nach vorne in Richtung Bühne zu kommen!«, schrie sie zurück. »Da hab ich einen besseren Blick auf das Publikum. Behalt du den Ausgang im Auge! Wenn wir ihn hier im Saal nicht sehen, nehmen wir uns die restlichen Räume vor.«

Anstatt eine Antwort zurückzuschreien, hob Torolf nur seine Faust mit einem nach oben zeigenden Daumen. Kari wandte sich von ihm ab und arbeitete sich an der linken Längswand des Raums nach vorn. Auf diese Art, entlang der Seitenwände, war sie schon bei früheren Konzerten bis in die erste Reihe gelangt, um den Musikern auf der Bühne besonders nahe zu sein. Diesmal ging es ihr aber nicht um die Band. Sie wollte einen Blick auf die Gesichter im Publikum werfen. Auch wenn die Chancen schlecht standen, in dem schummrigen Licht irgendjemanden klar auszumachen, waren die Besucher doch von vorne immer noch besser zu erkennen als nah am Ausgang, wo Torolf und sie sich gerade befanden.

Sie schob sich an einem Rücken nach dem anderen vorbei. Schritt für Schritt näherte sie sich den ersten Reihen. Hier im Hintergrund standen wie üblich diejenigen, die zu cool zum Tanzen waren und sich stattdessen mit ihren Drinks in den Händen wiegten wie Tanzbären. Aber je weiter sie vorwärtsdrang, desto mehr stampften die Besucher auf der Stelle hin und her, schüttelten ihre Köpfe, dass denen, die lange Haare besaßen, die schweißnassen Strähnen um ihre Schultern klatschten, und grölten die Songtexte aus vollem Hals mit. Vor allem von rechts, aus der Richtung der Mitte des Saals, rempelten sie immer wieder Leute an und schoben sie in die Richtung der Längswand. Wahrscheinlich war der Moshpit bereits am Kochen.

Endlich hatte sie die Bühne erreicht. Nur wenige Meter von ihr entfernt erkannte sie zwei weitere Security-Leute der Brennerei an ihren schwarzen T-Shirts mit dem Logo des Clubs, einem stilisierten Destillierkolben in Form einer E-Gitarre. Im Gegensatz zum restlichen Publikum standen sie mit dem Rücken zur Band und behielten die Menge im Auge, vor allem eine größere Gruppe von Besuchern dicht vor der Bühne, die bereits am Kochen war. Immer wieder ließen sich Einzelne von ihnen hochheben und waagrecht auf dem Rücken liegend über die Köpfe der anderen tragen. Ein paar versuchten auch, die Bühne zu erklimmen, um sich von dort abzustoßen und sich ebenfalls von der wild tanzenden Gruppe auffangen zu lassen. Aber es gelang den Security-Leuten des Clubs fast jedes Mal, sie schnell wieder herunterzuziehen, bevor sie ihren Stagedive ausführen konnten.

Die Bühnenbeleuchtung wechselte stakkatoartig zwischen tiefrot und grellweiß. Kari war immer nur für Sekunden in der Lage, einen Blick auf die Gesichter im Publikum zu erhaschen, bevor deren Züge wieder in die Dunkelheit eintauchten. Frustriert strich sie sich mit beiden Händen über ihr eng am Kopf liegendes Haar. Was für eine Schnapsidee! Genauso gut könnten sie versuchen, eine ganz bestimmte Muschel an einem Strand zu finden. Sie drehte sich um. Es war bestimmt klüger, die restlichen Räume des Gebäudes zu durchsuchen. Wenn sie damit keinen Erfolg hatten, konnten sie sich immer noch am Ausgang postieren und die Konzertbesucher in Augenschein nehmen, wenn sie die Brennerei verließen.

Wieder meißelte die Beleuchtung den Zügen der Anwesenden für Sekunden die Konturen von Charakteren in einem expressionistischen Horrorfilm. Kari stockte der Atem.

Treffer!

Etwa drei Meter von ihr entfernt stand Sander Moldvær. Sie erkannte ihn ohne die Spur eines Zweifels sofort, trotz seines veränderten Aussehens. Die blanke Kopfhaut seiner frisch rasierten Glatze schimmerte im Aufblitzen der Scheinwerfer. Mit seiner schwarzen Lederjacke war er einer der wenigen im Saal, der wie sie selbst mehr als nur ein T-Shirt trug. Er stand dicht vor einer hochgewachsenen, schlanken Frau in einem ärmellosen Shirt, die kaum mehr als zwanzig Jahre alt sein musste. Keiner der beiden achtete auf die Band oder die Musik. Obwohl die Frau gut einen Kopf größer als Sander war, wirkte sie eingeschüchtert, sogar verängstigt. Beide waren offenbar in ein erregtes Gespräch vertieft.

Ihn an Ort und Stelle zu verhaften war keine Option. Der Mann war gefährlich, und um sie herum befanden sich zu viele Leute. Am besten behielt sie ihn im Auge, bis er den Raum verließ und schnappte ihn sich dann. Sie zog ihr Mobiltelefon hervor. In Windeseile tippte sie beidhändig eine SMS an Torolf.

Hab ihn gefunden. Er ist im Saal. Bleib am Ausgang!

Sie hoffte, dass er den Vibrationsalarm spürte und die Nachricht las. Bei dem Lärm um sie herum würde er sie ohnehin nicht verstehen, wenn sie ihn anrief. Stattdessen beobachtete sie, wie die Pantomime der Unterhaltung zwischen den beiden verlief.

Die Stirn der jungen Frau glänzte feucht vor Schweiß. Ein paar Strähnen ihres platinblonden Haars klebten ihr nass auf den Schläfen. Ihre leicht hervorstehenden und dadurch auffallend großen Augen hatten Sander fixiert. Sie stieß etwas hervor, das Kari nicht verstehen konnte – die Polizistin sah nur, wie sich der breite Mund der Frau öffnete und sie ihr Gegenüber am Arm ergriff. Sander riss sich los, kaum dass sie ihn berührt hatte, und stieß sie gegen die Wand zurück. Er herrschte die junge Frau an. Dann wandte er sich ruckartig von ihr ab und wollte entlang der Wand in Richtung Ausgang gehen, aber die Frau hielt ihn nochmals fest. Ihr Gesicht hatte einen verzweifelten Ausdruck bekommen.

Sander sah sich um, wie um sich zu versichern, dass niemand auf sie beide achtete. Im gleichen Moment, als er den Kopf in Karis Richtung drehte, wandte sie sich zur Bühne um und riss johlend den rechten Arm hoch, die Finger zur Metal-Hand ausgestreckt. Sie fixierte den Sänger der Band, der inzwischen sein T-Shirt ausgezogen hatte und sich mit nacktem Oberkörper über das Mikrofon beugte, setzte ein breites Grinsen auf und hoffte, dass sie ihre Rolle ausfüllte.

Für ein paar Sekunden zwang sie sich dazu, die beiden nicht anzusehen, dann schielte sie aus den Augenwinkeln zu ihnen hinüber. Sander hatte den Blick wieder von ihr abgewandt. Er zog etwas aus der hinteren Hosentasche und drückte es eilig der jungen Frau in die Hand. Die Anspannung auf ihren Zügen wich schlagartig Erleichterung.

Sander wandte sich zum Gehen, doch bevor er auch nur einen Schritt machen konnte, tauchte Torolf Vangens Gestalt aus dem dunklen Pulk des Publikums vor ihm auf. Sein wütendes Gesicht wurde hell angestrahlt, bevor es wieder in dämmriges Rot eintauchte. Karis Herzschlag, der sich bereits mit dem schnellen Beat der donnernden Musik im Saal synchronisiert hatte, legte augenblicklich noch einen Gang zu. Warum hatte der verdammte Idiot nicht abwarten können!

Sander erblickte Torolf und reagierte blitzschnell. Er packte die junge Frau mit beiden Armen. In einer schnellen Drehung wirbelte er sie nach links und stieß sie dem Polizisten entgegen. Gleichzeitig sprang er in die entgegengesetzte Richtung, wo die Masse der Fans am dichtesten war.

Kari sprang vor und schnitt ihm den Weg ab. Sander hatte sie noch nie zuvor gesehen, aber dass die junge Frau mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck eine Polizistin sein musste, begriff er offenbar sofort. Seine Rechte stieß zu. Kari ahnte das Metall einer Messerklinge mehr, als sie es sah. Sofort übernahm ihr Körper die im Aikido einstudierte Routine, den Stoß gegen ihren Unterleib abzuwehren und Sander gleichzeitig festzuhalten. Doch ein harter Stoß von links ließ sie straucheln. Einer der Tanzenden im Publikum hatte sie angerempelt. Etwas schrammte heiß an ihrer Hüfte entlang. Kari keuchte auf, mehr aus Überraschung als aus Schmerz, ohne sich selbst hören zu können. Das Geräusch ging im Dröhnen der E-Gitarren und des Schlagzeugs unter. Sander schob sich an ihr vorbei und stieß ein paar Leute vor sich aus dem Weg. Im nächsten Moment war er im wildesten Haufen der Headbanger direkt vor der Bühne verschwunden. Kari wollte ihm hinterher, um ihn festzuhalten, aber ein harter Rempler von einem der wie wild Herumspringenden ließ sie straucheln. Sie versuchte noch, ihr Gleichgewicht zu halten, lief einen Schritt weiter und ging zu Boden.

Frischer Schmerz schoss ihre verletzte Hüfte entlang. Der Saalboden bebte im Takt der Tanzenden zu der ohrenbetäubenden Musik. Dicht vor ihrem Gesicht

Scheiße oh Scheiße

trampelten Schuhe und schwere beschlagene Stiefel

ich bin erledigt

mit voller Wucht auf und ab. Gedankenfetzen

ein Tritt auf den Kopf, und das war’s

flatterten wie vom Scheinwerfer eines Leuchtturms geblendete Vögel durch ihren Verstand.

Das donnernde Chaos um sie herum verschluckte ihren panischen Schrei.

4

Die Flutwelle hatte ihn wieder einmal erreicht.

Seine Panikattacken waren wie Tsunamis. Heftige Beben, die anderen für gewöhnlich verborgen blieben, lösten sie aus, und er selbst bemerkte sie oft erst, wenn sie sich bereits unaufhaltsam näherten. Sie schlugen über ihm zusammen, nahmen ihm die Luft zum Atmen und rissen ihn gnadenlos mit sich.

Dieses Mal war der Blitz, der keine zehn Meter vor Arne in eine Kiefer gefahren war, das Beben, das die Woge losschickte. Ein Ast, so lang wie ein einzelner junger Baum, schlug mit einem dumpfen Krachen am Waldboden auf. Flammen zuckten aus der getroffenen Krone, gleichzeitig erschütterte ein Donnerschlag den Hügel, der Arne in Panik die Zähne aufeinanderschlagen ließ. Sein Herz hämmerte so hart gegen seinen Brustkorb, als wollte es sich durch Muskelfleisch und Rippen herausarbeiten. In einem bizarren Kontrast dazu hätten seine Beine einer aus Stein gehauenen Statue gehören können. Es war ihm unmöglich, sich zu bewegen. Gelähmt von der Flutwelle, die all seine Willenskraft verschluckt hatte, stand er inmitten des Waldwegs, roch den bitteren Geruch von brennendem Kiefernholz und stierte aus weit aufgerissenen Augen die leuchtende Fackel hoch über sich an.

Ein Gedanke blitzte in seinem von Adrenalin überfluteten Verstand auf. Instinktiv klammerte er sich an ihm wie an einem Rettungsanker fest.

Der Notruf! Wähl den Notruf und melde ein Feuer, bevor sich das hier zu einem Waldbrand auswächst.

Seine Hand tastete in der Hosentasche so unbeholfen nach dem Mobiltelefon, als müsste sie erst wieder lernen, wie sie ihre Finger um einen Gegenstand schließen musste. Aber die Bemühung half ihm, sich zu sammeln, wenigstens für Augenblicke den Kopf über die Flutwelle zu erheben und seine Gedanken zu ordnen.

Und das ist der Trick, um der Welle zu entkommen. Du weißt das. Du hast es oft genug trainiert – fokussier deinen Willen auf kleine Handlungen, die noch in deiner Kontrolle liegen!

Das Unwetter war nun direkt über ihm. Regen klatschte ihm kalt auf den Kopf und direkt ins Gesicht. Der moosüberwucherte Waldboden begann zu dampfen. Endlich schaffte es Arne, die Hand um das Mobiltelefon zu schließen und es aus seiner Hosentasche zu ziehen. Erst jetzt bemerkte er, dass es gar nicht mehr notwendig war, die Notrufnummer zu wählen. Die zuckenden Flammen in der Baumkrone über ihm duckten sich in dem Platzregen, der über dem Hügel niederging, und schrumpften mehr und mehr in sich zusammen. Bald würden sie völlig ausgelöscht sein.

Ein tiefes Seufzen entkam Arnes Kehle. Wie zur Antwort folgte ihm ein weiteres taghelles Aufleuchten am Himmel über dem Wald, gefolgt von einem weiteren gewaltigen Donnerschlag. Arne zuckte zusammen. Sein Herz hämmerte ihm noch immer bis zum Hals, aber die Panik würde nicht mehr zunehmen, dessen war er sich gewiss. Er fühlte seinen Körper wieder. Der Tsunami ebbte langsam ab.

Die Erleichterung belebte seinen Körper, sie wischte das Gefühl von Lähmung fort. Noch vor einem Jahr wäre es ihm nicht möglich gewesen, sich bei einer Panikattacke so schnell wieder zu beruhigen. Die massiven Angstanfälle überkamen ihn noch immer, besonders dann, wenn etwas Erschreckendes völlig unerwartet auf ihn eindrang. Aber inzwischen bekam er sie in immer kürzeren Abständen wieder in den Griff. Sie bestimmten nicht mehr völlig sein Leben.

Das Gewitter hatte ihn gründlich durchgeweicht. Seine Kleidung klebte ihm unangenehm kalt auf der Haut. Er wischte sich mit der Hand über das kurz geschnittene Haar, schüttelte sich und schob das Mobiltelefon in den Rucksack, dessen Inneres im Gegensatz zu seiner Hosentasche immer noch trocken war.

Warum verdammt noch mal tat er sich das an? Der Vernunftmensch in ihm, dem er seinen Studienabschluss verdankte und der dafür sorgte, dass sein Leben in geordneten Bahnen verlief, wollte ihn nach Hause schicken, wo er bei diesem Wetter hingehörte, anstatt auf einen bewaldeten Hügel in einem Gewittersturm.

Aber er konnte nicht umkehren. Sein Instinkt ließ ihm keine Wahl. Er musste zu der Felswand. Es war nicht mehr weit.

Arne lief im strömenden Regen noch gute zwanzig Minuten hügelaufwärts, die Augen auf den nur schwer auszumachenden schmalen Waldpfad gerichtet, den Generationen von Elchen und Rehen auf ihren Wanderungen in den Boden gestampft hatten. Ein paarmal kam er im Dunkeln vom Weg ab, fand aber immer wieder schnell zurück, wenn das Unterholz zu dicht wurde. Er war froh, dass er ihn in der Vergangenheit oft genug entlanggegangen war. Hin und wieder erleuchtete ein Blitz den Himmel. Dem unvermittelten Licht auf dem Pfad vor Arnes Füßen folgte lautes Donnern, aber es nahm allmählich an Intensität ab, während das Gewitter weiter nach Süden über den See zog.

Endlich verbreiterte sich der Pfad zu einer beinahe kreisförmigen Lichtung. Er war an der Felswand angekommen. Sie erstreckte sich gut zwanzig Meter fast völlig senkrecht in die Höhe. Wenn man ihr eine Weile nach rechts in südöstlicher Richtung folgte, führte der Waldpfad weiter hinauf bis zum oberen Rand der Felsen und zur Hügelkuppe. Aber so weit wollte Arne nicht. Es reichte ihm, bis zu dem flachen Vorsprung auf halber Höhe der Felswand zu gelangen, den man, auch ohne Hände und Füße zu Hilfe zu nehmen, erreichen konnte.

Von diesem gut vier Meter langen und zwei Meter breiten Plateau, groß genug, um bequem darauf sitzen zu können, hatte man bei Tag einen beeindruckenden Blick auf die Lichtung. Jenseits der Bäume, die sie begrenzte, war im Hellen der unterhalb des Hügels liegende Taleinschnitt zwischen dem Kviteseidsee und dem Bandaksee zu sehen. Im Augenblick herrschte dort nichts weiter als Finsternis und Regen, aber Arne kümmerte das nicht. Vorsichtig tastete er sich, beide Hände flach gegen die nasse Felswand gepresst, Schritt für Schritt vorwärts, bis er den Vorsprung erreichte. Schnaufend ließ er sich im Schneidersitz auf dem Stein nieder. Er hatte sein Ziel erreicht. Er spürte den harten Fels an seinem Hintern und in seinem Rücken, die schier zeitlosen Drachenzähne der Erde, die hier, in der Provinz Telemark, überall aus dem Boden herausragten. Dieser Ort war das Herz des Hügels.

Während der Gewitterregen weiter auf ihn herabprasselte, diesmal noch ungestümer als auf dem Waldpfad unter dem Schutz der Bäume, zog er seinen iPod aus der Hosentasche und steckte sich die Hörer in die Ohren. Er schloss die Augen und folgte dem tiefen rhythmischen Dröhnen in seinen Ohren in die Dunkelheit.

Innerhalb weniger Minuten existierte in seinem Verstand nur noch der beständige Schlag auf eine Rahmentrommel. Das dumpfe Geräusch verschmolz mit seinem Herzschlag zu einer scharlachroten Ader aus Leben, einem Puls, der ihn mit allen verband, deren Pfade er jemals gekreuzt hatte. Das pulsierende Rot floss in den Fels unter ihm hinab, es sickerte mit dem Regen, der ihm über das Gesicht rann, in die moosüberwachsene Erde. Er war ein Fremder an diesem Ort, jemand, der weit weg von hier in Deutschland geboren war. Noch vor einem Jahr hatte er nichts von diesem Wald gewusst, davon, wie seine Bäume rochen und wie sich das Licht auf dieser Lichtung mit dem Lauf der Sonne über den Himmel allmählich veränderte. Doch nun war er hier und atmete tief die lebendige Kraft dieses Ortes mit jedem Herzschlag, mit jedem weiteren dumpfen Schlag auf das Trommelfell ein, weil er Menschen begegnet war, deren Schicksale sich mit dem seinen vernetzt hatten. Sie alle hatten ihren Teil zu dem Weg beigetragen, der ihn hierher geführt hatte.

Schemenhafte Gesichter von Toten pulsierten in der Dunkelheit.

Das seines Vaters Ingvar, wie er sich an ihn erinnerte, bevor dieser bei einem Segelunfall auf der Havel verunglückt war, als Arne gerade acht Jahre alt gewesen war.

Das von Melanie Bahr, die er nicht hatte retten können, als sie beide von einem seiner Patienten angegriffen worden waren. Als Folge ihres Todes hatte es ihn nach Norwegen verschlagen, das ihm bis dahin weitgehend unbekannte Land seines verstorbenen Vaters.

Das Gesicht der alten Akka, deren Tod und die darauf folgende Gedächtnisfeier zur Zeit der längsten Dunkelheit eine weitere Kette von fatalen Ereignissen ausgelöst hatte.

Ein so großer Teil der Gegenwart hatte in Leid und Tod begonnen. Menschen, die ihm etwas bedeutet hatten, waren gestorben, manche gewaltsam, und er hatte es nicht verhindern können. Er hatte überlebt. Aber das war kein Grund, sich schuldig zu fühlen. Wenn es irgendetwas gab, das ihm der Ort, an dem er sich gerade befand, beibringen konnte, dann das. Aus Tod und Zerstörung entstand auch immer Neues.

Mit einem Mal vernahm er über das Donnergrollen des Gewitters und den steten dumpfen Trommelschlag in seinen Ohren hinweg Akkas Stimme. Er erkannte sie sofort wieder, tief und knarzend wie eine alte Tür mit schlecht geölten Angeln.

Du bist einen weiten Weg bis hierher gegangen, halber Nordmann, hörte er sie sagen. »Halber Nordmann«, das war Frodes und Magnus’ Spitzname für ihn gewesen. Doch es wunderte ihn kaum. Immerhin war es sein eigener Verstand, der mit ihm redete, kein Geist.

Immer noch damit beschäftigt, dich zu fragen, was von innen und was von außen ist?, fuhr Akka belustigt fort, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Bin ich wirklich oder ein Konstrukt deines Gehirns? Würde Akka ein Wort wie Konstrukt überhaupt verwenden? Und eine viel wichtigere Frage: Warum bedeutet es dir mehr, die Antwort darauf herauszufinden, als über das nachzudenken, was die Stimme dir sagen will? Sie hatte natürlich recht, wie so oft. Wieder einmal versuchte sein innerer Zensor, ihn beschäftigt zu halten. Dabei spielte es keine Rolle, woher Akkas Stimme in seinem Kopf stammte. Was zählte, war die Botschaft. Er war einen weiten Weg von Berlin bis hierher gegangen. Er hatte seinen alten Beruf aufgegeben und ihn im freien Fall wiedergefunden.

Aber es waren nicht nur wir Toten, die deinen Weg begleitet haben, vernahm er Akkas Stimme. Was ist mit den Lebenden? Du hast neue Freunde in diesem Land gefunden, aber hast du sie wirklich an dich herangelassen? Sieht ganz so aus, als ob wir, die wir nur noch in deinen Erinnerungen existieren, dir näher sind als diejenigen, denen noch warmes Blut durch die Adern fließt.

Die dumpfen, rhythmischen Trommelschläge unterstrichen jedes ihrer Worte. Die Lebenden. Wieso fiel es ihm so schwer, sie an sich heranzulassen? Er hatte nie viele Freunde besessen, immer nur wenige, die ihm aber umso mehr ans Herz gewachsen waren, schon bevor er wegen seiner Panikattacken Deutschland den Rücken gekehrt hatte. Aber obwohl er seine Ängste inzwischen besser im Griff besaß, hatte sich nichts daran geändert, dass er sich in der Gegenwart anderer Menschen oft unsicher und verletzbar fühlte. Am besten kam er mit ihnen klar, wenn er eine professionelle Distanz einhielt, wenn es sich um Patienten in seiner Arbeit handelte. Dann besaß er die Kontrolle über seine Emotionen. Aber Freunde … oder Menschen, die mehr als nur Freunde waren …

Ein Gesicht, das nicht das einer toten Person war, schälte sich aus der Dunkelheit vor seinen geschlossenen Lidern heraus. Er erkannte die schulterlangen nussbraunen Haare, das runde Gesicht und die hellgrünen Augen sofort. Es war Kari Bergland, die Kommissarin aus Bergen. Sie hatten gemeinsam mehrere Mordfälle untersucht, bei denen sie auf seine Kenntnisse in forensischer Psychologie zurückgegriffen hatte.