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Eine Frau erwacht auf einem Kreuzfahrtschiff auf hoher See – ohne jede Erinnerung, aber mit der Gewissheit, dass sich etwas Schreckliches ereignet hat, bei dem sie selbst eine zentrale Rolle spielt. Ein Kreuzfahrtschiff auf hoher See. Eine Frau in ihrer Kabine. Sie weiß weder ihren Namen, noch, wie und warum sie auf dem Luxusdampfer gelandet ist. Nur dass sie Kreuzfahrten hasst und Angst vor dem Wasser hat, ist sicher. Widerwillig, aber mit ungebremsten Ermittlerdrang lässt sie sich ein auf das Abenteuer Kreuzfahrt in der Hoffnung, ihre Identität auf hoher See wiederzufinden. Nur bruchstückhaft kehren die Erinnerungen zurück: Sarah Peters ist ihr Name. Sie ist Kriminalkommissarin. Sie wurde undercover eingeschleust, um einer brutalen Schlepperbande auf die Spur zu kommen. Und Sarah weiß bald auch: sie kann auf diesem Schiff niemandem trauen. Und sie hat rasend wenig Zeit, um ein großes Verbrechen zu verhindern.
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Seitenzahl: 312
Christina Pertl
Ein Krimi für Sarah Peters
Für Christoph
Wasser.
Nichts als Wasser, so weit das Auge reicht.
Glitzernd, bis an den Horizont.
Wahrscheinlich bis ans Ende der Welt.
Scheiße.
Sie weiß, was jetzt kommt.
Und dass es unausweichlich ist.
Der Körper hat bereits das Kommando übernommen, der Verstand ist Passagier. Sie kann gerade noch auf die Knie sinken, bevor ihr die Luft wegbleibt und sie der brennende Schmerz in der Brust außer Gefecht setzt. Schon wieder. Das dritte Mal auf dieser verdammten Reise.
Obwohl sie bereits schnappatmet, kommt kaum Sauerstoff in den Lungen an. Die Panik beginnt schon, den Vorhang vor ihren Augen zuzuziehen. Ausgerechnet jetzt, als sie endlich einen Schritt weitergekommen ist. Als endlich ein wenig Licht in das Dunkel gedrungen ist, dorthin, wo einmal ihre Erinnerung war.
Sie kämpft, den flackernden Blick stier auf den schäumenden meterbreiten Streifen gerichtet, den das Schiff hinter sich in den Ozean wirbelt. Die Hände krampfhaft an die kühlen Stahlseile des Geländers geklammert. So fest, dass sich ihre Nägel schmerzhaft in die Handflächen bohren.
Nicht so schlimm.
Nur noch wenige Momente, dann wird sie ohnehin ohnmächtig sein.
Wie unangemessen, hier auf dem VIP-Deck 15. Wo sie doch eigentlich für die gute Laune der Passagiere zuständig sein sollte. All inclusive, auch das Dauerlächeln für eine unvergessliche Reise voller guter Laune. »Nicht bewusstlos herumliegen! Ausruhen kannst du dich später!« Das wäre mal ein gelungener Spruch für die Team-Shirts der Entertainment-Crew. Statt »Fun, Fun, Fun – what else?!« oder »Live, Love, Laugh«. Beide Slogans wahre Meisterleistungen aus der Marketingabteilung der Reederei.
Zur Abwechslung ein Funken Wahrheit in dieser polierten Scheinwelt auf hoher See, dem unendlichen Spaßkosmos für die ganze Familie. Nur ein klein wenig Realität, das wär’s!
Diese sehnsüchtige Überlegung reißt sie für eine Millisekunde aus dem körpereigenen Shutdown. Gerade lange genug, dass im Hirn das Notstromaggregat angelaufen ist.
Tief einatmen.
Kurz die Luft anhalten. 21, 22, 23.
Langsam ausatmen.
Noch einmal.
Und noch einmal.
So lange, bis sie in Gedanken halb durch Bohemian Rhapsody von Queen ist.
I don’t wanna die.
I sometimes wish I’d never been born at all …
So lange dauert es, bis der Schmerz in der Brust endlich ein wenig nachlässt und sich ihr Herzschlag beruhigt. Es ist ein neuer Negativrekord. Und von denen gab es in den vergangenen vier Tagen wahrlich schon genug.
Gierig zieht sie die kalte Meeresluft durch die Nase. Immer und immer wieder.
Any way the wind blows.
Tag 2: Der Albtraum beginntLa SpeziaSonnenschein, 33 °C
Das böse Erwachen fand exakt um 11:52 Uhr statt, als ihr Handy mit einem lauten Knall auf den Badezimmerboden gedonnert war und das Display zersprang. Kurz nachdem sie versucht hatte sich selbst zu beweisen, dass das alles nicht wahr sein konnte. Ein Albtraum, allenfalls ein schlechter Scherz. Doch dann fand sie einen Personalausweis, und damit war es amtlich: Sie hatte keine Ahnung, was zum Teufel hier eigentlich los war.
»Stephanie Mayrhofer, 10.12.1982, Wohnort: München«. Keine dieser Informationen ergab Sinn. Auch wenn die Dunkelhaarige auf dem Foto eindeutig aussah wie die Frau, die ihr aus dem Badezimmerspiegel entgegenglotzte.
Okay, der Ausweiszwilling hatte die deutlich bessere Frisur – weniger Vogelnest, das an einer Seite klebrig und verfilzt abstand, mehr bemüht gebürstetes Fotostyling. Dazu Augen-Make-up, das sich nicht pandaartig über das halbe Gesicht verteilte. Generell sah die Frau auf dem Foto nicht aus, als hätte sie die Nacht mit ausdauerndem Feiern und danach ebenso ausgiebigem Kotzen verbracht. Aber es gab keinen Zweifel: Die Frau Mayrhofer musste sie sein.
Zwanzig Minuten hatte die derangierte Partykönigin Stephanie zwischen dem Foto und dem Spiegelbild hin- und hergesehen. Und wieder hin. Als könnte die hundertste Wiederholung plötzlich ein anderes Ergebnis bringen, als dass ihr noch übler wurde als ohnehin schon. Dann war ihr das Telefon aus der schwitzigen Hand gerutscht, als sie den Bildschirm wieder entsperren wollte. Eine Weile hatte sie dem Gerät noch belämmert hinterhergestarrt.
Egal. Alles egal.
Denn die Wahrheit war: Sie konnte sich an nichts erinnern.
Nicht daran, wo sie war.
Nicht daran, welche Umstände dazu geführt hatten, dass sie aussah wie Amy Winehouse an einem ihrer schlechteren Tage. Und – das machte ihr wirklich Sorgen – nicht einmal an ihren eigenen Namen.
Stephanie Mayrhofer?
Der Name fühlte sich fremd an. Kalt und kein bisschen vertraut. Kein Teil von ihr. Außerdem musste man den doch bestimmt ständig buchstabieren. »Stephanie mit ph und Mayrhofer ohne e, dafür mit a und y bitte …«.
Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, wollte der Boden unter ihren Füßen einfach nicht aufhören zu wanken. Der Alkohol hatte ihren Körper noch immer fest im Griff. Es flimmerte ihr vor den Augen.
Sie musste sich setzen.
Als Frau M. erschöpft auf den kühlen Fliesenboden neben der Toilette sank, war sie sich trotz aller Erinnerungslücken sicher: Sie hatte schon mal bessere Tage gesehen.
Einige Stunden später sah die Welt nicht viel anders aus. Nach wie vor bestand diese aus den zwei mal drei Metern einer semisauberen weiß und grau gefliesten Nasszelle. Ein Sammelsurium aus Kleidungsstücken und kleinen Klopapierfetzen bedeckte den Boden. Das Abtrennen des Papiers war in den vergangenen Stunden offensichtlich eine Herausforderung gewesen. Dazwischen lag ein kleiner bunter Radiergummi in Form eines Regenbogens. Sie blickte verständnislos auf das bunte Gummiteilchen. Aber hier ergab ja sowieso überhaupt nichts Sinn.
Nach drei Stunden in komatösem Tiefschlaf, eng an den Fuß der Kloschüssel geschmiegt, fühlte sich Stephanie Mayrhofer bereit für einen Ortswechsel. Den Blick in den Spiegel vermied sie bewusst, als sie sich mühselig am Waschbecken hochstemmte und das Badezimmer verließ.
Was zur Hölle …
Stockbetten? War sie nicht ein bisschen zu alt für ein Ferienlager? Hoffentlich hatte sie wenigstens das untere Bett. Süß, wie die Vorhänge in jeder Etage für Privatsphäre sorgen sollten. Hinter der rot-grün-braun gestreiften Clownswand fühlte man sich bestimmt wie in einer eigenen kleinen Suite. Ein Traum!
Sie setzte sich wieder in Bewegung.
Da wummerte plötzlich ohrenbetäubender Lärm durch den kleinen Raum.
Stephanie seufzte schwer und manövrierte ihren unwilligen Körper Richtung Tür. Sie war noch beeinträchtigt genug, um keine Angst zu empfinden. Stattdessen ärgerte sie sich über den Radau. Diesem Blödmann würde sie jetzt mal was erzählen …
»Sag mal, geht’s noch?«, schnauzte sie durch die Tür hinaus, während sie diese schwungvoll aufriss. Ihre Stimme hatte den Marschbefehl jedoch nicht erhalten, deshalb klang das, was ihrem Mund entwich, wie das Keuchen eines hundertjährigen Kettenrauchers. Da wurde ihr gleich wieder ein bisschen schwindelig.
Die Überraschung war auf beiden Seiten der Tür gelungen. Im funktionalen Neonlicht des Flurs stand eine kleine Frau im Zimmermädchen-Outfit: mintgrün, inklusive kleinem, leicht schräg drapiertem Fascinator auf dem Kopf – was man halt so trägt beim Putzen.
»Mayumi – Housekeeping« stand auf dem kleinen Namensschild an ihrer rechten Brusttasche. Vor Schreck waren der zierlichen Asiatin die Shampoo-Fläschchen aus der Hand gepurzelt. Der Anblick des verwelkten Partylooks, der sich ihr auf der Türschwelle präsentierte, hatte ihr die Sprache verschlagen. Sie stand mit offenem Mund da.
Ein Blick nach rechts, einer nach links, es war tatsächlich kein Riesenmensch zu entdecken, der versucht haben könnte auf die Tür einzudreschen. Und das hier war offensichtlich nicht das Caesars Palace: Beiges Holzimitat traf auf abwaschbare Wände und cremeweißes Linoleum, unzählige Türen rechts und links. Popmusik dudelte aus beiden Richtungen – bestimmt Miley, Taylor, Justin oder Harry. Nervte auf jeden Fall.
Stephanie folgte dem gebannten Blick des Zimmermädchens, der ihren Körper hoch- und wieder herunterwanderte. Der goldene Pailettenrock war bestenfalls ein breiter Gürtel, bedeckte aber immerhin den Großteil ihrer linken Arschbacke. Die Netzstrumpfhose hing ihr in Fetzen von den Knien, und das Iron-Maiden-Shirt trug sie wie eine Schärpe quer über der Brust. Man ahnte die dramatischen Szenen, die sich abgespielt haben mussten, nachdem sie sich zwar aus dem rechten Ärmel hatte befreien können, plötzlich aber in einer ausweglosen Situation gefangen gewesen sein musste. Auf halber Strecke hatte sie den Kampf gegen die Kunstfaser wohl aufgegeben.
»Party halt …«, murmelte Stephanie und wollte gerade rückwärts im Zimmer verschwinden, als etwas ihren Blick fing und sie erstarren ließ.
Ein orangefarbener Rettungsring hing am Ende des unendlich langen Flurs. Darunter war ein riesiger Übersichtsplan eines Schiffes angebracht.
»Nein, bitte nicht.«
Mayumi hielt ihr aufmunternd eines der Shampoo-Fläschchen hin. Nach einer schönen Dusche sah das Leben gleich ganz anders aus. Wusste doch jeder.
»Nein! Bitte! Alles, nur kein Schiff!«, entfuhr es Stephanie plötzlich so lautstark, dass die zarte Mayumi zusammenzuckte und das freundliche Angebot zurückzog. Stephanie machte auf dem Absatz kehrt, die Tür fiel laut ins Schloss.
Leise dudelte auf dem Flur der fröhliche Musikmix weiter.
Er musste eingenickt sein. Vielleicht eine Stunde, vielleicht hatte er aber auch einen ganzen Tag lang geschlafen. Er kann es nicht sagen, sein Zeitgefühl ist ihm längst abhandengekommen. Doch der Albtraum, in dem er sich befindet, dauert an.
Es ist stockdunkel. So dunkel, dass selbst nachdem sich seine Augen an die Situation gewöhnt haben, kaum Schemen auszumachen sind. Metallstäbe klappern, und das laute, monotone Motorenbrummen beginnt langsam, ihn in den Wahnsinn zu treiben.
Wie früher das Schnarchen seiner Mutter im Nebenzimmer, das ihn jahrelang jede Nacht geweckt hatte und oft stundenlang nicht mehr einschlafen ließ.
Viel quälender als einst die gekrümmte Nasenscheidewand seiner Mutter ist aber die Kälte, die sich mittlerweile ihren Weg tief in seine Knochen gebahnt hat und ihn unkontrollierbar zittern lässt. Er hat es aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Finger und Zehen kribbeln und schmerzen, die fehlende Bewegung trägt ihren Teil dazu bei.
Der Käfig, in den sie ihn gesperrt haben, ist weder lang noch hoch genug für einen erwachsenen Mann. Schon gar nicht für einen von seiner Statur. Eineinhalb mal ein Meter würde er schätzen. Mehr als eine gebückte Hocke lässt die Höhe nicht zu. Nachdem ihm mittlerweile alle Gliedmaßen gleichermaßen schmerzen und jede Position ohnehin nach fünf Minuten unerträglich wird, verbringt er die meiste Zeit in einer ergebenen Fötushaltung. Mit den Armen umklammert er fest die Knie und versucht durch abwechselnde An- und Entspannung zumindest ein wenig Blut in die Muskeln zu pumpen. Jedes Mal, wenn dabei seine Oberschenkel gegen den Bauchansatz drücken, muss er an die teuflischen Plunderteilchen denken, denen er diesen zu verdanken hat.
Was würde er jetzt für einen Bissen geben! Quarkfüllung, Marmelade, Schokolade, mit oder ohne Zuckerguss … er wäre nicht wählerisch. Sein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen, im Mund sammelt sich Speichel.
Wie lange es wohl her ist, seitdem er zum letzten Mal etwas gegessen hat? Es müssen diese salzigen Erdnüsse an der Bar gewesen sein. Er hat mal gelesen, dass ein Mensch bis zu 80 Tage ohne Nahrung überleben kann. Das erscheint ihm verrückt. Aber so lange ist es bei ihm wohl noch nicht her.
Was ihn allerdings noch mehr quält als der Hunger, ist der Gedanke an die weitaus wichtigere Info aus dem schlauen Artikel über Fasten und Diäten: Ohne Wasser könne man nur drei Tage überleben. Er hat die Befürchtung, dass er gerade dabei ist, diesen Fakt im Selbsttest zu überprüfen. Der Gedanke daran lässt ihn mehrmals reflexartig schlucken – weg ist der Speichel, der sich eben noch dort gesammelt hat, und er spürt, wie sein Mund austrocknet. Er versucht sich darauf zu konzentrieren, dass es noch keine drei Tage sind, seitdem sie ihn eingesperrt haben. So weit ist er sich sicher. Aber je mehr Zeit vergeht, desto schwerer fällt es ihm, der blanken Panik keinen Raum zu geben.
Er ist nicht naiv.
Wie oft hatte Sarah ihm gesagt, er sei ein hoffnungsloser Pessimist. Sein Glas sei nicht halb leer, er habe nicht einmal eines, hatte sie ihn geneckt. Wie gerne würde er noch einmal mit ihr darüber diskutieren. Am liebsten mit einem kühlen Bier in der Hand und der passenden Musik. Er vermisst sie und wieder einmal ärgert er sich über die vielen verschwendeten Momente, in denen sie so getan hatten, als könnten sie einander nicht leiden. Dabei war von Anfang an das Gegenteil der Fall gewesen. Zumindest von seiner Seite aus.
Er schüttelt den Kopf über die eigene Dummheit und die Gedanken, die so fehl am Platz sind.
Er weiß, dass die Wahrscheinlichkeit, in diesem Käfig zu sterben, hoch ist. Sehr hoch sogar.
Wenn es nur um ihn allein ginge, hätte er vielleicht schon aufgegeben.
Aber er ist nicht allein.
Da sind noch die Kinder.
Nein.
Nein.
Und nochmals: Nein!
Erinnerungsverlust hin, Katerstimmung her, aber in einer Sache war sie sich sicher. Zu einhundert Prozent.
SIE HASSTE KREUZFAHRTEN.
Angewidert starrte sie auf den Prospekt, den sie auf dem kleinen Schreibtisch in der Kabine entdeckt hatte. »Willkommen auf Ihrer Traumreise 2023« lautete der Titel der Broschüre, die über das Schiff informierte: 16 Decks, 5000 Passagiere, 3000 Quadratmeter Wellness-Bereich, 15 Restaurants, Fitness, Casino, Kids Club, Kreativwerkstatt, Tattoo-Studio – sogar einen verdammten Streichelzoo gab es an Bord der Freedom of Spirit, auf der sie sich offensichtlich befand. Davon hatten die Meerschweine bestimmt ihr Leben lang geträumt – endlich einmal dem eigenen Namen gerecht werden. Sie warf die Broschüre wütend in den Müll. Die Abneigung gegen diesen Ort schien tief verwurzelt. Wenn sie bloß wüsste, warum.
Das Karussell aus Wut und Panik begann sich schneller zu drehen. Für einen kurzen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Ein lautes Rauschen in den Ohren. Grüß Gott, der Kreislauf! Lieber hinsetzen.
Das Bild eines leblosen Mädchenkörpers im Wasser tauchte auf, ein diffuser Erinnerungsfetzen, der ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Sie hatte sie gekannt. Gut gekannt. Mehr wusste sie nicht.
Hilflosigkeit und blanke Angst.
Sie schnappte nach Luft, fühlte noch einmal in sich hinein. Kam da noch etwas? Eine weitere Erinnerung? Irgendwas? Fehlanzeige. Sie sah sich um, suchte vergeblich nach einem Fenster. Dort an der Wand, wo man eines vermuten würde, hing zumindest ein Poster von einem Fenster mit Sonnenuntergang. Sehr witzig. Stephanie setzte sich auf das untere Bett und sackte in sich zusammen. Dabei hatte sie es gerade sogar geschafft zu duschen, ohne sich dabei zu übergeben. Nach der Begegnung mit Mayumi und der Erkenntnis, dass der Boden unter ihren Füßen nicht ohne Grund schwankte, musste sie die Kontrolle über sich selbst wiedererlangen. Oder es zumindest versuchen. Nun war sie zwar optisch ein neuer Mensch, die Fragen in ihrem Kopf blieben aber die alten.
Wer war sie?
Was machte sie hier?
Und – verdammt noch mal – wie war sie hier gelandet?
Sie fühlte sich wie in diesem Weltraumfilm gefangen, in dem Sandra Bullock allein und hoffnungslos durch das Universum kreiste. Komisch, dass sie sich gerade daran erinnerte.
Sandra Bullock: Ja, klar! Schauspielerin, Ende fünfzig, deutsche Wurzeln, Kumpeltyp.
Eigenes Spiegelbild: Frau mit Kater und widerspenstigem Haar. Weitere Infos: Fehlanzeige.
Ein leises Klopfen riss sie aus den trüben Gedanken.
Sie blickte fragend Richtung Tür, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass dieses rechteckige Loch in der Wand tatsächlich irgendwo hinführte.
Noch einmal klopfte es.
Stephanie räusperte sich.
»Ja?« Ihre Stimme krächzte, machte aber schon besser mit als vorhin. »Wer ist da?«
»Ich bin’s. Komm, lass mich endlich rein. Hab die Karte vergessen.«
Langsam ging sie Richtung Tür. Die weibliche Stimme klang nicht bedrohlich. Ungeduldig ja, aber weniger nach Axtmörderin, als nach einer nervigen Schwester.
Ungeduldiges Pochen.
»Beeil dich! Sonst sieht mich noch jemand!«
Ihr Herz schlug schneller. Wer auch immer da vor ihrer Zimmertür stand, die Person schien sie zu kennen. Vielleicht konnte die Frau ihr sagen, was das hier alles sollte und wer genau sie eigentlich war.
Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter und konnte sich gerade noch rechtzeitig vor der Tür retten, die ruckartig aufgestoßen wurde.
»Na, endlich!«
Eine Blondine, Mitte zwanzig, drängte sich herein, und ihre Erscheinung warf neue Fragen auf.
Sie trug ein weiß-blaues Dirndl, geflochtene Zöpfe und gestrickte Strümpfe zu knallroten Lackpumps. Das Auffälligste war aber nicht das zünftige Outfit auf hoher See, sondern die Prosciutto-Haxe, die sie wie eine Trophäe mit beiden Händen über ihrem Kopf in die Luft stemmte.
»Da ist das Ding! Damit hast du nicht gerechnet, was?«
»Nein. Wirklich nicht.«
Eine Erinnerung formte sich in Stephanie Mayrhofers Bewusstsein: ein großes Bierzelt. Bunte Bänder, die von der Decke hängen. Gedränge und laute Musik. Klirrende Bierkrüge. Hüte, Lederhosen und wehende Dirndlschürzen. Zu viele große Menschen, die ihr Angst machten. Und dann endlich zwei starke Arme, die sie hochhoben.
Stephanie Mayrhofer versuchte ihren Gedanken weiter nachzuspüren, aber da kam nichts mehr.
Nun konnte sie nicht aufhören, auf den Schinken zu starren. Was zum Teufel war das hier für ein Theater? Und warum fing ihr Magen zu knurren an? Und wie sollten sie das Ding anschneiden ohne den passenden Säbel? Oder hatte sie den auch dabei? Sie lehnte sich zur Seite, um zu sehen, ob sich hinter dem Rücken der euphorischen Dame ein Messer befand, das am Dirndl baumelte. Es war keines zu sehen.
»Hättest du nicht gedacht, dass ich das wirklich mache, oder? Aber ich hab’s dir ja gesagt: Vor mir ist nichts sicher!«
Stephanie grub die Hände tief in die Taschen ihres Bademantels und zog die Schultern hoch. Sie war vollkommen ratlos und wusste nicht, welche Frage sie zuerst beantworten beziehungsweise stellen sollte. Immerhin hatte sie für einen Moment vergessen, dass sie sich auf einem Schiff befand.
»Was ist denn mit dir los?«
Der Blick der Schinken-Prinzessin wirkte verärgert. Es war offensichtlich, dass sie sich eine andere Reaktion erwartet hatte. Sie legte die Stirn in Falten und musterte ihr Gegenüber.
»Geht’s dir nicht gut? Siehst scheiße aus.«
»Danke.«
»War ein bisschen viel gestern. Aber es hat ja keiner gesagt, dass du den ganzen Schnaps allein trinken musst, du alte Rockerbraut!« Sie lachte lauthals über ihren Scherz. Als sie bemerkte, dass sie allein lachte, runzelte sie wieder die Stirn. »Spaßbremse. Betrunken hast du mir besser gefallen. Wenn ich das gewusst hätte …«
Sie sah sich suchend im beengten Zimmer nach einem Platz um, wo sie ihr Diebesgut ablegen konnte. Ohne Erfolg.
»Mensch, das war doch alles deine Idee: ›Lass uns etwas aus der Küche mopsen, etwas ganz Großes!‹« Sie äffte eine betrunkene Frauenstimme nach, während sie mit der Haxe in der Kabine herumwanderte.
Resigniert legte sie das große fettige Schweinebein auf das schmale Lack-Sideboard unter dem kleinen Flachbildschirm. Unzufrieden sah sie auf ihre Hände, die sie schließlich seufzend an ihrem Rock abwischte, bevor sie wieder kehrtmachte. Auf dem Weg Richtung Tür drehte sie sich noch mal um.
»Solltest dich beeilen! Tisch sieben wartet auf dich. Und vergiss nicht dein Düüürndl. Hollereidüliööööö!« Mit einem kleinen Knicks war sie aus der Kabine verschwunden. Ein lautes »Yeah« ertönte auf dem Flur, gefolgt von Gelächter. Die Dame war offenbar beliebt bei ihren Nachbarn.
»Aber …« Stephanie machte einen schnellen Schritt nach vorne. Nicht schnell genug. Die Tür fiel vor ihrer Nase ins Schloss. »… der Prosciutto …«
Der Geruch des Rohschinkens verursachte eine Kombination aus Hunger und Brechreiz. Lieber einen anderen Platz für die Delikatesse suchen.
Sie öffnete die Tür des Kleiderschranks, da müsste das Ding doch reinpassen. Sieh an! Da hing tatsächlich ein Dirndl. Das gleiche Modell, das ihre fröhliche Freundin getragen hatte. Partnerlook, wirklich? Sie wollte gerade nach dem karierten Rock greifen, als eine schwarze Lederjacke ihren Blick festhielt. Die würde ihr schon eher gefallen. Aus der rechten Tasche baumelte ein Schlüsselband mit einem Ausweis daran. Das Foto darauf war das Gleiche wie auf ihrem Personalausweis.
Darunter stand:
Stephanie Mayrhofer.
Team Animation.
Your Fun is my Job!
Ihr wurde wieder übel.
Nein!
Ganz bestimmt nicht!
Auf keinen Fall!
Irgendetwas musste in ihrem bisherigen Leben grob schiefgelaufen sein, sonst wäre sie nicht in dieser Situation. Offensichtlich wartete außerdem ein ganzer Tisch auf ihr Erscheinen, ein sehr unbehagliches Gefühl.
Zwanzig Minuten später stand ihr der Schock immer noch ins Gesicht geschrieben, als sie vor dem Spiegel mit der Schleife der Dirndlschürze kämpfte. Sie meinte sich zu erinnern, dass diese auf der rechten Seite getragen werden sollte, wenn man nicht angesprochen werden wollte. Und angesprochen werden wollte sie um keinen Preis.
Linke Seite gesprächsbereit, rechts vergiss es – sie war sich sicher. Warum kam ihr dieses ganze Trachten-Outfit bloß so vertraut vor?
Aber eigentlich sah sie gar nicht schlecht aus, musste sie nach einem prüfenden Blick in den Spiegel zugeben. Die überschminkten Augenringe und das Rouge auf den blassen Wangen erweckten glatt den Eindruck, als hätte sie sich im Griff. Ha!
Ob sie sich oft so kleidete? Auf ihrem Ausweis stand, dass sie in München wohnte, der Hauptstadt der Dirndl und Lederhosen. Trotzdem fühlte sie sich kostümiert. Viel lieber wäre sie in die ausgewaschenen Jeans und den schwarzen Kapuzenpullover geschlüpft, die sie im Kleiderschrank entdeckt hatte. Das größte Kopfzerbrechen bereiteten ihr aber die roten High Heels, die neben den ausgelatschten Turnschuhen standen.
Sorry, Leute, aber das geht zu weit.
Hier war sie dann doch erreicht, die unverrückbare Grenze ihrer Kompromissbereitschaft. Partnerlook hin, Gedächtnislücke her. Mit diesem gemeingefährlichen Schuhwerk würde sie keinen Schritt laufen können.
Schon gar nicht heute.
Bevor sie das Chaos in der winzigen Doppelkabine verließ, schnappte sie sich ihren Mitarbeiterausweis. »Your Fun is my Job! Yeah!«, äffte sie leise in den Spiegel. Wieder Unbehagen, als sie den Satz das zweite Mal las, und auch die Frage von vorhin drängte sich erneut auf: Was war da schiefgelaufen, dass sie auf einem Kreuzfahrtschiff den Hampelmann für andere Menschen gab?
Sie machte sich auf den Weg, um es herauszufinden.
Was hat ihn eigentlich verraten?
Diese Frage kreist in seinem Kopf. Unaufhörlich.
»Du hättest keine Fragen stellen sollen«, hatte Il Bello zu ihm gesagt, bevor er ihm mit dem Griff seiner Pistole eins überzog. Der schlanke Typ machte seinem Spitznamen alle Ehre. Er hatte die Aura eines Menschen, der haargenau weiß, dass er gut aussieht: Selbstbewusstsein gepaart mit Arroganz. Sein breites Grinsen gab den Blick auf zwei perfekte, perlweiße Zahnreihen frei. Was für ein zurechtgemachtes Arschloch, hatte er noch gedacht, bevor er das Bewusstsein verlor. Den grellen Schmerz in der Schläfe spürt er immer noch, wenn er daran denkt. Eine Kruste hat sich am Haaransatz über seinem linken Ohr gebildet. Der metallische Geschmack im Mund ist ihm geblieben. Wahrscheinlich hat er sich in die Zunge gebissen, als er auf den Boden geknallt ist.
Dabei hat er sich wirklich bemüht, glaubhaft in diese Scheißrolle zu schlüpfen: Bernd Krammer, Servicekraft an Bord. Er hätte lieber hinter den Kulissen als Spüler oder im Lager gearbeitet, aber da wäre er zu sehr aufgefallen. Dort arbeiten keine weißen Europäer, wurde er belehrt. Also Service. Er stellte sich gar nicht so blöd an, hatte schließlich während seiner Ausbildung lange genug kellnern müssen, um über die Runden zu kommen. Wie er es hasste, heute wie damals. Aber die Tarnung war perfekt gewesen. Sogar bei der Polonaise hat er mitgemacht. Mit einem gequälten Lächeln im Gesicht!
»Endlich mal wieder ein Knackarsch«, hatte die bunt geschminkte Helga gerufen und ihm gleich an selbigen gelangt. Er war zwar kein Polonaisen-Experte, aber dort gehörten die Hände sicher nicht hin.
Ines, am Kopf der Tanzschlange, hatte die Augen verdreht. Sie war nett. Zuvor hatte sie ihm stark angetrunken ihre Geschichte erzählt. Dass sie ursprünglich mal Erzieherin gewesen war, den Job aber nicht mehr ausgehalten hatte. Das hier war auch nicht viel besser, eigentlich auch Kindergarten, aber wenigstens die Bezahlung stimmte. Außerdem fehlte ihr ohnehin der Mut zur Veränderung. Woanders war es ja vielleicht genauso mies. So weit war sie ihm sympathisch – ein Glas-halb-leer-Typ wie er.
»Hallo?«
Ein Flüstern ganz dicht neben seinem Kopf. Vor Schreck reißt er den Oberkörper hoch und schlägt genau mit der Platzwunde oben am Eisenkäfig an. Es blitzt vor seinen Augen. Ein lauter Schmerzensschrei, begleitet vom Scheppern des Gestänges. Dann ist es wieder still – abgesehen vom gleichmäßigen, unendlichen Brummen der Motoren.
»Wer bist du?«
Eine Kinderstimme flüstert. Gebrochenes Deutsch.
Er rutscht mit dem Rücken ans Gitter und setzt sich so weit auf, wie der Käfig es erlaubt. Plötzlich sind alle Sinne hellwach.
»Michael. Ich bin Michael.«
»Hilfe.«
Plötzlich spürt er eine Berührung an seiner rechten Hand. Er zuckt zusammen und zieht die Hand weg. Nur für einen Moment. Dann tastet er mit den Fingern in der Dunkelheit die Wand seines Gefängnisses ab und findet sie: eine kleine kalte Kinderhand, die seine fest umklammert.
»Nicht lassen allein. Bitte!«
Eine Träne läuft ihm über das heiße, zugeschwollene Gesicht. Dann leises Schluchzen.
Auf beiden Seiten des Käfigs.
Es wurde so schlimm, wie sie es erwartet hatte.
Ein Verkleidungsdrama vor weiß-blauer Kulisse, von Umtata-Musik und überzogen zünftiger Heiterkeit begleitet – dazu Weißwürste, Brezen und wilde Versuche, den bayerischen Dialekt zu imitieren. Sie hatte dabei irgendeinen Hanswurst vor dem geistigen Auge gehabt, der seiner Wiebke-Jacqueline zuprostete: »Angezapft ist es, Schneggi! Lass’ ma dat Chicken probieren! Yeah!«
Die Realität hielt ihrer Phantasie stand. Aber das Chicken schmeckte.
Nachdem sie es aus dem sterilen Labyrinth des »Crew Only«-Bereichs herausgeschafft hatte – leicht zu erkennen am plötzlichen Auftauchen von anderen Farben als dem Beige und Braun der Crewkabinen sowie dem »Hier beginnt die Smiling-Zone – Bitte lächeln!«-Schild am Ausgang –, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Dieser Anblick überwältigte sie. Die orangene Brandschutztür, von außen edel mattschwarz lackiert und mit einer gemusterten Tapete überzogen, hatte sie in einem Einkaufszentrum ausgespuckt. Ein offener Platz mit einer Glaskuppel darüber bildete das Zentrum der kleinen Stadtpromenade, die von riesigen Bäumen gesäumt wurde. Der Boden war aufwendig mit Mosaiken gefliest, auf drei Stockwerken reihten sich Boutiquen, Restaurants und Shops aneinander. Alles sah hochwertig und blitzsauber aus, und ein feiner Sprühnebel aus Wasserdampf, der von der Decke schwebte, sorgte dafür, dass es unter dem Glasdach angenehm kühl blieb. Wie heiß es tatsächlich war, bekam man am Ende der Ladenzeilen mit: Hinter dem letzten Shop des Einkaufszentrums, dem Tattoo-Studio, begann die Schlange der Badehosenträger, die sich an der beeindruckenden Wasserrutsche anstellten. Im Minutentakt sah man vor dem wolkenlosen Sommerhimmel Menschen durch die Spiralen und Windungen der durchsichtigen Röhre flitzen, die rings um das halbe Schiff zu laufen schien. Schwindelgefühl, willkommen zurück!
»Schneeell, Justin! Amoi no bevor ma gehn miaßn!«, kreischte ein kleines Mädchen in einem rosaroten Minnie-Maus-Badeanzug.
Stephanie Mayrhofer hatte vor einem bunten Übersichtsplan Wurzeln geschlagen, den sie zu entschlüsseln versuchte. Verzweifelt hielt sie nach einem abgewetzten roten Sticker Ausschau, auf dem »You are here« stand. Den gab es aber nicht. Stattdessen sprach eine sanfte Frauenstimme mit ihr: »Wo wollen Sie hin? Where do you want to go? Où veux-tu aller?«
Ja, wenn sie das wüsste …
Schließlich beschloss sie, einfach jenen Menschen zu folgen, die in dem, was sie für bayerische Tracht hielten, an ihr vorbeiliefen – glitzernde Mieder, raschelnde Blümchenröcke in Neonfarben und aufgetürmte Flechtfrisuren. Sie versuchte ihre Abneigung gegen den Almauftrieb so gut es ging zu verbergen und zog eine Miene, die sie als ein freundliches Gesicht einstufte. Ihr rechtes Augenlid zuckte dabei unaufhörlich.
»Wo geht es denn hin, die Herren? Where are you going?«, fragte sie die beiden in den knallengen roten Plastiklederhosen vor sich. Beim dritten Anlauf glaubte sie so etwas wie Dinner Club, Deck 13 verstanden zu haben. Das lallende Gelächter machte es nicht einfacher, ihr betrunkenes Deutsch zu entschlüsseln.
Sie murmelte etwas wie »Thank you«, könnte aber auch »Danke für nichts« gewesen sein, und ließ die beiden vor den mannshohen Figuren stehen, die vor den Toren des Kids Club wachten. Es waren Freddy, Maddie und Teddy, die drei Maskottchen der Schiffsflotte. Freddy war ein frecher bunter Papagei, der es liebte, mit den Kindern kleine Späße zu treiben. Seine Superkraft war sein Humor, mit dem er in nur einem Flügelschlag allen ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Maddie, das wissbegierige Delfinmädchen, wusste alles über das Meer und seine Bewohner. Ihre Superkraft war ihre Intelligenz. Und Teddy – na ja –, der war ein kuscheliger Bär. Da war der teuer bezahlten Marketingagentur am Ende ein wenig die Luft ausgegangen. Den Kindern war es egal. Das lustige Trio tauchte überall auf dem Schiff auf, vom Kinderbüfett bis zur Freefall-Wasserrutsche, vom Teenie-Fernsehkanal bis zur täglichen Tanzeinlage der drei schwitzenden Maskottchen am Mega-Pool. Und selbstverständlich vor dem Eingang zum Kids Club, wo die fröhlichen drei an diesem Abend Verstärkung von den zwei betrunkenen Niederländern bekamen. Die waren gerade drauf und dran, sich beim Klettern auf Maddies Rücken ernsthafte Verletzungen zuzuziehen. Stephanie fehlte das Interesse dafür, wie diese Geschichte wohl ausgehen würde.
Stattdessen schloss sie sich einer Familie an, an der Dirndl und Lederhosen nicht wie eine Verkleidung wirkten. Im Stechschritt marschierten sie davon.
»Immer dauert alles ewig mit euch! Gehts weida, Zefix!«, motzte der Vater an der Spitze der bayerischen Karawane, in der tatsächlich niemand den Eindruck vermittelte, als hätte er auch nur einen Funken Fun, Fun, Fun – what else?
Nicht die Pubertierende mit dem Handy vor dem gelangweilten Gesicht. Nicht der Grundschüler, der offensichtlich einen Gehfehler hatte, weil er sich nicht fortbewegen konnte, ohne seine Sneakers geräuschvoll über den Teppichboden schlurfen zu lassen. Nicht das Kleinkind, das lauthals brüllte, während es versuchte sich aus dem Arm der erschöpft aussehenden Mutter mit der struppigen Kurzhaarfrisur zu winden. Und der Brummbär in der Strickjacke, dem bei jedem zweiten Schritt die Wadlwärmer verrutschten, natürlich auch nicht.
Stephanie Mayrhofer fühlte sich erstmals nicht komplett fehl am Platz, sondern eigentümlich sicher. Sie hielt Schritt.
Sie wanderten durch Flure, nahmen Aufzüge in andere Geschosse, die sich nur durch unterschiedliche Farbnuancen, Raumdüfte und die Musikauswahl auseinanderhalten ließen, bogen rechts und wieder links ab. Stephanie hatte zwar keine Uhr dabei, war aber fest davon überzeugt, dass ziemlich genau drei Jahre vergangen sein mussten, als sie zum ersten Mal das Gefühl beschlich, dass sie gleich wieder an ihrer Kabine vorbeigelaufen sein müssten.
Hätte ihr Reiseführer, auf dessen kleinem Filzhut eine neckische Feder den Takt angab, nur für einen Moment angehalten, hätte sie öffentlich an seiner Orientierung gezweifelt. Weil er aber gar so zielstrebig voranmarschierte, trabte sie brav hinterher.
Und tatsächlich …
Hinter der hundertsten Biegung, kurz vor der Reise über den Regenbogen kamen sie an: in Bayern.
Ein riesiger runder Bereich erstreckte sich hinter einem begrünten Eingangsbogen, geschmückt mit weiß-blauen Bändern, in die Brezen geknotet waren. Der Blick wanderte unweigerlich als Allererstes in Richtung des Nachthimmels, der sich über ihnen aufspannte. Der Dinner Club war ein Multifunktionsbereich, der sich im Heck des Schiffs befand. Er konnte wahlweise als Theaterraum bespielt oder für Gala-Abende genutzt werden, mal mit Überdachung, mal ohne – so wie heute. Wäre es nur nicht so hell gewesen, man hätte versuchen können, die funkelnden Sterne zu zählen, die wie auf einer unendlichen Fototapete rund um das Schiff am wolkenlosen Himmel standen.
Stephanie war beeindruckt und ließ den Blick durch den Club wandern, der heute zum Biergarten umfunktioniert worden war. In der Mitte des Outdoor-Restaurants hatte man eine Bühne aufgebaut, die sich langsam drehte, während die Blaskapelle versuchte den Takt zu halten, obwohl dem Tubisten gerade eine Möwe ins Instrument gekackt hatte. Ringsherum standen zünftige Festzeltgarnituren, liebevoll dekoriert mit Maßkrügen, bayerischen Wimpeln und kleinen Weißwurstschalen in denen noch kleinere Snack-Brezen lagen.
Die Illusion war perfekt. Abgesehen von der salzigen Meeresbrise, die ab und zu daran erinnerte, dass man sich nicht auf der Theresienwiese in München, sondern auf hoher See befand.
»Ja, das ist Kufstein …«, intonierte der Sänger auf der Bühne, der offensichtlich auch keinen guten Orientierungssinn hatte.
»Geht’s amoi weida a?«, fragte Stephanies Reiseführer laut. Er hatte das Warten satt, das Hütchen wackelte ungeduldig auf seinem Kopf. Das Gedränge im Eingangsbereich war kurz davor, in eine handfeste Schubserei auszuarten.
»Ja, ja! Komm, Angelika!«, sagte sein Vordermann. Die schlechte Laune hatte nun auch ihn erfasst. Wenn das so weiterging, wartete eine anstrengende Schicht auf das Entertainment-Team. Stephanie Mayrhofer blickte zögerlich in den Biergarten und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen.
»Schön, dass du uns auch noch beehrst.«
Sie wandte sich wie in Zeitlupe nach rechts. Noch bevor ihr Blick den jungen Mann in rot-weiß kariertem Hemd und dunkler Lederhose traf, spürte sie etwas: Abneigung. Und das war, bevor sie den überheblichen Gesichtsausdruck hinter der runden Harry-Potter-Brille und das spießige Klemmbrett vor der Brust gesehen hatte.
»Gern«, log sie und wandte sich langsam wieder in die andere Richtung, um zu gehen.
»Eine halbe Stunde zu spät. Und wenn ich dich noch einmal ohne Namensschild außerhalb des Crewbereiches sehe, wird das Konsequenzen haben.« Sie nickte und drehte ihm wieder den Rücken zu. Nichts wie weg.
»Wo willst du denn hin? Tisch sieben ist da lang!« Er zeigte in die entgegengesetzte Richtung, in die auch ihre bayerische Familie marschiert war. Dann schüttelte er missbilligend den Kopf und machte sich eine Notiz auf seinem Spießerblock. Er schrieb in einer Art Code, wilde Abkürzungen, die wohl nur er entziffern konnte. Als er bemerkte, dass sie ihn interessiert beobachtete, ließ er das Klemmbrett ganz langsam sinken und sah sie mit einem Oberlehrerblick an.
»Hast du noch irgendwelche Fragen?«
»Viele. Sehr viele.«
Dann ließ sie ihn mit offenem Mund stehen. Die Fronten waren geklärt und eine Feindschaft fürs Leben geschlossen.
»Bringen wir es hinter uns«, murmelte Stephanie halblaut, als sie Tisch sieben endlich gefunden hatte. Vielleicht nicht die Begrüßung, die sich die Gäste erwartet hätten, aber so richtig hatte ihr ohnehin niemand zugehört, da alle in die Speisekarten vertieft waren.
»Na, um diese Zeit isst hier bestimmt koana a Weißwurscht! Wo kemma denn do hi? Weißwürscht am Abend … Herrschaftszeiten! Hendl kennts hom!«
Stephanie hatte tatsächlich das Glück, mit ihren bayerischen Freunden den Tisch zu teilen. Sie freute sich und fühlte sich gleich ein bisschen entspannter.
»Schönen guten Abend alle miteinander!«, versuchte sie es noch einmal mit einem etwas konventionelleren Gruß.
Die Gesichter hellten sich auf, nur die beiden Pubertierenden am Tisch, die einander gegenübersaßen, hielten den Blick auf das Handydisplay gerichtet. Immerhin hob das Mädchen im blau-grünen Dirndl verächtlich die rechte Augenbraue – ohne dabei von ihrem Smartphone aufzusehen.
»Wie schön, dass Sie da sind!«, sagte eine freundliche ältere Dame auf der rechten Seite der Sitzbank. »Setzen Sie sich doch und essen Sie mit uns!« Es klang, als hätte sie sich schon seit Tagen auf diesen Moment gefreut.
»Gern.«
Stephanie Mayrhofer quetschte sich an den Rand, allgemeines Poporutschen begann, bis alle genügend Platz hatten, um einigermaßen freihändig essen zu können. Hier hatte schließlich keiner Economy-Class gebucht.
»Wie war Ihr Tag, Schätzchen?«, fragte die Dame, auf deren Tischkärtchen »Gabriele Blum, Kabine 14002« stand. Sie war Bibliothekarin im Ruhestand und hatte diese Reise eigentlich schon vor zehn Jahren machen wollen, wie sie ihr erzählte. Damals mit ihrem Mann, der jedoch nach langer Krankheit vor zwei Jahren verstorben war. Die Route hatten sie noch gemeinsam ausgesucht, bevor er seine erste Krebsdiagnose bekam. Er hatte das Mittelmeer geliebt. Dass sie die Reise nun allein unternahm, war ihre Art, Abschied zu nehmen. Überraschenderweise wirkte sie nicht wehmütig, als sie ihre Geschichte erzählte, sondern im Reinen mit sich.
Beneidenswert, dachte Stephanie.
Und so weit weg von ihrer Realität und dem diffusen Chaos, das sie umgab.
Ihnen gegenüber saßen die fünf Bayern, Familie Korb, schön der Größe nach aufgefädelt – bis auf Baby Ariana. Sie thronte am Kopfende in ihrem lilafarbenen Hochstuhl und warf mit Brezenresten um sich. Ihre Stimmung schien sich mit jedem Stückchen zu verbessern, das durch die Luft wirbelte. Mit der Laune des Vaters neben ihr verhielt es sich genau andersherum. Fassungslos starrte er seine Frau von der Seite an, die konzentriert in die Speisekarte starrte. Sie hatte beschlossen, den heutigen Abend so gut es ging zu genießen, und sah deshalb bewusst keines ihrer Kinder an. Auch nicht ihren siebenjährigen Sohn, der neben seiner smartphonesüchtigen Schwester genüsslich in der Nase bohrte, während er versuchte einen Blick auf ihren Bildschirm zu erhaschen.
»Geht dich nix an, Adrian!« Sie verlieh ihren Worten durch einen leichten Klaps auf seinen Hinterkopf Nachdruck.
»Jetzt sag doch was! Sabine! Und du hör auf, deinen Bruder zu hauen, Magdalena!«
Dem Familienoberhaupt reichte es.
»War was?«
Fassungsloses Schnauben.
»Ach Max, bestell dir noch ein Weißbier.«
Die weisen Worte seiner Frau schienen den bayerischen Bären zu besänftigen. Er sah sich nach einer Bedienung um.
Zum ersten Mal an diesem Abend schien sein Verhalten für den feinen Herrn, der ihm gegenübersaß, Sinn zu ergeben. Thorsten Ebel folgte seinem Blick, um sich der Bestellung anschließen zu können. Außer dem offensichtlichen Durst hatte der Mann mit den gegelten Haaren aber wenig mit Maximilian Korb gemeinsam.
Er, seine Frau Brigitte und Sohn Briand, vierzehn Jahre alt und ebenfalls mit seinem Mobiltelefon verwachsen, sahen aus, als wären sie einem Hochglanzkatalog für gehobene Trachtenmode entsprungen. Hier passte alles zusammen: sein fliederfarbenes Stecktuch zu ihrem Dirndl, zu Briands Krawatte. Ihre mitternachtsblaue Seidenschürze zu den Samtwesten ihrer Männer. Und alle drei trugen das gleiche Modell eines steingrauen Walk-Blazers, der eigentlich viel zu warm war. Aber es sah schön aus.
Zur allgemeinen Freude wurde bald das Hendl gebracht, zufriedenes Schweigen machte sich breit.
Zumindest für kurze Zeit.
»Was ist denn hier los?«
Tisch sieben blickte auf. Die Mienen verfinsterten sich, das Kauen wurde eingestellt, um herauszufinden, wer der Störenfried mit dem Klemmbrett war.
»Bitte entschuldigen Sie! Mahlzeit alle zusammen! Frau Mayrhofer, kann ich Sie bitte kurz sprechen?«
Nervöses Räuspern, Fake-Lächeln und zusammengebissene Zähne.
»Du bekommst Ärger«, flüsterte Adrian Stephanie quer über den Tisch zu und kassierte dafür die zweite Kopfnuss von seiner Schwester.
»Da hat er recht.« Überraschenderweise kam Briand dem Siebenjährigen zu Hilfe. Magdalena strafte auch ihn mit einem vernichtenden Blick.
Unterdessen hatte »Oliver Fröhlich, Teamleader Animation« Stephanie Mayrhofer hinter eine große Palme gelotst.
»Ja, spinnst du? Du bist nicht zum Essen hier, sondern zum Arbeiten. Kurzer Small Talk, und weiter geht es! Kannst du dich nicht einmal an Punkt eins deines Trainings erinnern? Den allerwichtigsten?«
»Ganz ehrlich? Nein.«
Fast wäre ihm vor lauter Kopfschütteln die kleine Brille von der Nase gerutscht. Mit einem gekonnten Griff hielt er ihre Talfahrt gerade noch auf.
»Also wirklich! So etwas habe ich noch nie erlebt. Aber ich habe ja gleich gewusst, dass das nichts als Ärger geben wird.«
»Was denn bitte?«
»Jetzt tu doch nicht so, als wüsstest du von nichts …«
Sie zuckte mit den Schultern.
»… nur weil der Chef mich persönlich angerufen und für dich gebürgt hat, hab ich dich in mein Team genommen … in deinem Alter … ohne Erfahrung …«
»Ja, sorry. Aber zumindest für mein Alter kann ich wohl nichts.«