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Wer ein "gewisses Alter" erreicht hat und zurückschauen kann auf ein Leben als Lehrer, Musiker und Autor, möchte den Gang dieses (scheinbar nicht besonderen) Lebens besser verstehen können: Welche Rolle spielten darin Kindheit, Freunde, die Musik, die Literatur - und welche die Arbeit als Lehrer in der Schule? Welche Rolle spielte die Liebe, und wie konnte es kommen, dass aus einem angepassten, intellektuell ambitionierten Junglehrer ein Mensch wurde, der bereit war, alles Erreichte aufzugeben und sich in das Chaos eines unvernünftigen Lebens zu stürzen? - Der autobiografische Roman bleibt leichtfüßig und humorvoll im Ton, widmet sich den hier Porträtierten nicht bitter, sondern mit freundlicher Verträglichkeit. Wer ihn liest, erfährt vielleicht etwas Neues über sein Leben.
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Seitenzahl: 152
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Frank Müller
Keine besonderen Vorkommnisse
Autobiografischer Roman (eines fast normalen Lebens)
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
WIE DEUTSCHLAND ZUM ERSTENMAL FUSSBALLWELTMEISTER WURDE
FREUNDE
LUSTIGE VERWANDTSCHAFT
FREUNDE (2)
EHE UND CHAOS
„DE LÄHRA KOMMT“
SCHREIBEN
LÜNEBURG UND TRENNUNG
Impressum neobooks
(Mit einer kleinen Vorbemerkung des Verfassers)
Bevor Sie dies alles ohne nähere Kenntnis des Erzählers zu lesen anfangen, hier in Kürze:
Ich mache mich an diese Aufzeichnungen zu einem Zeitpunkt, als ich soeben meine vierzigjährige Berufstätigkeit beendete (Näheres dazu wird folgen) und mich mit dem Blick auf das näherrückende Ende für den bisherigen Verlauf meines Lebens zu interessieren beginne. Nicht dass mich der Verlauf meines Lebens bis hierher nicht interessierte, nur folgt ja gewöhnlich im Alltag auf eine Handlung fast zwangsläufig die nächste und wieder die nächste, bis ganze Lebenskapitel geschrieben sind, ohne dass man sich diese zur verstehenden Lektüre noch einmal vornähme. Es geht mir gut. Einigermaßen. Schwiege ich jetzt, würde ich einfach nur auf das Ende zutreiben und irgendwann im Meer der Vergessenheit verschwinden. -
Ich habe keine sonderlich aufregenden Zeiten durchlebt, keine Kriege, keine schlimmen Katastrophen. Schule, Ausbildung, Beruf; ein überwiegend angenehmes Familienleben. Was kann ich bieten im Rückblick auf mein Leben? Meine Erfahrungen sollten auf andere übertragbar sein, sollten dem Leser, der schweigt, beim Verstehen seines eigenen Wegs helfen können. So soll es sein.
Worum, in Stichworten, wird es nun gehen?-
Um Kindheit, die die Weichen stellt für eine Lebensfahrt. Um Jugend, Prägung, Aufkeimen meiner Eigenarten. Um das Wechselspiel von Disziplin und Chaos, von Krankheit und Gesundheit. Um Liebe, gewonnene und verlorene, auch nie zu gewinnende. Um Erfolg und Scheitern, Angst vor dem Ende und unsere Art, mit dieser Angst zu ringen. So sei es.-
Machen wir uns auf den Weg. Schreiben gewinnt Erkenntnis.-Aus, aus, aus, aus,- aus, das Spiel ist aus. -
Die meisten Deutschen kennen den begeisterten Siegesschrei des Rundfunkreporters, ausgestoßen, als die deutsche Fußballnationalmannschaft 1954 in Bern Weltmeister geworden war. Mein Vater wird wohl mitgejubelt haben am Ende der Radiosendung, welcher er in der gelben Laube auf dem gepachteten Grundstück der Kleingartenkolonie lauschte. Er wird vor lauter Begeisterung vergessen haben, dass neben ihm in der Wiege ein männliches Baby lag (seit einem Vierteljahr auf der Welt), das die Jubelrufe missverstand als Aufforderung zu eigenem Mittun, obwohl (wie meine Mutter in ihren Erzählungen immer wieder betonte) dieses Baby (das sehr unruhig gewesen sein soll) „endlich einmal“ gerade eingeschlafen war. Es mag sein, dass mein Interesse am Fußballsport damals auf diese Weise entstand. Viel wahrscheinlicher jedoch erscheint es mir, dass ich die familiäre Unruhe, die auf mein erneutes Greinen hin entstand, aufnahm, bewahrte und später, als all dies schon lange vergessen war, nach Erwachsenenart transformierte. So mögen Zahnweh, Herzrhythmusstörungen und Panikattacken entstehen, aber genau weiß ich das eben nicht.
Meine Eltern hatten mit ihrem ersten Kind (meiner neun Jahre älteren Schwester) in der Nachkriegszeit auf dem Laubengrundstück gleich am Nordberliner Heiligensee gewohnt. Es war, wie ich aus der Familienüberlieferung weiß, ein äußerst einfaches Leben gewesen: mit Plumpsklo, Sickergrube, einer Holzlaube, deren Räume aus heutiger Sicht wie Spielzeug anmuten würden. Aber das sei, und auch dies pflegte meine Mutter späterhin stets hervorzuheben, „die schönste Zeit“ gewesen. Man habe mit Nachbarn und Freunden zusammengehalten angesichts der gerade überstandenen Not, man habe zu feiern gewusst, über sich hinauszuwachsen („wenn die Getränke ausgingen, hat der erste Mann Deiner Tante die Kellerdielen aufgerissen, um zu sehen, ob es dort noch etwas zu trinken gab“), auch in „einfachsten Verhältnissen“. Auch oder gerade? -
Ich selbst muss freilich auf Überlieferungen zurückgreifen, um an jene Vergangenheit zu gelangen. Die eigene Vorgeschichte und die ersten Kindertage sind der Erinnerung nicht zugänglich. Vielleicht existieren Fotos, die ältere Familienmitglieder gelegentlich kommentierten, so bilden sich Erinnerungen aus zweiter Hand, Gemisch aus Erzählung und Übernahme von Erzählung, die eine Art von Wirklichkeit bilden, die wir im weiteren Leben mit uns herumtragen. Innerhalb dieser Wirklichkeit gaben meine Eltern ihr karges Leben in Heiligensee auf, als sich das zweite Kind ankündigte. Es schien der richtige Zeitpunkt zu sein, um die für damalige Familien typische Zweieinhalbzimmerwohnung zu mieten: auch im Bezirk Reinickendorf, aber nicht am nördlichen Stadtrand, sondern im Bezirkszentrum (ein Zentrum, in dem es zum Einkaufen noch den Kaufmann an der Ecke gab – Supermärkte zeigten sich erst später). Diese Wohnung, in der ich meine gesamte Jugendzeit bis zum Auszug nach eigener Eheschließung verbrachte, stand aber wohl erst ab Sommer 54 (nach der Fußball-WM) zur Verfügung, sodass ich den Torschuss von Helmut Rahn noch in jenem alten, einfachen Quartier „erlebte“. „Dein Vater hat wie ein Verrückter geschrien“, so meine Mutter später, „und Du warst natürlich wieder wach.“ -
Meine Zeit als Kleinkind (nun in bürgerlicher Wohnstraße) kenne ich eben nur aus Bildkommentierungen. Meine direkte Erinnerung reicht nicht sehr weit zurück (setzt eigentlich erst in der Schulzeit ein, obgleich manches Andere sicher halbbewusst gespeichert wurde). Es gibt ein schönes Foto von mir, zweijährig, das mich zeigt, wie ich mich in den Winkel der schweren Eingangstür zu unserem Hausflur schmiege (die wohl sommerlich warme Wand scheint Sicherheit zu geben). Ich trage kurze Kleinkindhosen an Trägern, habe einen Schnuller an einem Band umgehängt, wirke mit offenem, freundlichen Gesicht und mit wallendem, blonden (hat sich später gegeben), lockigen Haar nicht unzufrieden. Ich blicke mit wohlwollendem Interesse (aber behütet von der wärmenden Wand) in die Welt hinaus. Ich habe eine Erinnerung aus gewiss späterer Zeit manchmal mit diesem Bild verschnitten und die damit verbundenen (unangenehmen) Gefühle zu Unrecht auf das Foto projiziert: Ein wohl gutmeinender Bekannter meiner Eltern wollte mir unbedingt etwas Gutes tun und bot mir im Gehen noch schnell ein Geschenk an (das er nicht dabeihatte). Ich solle nur sagen, ob ich ein Schwimmtier oder einen Fußball bevorzugte. Obgleich jede spätere Lebenserfahrung für den Fußball gesprochen hätte, vermochte ich die dringlich gestellte Frage nicht zu beantworten. Ich trat ein paar Schritte zurück, lehnte mich gegen die Zimmertür und – schwieg. Trotz immer deutlicher werdender Aufforderungen meiner Eltern konnte ich nicht sprechen – und dieses beklemmende Gefühl habe ich mitunter auf das eigentlich unschuldige Foto des Jüngeren übertragen.-
Ein weiteres Foto zeigt mich als etwa Dreijährigen gemeinsam mit meinem ersten Spielkameraden G. (aus der frühen Begegnung ist eine schon sechzig Jahre währende Freundschaft geworden): Wir sind auf Holzdreirädern unterwegs, im Hintergrund sind die Eingangstüren zu unseren Hausfluren (Die Nummern 15 und 14) noch erkennbar, Ausgangspunkte unserer kindlichen Exkursionen, Zufluchtsorte auch. Ich glaube mich vage an die vorherrschenden Gerüche in beiden Hausfluren zu erinnern: So war das Haus, in welchem G. wohnte, von einer lebhaften Familie mit sieben Söhnen bevölkert, welche dort andere Düfte hinterließen, als man sie in meinem Nachbarhaus wahrnehmen konnte. Ich meine, ich hätte als Kleinkind die fünf Wohneingänge der Straße nach ihren Gerüchen erkennen können. Doch freilich besteht auch hier die Möglichkeit, dass nachträglich Erlebtes dieses Gefühl hervorruft. Ich habe ja 25 Jahre lang in der Straße gewohnt und Eindrücke aus verschiedenen Lebensphasen fließen in der Erinnerung zusammen. Mit meinem Freund G. habe ich inzwischen mehrfach über unsere frühen Begegnungen gesprochen. Auch ihm ist das nämliche Foto gut bekannt. Ich vermute, dass wir uns beide an die eigentlichen Gefühle auf jener Dreiradausfahrt nicht mehr erinnern, wir werden uns daran erinnern, wie wir uns zu erinnern versuchten, und eines Tages treten solche Bemühungen an die Stelle des Gelebten. -
Doch zurück an den Ort des bejubelten Fußballgeschehens. Der gepachtete Kleingarten in Heiligensee (die Anschaffung ging noch auf meinen Großvater mütterlicherseits, einen Zahnarzt, zurück) blieb unserer Familie noch gut dreißig Jahre nach dem Wegzug als Wochenendgrundstück erhalten. So gilt auch hier das Prinzip der Erinnerungsverschränkung. Der Garten spielte im weiteren Familienleben sowohl meiner Eltern als auch meiner Schwester eine wichtige Rolle. Von meinem Vater ist der zornige Ausruf überliefert, den er an Wochenenden ausstieß auf die ritualisierte Anregung meiner Mutter hin, man könne doch mal in den Garten fahren, um „zu kucken“. Es überschlug sich seine recht hohe Stimme dann nahezu bei der Entgegnung: „Wir fahren ja! Aber sag nicht: kucken. Wir graben fünfhundert Quadratmeter Sandfläche um.“ Und dabei fiel ihm vor Aufregung eine dünne Haarsträhne in die Stirn. Bei der Anschaffung eines Gartens wird oft vergessen, dass derselbe vor allem mit viel (oft lästiger) Arbeit verbunden ist. Die Vorstellung, die zu Beginn dominant ist, betrifft das Sitzen um einen fertig gedeckten Kaffeetisch bzw. das Herumstehen um einen Grill (die Bierflasche in der Hand), auf dem perfekte Steaks brutzeln. Die Gartenlogistik wird zunächst kaum berücksichtigt. Tatsächlich aber überwiegen doch das Organisieren, Einkaufen, Rasenmähen, Heckeschneiden (der Wegewart der Kolonie pflegte die korrekte Höhe der Hecken durch Anlegen eines goldenen Halskettchens zu ermitteln, ich hätte schießen mögen), Laubharken, Auskämmen von faulem Obst aus nassem Rasen und ähnlich ersprießliche Tätigkeiten. Nicht selten deutete meine Schwester ungehalten an, meine Frau und ich hätten doch auch mal „öfter eine Harke in die Hand nehmen“ können. Das tat ich dann mitunter (weil ich den Vorwurf nicht auf mir sitzen lassen wollte) auch bei ungünstigen Wetterbedingungen. Ich erinnere mich (und diesmal direkt) an einen kalten, regnerischen Novembertag, an dem ich finster entschlossen (und nicht ganz nüchtern) das letzte Laub und Faulobst des Jahres beseitigte. Mein Nachbar, ein stattlicher Kleingärtner par excellence (und ganz selten nur nüchtern), beobachtete mein Treiben vom Gartenzaun aus und wandte sich an mich mit dem legendären Satz: „Aber Herr Müller, dazu ist nun heute wirklich nicht das richtige Wetter.“ Und da hatte er Recht.-
Aber es gab auch selige Momente. Ich erinnere mich etwa daran, wie ich nach genau der richtigen Menge an Bier (nicht umsonst sprach Arno Schmidt vom strategisch sinnvollen Trinken) abends im Garten Gitarre spielte und sang, einige Gäste meiner Schwester dazu tanzten und Tanz, Gesang und Glück über den dunklen Heiligensee davonsegelten.
Hier also hatte alles mit mir begonnen, hier hatte ich zum erstenmal in die Jubelschreie der Fußballgemeinde eingestimmt, ohne jede Vorstellung davon, was sich in der Zukunft in diesem Garten zutragen würde. -
Wieder an einem Regentag, viele Jahre später, würde ich gemeinsam mit meinem Freund W. den Pachtvertrag für das Grundstück auflösen und die gelbe Laube für einen kleinen Erlös an einen der vielen Interessenten von den Wartelisten der Kleingartenvereine verkaufen. Eine Amtshandlung ohne große Emotionen (meine Schwester war mit ihrer Familie nach England gezogen und meine Frau und ich hatten uns in Berlin ein Haus mit Garten gekauft). Aber noch viel später, als der Garten für uns schon fast in Vergessenheit geraten war, bin ich immer mal wieder an die alte Stelle gefahren: Das Haus war in seiner Grundgestalt erhalten geblieben, erneuert, umgefärbt, der Garten ganz umgestaltet von fleißigeren Menschen, als wir es waren; und obgleich kaum ein Winkel aus alter Zeit erhalten geblieben war, schwebte über dem Garten noch – ach, ich weiß nicht was.-
Ich habe mich dafür entschieden, keine durchgängig chronologische Biografie zu schreiben, sondern einen thematisch orientierten Aufbau zu wählen, dessen einzelne Abschnitte freilich in sich chronologische Züge tragen. In diesem Kapitel nun soll es um Freundschaften gehen, ein schwierigeres Unterfangen, als man meinen möchte, soll sich doch keiner der Menschen, die in meinem Leben wichtig waren, ungerecht oder tendenziös dargestellt finden und die hier Fehlenden sich nicht übergangen fühlen. -
Meinen Freund G. haben wir bereits kennen gelernt: mit hölzernem Dreirad auf großer Fahrt zwischen den Eingangstüren der Häuser 14 und 15 der bürgerlichen Reinickendorfer Wohnstraße. Wir blieben die besten Spielkameraden für lange Zeit (uns erschien sie wie eine Ewigkeit), bis das Schicksal in Gestalt von G's späterer Geburt (er wurde erst nach dem damals gültigen Stichtag für die Einschulung sechs Jahre alt) uns trennte. Ich glaube mich noch erinnern zu können, wie sehr ihm die Tatsache zusetzte, nicht gemeinsam mit mit in die Schule gehen zu dürfen, sondern noch ein Jahr darauf warten zu müssen. Mir selbst hatte man die Schuleignung nur recht knapp zugesprochen, da ich die Frage der Prüferin, wie viele Räder denn ein Auto habe, mit „fünf“ beantwortete (ich hatte das Reserverad mitgezählt). G. und ich blieben in gutem Kontakt, wir traten sogar gemeinsam mit sieben Jahren in einen Reinickendorfer Fußballverein ein, aber die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Klassenstufen in der Schule hat für junge Leute etwas stark Trennendes. Es bilden sich ganz andere Freundeskreise (oder Feindeskreise) heraus, die Bezüge zu Lehrkräften unterscheiden sich, kurz: Die noch frischen Lebenserfahrungen weichen voneinander ab (und hier zähle ich noch nicht einmal diejenigen in den Elternhäusern mit). Im Grunde drifteten wir (trotz noch vieler gemeinsamer Begegnungen im Spiel, vor allem auf dem Hof unserer Wohnanlage) auseinander, machten unsere sehr persönlichen Erfahrungen, über die wir uns erst viel später austauschen sollten. G's Rolle in meinem Leben wurde eigentlich erst wieder wichtig, als wir uns zum Ende unserer Oberschulzeit regelmäßig in einer Stammkneipe zu treffen begannen („das Haus“), wo die Entscheidung getroffen wurde, nicht länger Mitglied in einem etablierten Sportverein bleiben zu wollen (ich hatte mittlerweile auch Handball im Verein gespielt), sondern einen eigenen Club im Freizeitbereich ins Leben zu rufen, dessen Präsident G. (der außerordentliche organisatorische Fähigkeiten besaß und besitzt) werden sollte. Dies geschah und der Verein wurde FC Triftpark genannt (nach dem Ort, an dem wir uns zu unverbindlichem Gekicke zu treffen pflegten). Er würde im weiteren Leben der meisten seiner Mitglieder eine wichtige Rolle spielen, aber dies ist nicht der Ort, um eine Chronik unseres selbstgegründeten Fußballvereins anzufertigen. G. und ich jedenfalls blieben uns von diesem Moment an wieder eng verbunden: organisatorische Absprachen, regelmäßiges Training, Spiele innerhalb des Freizeitfußballverbands, Vereinsmeierei, Vereinspartys; aber auch Aufleben des alten (eigentlichen) freundschaftlichen Kontakts zwischen G. und mir. Letzterer fand vor allem Ausdruck in der sogenannten „Herrenrunde“, zu welcher neben uns beiden noch zwei Klassenkameraden von G. gehörten (einer der beiden war auch einmal mein Klassenkamerad gewesen, aber so etwas ist ja bei den entsprechenden schulischen Verstrickungen keine Seltenheit). Diese „Herrenrunde“ besteht seit über vierzig Jahren, trifft sich etwa sechsmal im Jahr (nach dem Modus, dass immer der Reihe nach einer von uns mit der Bewirtung betraut ist), unternimmt Ausflüge und kleine Reisen und war und ist in unserem Leben eine Kostbarkeit. Innerhalb dieser Runde habe ich mich mit G. (der ein Meisterkoch ist) so oft und intensiv ausgetauscht, dass man schon nicht mehr zu unterscheiden weiß, was erlebt, was berichtet und was vielleicht nur eingebildet ist. Was ich aber weiß: G. ist nicht nur mein erster, sondern ein treuer, verlässlicher Freund, an den man sich stets wenden kann, wenn man im Alltag Hilfe braucht. Er ist eine feste Größe in meinem Leben. In unbestimmter Weise würde mir etwas fehlen, wenn es ihn nicht gegeben hätte.-
Das Klassenfußballspiel war bereits im Gange und versprach aufregend zu werden (unsere spielstarke fünfte Klasse, die bereits zwei sechste Klassen besiegt hatte, wagte sich an eine Begegnung mit einer siebten Klasse des benachbarten Gymnasiums), als am Spielfeldrand ein blonder, schmächtiger Junge auftauchte, die Sportschuhe zusammengebunden in der Hand. Im Eifer des Gefechts fiel zunächst kaum auf, dass es sich um den Schüler handelte, der just am Vormittag dieses Tages als Neuzugang zu unserer Klasse gestoßen war (und wohl mitbekommen hatte, dass für den Nachmittag ein Fußballspiel geplant war). Seinen Namen hatte ich mir noch nicht gemerkt, aber als wir ihn erkannten, wurde ihm signalisiert, er solle gleich mitspielen, denn ein elfter Mann hatte uns noch gefehlt. Th. ließ sich nicht lange bitten, band seine Schuhe auseinander und legte auf der linken Außenbahn (er war Linksfuß) los. Es war nahezu Zauberei, mit welcher Selbstverständlichkeit er sich in das Spiel der ihm völlig unbekannten Mannschaft einfügte. Insbesondere mit mir (der ich die Rolle eines hauptsächlich im gegnerischen Strafraum herumstehenden Mittelstürmers innehatte) klappte die Abstimmung sofort. Laufwege wurden blind erahnt, kleine Doppelpässe gelangen, Th. setzte sich auf der linken Seite immer wieder wieselflink durch und bediente mich mit wunderbaren Flanken. Ein Tor oder gar Sieg gelang uns nicht, aber wir erwiesen uns für die Größeren als ebenbürtiger Gegner (ich glaube, das Spiel ging am Ende 0:1 verloren) – und ich hatte innerhalb eines Fußballspiels wortlos einen Freund für lange, lange Zeit gewonnen. Ich meine hiermit zunächst einen Zeitraum von etwa sechs Jahren, also die Zeit, die wir gemeinsam noch auf der Grundschule und anschließend dann in den Klassen 7-10 des Gymnasiums verbrachten (bis unsere Wege sich vorläufig trennten, als Th. gegen Ende der Pubertät von den „tausend Stimmen im Grund“ angesungen wurde). -
Diese frühen Jahre ließen eine Gemeinschaft und Freundschaft entstehen, wie ich sie in dieser unforciert-selbstverständlichen Weise, in dieser nie belastenden Dichte im Leben nicht mehr erfuhr. Das Gemeinsame, das mich mit Th. verband, lässt sich nicht leicht in Worte kleiden. Die Freundschaft entstand in einem Lebensalter, in dem man sich zwar der Freundeswahl bereits bewusst ist (anders als auf dem Holzdreirad), sie aber nicht umständlich begründet oder gar „ausdiskutiert“. Der Andere wird einem in gemeinsamen Gesprächen und Betätigungen vertrauter und vertrauter, bis man sich nicht mehr vorstellen kann einen Tag ohne ihn zu verbringen. So ging das mit Th. und mir. -