Keine Zeit für Kunst - Angelina Schüler - E-Book

Keine Zeit für Kunst E-Book

Angelina Schüler

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Beschreibung

"Keine Zeit für Kunst" ist eine Sammlung von Kurzgeschichten und Gedichten, die innerhalb der letzten neun Jahre entstanden sind. Manchmal melancholisch, manchmal irrsinnig, manchmal unverständlich - dabei stets im Hier und Jetzt.

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Seitenzahl: 105

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Für Zevan. Danke für jeden einzelnen Zettel.

Inhalt

Anfang

Alles mitnehmen

Milz und Nieren

Dreiklang-Gesäusel

Meine erste Lesung

Felsen

Erzählungen eines Notizbuches

Musik machen

Grundgesetz

Radiosendung

Wenn Liebe nicht wäre

Blutende Blumen

Möglichkeiten

Der Neue

Vergänglichkeit einer kriminellen Tat

Ein Schritt zu weit

Nichtsdestotrotz

Handgeschriebener Brief

Mitte

26 Männer mögen dich

Brot und Öl

Finstere Freunde

Symphonie eines Tauben

Ein ganzer Tag

Teilung

Neu/Alt

Samtene Lippen

Sensibilität und Selbstlosigkeit

Aktion Albatros

Dort

Der Laden in der Stadt

Gebeugte Ampeln

Reduzieren

Schmerzensgrenzen

„Heute trifft Gestern“ – Rainer Maria Rilke

Rabe

Ende

Narrenfreiheit

Makel

Eine Frage der Wortwahl

Traumfänger

Knöpfe

Binsenweisheit

Vergiss es

Szene

Wo Licht ist, ist Schatten

Geschichtskurs

Eine offene Rechnung

Mit Abstand das Ende

Vom Verschwinden

An meine Sachbearbeiterin

Sprung ins Nichts

Weil es jetzt Bananen geben soll

Hier stehe ich

Ein Davor und ein Danach

Danksagung

Anfang

Alles mitnehmen

Ich bin im vierten Semester eines geisteswissenschaftlichen Studienganges. Das ist in etwa, wie wenn man 17 ist. Die Euphorie, dass man sich jetzt ganz offiziell ausweisen kann, ist verflogen, Zigaretten und Alkohol darf man noch nicht legal kaufen. Ich bin so sehr dazwischen, dass es mir – meistens in ganz dunklen Nächten – so vorkommt, als sei ich bereits in meiner ersten Midlifecrisis. Gott sei’s gedankt habe ich in meinem näheren Umfeld tatkräftige und rege Mitmenschen, die oft und gerne jegliche Aktivitäten im Kultur- und Sozialbereich wahrnehmen. So bin ich allwöchentlich zu drei bis vier Partys eingeladen, die ich in der Regel nicht besuche. Es liegt nicht daran, dass mir soziale Kompetenzen fehlen oder ich das System hinter dem Einladen und Eingeladenwerden nicht verstünde, ich habe schlicht und einfach keine Lust meine Zeit an einem Ort zu verbringen, den ich nicht mag, Musik zu hören, die ich zum Kotzen finde und mich mit Leuten zu unterhalten, die mich kein bisschen interessieren. Ich werde unerträglich. Meinen Mitmenschen versaue ich regelmäßig die Stimmung. Das möchte ich vermeiden, deshalb komme ich oft nicht mit. Im ersten Semester konnte ich sagen, dass ich mich in der Stadt noch nicht so auskenne und dann nicht weiß, wie ich nach Hause komme. In einem Jahr werde ich sicher meine Bachelorarbeit als Ausrede benutzen. Aber jetzt bin ich irgendwo dazwischen. Bin angekommen und muss mit. Denn die Studienzeit soll ja die schönste Zeit des Lebens sein. Da darf man nicht in seinem Zimmer sitzen und Hausarbeiten schreiben. Da sollte die Welt entdeckt und die eigenen Grenzen überschritten werden. So zumindest die Meinung der Menschen, die derzeit keine meiner Ausreden gelten lassen und mich von einem angesagten Club zum nächsten und von einer hippen Bar zur anderen schleppen. Ich muss alles mitnehmen, ich verpasse sonst das Leben. Als läge es in der Toilette der Kneipe von letzter Woche und wartet nur darauf, dass ich es wieder abhole. Sozialer Druck ist nichts für mich. Trotzdem suche ich die beste Hose raus, trotzdem trinke ich Bier zum Vorglühen, trotzdem gehe ich mit und trotzdem tanze ich irgendwann. Weil es natürlich Spaß macht, loszuziehen, laut auf den Straßen zu singen, den tollen Menschen im Arm zu halten, die Nacht verschwinden zu sehen. Dennoch, ich habe kein Problem damit, mal nicht mitzukommen. Es bringt mich nicht um, das nächste Kapitel auch noch zu lesen oder einfach mal lecker für mich allein zu kochen. Vielleicht bin ich egoistisch, doch mein aktueller Lebensmittelpunkt bin ich. In den letzten Jahren habe ich mich nicht so sehr um mich gekümmert und jetzt bin ich eben dazwischen. Und dazwischen soll man sich auch mal ausruhen und besinnen. Ich nehme genug Kram und Zeug in den nächsten Abschnitt mit. Die ein oder andere Nacht bleibt so oder so auf der Strecke.

Milz und Nieren

Zwischen Muskel

und Drüse

hängt das

Nervenbündel

Neben Rippe

und Arterie

läuft der

Kreislauf

Hinter Milz

und Niere

bricht die

Amygdala

Dreiklang-Gesäusel

Die Karten waren unverschämt teuer und die Sitze katastrophal unbequem. Meike sagte, das muss so sein. Kultur ist eben kein Luxus. Ich gab es auf, mich zu beschweren und versuchte, den Saal und das Gebäude mit allen Details zu erfassen. Das altehrwürdige Haus wurde weit vor dem Krieg gebaut, große Säulen schmücken den Eingangsbereich, im Parkettfoyer waren die Wände mit braunem Naturstein verkleidet, die Büsten der berühmten Söhne der Stadt standen im Viereck im Rangfoyer. Es roch nach Sekt und den kleinen Brötchen, die es für fast vier Euro im Restaurant gab. Natürlich saßen wir in der ersten Reihe im Rang, Platz 15 und 16, direkt in der Mitte. Dies hatte den Vorteil, dass wir nur einmal vor dem Konzert aufstehen mussten um unseren Sitznachbarn – ein älteres Doktorenehepaar – Platz zu machen. Die verbleibende Zeit konnten wir entspannt auf den Konzertbeginn warten. Der Abenddienst war heute großzügig und hatte die Saaltüren 20 Minuten vorher geöffnet. Die Bühne stand voll mit Stühlen, Notenständern und Instrumenten – solchen, die zu sperrig waren, um sie elegant zum Platz zu tragen. Die Musiker warteten professionell hinter der Bühne. Nur die Harfenistin saß noch vor ihrem „Arbeitsgerät“, zupfte unermüdlich an den Saiten und stimmte sie vor den Augen der hereinströmenden Zuschauer. Nach einiger Zeit ging auch sie nach hinten und ich begann, etwas neues Interessantes zum Beobachten zu suchen. Meike las derweil wie besessen das Programmheft durch. Sie würde mir nachher alle Fakten über das Stück, den Komponisten, das Orchester und den Solisten präsentieren, als hätte sie all das schon vorher gewusst und nur deswegen die Karten gekauft. Das war ihr besonderes Talent. Ich rückte etwas nach rechts. Die mit burgunderfarbenen Samt bespannten Sitze quietschten herrlich beim Herunterklappen. Aus dem Augenwinkel sah ich den Lichttechniker auf der linken Galerie. Er schob vorsichtig eine blaue Folie vor den Scheinwerfer. In einem Fachmagazin habe ich mal gelesen, dass diese Folie das Licht natürlicher wirken lässt. Ich konnte allerdings keinen Unterschied zu vorher erkennen und ließ meinen Blick erneut schweifen. Lauter ältere Ehepaare betraten den Saal, die Frauen mit Handtäschchen in schrecklich altmodischen Kleidern, die Männer mit ebenso altmodischen Anzügen. Manchmal passte Hose und Jackett nicht ganz zusammen, so wie bei dem Doktorenehepaar neben uns. Der Herr hatte sich neben mich gesetzt. Ich war ihm ein wenig dankbar. Das Parfüm seiner Frau war schon penetrant genug. Drei Stunden direkt neben ihr hätte ich sicher nicht ausgehalten. Als ich schon fast versucht war mit meinem Nachbarn ins Gespräch zu kommen, huschte ein Techniker über die Bühne und legte auf dem Dirigentenpult Partitur und Taktstock zurecht. Er machte es mit einer solchen Sorgfalt, dass ich bewundernd Meike fragte, ob auch die Techniker im Programmheft stehen. Sie verneinte dies spöttisch und las angestrengt weiter. Mir brach es fast das Herz, als er die Bühne verließ. Ich konnte mich gerade noch zurückhalten, nicht zu applaudieren. In mir machte sich das Gefühl breit, den besten Moment des Abends schon erlebt zu haben. Gleich darauf wurden die Türen geschlossen und das Saallicht gedimmt. Meike setzte sich aufrecht hin und verstaute das Programmheft unter ihren Oberschenkeln. Sie sah unzufrieden aus. Wahrscheinlich hatte sie nicht alles lesen können und fühlte sich jetzt unvorbereitet. Das Orchester betrat die Bühne, ich klatschte, die Konzertmeisterin sah furchtbar unzufrieden aus und gab das „a“. Endlich kamen der Dirigent und der Solist auf die Bühne, es wurde wieder geklatscht, der Dirigent schwang seinen Taktstock. Nach den ersten drei Tönen schlief der ältere Herr neben mir ein und grunzte ganz leise. Ich legte meinen Kopf auf seine Schulter. Nach weiteren drei Tönen nickte auch ich ein.

Meine erste Lesung

Ich, in Rollkragen und drei Bücher unter dem Arm, betrete die Bühne. Mein Publikum wartet schon gespannt auf mich.

ICH: Guten Abend, meine Damen und Herren, mein Name ist -

Ich stocke. Eine Hand ist nach oben gestreckt. Ein Mann.

ICH: Ja, bitte. Sie haben eine Frage?

EIN MANN AUS DEM PUBLIKUM: Danke. Lesen Sie heute auch Gedichte von Clemens Brentano?

ICH: Wie bitte?!

EIN MANN AUS DEM PUBLIKUM: Clemens Brentano. Ich finde ja seine Gedichte so schön.

EINE FRAU AUS DEM PUBLIKUM: Ja, die sind wirklich schön. Oder Sie lesen ein paar von Rilke.

EINE ZWEITE FRAU: Nein, lieber die ‘Terzien des Herzens’ von Annemarie Bostroem!

Ein Blick auf meine Bücher. Die geschätzten hundert Klebezettel zwischen den Seiten wirken geradezu lächerlich überflüssig.

EIN JUNGER MANN: Die ist doch völlig überholt! Er sollte lieber was von Erich Fried vorlesen.

EINE ZWEITE FRAU: Nein, ich bleibe dabei. Rilke oder Brentano.

EINE HÜBSCHE FRAU IN REIHE DREI: Würden Sie was von E.E. Cummings zum Besten geben?

Ich überlege kurz. Habe ich zufällig ein Buch von ihm dabei? Nein. Mist.

EINE ZWEITE FRAU: Ach, da können Sie auch gleich noch Jörn Pfennig und Mark Levy vortragen. Das schafft so einen schönen Rahmen.

EIN JUNGER MANN: Nicht Pfennig! Der ist viel zu schnulzig. Lieber Gottfried Benn. Passt auch besser.

Ich möchte mich zu Wort melden. Schließlich ist das meine Lesung. Geht aber nicht.

EIN ALTER HERR GANZ HINTEN: Ich bitte Sie alle inständig darum, sich zu vergegenwärtigen, wo wir uns hier befinden!

Danke!!!! Ich möchte endlich anfangen, meine Texte zu lesen.

EIN ALTER HERR GANZ HINTEN: Lassen Sie uns lieber Klassiker hören, dafür ist diese Lesung doch perfekt. Junger Mann, lesen Sie doch was von Fontane, Goethe, Kästner, Heine oder von mir aus auch Kahlau.

Meine Sympathie verschwindet gerade …

EIN MANN AUS DEM PUBLIKUM: Was für eine schöne Idee! Dann fangen Sie doch bitte mit 'Prometheus’ an.

EINE FRAU AUS DEM PUBLIKUM: Von Goethe oder von Heine?

EIN MANN AUS DEM PUBLIKUM: Heine hat auch über Prometheus geschrieben?!

EINE ZWEITE FRAU: Durchaus!

EINE DICKE FRAU: Moment mal, was ist denn mit den Dichterinnen? Marlen Pelny oder Ricarda Huch?

EINE ÄLTERE DAME: Wir haben doch schon Bostroem.

EINE DICKE FRAU: Das reicht aber nicht!

EINE FRAU MIT BRILLE: Lesen Sie doch was von Robert Gernhardt, das ist immer so lustig.

Ich bin irritiert. Sie hat wirklich mich gemeint. Doch es geht schon weiter.

EIN MANN AUS DEM PUBLIKUM: Also wenn sich das so entwickelt, dann möchte ich bitte nur was von Brentano hören!

EINE ZWEITE FRAU: Glauben Sie, dass Sie hier auf einem Wunschkonzert sind?

EINE DICKE FRAU: Jeder schlägt was vor und was die Mehrheit hören möchte, liest der junge Herr dann vor.

EINE ÄLTERE DAME: So kommen wir nicht weiter. Ich schlage eine alphabetische Reihenfolge der Autoren vor. Und dann jeweils nur ein Gedicht!

EINE HÜBSCHE FRAU IN REIHE DREI: Vor- oder Nachname?

EINE ÄLTERE DAME: Nachname natürlich!

Ein Tumult bricht aus. Es ist schrecklich laut. Ich möchte – bevor ich hier an den erstbesten Literaten verscherbelt werde – gehen. Plötzlich höre ich eine empörte Stimme.

EINE FRAU GANZ VORNE: Hallo, wo wollen Sie denn hin?

Stille.

ICH: Ich möchte gehen.

EINE DICKE FRAU: Ja, aber Sie haben doch jetzt hier Ihre Lesung.

EIN MANN AUS DEM PUBLIKUM: Und wir haben hierfür immerhin vier Euro Eintritt gezahlt.

ICH: Aber ich habe kein einziges Buch von den Autoren, die Sie vorgeschlagen haben, dabei.

EINE FRAU GANZ VORNE: Ach, das ist kein Problem!

Sie kramt in ihrer Tasche und reicht mir ein alt anmutendes Buch. Sie kommt mir ganz nah und flüstert.

EINE FRAU GANZ VORNE: Fangen Sie mit Seite → an, das ist mein Lieblingsgedicht.

Ich schaue mir das Buch genau an. Christian Morgenstern. Galgenlieder.

Passt doch …

Felsen

Unter Tränen sprach

das Sandkorn

zur Schönheit:

Bevor das Meer

mich zur Winzigkeit hin

umspülte,

war auch ich

einst

dein Fels

in der

Brandung.

Erzählungen eines Notizbuches

Ich bin froh, dass mein Notizbuch kein Eigenleben hat. Wenn ich mir vorstelle, was es aushalten muss, wie es sein Dasein fristen, wie es von einem Punkt zum anderen geschleppt wird, wie oft ich die Seiten schon umgeknickt, durchgestrichen und herausgerissen habe. Ich bin wirklich froh, dass mein Notizbuch nur ein Buch ist.

Eigentlich stimmt das gar nicht. Mein Notizbuch ist nicht nur ein Buch. Es ist vor allem eine willkommene Gedankenstütze. Ohne mein Notizbuch kann ich mir kaum irgendwelche Termine merken, oder Zitate und Formulierungen aus Büchern, die ich immer bei mir haben möchte. Mein Kopf ist oftmals so überfüllt und durcheinander, dass ich alles geordnet aufschreiben muss, um die Kopfschmerzen loszuwerden. Demzufolge ist mein Notizbuch auch mein Allgemeinarzt. Oder mein Aspirin.