Keiner liebt mich so wie du - Kim Selvig - E-Book

Keiner liebt mich so wie du E-Book

Kim Selvig

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Beschreibung

Ein Fall aus der Mitte des Lebens – nervenaufreibend bis zur letzten Seite Die Gerichtsreporterin Kiki Holland soll über einen Prozess berichten, in dem der Angeklagte des Stalkings schuldig gesprochen werden soll. Doch die Beweislage ist dünn. Dann nimmt der Fall eine unerwartete Wendung: Das junge Stalking-Opfer wird tot aufgefunden. War es Mord oder Selbstmord und hat der Angeklagte etwas damit zu tun? Und während Kiki noch mitten in der Berichterstattung über den Prozess steckt, erhält sie plötzlich seltsame Nachrichten und Fotos tauchen von ihr auf, die in ihrer Wohnung aufgenommen wurden. Es scheint, als ob auch Kiki von einem Stalker verfolgt wird. Handelt es sich um denselben Täter?

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Seitenzahl: 542

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Zum Buch:

(Auszug aus dem Text)

»Du bist ja ganz kalt«, flüsterte er. Sie antwortete zwar nicht, aber er wusste trotzdem, dass sie sich über etwas Wärme freuen würde. Er verstand sie. Fühlte sie. Liebte sie. Wie abgöttisch er diese Frau liebte!

»Ich muss los«, sagte er plötzlich. Sie schwieg. Er küsste ihre Lippen, ganz sanft. Dann rappelte er sich hoch. Er warf einen letzten Blick auf sie. Schön. So unsagbar schön war sie. Selbst das Blut, das aus ihrer Brust gedrungen war, liebte er. Noch nie hatte er so wundervolles Blut gesehen.

»Leb wohl«, murmelte er. Sie blieb stumm.

Zur Autorin:

Kim Selvig ist das gemeinsame Pseudonym von Silke Porath und Sören Prescher. Die beiden Autoren sind seit Jahren befreundet und haben bereits zahlreiche Krimis zusammen verfasst. »Keiner liebt mich so wie du« ist ihr zweiter Justiz-Krimi.

Dieses Buch ist in Teilen während eines Aufenthaltsstipendiums von Silke Porath am Attersee entstanden. Ermöglicht haben dies die Buchhandlung Erich Weidinger und der Tourismusverband Attersee /Attergau.

Originalausgabe

© 2024 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von wilhelm typo grafisch, Zürich

Coverabbildung von Alexey_M / V_Sot_Visual_Content / Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749906918

www.harpercollins.de

Kapitel 1

»Ich liebe dich.« Seine Hand zitterte, als er ihr die blonde Locke aus der Stirn strich. Wie schön sie aussah, so entspannt, wie sie dalag, die Lippen leicht geöffnet, sodass er ihre perlweißen Zähne sehen konnte.

Ob er sie küssen sollte? Er zögerte. Dann nahm er ihre Hand, strich mit den Fingern über ihre weiche Haut und hauchte einen Kuss auf jeden einzelnen Finger. Sie hatte die Nägel lackiert, blassrosa. Er mochte die Farbe. Liebe durchflutete seinen Körper wie ein Strom heißer Lava. Er fühlte sich lebendig und ihr nah. So nah. Sein Herz krampfte sich zusammen. Er konnte nicht anders, er musste lächeln. Dass er Tränen in den Augen hatte, nein, das merkte er nicht. Aber das war auch egal, denn sie war bei ihm.

Das trockene Laub raschelte, als er sich neben sie legte, den Kopf an ihrer Schulter. Vorsichtig schob er einen Arm unter ihren Kopf, wandte sich ihr zu. Im Profil war ihre Nase wunderbar. Er hatte es längst aufgegeben, die Sommersprossen zu zählen. Jede einzelne davon wollte er küssen. Er schloss die Augen. Sein Atem wurde ruhiger. Seine Hand wanderte ihren Oberarm hinauf, er streichelte sanft die Schulter, dann die kleine Kuhle unterhalb ihres Halses. Er war ganz vernarrt in diese Stelle, die so gut roch. Sie duftete nach Honig, irgendwie, aber auch nach frischem Gras. Er hatte es noch nie geschafft, Worte für diesen einzigartigen Geruch zu finden. Aber musste er das denn? Genügte es nicht, dass sie in seinen Armen lag und er seine Nase an ihr reiben konnte?

Wie lange er sich auf diesen Moment gefreut hatte.

Es knackte im Unterholz. Dann kreischte ein Vogel. Normalerweise hätte ihn das gestört. Doch nicht jetzt, nicht in diesem Moment, der nur ihnen beiden gehörte. Dieser Augenblick, der ihm ein ganzes Leben bedeutete. Er schloss die Augen und wusste, dass er glücklich war.

Sie war es auch. Er hatte sie zu sich geholt. Für immer. Niemand würde sie mehr trennen. Niemals. Nie mehr.

Sie gehörte jetzt ihm.

Ihm.

Nur ihm allein.

Für immer.

Wind kam auf. Er fröstelte.

»Du bist ja ganz kalt«, flüsterte er. Sie antwortete zwar nicht, aber er wusste trotzdem, dass sie sich über etwas Wärme freuen würde. Er verstand sie. Fühlte sie. Liebte sie. Wie abgöttisch er diese Frau liebte!

»Ich muss los«, sagte er plötzlich. Sie schwieg. Er küsste ihre Lippen, ganz sanft. Dann rappelte er sich hoch. Er warf einen letzten Blick auf sie. Schön. So unsagbar schön war sie. Selbst das Blut, das aus ihrer Brust gedrungen war, liebte er. Noch nie hatte er so wundervolles Blut gesehen.

»Leb wohl«, murmelte er. Sie blieb stumm. Er hob das Messer auf und betrachtete lächelnd das Blut darauf. Ihr Blut. Das Blut, das sie beide für immer und ewig verband.

»Ich liebe dich.«

Seine Hände zitterten nicht mehr. Ein letzter Blick. Ein Blick voll Liebe. Er hatte getan, was nötig war. Und das fühlte sich gut an. Ja, dachte er, das ist Liebe. Bedingungslose Liebe. Er atmete ein, so tief er konnte. Die kühle Luft berauschte ihn. Und irgendwie roch er sie, die Liebe seines Lebens, die Frau, die nur er hatte retten und lieben können.

Er straffte die Schultern und lächelte.

Heute war ein guter Tag. Vielleicht der beste seines Lebens.

Kapitel 2

Komm schon! Kiki Holland trommelte nervös mit den Fingern auf die Arbeitsplatte, als könnte sie so das Brühtempo der Kaffeemaschine beschleunigen. Sie hätte das Gerät längst mal entkalken sollen, das war ihr klar. Genauso, wie sie die kaputte Glühbirne im Flur ihrer Wohnung hätte austauschen oder das komplett vereiste Gefrierfach auftauen sollen. Hätte. Sollen. Aber wann? Die wenigen Tage, die sie frei hatte, füllte sie lieber mit Fahrten ins Umland, wobei ihr Enzo, der kleine italienische Wagen, treue Dienste leistete. Manchmal nahm sie auch Torsten mit, ihren besten Freund, den seine Freunde nur Torte nannten, seit Kiki ihm diesen Spitznamen verpasst hatte.

Die Kaffeemaschine gab ein Geräusch von sich, das wie ein Rülpser klang. Dann presste der Apparat das heiße Wasser durch den Filter. Kaum war der Vorgang beendet, kippte Kiki eiskalte Milch in die Tasse. Sie hatte es eilig und war froh, dass der Koffeinkick rasch auf angenehme Trinktemperatur kam. Sie stürzte das Gebräu hinunter, stellte die Tasse achtlos zurück, schnappte sich Enzos Schlüssel und ihre Laptoptasche und stürmte aus dem Haus.

Zwanzig Minuten blieben ihr noch, um durch die Stadt zu fahren, einen Parkplatz für den Mini zu finden und zum Amtsgericht zu hetzen. Sie würde über Peter Werner berichten, den alle nur »den Stalker« nannten. Der 34-Jährige war angeklagt, seine zwei Jahre jüngere Ex-Freundin erstochen zu haben.

Kiki Holland hatte ihre Hausaufgaben gemacht, wie es sich für eine seriöse Journalistin geziemte. Auch wenn sie eigentlich gar nicht für den Fall hätte zuständig sein sollen – es gab krankheitsbedingt schlicht niemanden in der Redaktion, der die Gerichtsreportage übernehmen konnte. Übernehmen vielleicht schon, hatte ihr Chef Markus Kahler gesagt. Aber so darüber zu schreiben, dass es für den überregionalen Teil taugte – »das haben die einfach nicht auf dem Kasten«. Kiki sah das anders, aber sie wusste, dass sie Kahler besser nicht widersprach, und so hatte sie ein knappes Jahr nach dem spektakulären Fall um eine vermeintliche Kindsmörderin wieder mit einem aufsehenerregenden Fall vor Gericht zu tun. Die großen Fälle waren Holland-Fälle.

Sie hoffte inständig, dass alles in wenigen Prozesstagen über die Bühne gehen würde. Und dass sie bei ihren eigenen Recherchen, ohne die solch ein Bericht in ihren Augen kein ordentliches journalistisches Handwerk war, nicht erneut selbst in Gefahr kommen würde. Das einzig Gute damals war die Begegnung mit Tom gewesen. Ihr mittlerweile liebster Landschaftsgärtner war nicht nur ihr Lover, sondern ebenso ihr Vertrauter und neben Torte ihr liebstes offenes Ohr. Sie freute sich jedes Mal, wenn sie einen Abend mit ihm verbringen und gemeinsam mit ihm philosophieren konnte. Über Gott und die Welt. Manchmal auch mit Torte und ihm, was entweder höchst amüsant oder sehr anstrengend werden konnte, weil beide meist ziemlich unterschiedliche Sichtweisen besaßen.

Während sie sich in den morgendlichen Verkehr einfädelte und aus den Lautsprecherboxen in der sogenannten Deutschstunde des hiesigen Radiosenders Apache 207 zusammen mit Udo Lindenberg auf recht nölige Weise über einen Kometen trällerte, rief sie sich die Fakten ins Gedächtnis.

Das Opfer: die 32-jährige Samantha Konz. Die Getötete hatte als Zahnarzthelferin gearbeitet, in einer bescheidenen Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Mehrfamilienbau aus den 1960ern gewohnt. Im Bad nur eine Dusche, die Küche winzig, einen Balkon hatte es nicht gegeben.

Der Angeklagte: der 34 Jahre alte Peter Werner, von Beruf Fachkraft für Kreislauf- und Abfallwirtschaft. Seinen und ihren Nachnamen hatte Kiki mithilfe ihrer Kontakte bei der Justiz eher erfahren als alle anderen Kollegen.

Ja, sie würde zu spät kommen, und ja, der Kollege Mussack aus der Boulevardredaktion würde süffisant grinsen. Es war ihr egal, was der Unsympath dachte oder machte. Sie war ihm einen Schritt voraus, mindestens. Denn sie wusste über den Werdegang des Peter W. Bescheid.

Sie musste an einer roten Ampel bremsen. Der Komet verschwand vom Musikhimmel und machte Platz für Ich find dich scheiße. Kiki runzelte die Stirn. Die Songauswahl war manchmal gewöhnungsbedürftig. Vor allem das Lied war während ihrer Studienzeit gefühlt in Endlosschleife gelaufen. Als ihr damaliger Schwarm ihr einen Korb gegeben hatte, war es ihr recht passend vorgekommen. Danach hatte sich der Song ziemlich schnell abgenutzt. Kein Wunder, in der Regel stand sie eher auf Musik mit etwas mehr Power. Wenn eine Gitarre dabei war, war das nicht verkehrt.

Einige Sekunden lang versuchte Kiki, sich an den Namen ihres damaligen Schwarms zu erinnern. Frank? Fabio? Frederick? Es fiel ihr nicht mehr ein. So oder so würde sie den fiesen Ohrwurm mit einer ordentlichen Portion Muse tilgen müssen. Kiki schaltete das Radio ab und startete ihre eigene Playlist auf dem Smartphone.

Kikis Gedanken drohten abzudriften. Sie rief sich selbst ins Hier und Jetzt und zum aktuellen Fall zurück. Peter Werner also. Kiki hatte das Internet befragt. Der mutmaßliche Mörder hatte kein Konto bei Instagram. Auf TikTok und anderen Plattformen war er ebenfalls nicht zu finden. Jedenfalls nicht unter seinem Klarnamen, einzig bei Facebook. Der letzte Eintrag dort lag gut anderthalb Jahre zurück. Da hatte er eines dieser sinnentleerten Bilder geteilt, das in diesem Fall ein Huhn zeigte. »Der frühe Vogel kann mich mal«, hatte dort in einer in Kikis Augen grottenschlecht gewählten Schriftart gestanden.

Sein Profilbild hatte Werner offenbar häufiger geändert, so viele, wie es in dem entsprechenden Ordner gab. Eines zeigte einen jungen glatt rasierten Mann mit kurzen, sehr gut geschnittenen Haaren. Außerdem waren da Bilder von einer Graffitiwand, einem braun-weiß gescheckten Kaninchen und verschiedene halb vermummte Aufnahmen, die Werner mit ins Gesicht gezogener Kapuze, Baseballkappe oder dunklem Schal vor der Mundpartie zeigten. Vor gut einem Jahr hatte er sich, so mutmaßte Kiki, selbst abgelichtet, mit einem dünnen Zopf aus grauer gewordenem Haar über dem Undercut, dazu ein langer Bart.

War seine Nase breiter geworden? Die Augen schmaler? Kiki vermochte es nicht genau zu sagen.

Dennoch.

Etwas schien sich über die Jahre im Blick des Peter Werner verändert zu haben.

Als sie in die nächste Straße abbog, wusste sie: Sie würde heillos zu spät kommen. Ein Müllwagen blockierte die Einbahnstraße. Die Männer schienen sich Zeit mit dem Leeren der Tonnen zu lassen. Das war aber vermutlich nur ihre Wahrnehmung. Kiki zuckte mit den Schultern. Die Angaben zur Tat und Person, die zum Prozessauftakt abgehandelt wurden, musste sie nicht live vor Ort miterleben. Das alles hatte sie längst selbst recherchiert.

Nach einer quälend langen Autofahrt erreichte Kiki schließlich den Justizpalast. Zu ihrer Freude parkte genau gegenüber dem imposanten neobarocken Bau ein SUV aus. Enzo bekam also mächtig Platz, um sein bisschen Blech in die Lücke zu setzen. Kiki riss ihre Tasche an sich, darin das über Nacht geladene Notebook, stieg aus und hastete die Treppen hinauf. Keine zwei Minuten später schlüpfte sie durch die Tür des Gerichtssaales. Leise, wie sie dachte, und dennoch drehten sich alle Anwesenden zu ihr um. Darunter auch Mussack. Sein schadenfrohes Grinsen entging ihr nicht.

Kiki verzichtete darauf, sich neben ihn in die für die Presse reservierte Reihe zu setzen, und ging in die letzte Bankreihe. Der Platz rechts neben ihr war leer. Sie legte die Tasche darauf, holte ihr Notebook heraus und ignorierte den Blick einer älteren Dame, die sie schon oft bei Gerichtsterminen gesehen hatte. Ja, es gab sie, diese Menschen, die das Leid anderer, deren Strafen, das Aufrollen ganzer Lebensläufe konsumierten wie andere Leute das sanfte Plätschern einer Vorabendserie. Nun ja, dachte sie, manche machten in ihrer Freizeit Puzzles, andere strickten und wieder andere ließen sich kostenlos in Gerichtssälen unterhalten.

Kiki fuhr den Laptop hoch, den sie auf dem Schoß balancierte. Sehr viel schien sie nicht verpasst zu haben. Aktuell verlas der Staatsanwalt Julian Simmendinger, ein langer, schlaksiger Kerl in den Vierzigern mit spärlichem Haarwuchs, mit nasaler Stimme den Anklagesatz. Stimmklang und Aussehen fand Kiki Holland fast ein bisschen niedlich.

Sie fixierte Peter Werner.

Er sah ganz anders aus als auf dem Foto, das sie auf Facebook gefunden hatte. Das Haupthaar war einer Glatze gewichen, das Gesicht glatt rasiert. Werner hielt den Blick gesenkt, die Hände lagen vor ihm auf der Tischplatte. Auf den ersten Blick schien der Mann völlig ruhig zu sein, doch das Kneten seiner Hände zeigte der Journalistin, wie nervös er war.

Die Anklage fiel so aus, wie Kiki es erwartet hatte: Mord. Simmendinger nickte der Richterin zu, als wolle er sich selbst bestätigen. Er und seine Behörde sahen die Merkmale eines solchen Tötungsdeliktes als gegeben: Werner hatte sein Opfer heimtückisch, zielgerichtet und aus niederen Beweggründen umgebracht.

Kiki erinnerte sich an den Tatverlauf, wie er von der Polizei bei der Pressekonferenz vor mehr als acht Monaten verlesen worden war und den sie in den letzten Tagen mehrmals studiert hatte. Den Termin hatte sie damals nicht selbst besetzt, denn es war einer ihrer so raren freien Tage gewesen, und sie hatte die Gelegenheit genutzt, um auszuschlafen, in der Wohnung zu saugen und ihre Vorräte an Grundnahrungsmitteln mal wieder aufzustocken. Von der Kassiererin war sie gefragt worden, wie viele Kinder sie habe, denn fünf Packungen Klopapier, zehnmal Spaghetti, zehn Pack Kaffee oder eine komplette Stiege Milch ließen wohl auf eine große Schar von hungrigen Mündern schließen. »Acht«, hatte Kiki geantwortet. »Und das neunte ist unterwegs.« Es ging die Frau doch nichts an, dass sie nicht wusste, wann sie mal wieder Zeit für einen Einkauf finden würde.

In den kommenden Tagen, vielleicht Wochen, wäre ihr Zeitplan straff, das war ihr klar, als sie an den aktuellen Fall dachte. Denn sie, Kiki Holland, hatte sich mit dem Pressekodex dazu verpflichtet, ihre Leser und Leserinnen so genau und ehrlich wie möglich zu informieren. Das würde sie auch dieses Mal tun.

Den Ermittlungsakten zufolge hatte Samantha Konz, das Opfer, ihre Wohnung wie üblich gegen halb acht Uhr am Morgen verlassen, um sich auf den Weg in die Zahnarztpraxis zu machen, in der sie arbeitete. Ebenso wie üblich, hatte sie sich in der Bäckerei, die nach zehn Minuten Fußmarschs erreicht war, einen Coffee to go (schwarz) sowie ein Buttercroissant gekauft. Den leeren Becher mit ihrem Vornamen hatten die Ermittler später neben einem Mülleimer gefunden, der allerdings nicht auf Samantha Konz’ Arbeitsweg lag, sondern in der exakten Gegenrichtung.

Wo genau ihr späterer Mörder und sie sich begegnet waren, ließ sich nicht nachvollziehen. Klar war den Ermittlern hingegen, dass Täter und Opfer sich gekannt hatten. So, wie sich Samantha K. und Peter W. eben gekannt haben konnten, die vor Jahren für den Zeitraum von drei Wochen ein Paar gewesen seien. So zumindest hatte es Samanthas Kollegin Olga Kusnezow ausgesagt, mit der Samantha eine Art kollegial-freundschaftlicher Beziehung gepflegt hatte. Indizien hatten die Beamten auf die Spur des Mannes gebracht. Einen Tag nach der Tat wurde er in seiner Wohnung festgenommen.

»Der Peter hat ihr schon sehr gefallen«, hatte die Arbeitskollegin gesagt. Das hatte auch der Sprecher der Polizei zitiert. Kiki war es ein Rätsel, was eine bildschöne Frau wie Samantha an einem solchen Typen zugesagt haben könnte. Doch sie war Journalistin genug, um hier neutral zu bleiben.

Die beiden waren sich begegnet, als der mutmaßliche spätere Täter in die Vertretungssprechstunde der Zahnarztpraxis gekommen war. Es hatte eine Handvoll Dates gegeben, aus denen sich allmählich eine Beziehung entwickelt hatte. Nach drei Wochen hatte Samantha K. sich jedoch wieder von ihm getrennt. Und ab da, so Olga Kusnezow, sei der Terror losgegangen.

Es hatte ganz harmlos angefangen: Mit romantischen Nachrichten auf ihr Smartphone. Vieles davon animierte Bilder und Fotos mit mehr oder minder zweideutigen Liebesbezeugungen. Anrufe waren gefolgt. Zu Beginn noch tagsüber, später ebenso mitten in der Nacht. Am Scheibenwischer von Samanthas Hyundai hatten gelegentlich Zettelchen mit Botschaften gesteckt. Eines Morgens auch eine Packung Schokolade in Herzform. Die hatte sie mit zur Arbeit genommen und an die Kolleginnen und Kollegen verteilt.

Erst im Nachhinein war Samantha Konz klar geworden, wie riskant das gewesen war. Was, wenn die Nascherei irgendwie präpariert, mit Drogen oder gar Gift versetzt worden war? Nachher hatte sie sich deswegen große Vorwürfe gemacht. Nachher, als sich die Art und Menge der Nachrichten gewandelt hatten und sie nicht mehr sporadisch, sondern penetrant häufig gekommen waren.

Mehrmals hatte Samantha versucht, die Sache mit Peter zu klären. Dass er sie weder mit Textnachrichten noch Anrufen belästigen sollte. Als dies alles nichts geholfen hatte, hatte sie ihn auf ihrem Telefon und in den sozialen Medien blockiert. Genützt hatte auch das nichts – im Gegenteil. Nachdem diese Art der Kommunikation nicht mehr funktioniert hatte, hatte er ihr aufgelauert. Angeblich sei er rein zufällig an ihrer Wohnung und ein andermal bei ihrer Arbeitsstelle vorbeigekommen. Jedes Mal hatte er sich ahnungslos gestellt und bemüht, sie in harmlose Dialoge zu verwickeln. Das Problem daran war, dass das nicht harmlos und unverfänglich erschien, wenn man diese Treffen einfach nicht haben wollte.

Eine Zeit lang hatte Samantha andere Strecken und andere Zeiten für ihren Weg zur Arbeit und zum Einkaufen gewählt. Leider vergebens. Irgendwie hatte er sie immer gefunden.

Schließlich hatte Samantha keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als ihren Ex bei der Polizei anzuzeigen. Die Beamten hatten ihre Aussage aufgenommen und ihr von den aktuellen Anti-Stalking-Gesetzen erzählt. Außerdem hatten sie gegenüber Peter Werner eine Verwarnung ausgesprochen, sich von seiner Ex-Freundin fernzuhalten.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Samantha die Angelegenheit vorwiegend genervt. Von einer Gefahr war sie nicht ausgegangen. Deshalb hatte sie sich auch um keine andere Hilfe bemüht.

Aufgehört hatte das Stalking nach dem Besuch bei der Polizei nicht. Stattdessen war Peter W. subtiler geworden. Es hatte keine direkten Kontaktversuche mehr gegeben, sondern Anrufe mit unterdrückter Nummer oder von fremden Handynummern aus. Und er war ihr nicht mehr »zufällig« über den Weg gelaufen, sondern hatte sie aus der Entfernung beobachtet, war rasch hinter eine Ecke verschwunden, wenn sie sich zu ihm umdrehte – zumindest war das ihr ganz klares Gefühl gewesen. Einige Male jedoch war sie sich auch nicht ganz sicher gewesen, weil er sich so flink bewegt hatte – aber nachdem das häufiger vorgekommen war, dürfte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ihn gehandelt haben. Sie hatte seine Blicke förmlich auf sich gespürt.

Samantha war abermals zur Polizei gegangen. Zudem hatte sie rechtliche Schritte unternommen und sich um ein Annäherungsverbot bemüht. Hierfür gab es im §238 des Strafgesetzbuchs zwar eindeutige Vorgaben, da das unerwünschte Auflauern jedoch nicht explizit nachgewiesen werden konnte, hatte ihr Anwalt um Beweise gebeten, um sie dem Gericht vorzulegen. Anonyme Textnachrichten und Anrufe mit unterdrückter Rufnummer genügten hierfür ebenfalls nicht, weil diese Taten Peter Werner nicht zweifelsfrei zugeordnet werden konnten.

Aus noch ungeklärten Gründen hatte der Angeklagte dennoch offenbar Wind von den Bemühungen bekommen. Als Folge davon war Samantha über fremde Accounts in den sozialen Medien beleidigt worden. Dazu hatte es Behauptungen und Anschuldigungen gegeben, bei denen sie nicht jedes Mal sofort das Gegenteil hatte beweisen können. Da in einigen Fällen ihr Job erwähnt worden war, hatte Samantha vorsichtshalber auch ihren Arbeitgeber über das Stalking-Problem informiert.

Die Situation war Samantha zusehends entglitten und hatte ihr sowohl psychisch als auch physisch zugesetzt. Sie hatte mit Schlafproblemen zu kämpfen und kaum noch etwas gegessen. An einigen Tagen hatte sie nicht einmal die Kraft gefunden, ihre Wohnung zu verlassen, aus Angst vor einem weiteren wie auch immer gearteten Übergriff. Zu dem es dann auch ganz offensichtlich gekommen war, als der Stalker nämlich zu seiner finalen Tat ausgeholt und sie mit mehreren Messerstichen getötet hatte.

Kiki notierte sich den vorgetragenen Ablauf stichpunktartig auf dem Notebook, obwohl sie über ihre Kontakte bei der Staatsanwaltschaft bereits eine detaillierte Übersicht aller bekannten Stalking-Vorkommnisse erhalten hatte. Für die spätere Zeitungsmeldung war es besser, nur ein paar markante Punkte hervorzuheben.

Wie sie sehen konnte, war Kollege Mussack ebenfalls um emsiges Mitschreiben bemüht, genauso wie andere Vertreter der schreibenden Zunft. Kiki wollte nicht ausschließen, dass die ersten Meldungen bereits in den nächsten Minuten online gehen würden. Zum Glück brauchte sie sich um den Newsticker nicht zu kümmern. Ihr Chef wollte von ihr ausführliche und vor allem fundierte Artikel haben.

Interessanter als das Treiben ihrer Pressekollegen war ohnehin die Reaktion von Peter Werner, der während der polizeilichen Ermittlungen als »Beschuldigter« und seit Prozessbeginn als »Angeklagter« geführt wurde. Anfangs hatte er noch mit gesenktem Kopf dagesessen, so als versuche er, auf diese Weise sämtlichen Blicken auszuweichen. Doch je mehr Vorfälle Simmendinger auflistete, desto wütender schien das den mutmaßlichen Mörder zu machen. Er schnaufte, schüttelte den Kopf und schien mehrmals kurz davorzustehen, aufzuspringen. Sein Strafverteidiger, ein kegelförmiger Endfünfziger mit grauen Locken und großen Händen namens Herbert Nachtigall, musste ihn permanent besänftigen, um ihn auf seinem Platz zu halten. Die zwei Gerichtsdiener behielten ihn ebenfalls im Auge, bereit, unverzüglich einzugreifen, sollte es zu irgendwelchen Zwischenfällen kommen. Als der Staatsanwalt zur Schilderung von Samantha K.s Ermordung kam, war sämtliches Gutzureden hinfällig. Peter Werner schoss in die Höhe und hieb mit der Faust auf die Tischplatte vor sich.

»So war es nicht! Sie haben sich alles so zurechtgebogen, dass es passt! Das ist …«

»Setzen Sie sich wieder auf Ihren Platz und schweigen Sie!«, unterbrach ihn die Richterin Ruth Möricke, sie mochte in den Fünfzigern sein, mit schneidender Stimme und drohendem Blick. »Bitte bleiben Sie ruhig und sprechen Sie nur, wenn Sie dazu aufgefordert werden!«

Dies war keine Bitte, sondern ein Befehl.

Der Angeklagte verstummte abrupt. Allerdings blieb er weiterhin stehen und gestikulierte wild mit den Armen. Es schien nicht viel zu fehlen, und er würde erneut loszetern. Ein Risiko, das die Richterin offenbar ausschließen wollte.

»Setzen Sie sich hin!«, ermahnte sie ihn abermals, fast mit einem drohenden Unterton, wie Kiki meinte wahrzunehmen. »Und benehmen Sie sich. Wenn Sie es wünschen, werden Sie zu gegebener Zeit die Gelegenheit erhalten, Ihre Sicht der Dinge zu schildern. Für den Moment sind Sie ruhig. Haben Sie das verstanden?«

»Ja«, erwiderte Peter W. eingeschüchtert. Eine Sekunde darauf sank er auf seinen Platz zurück.

»Gut«, quittierte das die Richterin. Fertig war sie mit ihrer Ermahnung damit noch nicht: »Sollten Sie weiterhin ungefragt dazwischenrufen oder sich auf andere Art und Weise danebenbenehmen, kann ich Sie auch gerne aus dem Gerichtssaal entfernen lassen. Dann findet die Verhandlung ohne Sie statt. Das liegt ganz bei Ihnen. Ich jedenfalls dulde in meinem Gerichtssaal keinerlei Ausschreitungen. Wir sind hier schließlich nicht im Wirtshaus!«

Sie funkelte den Angeklagten noch einen Moment lang grimmig an, bevor sie einen ernsten Blick durch den Raum schweifen ließ. Die Botschaft dahinter war eindeutig: Das, was sie gerade gesagt hatte, galt nicht nur für den Beklagten, sondern für jeden und jede im Saal.

Nachdem niemand auf die Idee kam, dem zu widersprechen, wandte sich die Richterin in deutlich gemäßigterem Tonfall an Julian Simmendinger: »Herr Staatsanwalt, bitte fahren Sie fort.«

Dieser wirkte ebenfalls eingeschüchtert und brauchte einige Sekunden, um sich zu sammeln, damit seine Stimme nicht mehr brüchig klang.

Der restliche Vormittag schleppte sich mehr schlecht als recht dahin. In den vielen Jahren seit ihrem journalistischen Volontariat hatte Kiki genügend Gerichtsverhandlungen besucht, um das Prozedere auswendig zu kennen und zu wissen, dass es die meiste Zeit eher öde und zäh zuging. Die spannenden Stellen, wie sie in Justizromanen von John Grisham oder Michael Connelly vorkamen, waren bedauerlicherweise eher die Ausnahme. Vor allem zu Beginn eines Prozesses.

Deshalb dauerte es nicht lange, bis Kikis Gedanken abdrifteten. Erneut war es Peter Werner, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Nicht wegen seines Benehmens. Seit Richterin Mörickes Zurechtweisung klebte er förmlich auf seinem Stuhl und hielt wieder den Blick gesenkt. Gelegentlich machte es fast den Eindruck, als wäre er eingeschlafen. Doch dermaßen öde dürfte die Verhandlung nicht sein. Insbesondere nicht für ihn, der auf der Anklagebank saß und im Falle einer Verurteilung mit einem lebenslangen Freiheitsentzug rechnen konnte. Wäre Kiki an seiner Stelle, ihr würde das Adrenalin in Höchstgeschwindigkeit durch den Körper rauschen.

War er da so anders? Konnte man in einer Situation wie dieser überhaupt anders reagieren? Sie fragte sich einmal mehr, was für eine Art Mensch dieser Mann sein musste, um sich dermaßen in die Liebe zu einer Frau hineinzusteigern, dass er sie schlussendlich ermordet hatte. Was brachte jemanden dazu, diese gewaltige Schwelle zwischen Leben und Tod zu überschreiten? Aber vermutlich war das eine viel zu weit hinten angesetzte Überlegung. Besser war es wohl, mit der Frage anzufangen, warum Peter W. das erste Nein und die vielen darauf folgenden von seiner damaligen Freundin nicht hatte akzeptieren können. Klar, einige Männer waren etwas schwer von Begriff oder aus fehlgeleiteten Machogründen übertrieben hartnäckig. Doch irgendwann müssten doch auch sie bei solch eindeutigen Signalen einsehen, dass die Beziehung nun mal vorüber war. Wie schwer war es zu kapieren, dass eine Frau einen Schlussstrich zog?

Generell betrachtet war es nicht einmal eine Frage des Geschlechts. Es gab gewiss auch genug Frauen, die das Ende einer Partnerschaft nicht akzeptieren wollten. Und nur ein geringer Prozentsatz von ihnen mutierte daraufhin zum Stalker respektive zur Stalkerin. Die meisten Verlassenen blieben harmlos oder zogen sich spätestens dann zurück, wenn die gestalkte Person zur Polizei ging. Ein Psychoterror, wie ihn Samantha Konz erlebt hatte, war Gott sei Dank eine gewaltige Ausnahme. Was es für das Opfer natürlich nicht weniger schlimm machte.

Als die Richterin um kurz vor halb eins die Verhandlung für die Mittagspause unterbrach, war es, als atme der gesamte Saal auf. Alle Anwesenden wirkten erleichtert über eine Unterbrechung des düsteren Themas. Kiki erging es nicht anders. Wobei sie noch dazu ein leichter Kopfschmerz, hervorgerufen durch die stickige Luft, aus dem Justizpalast drängte. Überdies freute sie sich darauf, ein paar Textnachrichten mit Tom auszutauschen, der bedauerlicherweise nicht in der Stadt weilte, sondern vorgestern nach Köln aufgebrochen war, um dort an der spoga+gafa teilzunehmen, der internationalen Leitmesse der Garten- und Freizeitbranche. Tom hatte zwar gefragt, ob sie ihn begleiten wolle, doch Kiki hatte dankend abgelehnt, schon bevor ihr ihr Boss Markus Kahler einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Sosehr sie Tom auch liebte, sich mehrere Tage lang über Gartenideen, -trends und -produkte zu unterhalten, klang in ihren Ohren alles andere als vielsprechend. Für ihn mochte es ein beruflicher Traum sein, für sie käme es einem Albtraum gleich. Daran änderte auch nichts, dass der »Maulwurf«, wie Tom von vielen seiner Kundinnen und Kunden genannt wurde, höhere Ziele als die bloße Verschönerung von Hecken und Blumenbeeten anstrebte. Sollte er nur in aller Ruhe sein Ding machen, Kiki würde in der Zwischenzeit ihres machen.

Gerade als sie ihr Telefon auf neue Nachrichten überprüfen wollte, vernahm sie hinter sich ein Räuspern. Noch bevor Roland Mussack etwas sagen konnte, erkannte sie seine Stimme und verdrehte innerlich die Augen. »Na, wenn das nicht unsere rasende Reporterin ist. Immer auf Achse, immer in Eile.«

»Manche Leute haben eben viel zu tun.«

»Selbst in der Mittagspause?«

»Selbst dann. Was kann ich für dich tun?«

»Ich wollte dich bloß fragen, ob du auch unterwegs bist, um Treibstoff zu tanken. Ein Tässchen Kaffee, einen Snack oder so …« Der rundliche Kollege grinste und entblößte dabei seine schief stehenden nikotingelben Zähne. Kaum hatten sie das Gebäude verlassen, zündete er sich eine seiner selbst gedrehten Zigaretten an und sog genüsslich den Rauch ein.

Ihr erster Impuls war, Mussack mit einer knalligen Ausrede stehen zu lassen. Allerdings sehnte sie sich wirklich nach einem frischen Kaffee und einem Snack. Es gab im Gericht zwar Getränkeautomaten auf dem Flur, aber deren Gebräu Kaffee zu nennen, käme einer maßlosen Übertreibung gleich.

»Ja, Kaffee geht immer«, bestätigte sie daher und sah zu, dass sie nicht in der Abluft von Mussacks süßlich-bitterem Tabakdampf laufen musste. Am Straßenrand sah sie ihren vorhin eilig eingeparkten Kleinwagen stehen. Der reichhaltige Platz war zwischenzeitlich deutlich geschrumpft. Sowohl wenige Zentimeter vor als auch hinter Enzo standen deutlich größere Autos. Wie sie aus der Lücke später wieder herauskommen sollte, war ihr ein Rätsel. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie kein Knöllchen erhalten hatte, wandte sie zufrieden nickend den Kopf zurück zu Mussack.

»Gehen wir zum gleichen Laden wie immer?«, fragte der neben ihr.

»Wie immer« war eindeutig eine Übertreibung. In den vergangenen zwölf Monaten waren Kiki und er genau viermal zur gleichen Zeit im Gerichtssaal gewesen. Bei drei dieser Gelegenheiten waren sie zu dem lauschigen Eckcafé gegangen, das nur wenige Querstraßen vom Justizpalast entfernt lag. Wenn das in seinen Augen »wie immer« bedeutete, konnte sie damit leben.

Sie beließ es bei einem Nicken und schob gleich eine Gegenfrage hinterher, bevor der Journalist die Chance zum Aushorchen bekam. »Wie kommt es eigentlich, dass du bei dieser Verhandlung dabei bist? Mit Schickimicki und Glamour hat das Ganze ja nur wenig zu tun.«

»Das nicht, aber von allgemeinem Interesse ist es schon. Das Thema birgt jede Menge Sensationspotenzial. Da sehe ich die nächste große Überschrift auf Seite eins schon vor mir. Je plakativer, desto besser.«

Er rieb sich zufrieden die Hände und verteilte dabei einen Großteil der Asche seiner Zigarette auf dem Bürgersteig.

»Da wundert es mich glatt, dass sie dich noch nicht zum Chefredakteur gemacht haben.«

»Ja, mich auch. Das kommt bestimmt noch. Ich wäre auf jeden Fall bereit dafür. Mit meinem reichhaltigen Erfahrungsschatz.«

Erneutes inneres Augenrollen. »Dann lass mich doch mal an deinem … äh … reichhaltigen Erfahrungsschatz teilhaben und verrate mir, wieso die Richterin heute so pissig reagiert hat.«

»Du meinst, auf den Ausraster vom Angeklagten?«

Was denn sonst? Erneut beschränkte Kiki sich auf ein kurzes Nicken.

»Die hat generell eine recht kurze Zündschnur. Hat früher schon nicht lange gefackelt, aber seit ein paar Monaten verfolgt sie eine Null-Toleranz-Strategie. Man munkelt, dass es bei ihr privat nicht so gut läuft. Ihr Ehemann war früher Sales Manager beim Pharmariesen Eureka. Nachdem die letztes Jahr ordentlich negativ in den Schlagzeilen standen, mussten ein paar Köpfe rollen. Der von ihrem Mann war einer davon. Apropos Pharmariese und Schlagzeilen: Witterst du hier eigentlich einen neuen Fall oder was treibt dich in den Gerichtssaal?«

»Anweisung von Kahler. Er hat mich dazu verdonnert, weil die ursprüngliche Redakteurin ausgefallen ist. Darum gerissen habe ich mich nicht. Ich habe es nicht mehr so mit Gerichtssälen. Außerdem hatte ich kaum Zeit, mich auf den Fall vorzubereiten. Wenn du ein paar nützliche Hintergrundinfos hast, darfst du mich gerne daran teilhaben lassen.«

Das mit der mangelnden Vorbereitung war zwar stark übertrieben, doch warum nicht eine Chance nutzen, wenn sie sich dermaßen anbot? Abzuklären, was die Kollegen wussten, schadete nie.

»Klar. Jederzeit gerne. Wir Schreibhuren müssen schließlich zusammenhalten.«

Obwohl ihr der Begriff stark missfiel, sagte sie nichts. Es brachte nichts, mit ihm über seine Wortwahl zu streiten. Bei Mussack wäre das komplett vergeudete Lebenszeit, das wusste sie aus Erfahrung. Ebenso wusste sie, dass er sie ohnehin nur provozieren wollte.

»Am wichtigsten ist es, zu wissen, dass der Bursche schuldig ist, wie man nur schuldig sein kann. Er hat für die Tatzeit nicht nur kein Alibi, er soll auch gegenüber Freunden mit der Tat geprahlt haben. Dass er jetzt bei der Verhandlung so erschüttert getan hat, ist bloß Show. In Wahrheit ist der eine ziemlich abgebrühte Type.«

»Verrät dir das dein reichhaltiger Erfahrungsschatz?«

»Genau der. Davon abgesehen, hat die Polizei alles genauestens unter die Lupe genommen. Ich hab da einen Spezi bei der Kripo – Namen kann ich natürlich keine nennen –, der mir ein paar Sachen dazu gesteckt hat. Es besteht überhaupt kein Zweifel. Der Mistkerl hat die Frau auf dem Gewissen. Ganz einfache Geschichte.«

Kiki musste sich auf die Unterlippe beißen. Manchmal nahm der Kollege den Mund erstaunlich voll. »Der Teufel steckt mitunter im Detail … Außerdem geht es mir weniger um die Tat an sich, sondern vielmehr um die Hintergründe. Warum hat er sie umgebracht?«

Mussack schüttelte tadelnd den Kopf. »Mach es dir nicht so kompliziert. Er ist durchgedreht. Sie hat ihm eine Abfuhr erteilt, und er konnte nicht damit umgehen. So etwas kommt vor. Nicht schön und zum Glück eher selten. Eine Woche nach der Verurteilung kräht kein Hahn mehr danach.«

Inzwischen hatten sie das Eckcafé erreicht und sich in die Schlange der Wartenden eingereiht. Gespräche über den Gerichtsfall waren damit passé, um nicht aus Versehen vertrauliche Informationen weiterzugeben. Daher betrieben sie unverfänglichen Small Talk über das Wetter und ähnlich spannende Themen.

Nachdem sie sich beide einen Kaffee und ein belegtes Brötchen gekauft hatten (Mussack orderte zusätzlich dazu ein Kirschplunderstück), machten sie sich auf den Rückweg zum Justizgebäude.

Vor den Eingangsstufen hatte sich eine Menschentraube gebildet. Mussack und Kiki traten zu den gut zwei Dutzend Menschen. Während der Kollege groß genug war, um über die Köpfe der Leute hinwegblicken zu können, musste sich Kiki zwischen zwei Frauen hindurchzwängen. Mit Mühe konnte sie einen Schrei unterdrücken, als sie sah, was die Menschen anstarrten.

Auf die untersten Stufen hatte jemand ein übergroßes Foto in einem schwarzen Bilderrahmen gelegt. Es zeigte das Porträt einer Frau.

Und diese Frau sah aus wie Kiki. Nun ja, beinahe.

Die Frau neben ihr zuckte zusammen.

Kikis Herz begann zu rasen.

»Sie sehen aus wie Samantha«, wisperte ihr die Unbekannte zu. »Sie sehen fast so aus. Sie könnten ihre Doppelgängerin sein.«

Kiki nickte zögerlich.

Zugegeben, aus diesem Winkel und auf den ersten, flüchtigen Blick konnte man wirklich meinen, dass Samantha und die Reporterin dieselbe Person oder zumindest Schwestern waren. Eine gewisse Ähnlichkeit war auch Kiki bei ihren ersten Recherchen zum Fall aufgefallen. Auch Torte hatte sie auf seine gewohnt unverblümte Art mehrmals darauf hingewiesen. Dennoch war es ihrer Meinung nach nichts, was einer näheren Betrachtung standhalten würde. So wie sich auch die Schauspieler Javier Bardem und Jeffrey Dean Morgan beim genauen Hinschauen nicht wirklich ähnelten. Oder ihre Kolleginnen Bryce Dallas Howard und Jessica Chastain.

Sie starrte auf das Foto, das wohl ein Mahnmal sein sollte. Die Ermordete hatte dieselben leicht schräg stehenden Augen wie sie. Kinnpartie und der Schwung des Mundes waren identisch, wenngleich Kiki kein Grübchen am Kinn hatte. Und Samanthas Wangenknochen waren weniger ausgeprägt als die ihrigen. Außerdem trug diese die Haare länger.

Aber so im ersten Moment … Kiki wollte sich abwenden und die Stufen zum Gericht hochsteigen, doch die Frau hielt sie am Arm fest. »Sie sehen aus wie sie.«

Erst jetzt musterte Kiki ihr Gegenüber eingehend. Und dann fiel ihr ein, wer die schlanke Frau in den Fünfzigern war: Maria Konz, die Mutter der Toten. Kiki bekam Gänsehaut.

»Ja, stimmt«, betätigte Mussack, dem das Ganze jetzt erst aufgefallen zu sein schien. »Es heißt ja, dass jeder Mensch irgendwo auf der Welt einen Doppelgänger hat. Vielleicht ist Samantha Konz ja deiner. Oder vielmehr: war.«

Kiki drehte ihm demonstrativ den Rücken zu.

»Ich habe Sie heute Vormittag nicht bei der Verhandlung gesehen«, sagte sie an die Mutter gewandt.

»Ich kann das nicht!«, flüsterte Maria Konz. Tränen traten ihr in die Augen, und Kiki befürchtete, dass sie zu weinen beginnen würde. Doch die Frau schluckte hart gegen die Trauer an.

»Ich muss dann mal«, sagte Kiki, die sich in solchen Situationen hilflos fühlte. Was hätte sie der Frau auch mitteilen können? Dass es ihr leidtat? Das tat es, wie es jemandem leidtat, der von einem tödlichen Unfall las. Dass sie Trost spenden könnte? Wohl kaum. Was sollte sie einer völlig Fremden also sagen?

Die Menschentraube begann sich aufzulösen und die Treppe hinaufzugehen. In wenigen Minuten würde der erste Verhandlungstag fortgesetzt werden mit der Vernehmung der Kriminalpolizisten, welche als Erste am Tatort gewesen waren.

»Bitte bleiben Sie!« Maria Konz sah Kiki flehend an. »Frau Holland, ich muss mit Ihnen reden.«

Sie kannte also auch bereits ihren Namen. Mist! Kiki verspürte den Impuls, sich loszureißen. Doch schließlich gewann ihre Neugier. Sie würde bleiben. Das könnte wichtiger als die Verhandlung sein. Außerdem besaß nicht nur Mussack Kontakte zu den Ermittlungsbehörden. Sie würde schon rechtzeitig erfahren, was die Zeugen aussagten. Erstens. Und zweitens war es für ihre Berichterstattung vermutlich ohnehin nicht von Belang.

Mussack sah die beiden Frauen irritiert an. Dann zuckte er mit den Schultern und verschwand als Letzter im Gerichtsgebäude.

»Also gut«, willigte Kiki ein. »Wollen wir ein Stück gehen?«

Maria Konz nickte stumm und warf einen letzten Blick auf das Foto. Kiki tat es ihr gleich. Erst da bemerkte sie, dass Samantha und sie ein identisches Muttermal über der rechten Lippe hatten.

Kapitel 3

Maria Konz, die Nebenklägerin des aktuellen Prozesses, hatte es nie glauben können, dass das Universum ihr ein Kind wie Samantha geschenkt hatte. Sam, dieser blonde Engel, der von allen geliebt wurde. Sam. Ihr Schatz, ihr Herz, ihr Universum.

Ja, sie hatte kämpfen müssen um das Leben ihrer Tochter, die viel zu früh auf die Welt gekommen war, obwohl Maria sieben Wochen lang im Krankenhaus gelegen hatte. Die Plazenta hatte gedroht, sich abzulösen. Doch Maria hatte durchgehalten. Das Baby, dessen Vater Maria nicht näher kannte, hatte durchgehalten. Sie beide hatten durchgehalten. Warum auch nicht? Sie waren Konz-Frauen. Maria war ebenfalls ohne Vater aufgewachsen.

Sam und sie waren allein. Marias Mutter war vier Jahre vor der Schwangerschaft ihrer Tochter an einem Aneurysma im Bauchraum gestorben. Niemandem, auch nicht der Tochter, hatte sie von der Diagnose erzählt. Das Blutgerinnsel war inoperabel gewesen. Eva Konz war eines Tages umgekippt, einfach so, beim Ausräumen der Spülmaschine. Maria hatte sie am nächsten Morgen gefunden, als sie von einer Party nach Hause gekommen war.

Behütet. So sollte Samantha aufwachsen. Deshalb hatte Maria als Küchenhilfe in der Mensa einer Berufsschule gebuckelt. An den Nachmittagen hatte sie Werbeprospekte ausgetragen. Anfangs mit Samantha im Kinderwagen, später hatte das Mädchen sie auf dem Dreirad begleitet. Für die Kleine waren die Touren ein Abenteuer gewesen. Sie hatte sich jedes Mal diebisch gefreut, wenn sie einen Werbezettel in einen Briefkasten stecken durfte.

»Sam hat sich dann wichtig gefühlt«, erzählte Maria Konz der Journalistin. Kiki und sie hatten sich einen Coffee to go geholt und sich auf einem Spielplatz auf eine Bank gesetzt. Die Schaukeln und Sandkästen wirkten verwaist. Noch. Sicherlich würden die Mütter bald ihre Kinder aus den Kitas abholen und sich hier treffen.

»Wie war Samantha?«, hakte Kiki behutsam nach, als ihre Gesprächspartnerin mehrere Minuten lang geschwiegen hatte. Kiki verzichtete bewusst darauf, sich auf einem Block Notizen zu machen. Sie würde sich ohnehin an jedes wichtige Wort der Mutter erinnern. Sie wollte nicht, dass Maria Konz in ihr die Journalistin sah. Obwohl diese ja genau wusste, wer sie – Kiki Holland – war.

»Fangen wir an, als sie ein Teenager war?«, schlug Samanthas Mutter vor. Kiki nickte.

Maria Konz nippte an ihrem Kaffee. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen und verschmierte dabei einen letzten Rest der schwarzen Wimpertusche. Kiki reichte der Frau ein Taschentuch und blickte dann genau wie ihre Sitznachbarin in Richtung des Sandkastens. Ein Kothaufen thronte in der Mitte. Der Größe und Konsistenz nach tippte Kiki auf Katze oder Igel.

»So ein Engel kann über Nacht zu einem Bengel werden«, sagte Maria Konz unvermittelt. Wider Erwarten lächelte sie dabei.

Kiki legte den Kopf schräg und signalisierte so der Mutter, dass sie aufmerksam zuhörte. Was auch stimmte. Da Maria Konz nicht weitersprach, hakte die Journalistin nach.

»Vom Engel zum Bengel? Wie meinen Sie das?«

Sams Mutter holte tief Luft.

»Bengel ist das falsche Wort.«

»Aber ein schönes Wortspiel.« Kikis Bemerkung entlockte Maria Konz ein flüchtiges Nicken. Dann fuhr sie fort und berichtete davon, wie Sam mit fünfzehn eine neue Schülerin in die Klasse bekam. Milla Ulbricht. Milla hatte mehrere Schulwechsel hinter sich und war fast zwei Jahre älter als die anderen in der Klasse. Sam hatte zu dem Mädchen aufgesehen, wollte so sein wie Milla, die sich nichts gefallen ließ und die Hausaufgaben für überflüssig hielt. Wann immer es ging, hatten die beiden an den Nachmittagen auf einem Spielplatz abgehangen oder waren durch die Stadt gebummelt.

»Ich habe mich gefreut, dass Sam eine beste Freundin gefunden hatte«, sagte Maria Konz. »Sie war sonst eher der schüchtere Typ, aber diese Milla tat ihr gut. Durch sie wirkte Sam irgendwie selbstbewusster.«

»Wie hat sich das geäußert?«

»Wie das bei Teenagern so ist.«

»Wie ist das denn? Ich habe keine Kinder«, sagte Kiki. Natürlich erinnerte sie sich, wie zickig und unausstehlich sie selbst als Pubertierende gewesen war. War sie im einen Moment noch in einem Lachkrampf gefangen, konnte sie im nächsten schon in Tränen ausbrechen oder grundlos furchtbar wütend sein. Nein, diese Zeit wollte sie nicht noch einmal erleben! Mit ihrer Mutter hatte sie nie darüber gesprochen, deswegen interessierte sie die Sicht von Sams Mutter.

»Sie wurde mir gegenüber frech, hat eigene Ansichten entwickelt.«

»Gab es häufig Streit?«

»O ja«, sagte Maria Konz traurig und senkte den Kopf. »Ja, leider.«

Dass Sam in den folgenden Wochen immer öfter die Schule geschwänzt hatte, um schon vormittags durch die Einkaufszentren zu stromern, hatte ihre Mutter erst beim Elternsprechtag erfahren, der den Halbjahreszeugnissen vorausging. Sams schulische Leistungen waren massiv eingebrochen. Sie hatte zwar nie zu den Klassenbesten gehört, aber zumindest stabile Noten abgeliefert. Nun war die Versetzung in Gefahr.

Zu Hause hatte Maria Konz ihre Tochter zur Rede gestellt. Die hatte erst trotzig und dann mit einem Wutanfall reagiert, an dessen Ende die Teenagerin aus der Wohnung gestürmt und erst nach Mitternacht nach Hause zurückgekommen war. Betrunken. Maria Konz hatte gehört, wie ihre Tochter sich im Bad übergeben hatte. Aufgestanden war sie nicht. Sie hatte keine Lust auf einen nächtlichen Streit, der womöglich die Nachbarn auf den Plan gerufen hätte.

Am nächsten Morgen war sie wie gewohnt zur Arbeit gegangen. Müde, zerschlagen, voller Sorgen. Als sie am Abend nach Hause gekommen war, war Samantha nicht da gewesen. So war es die folgenden Wochen geblieben, bis zum Tag der Zeugnisvergabe. Sam hatte »das Klassenziel nicht erreicht«.

Ob sie die Klasse wiederholen oder auf die Realschule wechseln würde? Das hatte Maria Konz in den Sommerferien und in Ruhe entscheiden wollen. Pläne für einen Urlaub hatte sie keine gehabt. Sie hatte vorgehabt, an ihren freien Tagen dann und wann mit Sam ins Freibad zu gehen, wie sie es früher getan hatten. Oder mit der Bahn aus der Stadt hinauszufahren, spontan, irgendwo ins Grüne.

Als es am Abend an der Tür geklingelt hatte, hatte sie sich nichts dabei gedacht. Umso größer der Schreck: Vor der Tür standen zwei blutjunge Polizisten, Sam in der Mitte. Das Mädchen war sofort in sein Zimmer gestürmt und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.

»Sam hatte geklaut. Im Einkaufscenter. Milla hatten sie nicht erwischt. Die Polizei hat Sams Zimmer durchsucht.«

Kiki nickte aufmunternd. »Ein Jugendstreich?«, versucht sie, die Mutter zu trösten.

»Schon. Aber in Summe war die Ware zu teuer. Pullover, Schuhe, Kosmetik. Alles Luxusmarken.«

»Ich verstehe«, sagte Kiki und meinte es genauso. Wie oft war sie selbst als junges Mädchen in der Versuchung gewesen, den funkelnden Mascara für extra-lange Wimpern oder die teuren Shirts aus dem Laden zu schmuggeln? Sie hätte sich derlei vom Taschengeld nicht leisten können. Mehr als einmal hatte sie überlegt, Nagellack oder einen BH zu klauen. Getan hatte sie es nie, sie hatte zu viel Schiss gehabt und gewusst, dass man ihr auf einen Kilometer Entfernung angesehen hätte, dass sie etwas Unrechtes getan hatte.

Samantha war da dreister gewesen. Insgesamt kamen mehrere Tausend Euro an Diebesgut zusammen. Nicht mitgerechnet die Parfums, die Sam ihrer Mutter geschenkt hatte. Die hatten die Ermittler nicht entdeckt.

»Und dann drehte sich das Rad«, sagte Maria Konz und blickte in die Ferne. »Verhandlung vor dem Jugendschöffengericht. Arbeitsstunden. Eine Geldstrafe.«

Kiki kannte den Verfahrensweg und wusste auch, dass die Jugendrichter stets die Zukunft der jungen Delinquenten im Blick hatten. Während ihres Volontariats hatte Kahler, der schon damals ihr Redaktionsleiter gewesen war, sie fast wöchentlich zum Amts- oder Landgericht geschickt, wenn dort minderjährige straffällig gewordene Personen auf der Anklagebank saßen. Und fast immer waren die mit Strafen davongekommen, die eigentlich nur einen symbolischen Wert hatten. Ausgenommen davon waren allein Sexualdelikte. Den Jugendlichen wurde die Tür aufgehalten, durch die sie zurückgehen konnten, um ein rechtschaffener Teil der Gesellschaft zu werden. Den meisten gelang das.

Samantha hatte dazu gezählt.

Sie war mit Unterstützung des Jugendamtes von zu Hause ausgezogen, hatte sich rasch in der kleinen Wohnung zurechtgefunden, in der sie bis zu ihrem Tod gelebt hatte. Die junge Frau hatte den Realschulabschluss geschafft, zwar nicht mit den besten Noten, aber immerhin. Und sie hatte eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin gemacht, in jener Praxis, in der sie während des schulischen Praktikums eine Woche geschnuppert hatte.

Zu ihrer Mutter hatte sie keinen Kontakt mehr gehabt.

»Sie hat auf keine meiner Nachrichten reagiert. Nicht am Geburtstag, nicht an Weihnachten.« Maria Konz zerknüllte den mittlerweile leeren Pappbecher und sah sich suchend um. Dann stand sie auf und streckte Kiki die leere Hand hin. »Ich werfe das mal weg«, sagte die Mutter.

Kiki gab ihr auch ihren Becher und sah Maria Konz dabei zu, wie sie mit hängenden Schultern zum Mülleimer schlurfte und die Becher darin versenkte.

Nachdem dies erledigt war, schien Maria Konz unschlüssig. Kiki stand auf und ging zu ihr. Am liebsten hätte sie die Mutter in den Arm genommen. So leid tat sie ihr in diesem Moment. Sie widerstand dem Impuls und folgte der Blickrichtung von Samanthas Mutter. Eine Frau Anfang zwanzig kam den schmalen Weg herunter. An der Hand hielt sie einen Jungen, der vielleicht vier oder fünf Jahre alt sein mochte und seine Mutter mit trippelnden Schritten in Richtung des Spielplatzes zog.

»Vielleicht hätte ich Sam helfen können«, sagte Maria Konz tonlos. »Aber ich wusste nichts. Ich wusste nichts.«

Kiki konnte dabei zusehen, wie ihr Gegenüber im Bruchteil von Sekunden von innen heraus zerfiel, wie Maria Konz die Kraft verließ. Die Frau wurde blass und zitterte am ganzen Körper.

»Alles wird gut«, sagte Kiki und legte nun doch den Arm um die Schulter der Frau. Sie wusste, dass die Worte nichts als eine Floskel waren, aber es war das Einzige, was ihr einfiel.

Maria Konz schluchzte leise.

»Alles wird gut«, wiederholte Kiki Holland.

Maria Konz atmete tief ein. Dann straffte sie die Schultern.

»Helfen Sie mir, Frau Holland?« Sie sah Kiki eindringlich an. »Sie müssen die Öffentlichkeit auf das Thema Stalking aufmerksam machen. Damit meine Sam nicht umsonst gestorben ist.«

Kiki schluckte trocken.

Dann nickte sie.

»Gut. Das ist gut. Sie sind die Beste.«

Nun war es an Kiki, einen Moment zu schweigen. Und dann stellte sie die Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf den Nägeln gebrannt hatte: »Hatte Samantha noch Kontakt zu dieser Milla?«

Maria Konz versteifte sich. Dann nickte sie. »Ja. Zu ihr. Und zu deren Cousin.« Sams Mutter biss sich auf die Lippen. Fest und lange. Kiki sah fasziniert den Blutstropfen an.

»Ist das der Mann auf der Anklagebank?«

Maria Konz blieb stumm. Aber sie nickte.

Kapitel 4

Ach, nö!« Schon von Weitem sah Kiki den Zettel, der hinter Enzos Scheibenwischer steckte. Wirklich schon wieder ein Knöllchen? Dabei hatte sie diesmal ausnahmsweise gar nicht im Halteverbot geparkt. Wenn das mit den Tickets so weiterging, hätte sie sich am Jahresende einen privaten Parkplatz mitten in der Stadt leisten können. Oder einen Urlaub an den Staatssäckel verschenkt. Allein in der vergangenen Woche hatte sie drei Tickets kassiert. Parkscheibe vergessen: 20 Euro. Parkzeit überschritten: 25 Euro. Halb auf dem Gehweg geparkt: 55 Euro.

Kiki fluchte. Weshalb war sie Mitglied im Deutschen Journalistenverband, wenn das Presseschild, das sie prominent auf die Armatur ihres Kleinstwagens legte, offenbar nichts galt? Okay, ja, sie durfte die Plastikkarte eigentlich nur dann einsetzen, wenn sie im Einsatz war, etwa, um einen Unfall oder einen Hausbrand zu fotografieren. Eigentlich. Ihre persönliche Auffassung aber war, dass sie die Euros, die sie für Presseausweis und Presseschild bezahlt hatte, zu einem ungestörten – sprich Knöllchen-freien – Arbeiten ermächtigen sollten.

Wenigstens das mit dem Presseausweis funktionierte in der Regel hervorragend. Kiki Holland konnte sich locker für die Leipziger Buchmesse akkreditieren, zum Beispiel. Sie musste dann keinen Eintritt bezahlen, bekam im Pressezentrum kostenlos Neuerscheinungen und eine formidable Verpflegung. Sie und Torte hatten sich bereits dreimal in der sächsischen Metropole vergnügt. Oder aber sie konnte Großveranstaltungen bekannter Comedians oder Musiker besuchen, bekam die besten Plätze und manchmal sogar Essen und Trinken backstage. Wobei sie diese Angebote eher selten nutzte. Es sei denn, sie hatte tatsächlich vor, über einen Dieter Nuhr oder eine Hazel Brugger zu berichten. Meist war es ihr jedoch lieber, Torte vor einem Ligaspiel den Besuch bei einem Fußballverein in den Katakomben zu ermöglichen, während sie sich eine der legendär leckeren Stadionwürste gönnte.

Als Kiki ihren Fiat erreicht hatte und den vermeintlichen Strafzettel unter dem Wischer hervorzog, stockte ihr der Atem.

Es war kein Knöllchen.

Es war eine zusammengefaltete Briefseite mit einer krakeligen Handschrift.

Du bist so schön. Du siehst aus wie sie. Ich liebe Dich. Du liebst mich. Für die Ewigkeit.

Kikis Herz begann zu rasen. Sie sah sich um. Doch die Straße war menschenleer.

Sie öffnete das Auto, klemmte sich hinter das Steuerrad und drücke auf Verriegeln. Das Blatt Papier warf sie auf den Beifahrersitz, als wäre es die Verpackung irgendeines ungenießbaren Snacks, den sie ausprobiert hatte. Am liebsten hätte sie den Brief zerknüllt.

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend parkte sie aus, wobei sie um ein Haar den fetten SUV gestreift hätte, der in der Parklücke vor ihr stand. Kiki gab Gas. Nur wenig später fand sie vor der ehemaligen Käserei eine Parklücke. Sie zögerte fünf lange Minuten, ehe sie ausstieg und das Tattoostudio betrat.

Wie unzählige Male zuvor fühlte sie sich drinnen sogleich in eine andere Welt versetzt. An seinem Arbeitsplatz hatte Torte quasi sein Innerstes in ein Interieur verwandelt, das einzigartig war. Das Studio war in einem ehemaligen Käseladen untergebracht, wovon noch die gelb-blauen Fliesen an der hinteren Wand erzählten. Und Torte hatte die aus den 1950ern stammende Käsetheke behalten und präsentierte darin sein Sortiment an Piercings. Der Wartebereich für die Kunden erinnerte eher an ein barockes Wohnzimmer und wurde von einer ausladend geschwungenen samtroten Couch dominiert. Von der Decke hing ein üppiger Kronleuchter. In den beiden tipptopp geputzten Schaufenstern wucherten Grünpflanzen um die Wette. Das war für Kiki besonders beeindruckend, bei der selbst die widerstandsfähigsten Kakteen selten lange überlebten.

Die Journalistin blieb in der Raummitte stehen und lauschte einen Augenblick lang. Sie ging davon aus, wie üblich das Surren der Tätowiermaschine im hinteren Zimmer zu hören. Zu hören war stattdessen etwas anderes – Tortes Stimme, die durch die verschlossene Tür lediglich als dumpfes Gemurmel zu ihr drang. Ein recht deutlicher Hinweis, dass ihr Freund gerade Kundschaft hatte und nicht bei der Arbeit gestört werden wollte. Egal, ob Beratungsgespräch oder kreativer Kunstprozess, wie Torte es nannte, wenn er einer Kundin oder einem Kunden ein Bild unter die Haut stach, ihr Freund war stets mit viel Herzblut bei der Arbeit. Für ihn stand es außer Frage, jedem, der zu ihm kam, einen exzellenten Service zu bieten.

Also nahm Kiki auf der samtroten Couch Platz und griff nach einer der eselohrigen Zeitschriften, um die Wartezeit zu überbrücken. Sie hatte noch nicht einmal die Hälfte eines reißerischen Artikels über die Auswirkungen Künstlicher Intelligenz auf die Berufswelt gelesen, als die Tür zum Hinterzimmer aufgerissen wurde. Es geschah mit dermaßen viel Schwung, dass es einem Wunder glich, dass die Angeln im Rahmen blieben. Zu Kikis Überraschung war die Tätowierliege im Raum dahinter leer. Mit wem hatte ihr Freund sich dann unterhalten?

»Gerade hat der Vermieter angerufen«, antwortete Torsten Lewandowski, so als hätte er ihre Gedanken gelesen. Torte war von massiger Gestalt, mit breitem Kreuz und recht muskulösem Oberkörper. In der Regel trug er T-Shirts, selbst wenn die Temperaturen eher einen dicken Pullover nahelegten. Kiki hatte sich schon oft gefragt, ob er lediglich ein komplett anderes Wärmeempfinden als sie besaß oder ob es ihm darum ging, seine mit bunten Tattoos verzierten Arme präsentieren zu können. Möglicherweise war es eine Mischung aus beidem. Sein rundes Gesicht wirkte recht angespannt und passte zu den blonden Locken, die ihm heute nur deshalb nicht vom Kopf abstanden, weil er sie in geduldiger Kleinarbeit mit Gel gebändigt hatte. Dadurch wirkte er wie der Fiesling in einem Comicheft – dabei war Torte in der Regel die Liebenswürdigkeit in Person.

»Okay … Und was wollte er?«

»Mir schon mal vorab telefonisch mitteilen, dass er mir den Mietvertrag demnächst wegen Eigenbedarfs kündigen wird.«

Diese Neuigkeit traf Kiki wie ein Schwall eiskalten Wassers und brachte sie völlig aus dem Konzept. »Wieso? Kann er das überhaupt?! Ich dachte, das Haus gehört dir!«

»Das Haus gehört mir nicht. Warum sollte ich mir so ein altes Gemäuer anschaffen, das fast hundert Jahre auf dem Buckel hat? Vor allem, wenn da vorher ein Lebensmittelladen drin war. Ich habe den Laden damals nur genommen, weil die Lage gut und direkt über dem Geschäft auch gleich noch eine Wohnung frei war.«

»Aber du hast die alte Käserei so liebevoll hergerichtet!! Das ist doch voll Deins!«

»Vielen Dank für die Blumen. Da habe ich aus der Not eine Tugend gemacht. Ich dachte, es hätte was Originelles, solch einen Laden in ein Tattoostudio zu verwandeln.«

»Das ist definitiv originell! So etwas gibt es kein zweites Mal. Das kann der Vermieter nicht einfach so dichtmachen. Du hast doch einen gültigen Vertrag!«

»Na und? Der sorgt im Zweifelsfall bloß für ein paar Monate Kündigungsfrist.«

»Wieso braucht er das überhaupt? Will er jetzt auch tätowieren? Oder einen neuen Käseladen aufmachen?«

»Ich glaube, es geht ihm um das Gebäude als Ganzes. Möglicherweise will er es grundsanieren und zum reinen Wohnhaus umbauen. Oder er verkauft es an irgendeinen Immobilienhai, der dann genau das macht.«

»Ist das denn überhaupt erlaubt, wenn er doch Eigenbedarf angemeldet hat?«

»Keine Ahnung! Was fragst du mich das? Ich kenne mich mit Tätowierfarben und Hauttypen aus – aber nicht mit so etwas!«

»Dagegen müssen wir aber etwas unternehmen! Gib mir mal seinen Namen und die Anschrift. Das will ich mir genauer anschauen. Wäre doch gelacht, wenn sich da nicht ein Schlupfloch finden würde.«

»Wusste gar nicht, dass du jetzt auch in Immobilienrecht machst.«

»Ich mache alles, wenn es darauf ankommt. Hast du die Kontaktdaten im Kopf?«

»Selbstverständlich. So wie die komplette Encyclopaedia Britannica. Für wen hältst du mich, bitte schön? Die Unterlagen liegen oben in meiner Wohnung.«

»Dann lass uns raufgehen.«

Torte runzelte irritiert die Stirn.

»Was?«, fragte Kiki. »Hast du hier unten noch einen Termin?«

»Nein …«

»Na dann, husch, husch. Rauf mit dir!«

Dieser Aufforderung hatte ihr Freund nichts entgegenzusetzen, und so wechselten sie in das Appartement eine Etage höher. Während Torte in seinen Unterlagen nach den gewünschten Daten kramte, machte es sich Kiki auf dem breiten Ledersofa bequem, auf dem sie schon so manche Nacht verbracht hatte, wenn es mal wieder zu spät für eine Fahrt nach Hause geworden war. In vielen Fällen waren auch ein, zwei Gläschen Wein zu viel im Spiel gewesen.

Endlich hatte Kiki etwas Zeit, ihr Smartphone auf neue Nachrichten von Tom zu checken. Das hatte sie vorhin schon machen wollen, ehe Mussack dazwischengekommen war. Es gab tatsächlich eine, obgleich sie ziemlich kurz ausgefallen war: Wollen wir später videochatten?

Die Vorstellung, ihren Liebsten später live und in Farbe sehen zu können, zauberte ihr sofort ein Lächeln ins Gesicht. Digital war zwar nicht das Gleiche wie hautnah, aber immer noch besser als nichts.

Liebend gern, schrieb sie zurück. Wann kannst du?

Sie sah, wie sich drei Punkte auf dem kleinen Bildschirm bewegten. Anscheinend hatte der Maulwurf ihre Nachricht sofort gelesen und antwortete bereits.

Kiki geduldete sich. Und geduldete sich. Und geduldete sich. So lange, wie Tom tippte, verfasste er offenbar einen halben Roman. Doch dann fiel die Antwort überraschend kurz aus: Bin noch unterwegs. Könnte später werden. Was hältst du von um9?

Davon halte ich viel, tippte sie zurück. Melde dich, wenn du so weit bist.

Sie schickte ihm ein Kuss-Emoji hinterher, das er jedoch nicht mehr empfing, weil er bereits offline war. Betrübt stopfte Kiki das Smartphone in die Tasche zurück.

In derselben Sekunde fiel neben ihr etwas mit einem dumpfen Poltern zu Boden. Erschrocken zuckte sie zusammen und erblickte einen schwarzen Aktenordner, der bis zum Bersten mit Dokumenten und Folien gefüllt war.

»Verdammte Axt!«, fluchte Torte und ging in die Hocke. »Um ein Haar wäre mir das auf den Fuß gefallen.«

»Hättest du dann wieder deinen berühmten Tanz aufgeführt? Der war beim letzten Mal so witzig.«

»Haha. Das hättest du wohl gern, zurück zum Wesentlichen.« Torte schlug den Ordner auf und blätterte durch die Unterlagen. »Das sind genau die Akten, die ich gesucht habe. Hier hinten habe ich den kompletten Mietvertrag für die Wohnung und den Pachtvertrag für das Studio. Inklusive Anschrift, E-Mail und Telefonnummer vom Vermieter.«

»Immer her damit.« Kiki holte ihr Telefon wieder hervor und setzte sich neben Torsten auf den Boden. »Ich knipse schnell mal ein paar Fotos davon. Dann kannst du den Ordner wieder wegräumen, bevor du dir damit doch noch wehtust. Den Mietvertrag würde ich an deiner Stelle aber noch draußen lassen. Kann nicht dein Anwaltslover Bernd einen Blick drauf werfen? Oder herrscht gerade wieder Funkstille?«

»Erstens ist er nicht mein Lover, sondern nur ein Freund, mit dem ich mich gelegentlich treffe.«

»Seit zwei Jahren. Mindestens einmal alle acht Wochen.«

»Na und? Jeder Mensch hat Bedürfnisse. Und zweitens ist Bernds Fachgebiet Familienrecht. Der weiß von Mietsachen genauso wenig wie du und ich.«

»Vielleicht kennt er ja jemanden, der sich damit auskennt.«

»Mal schauen. Wie sieht es bei dir eigentlich mit Hunger aus?«

»Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Ob du kochst oder ob wir was bestellen.«

»Nachdem ich es neulich geschafft habe, mein Nudelwasser anbrennen zu lassen, bin auch ich eher für die zweite Option. Italienisch oder Thailändisch?«

»Du hast gerade so einen Lauf. Bleiben wir dabei und nehmen Option zwei.«

Torte nickte grinsend und stopfte den Ordner in den Wohnzimmerschrank zurück.

Eine knappe Stunde später saßen sie an seinem Esstisch und hatten die Wahl zwischen gebratenen Nudeln mit Hühnchen und einem Reisgericht mit Fisch. Torte nippte an seinem Weinglas, räusperte sich lange und geräuschvoll, nur um im Anschluss daran vollkommen entspannt zu fragen: »Wie war heute eigentlich der Prozess deiner toten Doppelgängerin?«

Die Worte trafen Kiki wie ein Stromschlag. Durch Tortes Kündigungsproblem waren ihre eigenen Angelegenheiten so weit in den Hintergrund gedrängt worden, dass sie wenig bis gar nicht mehr daran gedacht hatte. Nun war durch die schlecht formulierte Frage auf einen Schlag alles wieder unangenehm präsent. »Nenn Sie nicht so!«, fauchte Kiki ihn an. »Sie hatte einen Namen. Und ein Leben. Für mehr als dreißig Jahre. Das dann einfach jemand ausgelöscht hat.«

Sofort hob er abwehrend die Hände. »Du bist aber heute dünnhäutig. Ist im Gericht etwas vorgefallen?«

Sie zögerte kurz und vertraute sich ihrem besten Freund dann an. Natürlich. Es gab nichts, was er nicht von ihr wusste. Sie musste es ihm einfach erzählen. Nicht zuletzt, weil es aus ihr heraus musste.

Während sie sprach, lauschte Torte gebannt. Kiki berichtete von dem gerahmten Foto und der Mutter, als sie an der Stelle mit dem Brief hinter dem Scheibenwischer angelangt war, wurde Torte bleich.

»Das … das … das war sicher bloß ein blöder Scherz.«

»Hoffentlich.«

»Na klar, was denn sonst? Da hat dich einer heute Vormittag im Gerichtssaal gesehen und gewusst, welches Auto du fährst. Du bist mittlerweile immerhin schon eine Art Berühmtheit in unserer Stadt. Spätestens nach dem Mutterliebe-Fall vergangenes Jahr. So gruselig und gefährlich wie der war.«

»Ich weiß nicht … Nach der Sache im Gerichtssaal damals ging mein Foto zwar durch die Medien, aber das ist lange her. Wenn überhaupt, sagt den Leuten höchstens mein Name etwas, wenn sie ein paar meiner Artikel gelesen haben. Doch auch den vergessen die meisten kurz danach schon wieder.«

»Irgendeiner hat sich deinen Namen aber offenbar gemerkt. Vielleicht hatte er dich ja schon davor auf dem Kieker, weil er dir eins auswischen wollte. Möglicherweise wegen der Sache letztes Jahr oder wegen einer deiner sozialkritischen Reportagen. Diesen Artikel über die überfällige Schulreform neulich, zum Beispiel. Da ging es im Netz doch hoch her. Es gibt genug Spinner da draußen. An deiner Stelle würde ich keinen Gedanken mehr an diesen Quatsch verschwenden.«

Wenn das nur so einfach wäre, ging es Kiki durch den Kopf. Ich würde schon gern wissen, warum da einer ein Problem mit mir hat und vor allem, wer.