Kennwort: Schwarzer Ritter - Christiane Heggan - E-Book

Kennwort: Schwarzer Ritter E-Book

Christiane Heggan

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Beschreibung

Zu viel Champagner, zu viele riskante Abenteuer mit Fremden, denen Lust alles und die Seele nichts bedeutet - jetzt ist Molly tot. Die schöne Anwältin Kate Logan ermittelt. Zusammen mit ihrem Geliebten Mitch Calhoon gerät sie in einen gefährlichen Dschungel von Internet-Sex, organisiertem Verbrechen und korrupter Justiz. Hier will jeder seine dunklen Geheimnisse bewahren. Um jeden Preis. Auch um den eines Menschenlebens.

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Seitenzahl: 491

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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Christiane Heggan

Kennwort: Schwarzer Ritter

Roman

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Moment of Truth

Copyright © 2001 by Christiane Heggan

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: Casarsa /iStock

eBook-Herstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN eBook 9783955765613

www.mira-taschenbuch.de

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Kennwort: Schwarzer Ritter

Je intensiver die Nachforschungen sind, die die schöne Anwältin Kate Logan im Mordfall Molly Buchanan anstellt, desto gefährlicher wird es für sie: Denn sie gerät in ein tödliches Intrigennetz von Internet-Sex und organisiertem Verbrechen. Zusammen mit dem smarten Mitch, ihrem Geliebten und Mollys Bruder, muss sie die Wahrheit herausfinden. Doch derjenige, der den Mord auf dem Gewissen hat, setzt alles daran, sein dunkles Geheimnis zu bewahren …

Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

PROLOG

Das einstöckige Motel, das einzige Gebäude an der wenig befahrenen Landstraße, zeichnete sich weiß gegen den nachtschwarzen Himmel im Norden Virginias ab. Nur der in regelmäßigen Abständen aufleuchtende rote Neonschriftzug „Zimmer frei“ zuckte durch die alles umhüllende Dunkelheit.

Geräuschlos bog der dunkle Mercedes auf den Parkplatz des Motels ein und rollte in eine Parklücke. Der Mann hinter dem Steuer ließ den Motor im Leerlauf brummen, während er die Umgebung in Augenschein nahm. Sein Blick blieb am Fenster von Zimmer 12 am Ende des Gebäudes hängen. Ein Gefühl der Erregung verdrängte seine Müdigkeit. Er war sich immer noch nicht sicher, ob dieses Treffen eine gute Idee war. Er hatte nicht genügend Zeit gehabt, um Auskünfte über das Mädchen einzuholen und sich davon zu überzeugen, dass sie war, was sie zu sein behauptete – ein Chatroom-Junkie auf der Suche nach ein paar Stunden voller wildem, hemmungslosem Sex.

Sie hatte sich zum ersten Mal vor zwei Wochen im Spinnennetz eingeloggt, aber vom ersten Moment an, als sie sich unter dem Pseudonym Guinevere angemeldet hatte, übte sie einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn aus. Obwohl sie, wie sie gestand, ein Neuling im Sex-Chatroom war, hatte sie doch eine Menge Erfahrung auf dem Gebiet des erotischen Small Talks. Manchmal gab sie sich sogar regelrecht verdorben, und das erregte ihn über alle Maßen.

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte sie ausgerechnet ihn ausgesucht, um ganz offen und schamlos mit ihm zu flirten. Sie machte ihm klar, dass sie ein gemeinsames Karma hatten wegen ihrer jeweiligen Decknamen – Guinevere und Der Schwarze Ritter. Kaum hatten sie in der ersten Nacht im Chatroom Kontakt aufgenommen, war sie auch schon mit ihm in einen privaten Bereich gegangen und hatte ihm vorgeschlagen, sich zu treffen, um ein paar Spiele zu machen und ein bisschen Spaß zu haben. Immer wieder hatte er versucht, sie abzuwimmeln, aber sie war hartnäckig geblieben. Sehr hartnäckig sogar.

Deshalb hatte er das Spinnennetz während der vergangenen Woche nicht besucht. Diese Frau bedrängte ihn nämlich in einer Art und Weise, wie er es zuvor noch niemals erlebt hatte, und das bereitete ihm Unbehagen. Er hatte das Spinnennetz vor drei Jahren entdeckt und es sich zur Regel gemacht, genaue Erkundigungen über die Frauen einzuholen, mit denen er sich persönlich treffen wollte. Guinevere hatte sich allerdings geweigert, ihm etwas über sich selbst zu erzählen. Das Geheimnis um ihre Identitäten, hatte sie behauptet, sei ein wesentlicher Teil des Nervenkitzels – warum hätte man sich sonst treffen sollen? Das Einzige, was sie von sich preisgab, war die Tatsache, dass sie in Delaware lebte und bereit war, auch woanders hinzufahren.

Seine Gleichgültigkeit ihren wiederholten Bitten gegenüber hatte sie nur entschlossener werden lassen. Erst gestern hatte sie ihn unbarmherzig gequält, ihn einen bösen Jungen gescholten und beschuldigt, sich ihr zu verweigern. Sehr zum Vergnügen der anderen Anwesenden im Chatroom hatte sie ihm gnadenlos detailliert mitgeteilt, was sie mit ihm anstellen wollte, wenn sie endlich einander gegenüberstünden. Sie hatte mit ihm gesprochen, als seien sie bestens miteinander bekannt, als wüsste sie um seine Wünsche und seine Begierden.

Sein gesunder Menschenverstand hatte ihm geraten, sie nicht länger zu beachten und in einen anderen Chatroom zu wechseln. Da draußen gab es schließlich jede Menge Frauen, die bereit waren, sich mit ihm unter Bedingungen zu treffen, die er bestimmte. Dieses Mädchen war einfach zu wild, zu sehr auf Abenteuer aus. Aber gleichzeitig hatte die Gefahr, die von ihr ausging, seinem Begehren ganz neue Dimensionen eröffnet. Sein Widerstand zerbröckelte nach und nach, als ihre Botschaften immer heißer wurden und Bilder heraufbeschworen, die es ihm geradezu unmöglich machten, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf diese erregenden Worte.

Er holte tief Luft. Es gibt keinen Grund zur Sorge, beruhigte er sich. Der Ort, den er schon öfters ausgewählt hatte, war vollkommen sicher. Hier stiegen meistens Fernfahrer ab, die viel zu müde waren, um sich auch nur im Geringsten darum zu scheren, was im Nebenzimmer passierte.

Sein Blick wanderte noch einmal über den Parkplatz, und er fragte sich, welche der drei Limousinen wohl ihr gehören mochte. Keine hatte ein Nummernschild von Delaware. Das bedeutete, dass sie entweder einen Wagen gemietet oder ausgeliehen hatte, um hierher zu fahren. Er nickte anerkennend. Sie war ebenfalls vorsichtig, und das beruhigte ihn. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass jene Frauen, die am meisten zu verlieren hatten, die geringsten Schwierigkeiten machten.

Ein Schauer der Vorfreude durchrieselte ihn, als er den Motor abstellte. Er stieg aus dem Wagen und lief hastig über den Parkplatz.

Die Vorhänge von Zimmer 12 waren bis auf einen Spalt in der Mitte zugezogen. Es reichte aus, um ihm einen Eindruck vom Zimmer und seiner Bewohnerin zu vermitteln. Er hielt den Atem an, als er sie erblickte. Sie war da und drehte ihm den Rücken zu. Sie trug nur einen schwarzen Stringtanga sowie schwarze Lederstiefel und ging lässig im Zimmer umher. Ihr langes platinblondes Haar bedeckte zur Hälfte ihr Gesicht.

Wie angewurzelt blieb er stehen und sog den Anblick ein: ihre sinnlichen Hüften, den perfekt gerundeten Hintern, die langen, wohl geformten Beine. Er wartete darauf, dass sie sich umdrehte, damit er den Rest von ihr sehen konnte, aber das tat sie nicht. Ob sie wohl ahnt, dass ich sie beobachte? fragte er sich. Hatte sie die Vorhänge nur deshalb nicht ganz zugezogen?

Er überlegte, ob er sie warten lassen und damit klar machen sollte, wer hier das Sagen hatte, aber als sie sich vorbeugte, um eine Flasche Champagner aus dem Sektkühler zu nehmen, der am Fußende des Bettes stand, durchfuhr es ihn wie ein heftiger, aber ihm wohl vertrauter Schock, dass er nicht hier war, um harmlose Spielchen zu spielen.

Dann ging er endlich zur Tür und öffnete sie. „Guten Tag, Guinevere.“

Sie fuhr herum, und als er den entsetzten Ausdruck auf ihrem Gesicht wahrnahm, blieb sein Herz beinahe stehen. Er versuchte, etwas zu sagen, aber er konnte kein Wort hervorbringen.

Obwohl sie genauso erschrocken war wie er, erholte sie sich schnell und reagierte, wie es typisch war für sie. Sie warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus.

„Sei still.“ Wenigstens hatte er seine Stimme zurückgefunden, wenn auch noch nicht seine Gelassenheit. Er schloss die Tür und bemühte sich um einen energischen Tonfall. „Willst du das ganze Haus aufwecken?“

Sie warf ihr Haar – eine Perücke, wie er jetzt feststellte – über die Schultern. Sie wirkte nicht im Geringsten eingeschüchtert. „Willst du mir etwa vorwerfen, dass ich mich amüsiere? Das ist wirklich unglaublich!“ Sie stützte die Hände in die Hüften, während sie ihn langsam von oben bis unten musterte. „Gar nicht mal so schlecht, die Verkleidung.“ Sie legte einen Finger an die Oberlippe. „Der Errol-Flynn-Schnäuzer gefällt mir besonders. Das gibt dir ein gewisses … je ne sais quoi.“

„Halt den Mund und hör zu“, sagte er scharf. „Ich gehe jetzt durch diese Tür, und du ziehst dich an und tust dasselbe. Dieses Treffen hat niemals stattgefunden, ist das klar?“

„Ganz und gar nicht, José.“ Sie ließ ein ordinäres Lachen hören. „Das ist zu gut, um darauf zu verzichten.“ Langsam kam sie auf ihn zu. Unter anderen Umständen hätte ihn die Art, wie sie es tat, erregt. Aber im Moment spürte er nur nackte, kalte Angst.

„Warte nur, bis die Chatter vom Spinnennetz erfahren, wer der Schwarze Ritter ist“, sagte sie verächtlich. „Du, mein Freund, bist bestimmt wochenlang das Thema Nummer eins.“

„Du wirst keinem gegenüber auch nur ein Sterbenswort davon sagen!“

„Und mir den ganzen Spaß verderben?“ Sie schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Ich kann es kaum erwarten, dass ganz Washington erfährt, was für eine Art Perversling du bist.“

Sie begann, kichernd um ihn herumzulaufen. „Wer hätte gedacht“, sagte sie mit ihrer leisen, verführerischen Stimme, „dass tief in deiner puritanischen Seele so ein heißes Feuer lodert.“ Sie fuhr ihm mit der Hand über den Rücken. „Aber mir gefällt das, weißt du.“ Er spürte ihren Mund an seinem Ohr. „Das macht mich an“, flüsterte sie.

Er stieß sie von sich. „Zieh dich an.“

„Aber warum? Gefällt dir diese kleine Nummer nicht?“ Sie drehte sich vor ihm im Kreis und klimperte mit den Augenlidern. „Das habe ich extra für dich gekauft.“ Ihre Stimme wurde spöttisch. „Du bist erregt, stimmt’s? Komm, gib’s doch zu. Du willst mich. Ich kann es in deinen Augen lesen, an der Art, wie du atmest.“

Sie kam näher und presste ihre Brust gegen seine. Ihr Mund war nur Millimeter von seinem entfernt, rot, verführerisch und tödlich. Es war ihm peinlich, dass er davon erregt wurde.

„Ich habe ein paar von den Spielsachen mitgebracht, von denen ich dir erzählt habe.“ Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Oberlippe. „Willst du sie mal ausprobieren?“

Er folgte ihrem Blick zu einem Stuhl, auf dem sie verschiedene Fesselungsrequisiten – Seile, Handschellen, Augenmasken – ausgebreitet hatte.

„Was ist los mit dir, Liebling? Hast du einen Knoten in der Zunge?“ Ihr verführerischer Blick verriet pure Lust. „Das käme uns doch jetzt wirklich sehr ungelegen.“

Sein Mund war trocken. Das Blut pochte so laut in seinen Ohren, dass er glaubte, sie würden platzen.

„Ach, komm schon“, neckte sie ihn. „Sei kein Spielverderber. Wir sind doch hierher gekommen, um ein bisschen Spaß zu haben, oder?“ Sie blinzelte ihm übertrieben aufdringlich zu. „Wenn du wirklich so gut bist, wie ich vermute, dann werde ich dich wärmstens weiterempfehlen. Nichts ist so effektiv wie eine gute Mundpropaganda. Vielleicht rufe ich sogar die Post an. Denen würde eine so saftige Story wie diese hier gefallen, glaubst du nicht auch?“

Der Gedanke, seinen Namen in fetten Lettern auf der Titelseite der Washington Post zu sehen, verursachte ihm Übelkeit. Dieses Miststück würde ihn vernichten. Die ganzen Jahre harter Arbeit für nichts und wieder nichts; sein Traum so unerreichbar wie ein ferner Planet.

Eine andere Frau hätte vernünftige Argumente akzeptiert – oder Geld. Aber die hier nicht.

Er war sich vollkommen im Klaren darüber, dass der einzige Weg aus diesem Schlamassel nur über ihre Leiche führte.

Ganz offensichtlich hatte sie nicht die geringste Ahnung von seinen Gedanken, während sie ihn aufmerksam betrachtete und ihren Zeigefinger in den Mund steckte. Es wäre so leicht, seine Hände um diesen schlanken Hals zu legen und zuzudrücken, bis sie ihren letzten Atemzug getan hätte. Leicht, aber riskant. Instinktiv würde sie sich wehren, versuchen, seine Finger zu lösen, ihm möglicherweise sogar das Gesicht zerkratzen, so dass Blut und Hautfetzen unter ihren Fingernägeln zurückblieben.

Er musste eine andere Lösung finden. Während sein Gehirn fieberhaft arbeitete, blieben seine Augen an der Champagnerflasche auf dem Nachttisch hängen.

Sie bemerkte seinen Blick und lächelte. Das Spiel würde beginnen. „Warum lässt du nicht den Korken knallen? Ich hole die Gläser.“

Als sie sich von ihm abwandte, begann sein Herz zu hämmern. Das war seine Chance. Er durfte sie nicht verpassen. Ohne eine Sekunde zu zögern, ergriff er den Hals der Champagnerflasche, bog den Arm zurück, als ob er einen Baseballschläger benutzen wollte, und schlug mit all seiner Kraft auf ihren Hinterkopf.

Er hörte das hässliche Geräusch, als das Glas mit dem Schädel der Frau zusammentraf. Im selben Moment gaben die Beine unter ihr nach, und sie sah aus wie eine Puppe, deren Glieder auseinander fielen. Mit dem Gesicht nach unten stürzte sie auf das Bett. Als er auf sie hinunterschaute, war sein stoßweises Atmen das einzige Geräusch in der Stille des Zimmers. Blut begann aus ihrem Mund zu fließen und sickerte durch den billigen gelben Bettbezug.

War sie tot? Er war sich nicht sicher und konnte den Blick nicht von ihr wenden. Er spürte bereits erste Anzeichen von Panik. Was, wenn sie nur bewusstlos war? Wenn er noch einmal zuschlagen musste?

Instinktiv wollte er weglaufen, aber er zwang sich, die Flasche hinzustellen. Vorsichtig näherte er sich dem Bett, ging noch einen Schritt näher. Er beugte sich über sie. „Molly?“ Als keine Antwort kam, griff er in das falsche Haar, drehte ihren Kopf um und fuhr entsetzt zurück.

Leblose blaue Augen starrten ihn an.

Er wusste nicht mehr, wie lange er so gestanden hatte, während er darauf wartete, dass das Zittern seines Körpers aufhörte und sein Gehirn wieder zu arbeiten begann. Als es schließlich so weit war, war sein erster Impuls wegzulaufen. Rasch. Aber jetzt noch nicht. Sondern erst, wenn er sich um ein paar Details gekümmert hatte.

Ruhiger geworden, zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte alles ab, was er berührt hatte oder glaubte, berührt zu haben – den Nachttisch, den Stuhl mit den Sex-Utensilien und natürlich die Champagnerflasche.

Als er damit fertig war, schickte er einen letzten prüfenden Blick durch den Raum, wobei er versuchte, den reglosen Körper auf dem Bett zu ignorieren. Doch selbst als Tote war die Frau wie ein Magnet, zog ihn an sich, zwang ihn, hinzuschauen. Der Anblick ließ ihn schaudern. Aus dieser Perspektive schien sie ihn mit ihren weit geöffneten Augen geradewegs anzustarren und ihn zu verspotten.

Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich den Blick von ihr wenden konnte und den Raum verließ. An der Tür blieb er so lange stehen, bis er die Klinken, innen und außen, sorgfältig abgewischt hatte. Als er sich vergewissert hatte, dass niemand vor der Tür stand, trat er hinaus und verschwand in die Nacht.

1. KAPITEL

Zwei Jahre später

„Kate!“ Als der Richter sich von seiner Bank erhob und mit wallender Robe den Saal verließ, schloss Melanie Riley sie in die Arme und drückte Kate Logan an sich. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Sie haben ein Wunder vollbracht.“

Kate erwiderte die Umarmung. Sie war erleichtert, dass sie genau das Urteil bekommen hatten, das sie sich gewünscht hatten. Sie sah, wie Melanies Exehemann aus dem Gerichtssaal stürmte. „Das ist allein Ihr Verdienst, Melanie. Sie waren fantastisch im Zeugenstand. Sie strahlen ja richtig vor Liebe zu Ihrer Tochter. Der Richter hat das erkannt und entsprechend geurteilt.“

Melanie ließ Kate los und wischte eine Träne fort. „Aber Sie waren es, die in der Vergangenheit meines Exmannes gewühlt und ihn als den Tyrannen entlarvt haben, der er wirklich ist. Wenn Sie das nicht getan hätten, wäre ihm möglicherweise auch ein Sorgerecht an Pru zugesprochen worden.“

„Aber er hat es nicht bekommen“, erwiderte Kate fröhlich und nahm ihre Mandantin beim Arm. „Warum also lassen wir nicht einfach diese beiden letzten Wochen hinter uns und verschwinden von hier? Ich bin sicher, dass Sie von diesem Gerichtssaal die Nase voll haben.“

„Das stimmt, aber zuerst …“ Sie griff in ihre Handtasche und holte einen dünnen Briefumschlag hervor.

Kate machte eine abwehrende Handbewegung. „Stecken Sie Ihr Geld weg, Melanie. Das hier geht auf meine Rechnung.“

Die junge Frau schüttelte heftig den Kopf. „Nein, Kate. Ich habe Ihnen versprochen, jede Woche ein bisschen zu zahlen, und genau das werde ich auch tun.“

Obwohl Kate selbst knapp bei Kasse war, hatte sie nicht vor, Geld von einer allein erziehenden Mutter zu nehmen, die schwer arbeiten musste, um ihre kleine Tochter zu ernähren. Melanies Ehemann, ein echter Mistkerl, hatte sie sitzen lassen, als Prudence noch ein Baby war. Vor drei Monaten war er dann wieder aufgetaucht und hatte ihr gedroht, um das Sorgerecht für ihre Tochter zu prozessieren, wenn Melanie nicht das Haus verkaufen würde, das ihr gehörte, und ihm die Hälfte des Erlöses gab.

Familienrecht war nicht gerade ihr Fachgebiet, aber als die junge Mutter, die als Sekretärin im selben Gebäude arbeitete wie sie, in ihr Büro gekommen war und so verängstigt ausgesehen hatte, konnte Kate es nicht übers Herz bringen, ihre Bitte abzulehnen.

„Ich habe eine bessere Idee“, sagte sie, als Melanie versuchte, ihr den Umschlag in die Hand zu drücken. „Warum stecken Sie das Geld nicht in das neue Kinderzimmer für Prudence? Das, was Sie neulich bei Hechts gesehen haben? Ich weiß doch, wie sehr Sie es sich wünschen.“

„Aber all die Zeit, die Sie investiert haben …“

Kate brachte sie mit einer Geste zum Schweigen und schob sie zum Ausgang. „Hat Ihnen noch keiner gesagt, dass Sie niemals mit Ihrem Anwalt diskutieren sollen?“

Zum ersten Mal zeigte sich ein breites Lächeln auf Melanies Gesicht. „Doch. Ihre Sekretärin.“

„Sie sollten auf sie hören. Frankie weiß schließlich, wovon sie spricht.“

Melanie seufzte resigniert und ließ den Umschlag wieder in ihre Tasche fallen. „Nun gut, Kate. Wie Sie wünschen. Aber ich werde es nicht vergessen“, fügte sie mit erhobenem Zeigefinger hinzu. „Ich werde schon irgendwie einen Weg finden, um mich für all das zu revanchieren, was Sie für mich getan haben.“

„Ich möchte nur, dass Sie und Prudence glücklich sind“, erwiderte Kate. Und sie meinte es ehrlich. Schließlich war sie selbst eine allein erziehende Mutter und konnte nicht umhin, Melanies innere Stärke und ihre stolze Haltung zu bewundern.

Vor dem Gerichtsgebäude umarmten sich die beiden Frauen noch einmal und versprachen, in Kontakt zu bleiben. Melanie winkte ihr zu, als sie zu ihrem Wagen ging, und Kate eilte in ihr Büro in der Nähe des L’Enfant Plaza. Obwohl das Wetter Ende März noch ziemlich rau sein konnte, waren die vergangenen Tage ausgesprochen mild gewesen. Deshalb wimmelte es auf den Straßen von Washington auch von Leuten, die die warmen Sonnenstrahlen genossen, und von Touristen, die die Kirschblüte bewunderten.

Wie üblich um diese Tageszeit war weit und breit kein Taxi in Sicht. Sie war froh, dass sie klug genug gewesen war, bequeme Schuhe anzuziehen, und machte sich kurz entschlossen zu Fuß auf den Weg zur Seventh Street.

Als Kate die National Mall, den mit Gras bewachsenen Kiesweg zwischen dem Capitol und dem Lincoln Memorial, überquerte, schaute sie auf ihre Uhr. Es war fast Mittag, und das bedeutete, dass es auf den Virgin Islands ein Uhr war. Wenn sie jetzt auf der Yacht anrief, würde sie Alison noch erwischen, bevor sie sich mit ihrem Vater und dessen neuer Frau zum Lunch niederließ.

Sie wählte die vierzehnstellige Nummer auf ihrem Handy, die sie sich während der vergangenen zehn Tage eingeprägt hatte. Beim dritten Signal nahm Alison den Hörer ab.

Aus einer Entfernung von 1800 Meilen hörte sie die Stimme ihrer Tochter laut und deutlich. „Hallo?“

„Wie geht’s meinem kleinen Mädchen?“

„Oh, Mom, ich wünschte, ich könnte länger hier bleiben. Es macht so viel Spaß.“

Kate spürte einen leichten Stich der Enttäuschung. Sie hatte gedacht, dass Alison sich nach Hause sehnen würde, nachdem sie zehn Tage fort war von allem, was ihr vertraut war. Aber die Aussicht, zurückzukehren, schien ihr nicht besonders verlockend. Beschämt über ihre Selbstsucht, machte Kate sich Vorwürfe. Warum sollte sich eine Dreizehnjährige auf der Reise ihres Lebens nicht amüsieren?

„Ich freue mich, dass es dir so gut gefällt, Schatz“, sagte sie und versuchte, fröhlich zu klingen. „Was hast du denn heute Morgen gemacht?“

„Der Kapitän hat uns nach Mosquito Island gebracht. Da sind wir geschwommen und haben Muscheln gesucht. Und nach dem Mittagessen wollen wir mit Motorrollern über die Insel fahren. Dad und Megan haben die Roller reserviert.“

Kate hörte selbst die Besorgnis in ihrer Stimme. „Aber setz einen Sturzhelm auf.“

Alison lachte. „Aber Mom. Auf den Virgin Islands trägt man keine Sturzhelme.“

Kate wollte gerade fragen, ob sie mit Eric sprechen könnte, ließ es aber dann doch lieber bleiben. Das Letzte, was sie wollte, waren Spannungen zwischen ihr und ihrer Tochter. Davon hatte es schließlich genug gegeben während der Zeit, als sie sich von Eric hatte scheiden lassen, wofür Alison sie allein verantwortlich gemacht hatte.

„Wie kommst du denn mit Megans Nichte zurecht?“ fragte Kate stattdessen. Die Sechzehnjährige, deren Eltern in London lebten und arbeiteten, war erst vor drei Tagen zu ihnen aufs Schiff gekommen. Kate hatte befürchtet, der Teenager könnte ein wenig zu alt für Alison sein, die mit ihren dreizehn Jahren leicht zu beeindrucken war. Megan hatte ihr jedoch versichert, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Candace sei ein sehr verantwortungsbewusstes Mädchen und absolut vertrauenswürdig.

„Candace ist echt cool, Mom. Hab ich dir schon gesagt, dass sie drei Sprachen beherrscht? Und sie kann wirklich alles – Sporttauchen, Wasserski fahren, Parasailing …“

„Du wirst nicht Parasailing machen, Alison.“ Dieses Mal sprach Kate mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. „Und du wirst auch nicht tauchen.“

„Ich weiß. Dad hat mir schon gesagt, dass ich noch zu jung dafür bin. Aber Wasserski ist doch okay, oder? Wir wollen das morgen machen, an unserem letzten Tag. Ich ziehe auch eine Schwimmweste an“, fügte sie hastig hinzu.

Kate verkniff sich eine weitere Spaß verderbende Antwort. Obwohl Eric als Ehemann versagt hatte, war er ein guter Vater und Megan eine zuverlässige junge Frau. Sie würden schon aufpassen, dass Alison nichts passierte.

„Na gut“, sagte sie und bemühte sich, sorglos zu klingen. „Aber sei vorsichtig.“

Wenn sie auch nur eine Schramme im Gesicht hat, Eric, bist du ein toter Mann.

„Klar, bin ich.“ Kate hörte, wie die Stimme ihrer Tochter wieder aufgeregter wurde. „Ich habe dir ein Geschenk gekauft. Auch für Mitch, aber sag ihm nichts, hörst du? Es soll eine Überraschung sein.“

Kate lächelte. Es hatte eine Weile gedauert, bis Alison und Mitch in den vergangenen vier Monaten einen Draht zueinander gefunden hatten. Aber dann waren sie die besten Freunde geworden. „Meine Lippen sind versiegelt.“

„Ich muss jetzt los, Mom. Das Mittagessen ist fertig. Mein Lieblingsgericht – Hummer. Der Kapitän hat sie heute Morgen gefangen. Wusstest du, dass die Hummer in der Karibik keine Scheren haben?“

„Nein.“ Im Stillen strich Kate den Hackbraten von der Karte, den sie zur Feier von Alisons Rückkehr am Mittwoch Abend zubereiten wollte. Sie würde sich etwas Interessanteres ausdenken müssen. Obwohl sie noch keine Ahnung hatte, was wohl gegen frisch gefangene Hummern aus der Karibik bestehen könnte. „Ich wünsch dir für morgen einen tollen Tag, Alison. Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch, Mom.“

Nachdem Alison eingehängt hatte, presste Kate das Handy ein paar Sekunden lang an ihre Brust. Es war albern, aber plötzlich hatte sie Sehnsucht. Ihr kleines Mädchen wurde rasend schnell erwachsen und jeden Tag selbstständiger, besonders jetzt, da sie so viel Zeit mit Megan verbrachte. Es war nicht so, dass Kate Erics neuer Frau die Rolle verübelte, die sie in Alisons Leben spielte. Megan war ein gutherziger Mensch, und sie liebte Alison. Aber es ließ sich nicht verleugnen, dass der luxuriöse Lebensstil der frisch Vermählten die Dreizehnjährige zu beeinflussen begann. War sie in der Vergangenheit sparsam mit ihrem Taschengeld umgegangen, so gab sie es nun ziemlich sorglos aus, denn sie wusste, wenn sie nichts mehr hatte, würde Megan ihr einfach mehr geben. Tatsächlich war die junge Frau so großzügig, dass Kate das Gefühl hatte, dem einen Riegel vorschieben zu müssen – was Alison ihr natürlich sehr verübeln würde.

Und als Eric und Megan das Mädchen eingeladen hatten, sie auf ihrer zehntägigen Kreuzfahrt um die Virgin Islands zu begleiten, hatte Kate Dutzende von Gründen angeführt, warum sie ihre Tochter nicht gehen lassen wollte. Keiner davon hatte Alison überzeugt. Und Eric übrigens auch nicht.

Schließlich war es Mitch gewesen, der sie sanft darauf hingewiesen hatte, dass ihre Weigerung Alison nur weitere Gründe für Auseinandersetzungen liefern würde.

Mitch hatte Recht gehabt. Sie hatte sich wie eine Glucke benommen. Übervorsichtig und vielleicht ein kleines bisschen eifersüchtig auf die Beziehung, die sich zwischen Alison und Megan zu entwickeln begann.

Apropos Mitch … Kate verdrängte Alison aus ihren Gedanken und wählte Mitchs Nummer im Polizeihauptquartier. Der Klang seiner Stimme, als er sich mit „Calhoon“ meldete, hob ihre Stimmung beträchtlich. „Hallo, Schönheit.“

„Selber hallo.“ Sie konnte sich vorstellen, wie er mit dem Stuhl nach hinten kippelte und sich mit den Fingern durch sein hellbraunes Haar fuhr, um die widerspenstige Strähne, die ihm in die Stirn fiel, zurückzuschieben. „Wie ist die Verhandlung gelaufen?“

„Wir haben gewonnen, und du weißt, was das bedeutet, nicht wahr?“

„Du willst feiern.“

„Und zwar ganz groß. Abendessen bei mir?“

Seine Stimme klang schelmisch. „Warum lassen wir das Essen nicht ausfallen und kommen sofort zum Feiern?“

„Du bist schlimm, Calhoon.“

„Was erwartest du vor mir? Schließlich habe ich dich in den letzten beiden Wochen kaum gesehen.“

Kate seufzte, als ihr Blick auf ein junges Paar fiel, das schmusend auf einer Bank saß. „Das lag an dem Fall, aber der ist ja nun vorbei. Von jetzt an werde ich mehr Zeit haben.“

„Wo Alison übermorgen zurückkommt? Das bezweifle ich.“

„Ein Grund mehr, aus heute Abend das Beste zu machen, meinst du nicht?“ fragte sie mit ihrer verführerischsten Stimme.

„Wenn du weiter so sprichst, komme ich sofort in dein Büro und werde dich leidenschaftlich auf deinem neuen Teppich lieben. Wir könnten es als längst fällige Einweihung des Zimmers betrachten.“

„Hör auf“, sagte sie, als sie den amüsierten Gesichtsausdruck der Passanten bemerkte, die ihr entgegenkamen. „Du machst mich ja ganz wild hier mitten auf der National Mall.“

„Habe ich dich jetzt so richtig angetörnt?“

„Ja. Nein. Ach, du bist unmöglich.“

„Na gut, diesmal lass ich dich noch in Ruhe. Aber empfang mich an der Tür in dem kleinen Ding, das du das letzte Mal angehabt hast, als ich bei dir war.“

Kate spürte, wie sie errötete, als sie sich an den roten Seidenbody erinnerte, den sie sich aus einer Laune heraus bei Victorias Secrets auf der Connecticut Avenue gekauft hatte. Von dieser verführerischen Seite an ihr, die sie bis zu diesem Zeitpunkt sorgsam verborgen gehalten hatte, war Mitch ausgesprochen angetan. „Vielleicht mach ich dir diesmal die Tür auf – und habe nichts an.“

Er lachte. „Immer diese leeren Versprechungen.“

Sie verabschiedete sich und ließ das Handy in ihre Handtasche fallen. In Gedanken war sie schon bei einem potenziellen Klienten, den sie um vier Uhr treffen sollte. Ed Gibbons, der beschuldigt wurde, seinen Geschäftspartner getötet zu haben, saß im städtischen Gefängnis und behauptete, keinerlei Erinnerung an diese Schießerei zu haben. Nach seiner eigenen Schilderung hatte er sich plötzlich in Peter Brinks Büro wiedergefunden – mit einer 38.er Pistole, seiner Pistole, – in der Hand, obwohl er keine Ahnung hatte, wie die aus seinem Safe zu Hause in die New Hampshire Avenue 600 geraten war.

Da er mit seinen beiden vorherigen Anwälten nicht zufrieden war, hatte er sie gefeuert und überlegte nun, Kate zu engagieren. Und das hing davon ab, ob sie ihn dazu bringen konnte, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren. Bisher hatte er sich geweigert, über diese Möglichkeit auch nur nachzudenken.

Sie hoffte, dass Gibbons nicht auch dieses Treffen – wie schon das vorherige – absagen würde. Je eher sie die Verhandlung beginnen konnten, umso früher würde sie ihren Vorschuss bekommen.

Es gefiel ihr überhaupt nicht, dass Geld in ihrem Leben so wichtig geworden war. Das hätte wirklich nicht passieren dürfen. Das Medieninteresse war groß gewesen, als sie die Sozietät Fairchild Baxter verlassen hatte, und die kurzzeitige Berühmtheit hatte in ihr die Hoffnung genährt, sich einen soliden Klientenstamm aufbauen zu können. Unglücklicherweise war es für viele wichtiger, von einer bekannten Kanzlei vertreten zu werden, selbst wenn sie in einen Skandal verwickelt war, als sich einer kompetenten Anwältin anzuvertrauen. Und dann waren da noch Douglas Fairchilds alte Freunde, die ihrem früheren Schwiegervater unbeirrbar die Treue hielten und es Kate sehr übel nahmen, dass sie den Ruf eines Mannes beschmutzt hatte, den sie seit langem bewunderten.

Douglas’ Entlarvung war einer der Tiefpunkte in ihrem Leben gewesen. Der angesehene Anwalt war neben ihrem Vater der einzige Mensch gewesen, zu dem sie aufgeblickt hatte. Es war ein vernichtender Schlag für sie, als sie vor vier Monaten herausgefunden hatte, dass er und eine Halbweltdame aus Washington die Ermordung von zwei Frauen in Auftrag gegeben hatten und damit beinahe Alisons Tod verursacht hätten. Nachdem Douglas festgenommen worden war, hatte sie keine andere Wahl gehabt, als die Firma zu verlassen, obwohl Douglas’ Partner, Charles Baxter, sie gerne behalten hätte und ihr als Anreiz sogar die Teilhaberschaft anbot.

Aber Kate hatte sich entschlossen, ihre eigene Kanzlei zu eröffnen, denn sie konnte sich der vollen Unterstützung ihrer Familie und Freunde sicher sein. Sogar Rose Fairchild, ihre ehemalige Schwiegermutter, die sich nach der Festnahme ihres Mannes aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, war auf ihrer Seite gewesen und hatte ihr versichert, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Rose wollte ihr die Kanzlei sogar finanzieren.

„Du hast so viel für mich getan, Kate. Nun lass mich doch auch einmal etwas für dich tun. Schließlich sind wir immer noch eine Familie.“

Kate hatte freundlich abgelehnt und der Frau versichert, dass sie ihr Geld nicht nötig habe. Das war natürlich eine Lüge.

Es gab Zeiten, da wünschte sie sich, sie hätte einen anderen Beruf gewählt. Auf dem Gebiet des Strafrechts gab es viele Konkurrenten, besonders hier in der Hauptstadt des Landes. Doch schon bei ihrem ersten Seminar an der juristischen Fakultät der Georgetown Universität vor vierzehn Jahren hatte sie gewusst, dass dieses schwierige Fach ihre Bestimmung werden würde.

Beim Examen hatte sie zu den Besten ihres Faches gezählt und hätte sich jede Kanzlei in Washington aussuchen können. Stattdessen hatte sie sich für das überarbeitete und unterbezahlte Team im Büro des Bezirksstaatsanwalts entschlossen. Damals war sie noch voller Ideale gewesen und fest entschlossen, etwas in einem System zu bewirken, das ihrer Ansicht nach manchmal unfair war.

„Ich möchte für die Menschen da sein“, hatte sie ihrem Vater gesagt. „Deshalb muss ich Kriminelle hinter Gitter bringen, anstatt für ihre Freiheit zu kämpfen.“

Ihr Vater hatte sie verstanden – im Gegensatz zu Eric Logan, den sie schon während des Studiums geheiratet hatte. Es wollte ihm nicht in den Kopf, warum sie sich für eine solch unbefriedigende, schlecht bezahlte Arbeit entschieden hatte, zumal sein Stiefvater ihr eine fürstlich dotierte Position in seiner angesehenen Kanzlei angeboten hatte.

Schließlich war der Druck zu groß geworden. Sie war naiv genug zu glauben, dass ein höheres Gehalt ihre angeschlagene Ehe retten würde, und nahm Douglas’ Angebot an. Doch schon bald musste sie feststellen, dass Geld nicht das Allheilmittel war, das sie sich erhofft hatte.

Und nun hatte sie einen weiteren Meilenstein in ihrem Leben erreicht, einen, auf dem neue Herausforderungen lagen und unter dem neue Fallgruben lauerten. Da sie keinen Geschäftspartner in ihrer Kanzlei hatte, war die Miete der größte Kostenfaktor. Vermutlich wäre es vernünftiger gewesen, etwas Günstigeres zu suchen, aber sie hatte dem kleinen, gut ausgestatteten Büro an der Maryland Avenue nicht widerstehen können, zumal es nur wenige Häuserblocks vom Gerichtsgebäude entfernt lag, wo sie viel Zeit verbrachte.

Optimistisch, wie sie war, glaubte sie, dass die Geschäfte irgendwann besser würden. Alles, was sie benötigte, war ein spektakulärer Fall, um potenziellen Mandanten zu beweisen, dass sie den Herausforderungen auch alleine gewachsen war, ohne eine große, angesehene Kanzlei im Rücken. Und da sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, hatte sie in der vergangenen Woche zugestimmt, CNN ein Interview zu geben. Die sieben Minuten waren schnell vorbei, aber sie reichten aus, die Höhepunkte ihrer Karriere zu erwähnen – einschließlich des Falls mit der Halbweltdame aus Washington. Doch unglücklicherweise rannten ihr die Leute nicht die Tür ein – abgesehen von Edward Gibbons.

Sie hatte den Skulpturengarten fast erreicht, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um. Eine attraktive junge Frau stand direkt hinter ihr. Sie hatte hellbraunes Haar, das in weichen Locken ihr Gesicht einrahmte, und haselnussbraune Augen, die Kate mit einer Mischung aus Hoffnung und Besorgnis anschauten. Sie trug ein elegantes graues Kostüm, eine rosafarbene Seidenbluse und graue Pumps, die nicht fürs Spazierengehen geeignet waren. Ihren Hals schmückte eine Kette mit einem originell geformten goldenen Kreuz.

Kate hielt die Hand vor Augen, weil die Sonne sie blendete. „Ja“, sagte sie, „ich bin Kate Logan.“

„Ich weiß, dass dies eine sehr ungewöhnliche Art ist, Sie anzusprechen.“ Die Frau trat einen Schritt näher. „Ich habe zuerst in Ihrem Büro angerufen, doch Ihre Sekretärin sagte mir, dass Sie im Gericht wären und sie nicht wusste, wann Sie zurückkommen würden. Ich wollte Sie aber auf keinen Fall verpassen, deshalb habe ich beschlossen, ins Gerichtsgebäude zu gehen und dort auf Sie zu warten. Ich hätte Sie schon früher angesprochen, allerdings sind Sie so schnell gegangen, dass ich Sie aus den Augen verloren habe – bis jetzt.“

„Darf ich fragen, wer Sie sind?“

„Mein Name ist Jessica Van Dyke. Und ich brauche Ihre Hilfe ganz dringend.“

Soviel war klar: Die Frau stand offensichtlich unter großer Anspannung. „Wollen wir uns nicht in meinem Büro unterhalten? Es ist nur fünf Minuten von hier entfernt.“

Die Frau schaute erst in die eine und dann in die andere Richtung über die Mall. „Eigentlich würde ich lieber hier bleiben.“ Sie deutete auf eine leere Bank. „Wollen wir uns nicht dort hinsetzen?“

Kate zuckte mit den Schultern. Sie hatte schon ungewöhnlichere Anfragen gehabt. „Meinetwegen.“ Auf der Bank sah sie der jungen Frau ins Gesicht. „Was kann ich für Sie tun, Miss Van Dyke?“

Die Frau befeuchtete ihre Lippen. „Wird das unter uns bleiben?“

„Diskretion ist mein zweiter Name“, erwiderte Kate und hoffte, die Frau zum Lächeln zu bringen. „Aber damit Sie ganz sicher sein können – warum geben Sie mir nicht einen Dollar?“

„Wie bitte?“

„Sagen wir, der Dollar ist mein Vorschuss. Auf diese Weise bin ich an das Anwaltsgeheimnis gebunden, das mir verbietet, irgendetwas von unserem Gespräch preiszugeben.“

„Gut.“ Miss Van Dyke suchte in ihrer Handtasche und fand eine zerknüllte Dollarnote, die sie Kate reichte.

Kate warf sie in ihre Handtasche. „Also, was haben Sie für Probleme?“

„Ich bin nicht meinetwegen gekommen“, sagte die junge Frau zögernd. „Es geht um meinen Verlobten. Er … die Polizei glaubt, dass er jemanden umgebracht hat.“

„Ist er festgenommen worden?“

„Nein.“ Sie sah Kate in die Augen. „Er ist geflohen, bevor sie ihn festnehmen konnten.“

Ein Verlobter auf der Flucht. Kein Wunder, dass sie so nervös war. „Woher kennen Sie mich?“ fragte Kate freundlich.

„Ich habe das Interview gesehen, das Sie vergangene Woche auf CNN gegeben haben. Ich und auch mein Verlobter glauben, dass Sie die Richtige sind, um … diesen Fall zu übernehmen.“ Mit ernstem Gesichtsausdruck beugte sie sich nach vorn. „Er hat es nicht getan, Mrs. Logan. Ich weiß, was Sie jetzt denken – dass ich beeinflusst bin, weil ich ihn liebe, aber das stimmt nicht. Natürlich liebe ich ihn“, beeilte sie sich hinzuzufügen. „Aber das hat nichts mit meiner Überzeugung zu tun. Mein Verlobter ist wirklich unschuldig.“

Kate hatte diesen Ausdruck schon vorher gesehen – eine Mischung aus bedingungsloser Liebe und absolutem Vertrauen. Das Problem war nur, wie sie oft hatte feststellen müssen, dass eine solche blinde Zuneigung mehr als häufig nicht gerechtfertigt war.

„Wenn er unschuldig ist, warum ist er denn nicht geblieben, um sich zu verteidigen?“

„Er hatte Angst. Er wusste nicht, was er tun sollte, also ist er fortgelaufen.“

Der Überlebensinstinkt. Auch damit war Kate vertraut. „Wer war das Opfer?“

„Seine frühere Frau.“ Sie sah Kate an, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ihr Name war Molly. Molly Buchanan.“

Kate erstarrte. „Sagten Sie Buchanan?“

„Ja. Mein Verlobter ist Todd Buchanan.“

Kate holte tief Luft. Dieser „Fall“ war soeben ein bisschen komplizierter geworden. Denn Molly Buchanan war Mitch Calhoons Schwester gewesen.

2. KAPITEL

Kate brauchte ein paar Sekunden, um sich von dem Schock zu erholen. Sie hatte Mitch noch nicht gekannt, als seine Schwester gestorben war, aber als Rechtsanwältin hatte sie den Fall, wie jeder Anwalt in und um Washington, mit professioneller Neugier verfolgt.

Todd Buchanan, ein bekannter Sportjournalist vom Fernsehen, war der jüngste Sohn des Obersten Bundesrichters Lyle Buchanan und der Bruder von Terrence Buchanan, einem ehemaligen Professor für internationales Recht an der Juristischen Fakultät von Georgetown und mittlerweile Dekan an der Jefferson Universität.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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