Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen -  - E-Book

Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen E-Book

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Beschreibung

"Die Forschung der letzten zehn Jahre zur erfolgreichen klinischen Anwendung von psychoaktiven Substanzen hat die Diskussion um eine neue Therapieform angestoßen. Sie nutzt pharmakologische Substanzen nicht im üblichen Sinne als Medikation, sondern es wird damit durch wenige Anwendungen eine Art Türöffner-Funktion erfüllt, um therapeutische Veränderungen zu bewirken." Dirk Revenstorf Im Oktober 2021 fand eine Online-Tagung (ketamin-kongress.de) statt, die sich großer positiver Resonanz seitens der teilnehmenden Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen erfreute. Es ging um den begleitenden Einsatz von Ketamin in psychotherapeutischen Prozessen, oder umgekehrt: um die Begleitung des Einsatzes von Ketamin in psychotherapeutischer Behandlung. Ketamin als legalisierte Substanz steht hier auch als Beispiel für die Möglichkeiten, die der Einsatz psychoaktiver Substanzen, wie etwa Psilocybin, bieten könnte. Erfahrene internationale Fachleute geben hier Einblick in ihre Praxis und in die erstaunlichen Möglichkeiten, besonders mit Begleitung durch Hypnose, und sie thematisieren auch, welche Risiken zu beachten sind. Vorab schaut Fritz B. Simon aus dezidiert systemtheoretischer Perspektive auf diese Entwicklung. Warum ist es so wichtig, zwischen Psyche, Organismus und Kommunikationssystemen zu unterscheiden, wenn man die Wirkung psychoaktiver Substanzen verstehen und gute Professionalisierung und begleitende Forschung sichern will? Und wie ist die Interaktion des biologischen, des psychischen und des sozialen Bereiches der menschlichen Erfahrung unter Einwirkung bewusstseins-erweiternder Substanzen aus systemischer Sicht zu verorten? Die Herausgeber:innen: Dirk Revenstorf, Prof. em. Dr., Dipl.-Psych.; Professor für klinische Psychologie an der Universität Tübingen, Psychotherapeut. 1984-1996 Präsident der Milton Erickson Gesellschaft für klinische Hypnose. Autor von 16 Büchern und mehr als 180 Artikeln. Erhielt den Pierre Janet Award of Clinical Excellence der International Society of Hypnosis und den Milton-Erickson-Preis. www.meg-tuebingen.de Matthias Ohler, Studium der Philosophie und Linguistik; Systemischer Berater, Musiker; Geschäftsleiter des Carl-Auer Verlages; Geschäftsführer der Auer & Ohler GmbH Heidelberger Kongressbuchhandlung; Leiter der Carl-Auer Akademie im Carl-Auer Verlag; Dozent und Ausbilder in eigenen Weiterbildungsreihen und an Hochschulen, Kliniken sowie Weiterbildungsinstituten. Mitbegründer des Ludwig-Wittgenstein-Instituts. Frauke Nees, Dipl.-Psychologin, Klinische Hypnose und Hypnotherapie (DGH), Personzentrierte Psychotherapie (GwG, HPG), Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT nach Reddemann), "TraumaticStress Studies" bei Bessel van der Kolk in Boston, IFS (Internal Family System, level 3), Ketamine Assisted Therapy (Polarisinsight, San Francisco, Heal-ingRealms Center in San Francisco, KetaminTraining Center Phil Wolfson), Bindungsbasierte Therapie BBT und SAFE®-Mentorin (Brisch), Somatic Embodiment & Regulation Strategies (Linda Thai), Deep Brain Reorienting (Frank Corrigan), Certified Practitioner Angewandte Improvisation (AIN Applied Improvisation Network). Autorin und Dozentin. Bernhard Trenkle, Dipl.-Psych., Dipl.-Wi.-Ing.; Psychologischer Psychotherapeut und Coach mit eigener Praxis in Rottweil; 1984–2003 Vorstandsmitglied der Milton Erickson Gesellschaft für Klinische Hypnose (M. E. G.); Gründungsherausgeber des M.E.G.a.Phon (1984–1998); 1986 Gründer des Milton Erickson Instituts Rottweil; Past-Präsident der International Society of Hypnosis (ISH), Mitglied des Direktoriums der Milton Erickson Foundation, Phoenix, USA. 1999 erhielt er den Life Time Achievement Award der Milton Erickson Foundation, 2012 den Milton-Erickson-Preis der M. E. G.

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Dirk Revenstorf / Matthias Ohler

Frauke Nees / Bernhard Trenkle (Hrsg.)

Ketamin und psychoaktive Substanzen in psychotherapeutischen Prozessen

2022

Der Verlag für Systemische Forschung im Internet:

www.systemische-forschung.de

Carl-Auer im Internet: www.carl-auer.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Carl-Auer Verlag

Vangerowstr. 14

69115 Heidelberg

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt

der Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel

Printed in Germany 2022

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-9062-2 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-9063-9 (ePub)

DOI: 10.55301/9783849790622

© 2022 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Verantwortung für Inhalt und Orthografie liegt bei den Herausgebern.

Inhalt

Matthias Ohler & Dirk Revenstorf

Ketamin und Psychotherapie – was geht?Ein Vorwort

Fritz B. Simon

Einige systemtheoretische Aspekte der Nutzung bewusstseinserweiternder Drogen in der Psychotherapie

Dirk Revenstorf

Ichlosigkeit durch Hypnose und Psychedelika

Andrea Jungaberle, Sergio Pérez-Rosal & Philipp Grimm

Best of Both Worlds: Psychedelische Ketamintherapie im Rahmen einer augmentierten Psychotherapie

Frauke Nees

Mitgefühl für sich selbst. Integration von Ketamin, Hypnose und IFS – Beispiele aus der Praxis

Sophie-Charlotte Alice Adler

KAH – Ketamin-assistierte Hypnotherapie

Mario Scheib

Ketamin in Verbindung mit Psychotherapie und Hirnstimulationsverfahren

Viviane Ehret, Kaltrina Gashi & Mark P. Jensen

Ketamine as a possible moderator of hypnotizability: a pilot study

Nancy L. Morgan, Patrycja Radecka & Coen de Koning

The Internal Family Systems Model IFS and Psychedelics

Veronika Gold, Eric Sienknecht & Harvey Schwartz

Notes from the Frontier: Ketamine-Assisted Psychotherapy (KAP) in Clinical Practice

Ernil Hansen

Ketamin hat Nebenwirkungen

Über die Herausgeber:innen und Autor:innen

Ketamin und Psychotherapie – was geht?

Matthias Ohler & Dirk Revenstorf

Ein Vorwort

Im Oktober 2021 fand eine Online-Tagung statt, die sich großer positiver Resonanz seitens der teilnehmenden Ärzt:innen und Psychtherapeut:innen erfreuen durfte: www.ketamin-kongress.de. Es ging um den begleitenden Einsatz von Ketamin in psychotherapeutischen Prozessen, oder umgekehrt: um die Begleitung des Einsatzes von Ketamin in psychotherapeutischer Behandlung. Ketamin als legalisierte Substanz steht hier auch als Beispiel für die Möglichkeiten, die der Einsatz psychoaktiver Substanzen, wie etwa Psilocybin, MDMA und andere bieten können.

Frauke Nees gab den Impuls, Dirk Revenstorf, Gunther Schmidt, Bernhard Trenkle und die Carl-Auer Akademie haben das Thema gern aufgegriffen, um zu helfen, es nach langem Dornröschenschlaf neu ins Bewusstsein der klinischen Praxis und Forschung bringen. Damit sollte auf die Chancen der Verwendung von Ketamin und anderer psychoaktiven Substanzen für gelingende therapeutische Prozesse aufmerksam gemacht werden. Diese Tagung sollte dazu genutzt werden, zu einem professionellen Umgang mit diesem historisch belasteten Thema beizutragen. Es wurden daher auch amerikanische Autoren eingeladen, um einen Blick auf die dort bereits verbreitete Anwendung der durch psychoaktive Substanzen unterstützten Psychotherapie zu werfen. Das Panorama wurde für diesen Band durch zwei wichtige Beiträge erweitert. Nämlich einmal durch Fritz Simons Essay über eine systemische Einordnung des Themas und zum anderen durch die medizinischpharmakologische Betrachtung der möglichen Nebenwirkungen von Ernil Hansen.

Erfahrene internationale Fachleute geben hier Einblick in ihre Praxis und in die erstaunlichen Möglichkeiten, besonders mit Begleitung durch Hypnose, und sie thematisieren auch Risiken. Vorab schaut Fritz B. Simon aus dezidiert systemtheoretischer Perspektive auf diese Entwicklung. Wie ist sie aus systemischer Sicht zu verorten? Und warum ist es so nützlich, zwischen Psyche, Organismus und Kommunikationssystemen zu unterscheiden, wenn man die Wirkung psychedelischer Substanzen verstehen und gute Professionalisierung und begleitende Forschung sichern will?

Die Meinungen über die Verwendung solcher Substanzen in der Therapie sind geteilt. Umso wichtiger ist es, zu informieren, um für einen gepflegten Diskurs und Erfahrungsaustausch die nötige Basis zu haben. Wir freuen uns, dass es die Tagung gab, und noch mehr, dass es dieses Buch jetzt gibt. Und wir freuen uns auf weitere Entwicklungen, Erfahrungsaustausch, verantwortliche Praxis und solide Forschung. Wir hoffen, mit diesem Band mit einer Türöffner-Funktion zu einer breiteren Diskussion über psychoaktive Substanzen in der psychotherapeutischen Landschaft beizutragen, so wie die psychoaktiven Substanzen eine katalytische Funktion im therapeutischen Prozess haben.

„Die Forschung der letzten zehn Jahre zur erfolgreichen klinischen Anwendung von psychoaktiven Substanzen hat die Diskussion um eine neue Therapieform angestoßen. Sie nutzt pharmakologische Substanzen nicht im üblichen Sinne als Medikation, sondern es wird damit durch wenige Anwendungen eine Art Türöffner-Funktion erfüllt, um therapeutische Veränderungen zu bewirken. In diesem Zusammenhang ist Ketamin von besonderem Interesse, da es sich um eine legale Substanz handelt, die in der Anästhesie verwendet wird und ohne weiteres in der psychotherapeutischen Praxis genutzt werden kann."

Dirk Revenstorf

Einige systemtheoretische Aspekte der Nutzung bewusstseinserweiternder Drogen in der Psychotherapie

Fritz B. Simon

Betrachtet man die Entwicklung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Feldes der letzten 70 Jahre (seit die ersten Psychopharmaka auf den Markt kamen), so zeigt sich eine Spaltung zwischen – um es idealtypisch zuzuspitzen – Biopsychiatrie und Psychotherapie. Ihr zugrunde liegen teilweise ideologische, zumindest aber theoretische Differenzen. Beide Fraktionen (die natürlich nicht so klar gegeneinander abgegrenzt sind, wie es dieser Begriff suggeriert) konstruieren unterschiedliche Hypothesen (= Erklärungen) für die Entstehung psychischer Dynamiken im Allgemeinen, von „Problemen“, „Störungen“, „Krankheiten“ (wie immer diese jeweils definiert sein mögen) im Speziellen. Wie immer sie es nennen mögen, in jedem Fall aber folgen sie unterschiedlichen Hypothesen darüber, welche Prozesse zu ihrer Lösung (ob ihnen nun ein Krankheitswert zugeschrieben wird oder nicht) beitragen: Die biologische Psychiatrie sucht Heilungs-/Lösungsprozesse durch die Intervention in den Organismus des Klienten, die Psychotherapie in die Kommunikation.

Dieser, hier nur oberflächlich skizzierte, Kontext bestimmt auch die fachliche Diskussion, ob und wie bewusstseinserweiternde Drogen in der Therapie verwendet werden können oder sollten. Auf der einen Seite gibt es klinische Erfahrungen in der Arbeit, z. B. mit Ketamin, die vielversprechend sind, auf der anderen Seite gibt es prinzipielle ethische und moralische, aber auch theoretische wie klinische Bedenken (siehe die Beiträge in diesem Band).

An dieser Stelle können eventuell einige Aspekte der neueren Systemtheorie zur konzeptuellen Klärung beitragen (Maturana 1982, Maturana u. Varela 1984, Luhmann 1984, v. Foerster 1985, Spencer-Brown 1969). Sie können hier selbstverständlich nur kurz skizziert werden, doch im besten Fall überbrücken sie ideologische und/oder theoretische Gräben, die praktische Konsequenzen haben …

Die Prämissen: Der „ganze“ Mensch ist in seiner Ganzheit nicht zu erfassen, da er nicht in dieser Ganzheit beobachtet werden, ja, nicht einmal theoretisch erfasst werden kann. Denn es handelt sich um unterschiedliche Phänomenbereiche, mit denen der Beobachter konfrontiert ist, wenn er mit einem Menschen (der er auch selbst sein kann) zu tun hat: der Organismus ist durch materielle, biochemisch-physiologische Prozesse bestimmt, die Psyche wird durch ideelle Dynamiken (Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Zuschreibung von Bedeutung etc.) definiert, und soziale Systeme sind Kommunikationssysteme, die – wie die Psyche – Sinn prozessieren.

Was alle drei Typen von Systemen miteinander verbindet, ist (und hier kommt die neuere Systemtheorie ins Spiel), dass sie autonom und strukturdeterminiert funktionieren. Das soll heißen: Sie erschaffen und erhalten sich als gegenüber ihren Umwelten abgegrenzte Einheiten selbst, d.h. sie kreieren eine Innen-außen-Unterscheidung, und das tun sie allein durch ihre internen Prozesse („Autopoiese“, Maturana 1982). Ihr individuelles Funktionieren ist jeweils von ihren inneren, im Laufe ihrer individuellen Geschichte geformten, Strukturen bestimmt („Strukturdeterminiertheit“, Maturana 1982). Konkret heißt das bezogen auf die genannten drei Typen von Systemen: Der Organismus eines Individuums bildet durch seine physischen Prozesse seine eigenen Strukturen und er erhält sie auch so; er grenzt sich aktiv als Einheit gegen den Rest der Welt ab. Er grenzt sich auch – und das ist das Radikale an dem Ansatz – gegen die Psyche des jeweiligen Individuums ab. Analoges kann für die Psyche eines Individuums gesagt werden: Seine Psyche grenzt sich durch ihre eigenen Prozesse vom Rest der Welt ab, und der physische Organismus wird nie Teil der Psyche, d.h. die Psyche eines Menschen enthält keine biochemischen Bestandteile; aber genauso wenig wird die Psyche je Teil des physischen Organismus, d. h. er enthält keine Gedanken oder Gefühle. Organismus und Psyche sind klar gegeneinander abgegrenzte Phänomene und Phänomenbereiche.

Nach dieser Konzeptualisierung sind Organismus, Psyche und soziale Systeme jeweils klar gegeneinander abgegrenzte autopoietische Systeme, die füreinander jeweils als Umwelten fungieren: Der Organismus des Individuums fungiert als Umwelt seiner Psyche wie auch als Umwelt des jeweiligen sozialen Systems, in dem es lebt (also z. B. seiner Familie, einer Organisation); die Psyche eines Menschen ist demnach Umwelt seines Organismus wie des jeweiligen sozialen Systems; und das soziale System ist Umwelt von Psyche wie auch Organismus. Diese Konzeptualisierung widerspricht dem Alltagsdenken der meisten Menschen, hat aber den großen Vorteil, dass sie in der Lage ist, die Komplexität radikal zu reduzieren, ohne dabei den Zugang zur Komplexität der Systeme zu verbauen, so dass für die Praxis relevante Hypothesen über die Wechselbeziehungen der drei Systeme entwickelt werden können.

Um ein einfaches Beispiel zu geben, das diesen Aspekt zu veranschaulichen vermag: Eine große Organisation mit Hunderttausenden von Mitarbeitern wie die Deutsche Post ist in ihrer Struktur nicht durch die Psyche der Mitarbeiter definiert. Die Psyche des einzelnen Briefträgers mag zwar dafür verantwortlich sein, dass an einem bestimmten Tag die Briefe nicht ausgetragen werden, aber sie ist nicht dafür verantwortlich, dass überhaupt Briefe ausgetragen werden. Natürlich braucht solch eine Organisation Mitarbeiter (ihre Organismen und psychischen Systeme), die über die individuelle Kompetenz verfügen, die in ihrem Job nötigen Tätigkeiten zu leisten. Aber darüber hinaus ist die „private“ Psychodynamik des Mitarbeiters nicht für das Erklären der Organisation von Belang. Solange genügend Leute „mitspielen“ findet diese Organisation statt. Wer Mitglied des Systems bleiben will, muss sein Verhalten an den für die Organisation charakteristischen Spielregeln der Interaktion und Kommunikation orientieren. Er muss sich ihnen anpassen. Andernfalls wird er den dafür gegebenen Regeln entsprechend aus der Kommunikation zeitweise oder dauerhaft ausgegrenzt (gekündigt, krankgeschrieben, in Pension geschickt o. Ä.). In Paarbeziehungen oder Familien und teilweise auch in Teams ist es umgekehrt: Dort passen sich die Spielregeln der Interaktion und Kommunikation den psychischen und auch den körperlichen Strukturen und Zuständen der Mitglieder an. Wenn ein Kind geboren wird, dann ändern sich z. B. die Spielregeln einer Familie radikal, um den Bedürfnissen des Neugeborenen gerecht werden zu können. Die grundlegende Frage ist also: Welches System passt sich dem anderen mehr an? Anpassung heißt aber nicht, dass die jeweilige Autonomie und Innensteuerung (Strukturdeterminiertheit) aufgegeben würde.

Diese drei Systeme – Organismus, Psyche, soziales System – sind zwar in ihrem Funktionieren autonom – d. h. innengesteuert, denn es gibt keine geradlinigen Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen Ereignissen in der jeweiligen Umwelt und der Reaktion des Systems –, aber sie sind nicht unabhängig voneinander. Denn sie sind miteinander zu System-Umwelt-Einheiten „gekoppelt“ und in Interaktion miteinander; sie bestimmen damit gegenseitig die Bedingungen, unter denen ihr autonomes Verhalten sich entfalten kann. „Kopplung“ bedeutet, dass diese Systeme miteinander eine Ko-Evolution durchlaufen, bei der sie sich gegenseitig „irritieren“. Sie sind zwar jeweils durch ihre internen Strukturen determiniert, doch sie reagieren auf Störungen oder Anregungen (= Irritationen) durch ihre Umwelten.

Die Psyche eines Individuums ist mit seinem Organismus „fest gekoppelt“, mit dem jeweils aktuellen sozialen System ist es nur „lose gekoppelt“, d. h. das soziale Umfeld kann im Prinzip gewechselt werden, auch wenn das individuell unterschiedlich schwerfallen oder auch attraktiv sein kann.

Das alles klingt sehr abstrakt, ist aber relativ simpel und sehr praktisch. Dazu ein einfaches Beispiel: Wer als „ganzer Mensch“ auf der Straße steht und von einem Passanten angerempelt wird (eine Irritation), reagiert körperlich aufgrund der senso-motorischen Muster/Strukturen, die sich im Laufe seines Lebens geformt haben, und versucht automatisch (strukturdeterminiert) sein Gleichgewicht zu bewahren, indem er reflexhaft eine Bewegung macht, die das Rempeln ausgleicht. Im besten Fall findet er sein Gleichgewicht wieder, im schlechtesten fällt er trotzdem hin. Doch die Interaktion mit dem Rempler (ein soziales Ereignis) irritiert auch die Psyche. Je nachdem, wie sie das Anrempeln erklärt, reagiert die angerempelte Person: Sie schimpft, wenn sie es für Rüpelei hält, hat Mitleid mit dem Rempler, wenn sie seine Blindenbinde sieht, usw.

Noch ein Aspekt, der theoretisch für unsere Fragestellung von Bedeutung ist: Als psychisches System ist in dieser Konzeptualisierung ausschließlich das Bewusstsein definiert, und soziale Systeme sind als Kommunikationssysteme definiert (vgl. Luhmann 1984). Das bedeutet zum einen, dass soziale Systeme nicht aus ganzen Menschen als Elementen bestehen (was schon aufgrund der Komplexität ihrer individuellen psychischen Systeme die Komplexität explodieren ließe), sondern aus einzelnen Kommunikationen bzw. Mustern der Kommunikation oder auch deren Spielregeln. Und zum anderen bedeutet dies, dass unbewusste Prozesse nicht in der Psyche verortet sein können, wenn psychische Systeme als Bewusstseinssystem konzeptualisiert sind. Es bedeutet nicht, dass unbewusste Prozesse geleugnet würden, sondern dass ihre Genese in einem der mit dem Bewusstsein gekoppelten Systeme verortet wird. Das individuelle Unbewusste ist demnach in biologischen Strukturen (z. B. des Gehirns, aber sicher nicht nur des Gehirns), die sich im Laufe der individuellen Geschichte geformt haben, zu verorten; das kollektive Unbewusste im sozialen System (z. B. in Strukturen der jeweiligen Sprache und Kultur, den aktuellen sozioökonomischen Verhältnissen usw.) (vgl. Simon 2018).

Um das Modell ein wenig zu konkretisieren: Die Kopplung zwischen einer individuellen Psyche und einem individuellen Körper ist fest, das heißt, beide bilden füreinander Umwelten, die sie nicht loswerden. Allerdings können sie, da sie sich gegenseitig irritieren, versuchen, sich zu beeinflussen. So wird eine Person, die aufgrund der eigenen körperlichen Beschaffenheit einen Leidensdruck entwickelt, entweder versuchen, den Körper zu verändern (z. B. Schönheitsoperation, Hungern, Schminken usw.) oder aber – qua Selbstreflexion, z. B. initiiert durch einen Kommunikationsprozess – das eigene Bewusstsein zu verändern (Body Positivity, Psychotherapie, Coaching usw.).

Bezogen auf das Feld der Psychiatrie/Psychotherapie kann festgestellt werden, dass alle, die dort professionell tätig sind, vor einem gemeinsamen Problem stehen: Man kann eine fremde Psyche von außen nicht beobachten. Was aber noch gravierender ist: Man kann auch von außen nicht direkt in eine fremde (autonome, strukturdeterminierte) Psyche intervenieren. Das können weder Biopsychiater noch Psychotherapeuten, welcher Schule sie sich auch immer zurechnen mögen. Man muss immer „über die Bande“ spielen. Was man als Therapeut praktisch tun kann, ist lediglich in eine der Umwelten eines psychischen Systems zu intervenieren: in den Organismus oder in das soziale System. Mit anderen Worten: Biopsychiater versuchen die körperliche Umwelt eines psychischen Systems zu verändern, indem sie Psychopharmaka verordnen, Elektroschocks verabreichen (euphemistisch Elektrokrampftherapie genannt), früher Insulin- oder Fieberkuren durchführten usw., um so auf das Gehirn, die Synapsen, postsynaptische Potentiale, Transmitter oder irgendwelche andere vermeintliche oder tatsächliche Orte des Organismus einzuwirken. Ihre Hoffnung dabei ist, dass sich dadurch die Dynamik des psychischen Systems ihrer Klienten in einer positiv bewerteten Weise verändert.

Die Kopplung des Individuums mit dem aktuellen sozialen System, an dem es im Alltag teilnimmt (Familie, Organisation, Freundschaft etc.), ist lose, d. h. es kann gewechselt werden. Darin liegt die Chance, seine Lebensbedingungen zu ändern, und es eröffnet auch die Möglichkeiten der Psychotherapie, d. h. die Kreation eines sozialen Systems, an das gekoppelt das psychische System eines Klienten einen Wandel erfährt. Psychotherapeuten gestalten im optimalen Fall solch ein spezifisches soziales System (die Kommunikation mit dem Klienten oder einem Klientensystem), von dessen Dynamik sie eine Veränderung des sich daran koppelnden psychischen Systems ihres Klienten in einer positiv bewerteten Weise erhoffen (z. B. korrigierende Erfahrungen, die Änderung familiärer Spielregen usw.).

Was heißt das nun für die Anwendung bewusstseinserweiternder Drogen in der Psychotherapie? Wie deren Name beschreibt, besteht ihre Wirkung darin, körperliche Veränderungen auszulösen, welche die Grenzen des Bewusstseins – und damit, systemtheoretisch betrachtet, der Psyche – erweitern.

Um dies einordnen zu können, ein Blick auf die Entwicklung psychischer Strukturen. Wenn ein neugeborener menschlicher Organismus zum Teilnehmer eines Kommunikationssystems (z. B. einer Familie) wird, entwickeln sich selbstorganisiert seine psychischen Strukturen. Es ist ein Prozess, der evolutionären Regeln folgt, d.h. dem Dreischritt von Variation, Selektion und Retention. Aus der Menge der Wahrnehmungen erfolgt eine Selektion aufgrund interner Relevanzkriterien (z. B. Bedürfnisbefriedigung usw.), die mit einer Selektion des eigenen Verhaltens gekoppelt wird (Bildung sensomotorischer Muster, Assoziationsnetze, Strukturen des Denkens und Fühlens, Verhaltensmuster usw.). Wenn sich Erfahrungen wiederholen, so werden diese Strukturen bestätigt (Retention). Auf diese Weise werden im Laufe der individuellen Geschichte – körperlich fixiert – dem Bewusstsein selbstorganisiert Strukturen, Prozessmuster, Erfahrungsmöglichkeiten und Grenzen der Erfahrung verpasst.

Beispielhaft für dieses Selektionsprinzip ist das Gehirn: Zu Beginn der individuellen Entwicklung sind die Möglichkeiten der Netzwerkbildung zwischen Neuronen nahezu unbegrenzt: Mit der zunehmenden Erfahrung (Lernen) werden diese Möglichkeiten aber reduziert, d. h. bestimmte Netzwerkverbindungen werden verstärkt, während andere mangels Aktivierung verkümmern. Mit anderen Worten: Das Lernen eines Systems nimmt ihm vielfältige Möglichkeiten der alternativen Strukturbildung. Das gilt aber nicht nur für das Gehirn, sondern für selbstorganisierte Systeme generell.

Gesteuert wird dieser Selektionsprozess in Bezug auf das Bewusstsein wie auch den Organismus (insbesondere des Gehirns) durch die Fokussierung der Aufmerksamkeit in der Kommunikation.

Worauf die Aufmerksamkeit in der Kommunikation nicht fokussiert wird, tritt nicht ins Bewusstsein. Dies ist das Selektionsprinzip. Konsequenz: Worauf die Aufmerksamkeit nicht fokussiert wird, existiert auch nicht für das Bewusstsein.

Doch, was außerhalb dieses Fokus der Aufmerksamkeit in der Kommunikation geschieht, ist rein physiologisch zu einem großen Teil der Wahrnehmung zugänglich, auch wenn es nicht bewusst wird. Die Selektionskriterien und -schwellen des Organismus sind andere als die des Bewusstseins. Diese nicht ins Bewusstsein tretenden Ereignisse und Prozesse (Irritationen des Organismus) finden ihren Niederschlag in unbewussten (d. h. körperlichen) Strukturen und Prozessmustern. Das bedeutet, dass all dies in die Strukturbildung, das Knüpfen von organischen Assoziationsnetzen, physiologischen Reaktionsmustern etc. eingeht, und damit dann als relevante Umwelt des Bewusstseins dessen Funktion irritiert.

An dieser Stelle muss betont werden, dass der Irritationsbegriff der neueren Systemtheorie, abweichend vom umgangssprachlichen Gebrauch, neutral in der Bewertung ist. Eine Irritation kann positiv bewertet werden, etwa als Anregung und Kreativität fördernd, aber auch als Störung, die das Gleichgewicht des Systems in Frage stellt. Es gibt keine absolute und kontextunabhängige Bewertung von Irritationen bzw. ihrer Wirkungen.

Bewusstseinserweiternde Drogen verschieben, so die Hypothese (um zum Thema zurückzukommen), die Grenze zwischen bewussten und unbewussten Strukturen. Sie eröffnen einen Zugang zu bis dahin unbewussten Strukturen und Assoziationen, indem sie den Fokus der Aufmerksamkeit auf im Prinzip bewusstseinsfähige, aber im Alltag aus dem Bewusstsein ausgeschlossene Strukturen richten. Analoges ist unter sensorischer Deprivation und auch im Traum zu beobachten: Der Mangel an Irritationen durch die physische und/oder soziale Umwelt führt zur Verschiebung der individuellen Aufmerksamkeit auf Inhalte, die im Wachbewusstsein den erlebten, sozialen Selektionsprinzipien folgend, ausgegrenzt sind. Ob dies jeweils positive oder negative Wirkungen auf denjenigen hat, der dies erlebt, ist nicht generell zu bewerten.

Zur Anwendung in der Therapie ist zunächst festzustellen, dass in jeder Form von Heilbehandlung, in der es zur Interaktion Therapeut/Klient kommt, unvermeidlich ein soziales System (=Kommunikationssystem) kreiert wird. Also ist auf dessen Gestaltung zu achten und zu reflektieren, welche Suggestionen, Beziehungsangebote, Rollenzuschreibungen, Wirklichkeitskonstruktionen, Kausalitätsmodelle usw. implizit vermittelt werden.

Entscheidend erscheint aus einer systemtheoretischen Perspektive, dass bei jeder Intervention alle drei miteinander gekoppelten Systeme betroffen sind. Daher ist die Art der Kopplung zwischen ihnen zu reflektieren. Das betrifft zunächst einmal die körperlichen wie auch psychischen Risiken, die mit der Gabe bewusstseinserweiternder Drogen verbunden sind, und sie genau abzuwägen und im Blick zu behalten. Auf der anderen Seite wäre es mehr als nur eine verpasste Chance, lediglich körperlich zu intervenieren, und nicht auch die Entstehung eines sozialen Systems wahrscheinlicher zu machen, das erfahrungsgemäß eine positive therapeutische Wirkung hat. Da die Fokussierung der Aufmerksamkeit in der Kommunikation generell (!) das zentrale Steuerungsinstrument und daher auch für die Entwicklung psychischer Strukturen von zentraler Bedeutung ist, erscheint es geradezu fahrlässig, einen Prozess, in dem es zeitweise zu einer Bewusstseinserweiterung eines Menschen kommt, nicht zu begleiten. Denn wenn solch ein Prozess begleitet wird, lässt sich die Aufmerksamkeit lösungsorientiert fokussieren. Andernfalls besteht das Risiko, dass der Klient seine neue Erfahrung in alteDeutungsschemata einordnet, weil er die gewohnte Fokussierung seiner Aufmerksamkeit beibehält.

Heilmethoden sind seit Jahrhunderten, wahrscheinlich seit Jahrtausenden, auf jeden Fall aber lange bevor es Wissenschaften in unserem heutigen Verständnis gab, aufgrund praktischer Erfahrungen entwickelt und tradiert worden. In den indigenen Kulturen Amerikas waren es der Gebrauch von Peyote und Meskalin, die in Heilrituale integriert waren. Und bewusstseinserweiternde Drogen wurden genutzt, weil sie positiv bewertete Wirkungen erzielten. Das war die Erfahrung, und was funktionierte, wurde beibehalten. Solch ein Selektionsprinzip von Heilmethoden gilt im Prinzip auch heute noch: Innovation resultiert zwar nicht immer, aber oft aus der praktischen Erfahrung. Aber heute muss sie sich wissenschaftlich überprüfen lassen, um zu einer anerkannten Methode werden zu können. Doch das ist der zweite Schritt. Der erste ist das Riskieren alternativer Praktiken, wenn es Hinweise gibt, dass sie von Nutzen sein könnten.

Doch die gesellschaftlichen Selektionsprinzipien verhindern gelegentlich auch Innovation. So wurde in den Nach-1968er-Jahren schon an einigen (deutschen und anderen) Universitätskliniken mit der Gabe von LSD und anderen Psychedelika in der Psychotherapie experimentiert (bekannt geworden z. B. als „Psycholyse“). Aber die Tatsache, dass sie zum Teil der Hippiekultur und Drogenszene wurden, verhinderte ihre systematische Untersuchung (zumindest erscheint dies als plausible Hypothese). Diese Zeiten sind zwar vorbei, aber die Bedenken sind geblieben. Doch sollte es heute möglich sein, in nüchterner und ideologiefreier Weise zu überprüfen, welche therapeutischen Möglichkeiten sich mit der Nutzung bewusstseinserweiternder Drogen in der Psychotherapie eröffnen. Das vorliegende Buch soll ein Beitrag dazu sein.

LITERATUR

Foerster, H. von (1985): Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Heidelberg (Carl-Auer) 1999.

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main (Suhrkamp).

Maturana, H. (1982): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig (Vieweg), S. 272–296.

Maturana, H. u. F. Varela (1984): Der Baum der Erkenntnis. Bern (Scherz) 1987.

Simon, F. B. (2018): Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen. Heidelberg (Carl Auer).

Spencer-Brown, G. (1969): Laws of Form. London (Allen and Unwin). [dt. (1997): Gesetze der Form. Lübeck (Bohmeier).]

Ichlosigkeit durch Hypnose und Psychedelika1

Dirk Revenstorf

“If the doors of perception were cleansed,every thing would appear to man as it is infinite.”(William Blake 1757–1827)

EINLEITUNG

Der Konsum von Psychedelika, ihre zunehmende Legalisierung, die Zunahme von Verschwörungstheorien, eine erhebliche Tendenz zu Verschwörungstheoretikern unter Konsumenten, die Nähe von Psychedelika zu Psychosen und Paranoia einerseits und zur Selbstentwicklung im humanistischen Gedankengut von Buddhismus, Meditation und Yoga andererseits. Dies zusammen konvergiert zu einem Lebensgefühl, das die von der Aufklärung diktierte rational wissenschaftliche Durchdringung der Welt in Frage stellt. Als hätten die Ernüchterung über die Grenzen des Wachstums und die Abgründe der technologischen Vernunft die Hoffnung genährt, dass jenseits davon ein Bewusstsein existiert, ein Bewusstsein, das nicht darauf ausgerichtet ist, wie bisher Lebensräume in Besitz zu nehmen und sie dabei zu vernichten.

Ein Merkmal der vernunft-geleiteten Orientierung in der Welt ist die duale Beziehungsqualität, die mit der Unterscheidung von Subjekt und Objekt einher geht. Z.B. sagt man „ich reite das Pferd“ und nicht „das Pferd und ich reiten“ oder „das Pferd und ich werden geritten“. Diese Ich-es Beziehung im Sinne von Martin Buber stabilisiert die Ichgrenzen und degradiert alles andere inclusive anderer Personen zu Gegenständen der Betrachtung und Manipulation. Damit bin ich der Welt entfremdet und von dem Teil in mir, der mit Anderen und dem Universum im Sinne von Bubers Ich-Du-Beziehung verbunden sein könnte.

Psychedelischen Substanzen heben die Dualität und die damit verbundene Entfremdung vorrübergehend auf. Spürbar wird die wiederhergestellte Verbundenheit mit anderen Menschen durch die Einnahme von sogen. Entaktogenen wie MDMA oder GHB und die Verbundenheit mit dem größeren Ganzen durch die Einnahme von sogen. Entheogenen wie DMT (Ayahuasca) oder Meskalin (Peyote, San Pedro). Auf diesem Wege löst sich das Individuum aus den gewohnten Fixierungen, kann seine Ichgrenzen vorrübergehend hinter sich lassen und den Kontakt zum großen Ganzen wieder wahrnehmen. Die Entgrenzung muss nicht unbedingt sozial förderlich (ein Freund von mir hat im Rausch den Nachbarn gebissen).

Es ist fraglich, ob man die Selbstbeschränkung auf den individualistischen Egozentrismus unserer Zeit aus eigener Kraft überwinden kann oder besser mit Hilfe der Substanzen, die die Natur zur Verfügung stellt. Vielleicht ist es ja ein Geschenk der Evolution, dass sie den Menschen Ayahuasca, Peyote und bestimmte Pilze anbietet, die psychedelische Substanzen enthalten. Als ein günstiger Zufall, göttlicher Wille oder Regulativ im Sinne einer Gajatheorie. Das würde über einen molekular-zellulären Reduktionismus in der Analyse psychoaktiver Wirkungen hinausführen und eine Erweiterung des Denkens um eine spirituelle Dimension darstellen.

Auf der anderen Seite gibt es in vielen Kulturen kontemplative Traditionen, die ebenfalls veränderte Bewusstseinszustände anstreben, um den Dualismus von Ich und Objekt hinter sich zu lassen, die aber ohne von außen zugeführte Substanzen auskommen. Viele dieser Praktiken erfordern eine lange Einübung in Gebete, Meditationen oder schamanistische Rituale, deren Mühe wenige auf sich nehmen wollen und die in der moderne Lebenswelt wenig Platz haben. Man stelle sich eine Familie mit zwei berufstätigen Eltern und drei Kindern vor und die Eltern ziehen sich täglich zwei bis drei Stunden zur Meditation zurück.

Daneben gibt es die hypnotische Trance, die leicht erlernbar ist und sowohl subjektiv eine Annäherung an nonduales Erleben ermöglicht als auch neurophysiologisch ähnliche Mechanismen mobilisiert wie psychoaktive Substanzen. Der gemeinsame Nenner ist vermutlich die Zunahme der Entropie in bestimmten Hirnstrukturen und die Auflösung und Rekonsolidierung von Konnektivitäten zwischen diesen und innerhalb dieser Strukturen. Trotz bemerkenswerter Ähnlichkeiten in der therapeutischen Indikation und in den zugrunde liegenden Wirkmechanismen, ist in der neueren Literatur der Verwandtschaft psychedelischer Substanzen und der hypnotischen Trance wenig Beachtung geschenkt worden2 (McGeown et a. 2009, Lermercier & Terhune 2018).

DAS ENTROPISCHE GEHIRN

Milton H. Erickson hat vermutet, dass hypnotische Trance einen veränderten Bewusstseinszustand darstellt, in dem vertrauten Glaubenssätze und der gewohnte Bezugsrahmen vorübergehend verlassen werden, sodass obsolete Verknüpfungen gelöst und neue gefunden werden. Er kannte die Forschung mit bildgebenden Verfahren noch nicht, formulierte aber etwas, das die Neurophysiologie stützt. Er meinte, dass bevor man sich an die Arbeit macht, das Selbstbild zu stabilisieren, das unsere gewohnten Denkmuster bestimmt, es sich in vielen Fällen lohne, diese vorrübergehend außer Kraft zu setzen, um eine Neuorientierung zu erleichtern. Auf diese Weise gelingt es u. U. eher, Patienten (bzw. Menschen generell) aus der Leidensrolle ihrer kognitiven und emotionalen Sackgassen zu befreien.

Ein frühes Experiment der kognitiven Psychologie konnte zeigen, dass die Erweiterung des kognitiven Bezugsrahmens bei der Problemlösung hilfreich ist. Ein Teil der Probanden konnte das bekannte grafische Rätsel nicht lösen, wie man vier im Quadrat angeordnete Punkte mit nur drei Linien verbindet. Man gönnte ihnen eine Pause und zeigte ihnen beiläufig, wie ein großes Buch von einem kleineren vollständig zugedeckt werden kann, indem man das kleinere flach über das aufrecht hingestellte große Buch hält. Nach dieser scheinbar belanglosen Demonstration konnten die gescheiterten Probanden die Dreistrichaufgabe lösen. Es ist, als hätte man den Lösungs-Raum durch eine zusätzliche Sinnesmodalität (konkrete Handlung) und durch größeren Kontext erweitert und so das Denken von der Einschränkung befreit, in dem von den vier Punkten vorgegeben Rahmen zu bleiben.

Abb. 1:

Wie sich die kognitive Blockade der Dreistrich-Aufgabe über den Umweg einer Metapher bzw. Denkhilfe, wie ein größerer Block durch einen kleineren zugedeckt wird, löst

Auch Träume können festgefahrene Vorstellungen auflösen. So ging es August Kekulé (1829–1896), als er in seinem Lehnstuhl eindöste und die bis dahin gewohnte Vorstellung der linearen Anordnung der Kohlenwasserstoffe hinter sich ließ und auf die ringförmige Anordnung des Benzols kam, indem er von einer Schlange träumte, die sich in den Schwanz beißt. In manchen Fällen behindert das gewohnte Denken (hier die lineare Anordnung der Kohlenwasserstoffe) eine kreative Lösung. Doch Menschen verlassen die Gewohnheiten ungern, denn diese vermitteln Sicherheit.

Abb. 2:

Kekulés Traum von einer Schlange die sich in den Schwanz beißt, als Lösung für die Benzolformel

Der Neurowissenschaftler Robin Carhart-Harris führte 2014 den Ausdruck des entropischen Gehirns ein, um zu verdeutlichen, dass es sich bei unserem Gehirn um ein komplexes Organ handelt, das Entropie, d.h. die ungeordnete Menge an Informationen, die von außen wie von innen auf den Organismus einwirkt, reduziert (Carhart-Harris et al., 2014).

Die Information wird so reduziert, dass eine schnelle Orientierung möglich wird. Das wird durch eine Hierarchie von Netzwerken erreicht, die spezifische Aufgaben der Informationsverarbeitung abwickeln. Dabei gibt es zwei übergeordnete Bereiche. Das Netzwerk für die externe Orientierung umfasst u. a. Motorik, Sensorik, Aufmerksamkeit, Handlungskontrolle. Das zweite übergeordneten Netzwerke, das sogen. Default Mode Network (DMN), die Standard-Ruheeinstellung des Gehirns (resting state, Anticevic et al., 2012)3 betrifft die Innenorientierung und umfasst u. a. implizites und explizites Gedächtnis, emotionale Netzwerke und solche der Selbstreferenz.

Abb. 3:

Zerebrale Netzwerke der Innenorientierung und der Außenorientierung

Das DMN ist aktiv, wenn man im entspannten Zustand seinem Bewusstseinsstrom freien Lauf lässt. Es resultieren schweifende Gedanken über Hoffnungen und Tagträume und über die eigene Person. Man überdenkt die Vergangenheit und die Zukunft und phantasiert über Ideen und Projekte ohne konkrete Lösungssuche. Wenn die Gedanken hauptsächlich angstbesetzt um das eigene Ich kreisen kann das belastend wirken, wie die Ruminationen bei Depressiven und Menschen mit Zwängen deutlich machen4

Dagegen schweigt das DMN während der Aufgabenorientierung: keine Zeit, über sich selbst nachzusinnen. Die Außenorientierung der Netzwerke Handlungskontrolle5 und der Aufmerksamkeit6 ist der Gegenspieler der Innenorientierung auf die Phantasiewelten. Entsprechend ist ein deaktiviertes DMN bei der Aufgabenorientierung mit besserer kognitiver Leistung verbunden7. Die Fähigkeit zur Deaktivierung des DMN ist oft ein Zeichen gesteigerter Konzentrationsfähigkeit. So findet man bei erfahrenen Meditierern eine stärkere Deaktivierung des DMN als bei Novizen (Anticevic et al., 2018)8. Mit anderen Worten scheint die DMN-Unterdrückung ein Mechanismus zu sein, das Gehirn von störenden Gedanken abzuhalten, die die Aufgabenorientierung beeinträchtigen würden, wie das z. B. bei schizophrenen Patienten der Fall ist (Palhano-Fontes et al. 2015).

Außer bei der Aufgabenorientierung begibt sich das DMN in bestimmten veränderten Bewusstseinszuständen (altered states of consciousness, ASC) zur Ruhe, nämlich im REM-Schlaf, bei lange eingeübter Meditation, unter Einwirkung halluzinogener Substanzen und in hypnotischer Trance (Cavena & Trimble 2006). In diesen Fällen dient die Deaktivierung des DMN der Reduktion der Ichbezogenheit und Alltagsbegrifflichkeit bei weiter bestehender Innenwendung. Dabei scheint Hemmung des Prekuneus und des präfrontalen Kortex als Teile des DMN eine wichtige Rolle zu spielen9, die u. a. für das episodische Gedächtnis, die Bewertung sozialer Konsequenzen des eigenen Handelns und die Selbstreflexion zuständig sind, d.h. für die Alltagsvernunft und die Ich-Perspektive (Menon 2011). Wenn jemand seinen Namen hört oder liest, steigt die Durchblutung im Prekuneus (Quin u. Northoff 2011). Die Aktivität dieser Hirnregion vermittelt dem Individuum das Gefühl, Autor seiner Handlungen zu sein (sense of agency), sich seiner selbst, seiner Persönlichkeit und seiner äußeren Erscheinung bewusst zu sein. Er wurde daher „the mind‘s eye“ (Cavanna u. Trimble 2006) genannt und ist für Introspektion bedeutsam (Rosazza u. Minati 2011)10.

Wenn die Ichbezogenheit zu groß wird, resultiert eine gewisse Rigidität, die als Persönlichkeitsmerkmal wohl bekannt ist. Eine Steigerung äußert sich in Zwängen: Das Denken kreist um die Perfektion, damit sich das Ich völlig sicher fühlen kann (und potenzielle Schuld durch Fehler abzuwehren). Sucht lässt ebenfalls wenig Freiheitsgrade zu, wenn die Gedanken nur noch um die Beschaffung des Suchtmittels kreisen. Und auch Depression ist ein Zustand eines auf zu viel Selbstreflektion eingeengten Bewusstseins, in dem das Ich auf die Vorstellung fixiert ist, wertlos zu sein. Immer scheint es ums besorgte Ich zu gehen. Eine Aufhebung der Ichbezogenheit, d. h. die vorübergehende Deaktivierung des DMN samt Prekuneus könnte eine Entlastung und größere Offenheit mit sich bringen.

Abb. 4:

Pathologische Rumination, Alltagsvernunft und veränderte Bewusstseinszustände auf der Skala zwischen den Polen Entropie und Ordnung.

WIRKUNG HALLUZINOGENER SUBSTANZEN

Bewusstseinszustände, ob beeinflusst durch manche Bewusstseins-erweiternden Substanzen oder Methoden wie Meditation, Sensorische Deprivation (Samadi Tank), Yoga, Gebete, Hypnose induziert, lassen sich in drei generellen Dimensionen anordnen: Erregung-Beruhigung, Euphorie-Dysphorie und Erweiterung bzw. Einengung des Bewusstseins. Die Halluzinogene zählen zu den Substanzen, die zur Bewusstseinserweiterung führen können. Zu den das Bewusstsein einengenden Substanzen zählen Opiate, Amphetamine, Alkohol und Schlafmittel (Barbiturate).

Forschungen mit bildgebenden Verfahren konnten zeigen, dass durch psychoaktive Substanzen, wie die das dem Serotonin verwandten Psilocybin (in bestimmten Pilzen wie psilocybe cubensis), Meskalin (im Peyote -Kaktus), DMT (in Ayahuasca) und das synthetische LSD das DMN deaktiviert wird und sich die Kopplung verschiedener Hirnarealen vorübergehend auflöst. Z. B. wird die Synchronisierung zwischen den sensorischen und den assoziativen Arealen, also das Zusammenwirken von Input und dessen gewohnter Integration unterbrochen und mit der Auflösung der Konnektivität zwischen verschiedenen Hirnarealen geht eine Zunahme der Entropie einher, die man in den EEG-Signalen messen kann.

Entsprechend zeigte sich z. B. für die Wirkung der psychedelische Substanzen LSD, Psilocybin und Ketamin im Vergleich zum Placebo eine Zunahme der Entropie in unterschiedlichen Bereichen des Gehirns und auch im Prekuneus (Schartner et al. 2020). D. h. es löst sich die gewohnte Ordnung im Bewusstsein auf. Es lockert sich das normale Zusammenspiel zwischen und innerhalb der einzelnen Systeme und es entsteht ein subchaotischer Schwellenzustand, der neue Verknüpfungen ermöglich (Beaty 2018), verbunden mit der Deaktivierung des DMN und des Ichbezogenen Denkens.

Die biochemische Basis der Veränderungen, die durch klassische Halluzinogene aber auch Ketamin bewirkt werden, kann zu erhöhter Neuroplastizität führen und auch zu Neuentstehung von Neuronenverbindungen, die unter Einfluss von LSD, Psilocybin, DMT in moderaten Dosen sowohl in vitro-Experimenten an Mäusen wie in vivo-Experimenten an Mäusen und Menschen nachgewiesen wurden (siehe Sammelreferat deVos et al. 2021). Ausgelöst wird diese neuronale Veränderung offenbar durch die vermehrte Ausschüttung einer neurotropen, körpereigenen Substanz BDNF (brain derived neurotropic factor), die das neuronale Wachstum fördert und die synaptischen Übertragungsprozesse anregt – im gesamten Gehirn und besonders im Hippocampus. Letzteres macht die spezifisch emotionalen Wirkungen der Halluzinogene plausibel.

Das durch BDNF angeregte neuronale Wachstum erklärt die überdauernden Effekte jenseits der Anwesenheit der halluzinogenen Substanz im Blut bzw. dem zerebro-spinalen Liquor. Die resultierende erhöhte synaptische Übertragung bewirkt sowohl eine Beschleunigung von Lernprozessen (im Tierexperiment) wie den Abbau von Depression und Angst Die diesbezügliche Wirkung der Halluzinogene ist dosis-abhängig.11

DER KURATIVE EFFEKT DER PSYCHEDELIKA

Einige Regionen des Gehirns sorgen im Normalfall dafür, dass irrelevante Information beiseitegelassen wird, um die Entropie zu reduzieren. Das wird offenbar durch eine Verschaltung kortikaler Netzwerke mit dem Thalamus erreicht, der als Schleuse für interne und externe Reizzufuhr angesehen wird. Wird dieser kortiko-thalamische Filter durch psychoaktive Substanzen vorrübergehend außer Kraft setzt, erzeugt das mehr oder weniger ungeordnete Informationen, die das Gehirn ungefiltert fluten und so die Entropie erhöhen (Vollenweider & Preller (2020).12

Die Idee des Gehirns als Filter geht auf den Philosophen Henri Bergson (1859–1941) zurück, die Aldous Huxley in seinem bekannten Buch „The doors of perception“ aufgreift, dessen Titel er dem Mystiker William Blake entlieh, der 1793 schieb:

“If the doors of perception were cleansed, every thing would appear to man as it is infinite.”