Kill - Shane Stevens - E-Book

Kill E-Book

Shane Stevens

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Beschreibung

Inspiriert von realen Fällen zeigt »Kill« im fesselnden, halb dokumentarischen Stil den (fiktiven) Serienmörder Thomas Bishop in seiner Entstehung, in seinen Taten, aber auch in seinem Alltagsleben, und beleuchtet die Auswirkungen, die seine grausamen Morde auf die Gesellschaft und ihre Moral haben.

»Kill« von Shane Stevens gilt als der erste Roman, der einen Serienmörder in den Mittelpunkt stellt, und ist damit das Vorbild für Thomas Harris und seine Hannibal Lecter-Romane.

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Seitenzahl: 624

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DAS BUCH

Basierend auf realen Fällen zeigt »Kill« im fesselnden, halb dokumentarischen Stil den (fiktiven) Serienmörder Thomas Bishop in seiner Entstehung, in seinen Taten, aber auch in seinem Alltagsleben, und beleuchtet die Auswirkungen, die seine grausamen Morde auf die Gesellschaft und ihre Moral haben.

»Kill« von Shane Stevens gilt als der erste Roman, der einen Serienmörder in den Mittelpunkt stellt und ist damit das Vorbild für Thomas Harris und seine Hannibal Lecter-Romane.

DER AUTOR

Shane Stevens (1941–2007) galt mit seinen Thrillern in Amerika lange als Geheimtipp. Als Stephen King seinen Roman »Stark« Shane Stevens widmete, wurde ein größeres Publikum auf Stevens aufmerksam. »Kill« gilt als erster Serienkiller-Roman, der zugleich die True-Crime-Literatur vorwegnahm, und wird heute von der Literaturkritik als Klassiker gewürdigt.

SHANE STEVENS

KILL

THRILLER

AUS DEM AMERIKANISCHEN

VON ALFRED DUNKEL

KOMPLETT ÜBERARBEITET UND

ERGÄNZT VON HEIKO ARNTZ

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Ausgabe BY REASON OF INSANITY erschien 2007 bei Chicago Review Press, Incorporated, reprinted by arrangement with Simon & Schuster (Original Edition)

Das Buch erschien in Deutschland im Moewig Verlag unter dem Titel DER KILLER

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Vollständige deutsche Ausgabe 02/2019

Copyright © 1979 by Shane Stevens

Copyright © 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-20737-3V001

www.heyne.de

Für Dr. Cornelia Wilbur und für alle Sybils dieser Welt – 

und für all jene Kinder, die sich gewehrt haben,

die zurückgeschlagen und verloren haben

Die Menschheitsgeschichte ist die Geschichte von Verbrechen.

VOLTAIRE

Du fragst mich, warum du in eine Stadt der Ungeheuer und Mörder hineingeboren wurdest … Ich will es dir sagen: Es ist deswegen, weil deine geliebten Vorfahren unaussprechliche Verbrechen im Geheimen und Stillen begangen haben, und jetzt musst du den schrecklichen Preis dafür bezahlen!

HERMANN HESSE

PROLOG

Die Flammen fraßen am Körper, rissen lodernd an Fleisch und Muskeln. Die Haut löste sich sehr schnell auf. Zuerst in Flocken, dann immer dunkler und schwärzer werdend und schließlich verkohlend. Bald würden Arme, Beine und Leib von den Flammen bis auf die weißen Knochen abgenagt sein, und der Kopf wäre, seiner Gesichtszüge beraubt, nur noch ein Totenschädel.

Der Junge sah stumm zu. Nur noch ab und zu drang ein kehliger Singsang wie ein Gurgeln aus seiner Kehle. Die Augen funkelten im Wahnsinn und starrten in die rote Glut des Feuers, während er beobachtete, wie der Körper brannte und immer weiter brannte.

BUCH EINS

THOMAS BISHOP

1

Im Frühjahr wälzt sich der Nebel wie stummer Donner über die Bucht und scheint San Francisco in Quecksilber zu baden. Er durchdringt alles, verhüllt, was er berührt, verwandelt das Natürliche in etwas Mystisches, wenn auch nur zeitweilig und vorübergehend. Nirgendwo ist das offensichtlicher als nördlich der Stadt, wo sich die Finger der Küste in die Bucht von San Francisco erstrecken. Hier, wo der Nebel seinen schimmernden Schleier über Ortschaften, Felder und Bachläufe legt, wirkt der Zauber am stärksten. Unzählige Volkssagen sind hier beheimatet. Und gleichsam wie im Zentrum dieser verwunschenen Welt befindet sich das Zuchthaus San Quentin. Aus dunklen Steinen erbaut und Furcht einflößend anzusehen, so ragt der Gefängnisbau wie eine gequälte Felslandschaft aus dem Nebel empor. In der frühen Dunkelheit wirkt San Quentin nicht selten wie ein Leuchtturm am Ende der Welt.

Es war an einem solchen Tag, exakt am 2. Mai 1960, als ein zum Tode verurteilter Mann in die Gaskammer von San Quentin geführt wurde. Er wurde von vier Wärtern begleitet. Zwei von ihnen schnallten ihn rasch auf den rechten von zwei Metallstühlen in dem kleinen Raum. Das Stethoskop wurde angebracht. Der Oberwärter wünschte dem Mann viel Glück. Das Gesicht des zum Tode Verurteilten verriet keinerlei Emotion, als die Wärter hinausgingen und die Metalltür von draußen verschlossen. Er starrte weiter auf die sechzig Zeugen, die sich außerhalb der achteckigen Zelle versammelt hatten und ihn durch fünf dicke Glasfenster beobachteten. Die letzten Gebete waren gesprochen, die letzten Instruktionen erteilt worden. Zwölf Jahre lang hatte Caryl Chessman vor den Gerichten von Kalifornien und vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten gekämpft. Jetzt war der Kampf vorbei. Er hatte verloren, und im Alter von achtunddreißig Jahren erwartete ihn die Todesstrafe.

In einem größeren Raum hinter der Gaskammer im ersten Stock des Hinrichtungsgebäudes öffnete eine Hand auf ein Signal des Direktors hin ein Ventil. Es war 10.03 Uhr. Augenblicklich fielen Zyanidkügelchen aus einem Behälter unter dem Todesstuhl in eine Schüssel mit Schwefelsäure. Innerhalb von Sekunden erreichten die tödlichen Dämpfe den verurteilten Mann und füllten sehr rasch den Raum mit dem Geruch nach Bittermandeln und Pfirsichblüten. Der Körper zuckte. Der Mann riss an den Riemen, warf den Kopf zurück. Dann glitt er in Bewusstlosigkeit und Tod, weil dem Gehirn der Sauerstoff verweigert wurde. Die amtliche Meldung erfolgte um 10.12 Uhr. Sie war reine Routine und löste nur die notwendigen Arbeitsabläufe für die Reinigung aus. Im übrigen St. Quentin – über der Gaskammer, die wegen ihrer grünen Wände als »Green Room« bekannt war – nahm das Leben seinen gewohnten Gang.

Mit dem Tod von Caryl Chessman, dem berühmt-berüchtigten »Rotlicht-Banditen«, der gegen Ende der Vierzigerjahre eine Reihe von Raubüberfällen und Vergewaltigungen verübt hatte, war für viele Menschen das Ende einer Ära der Gewalt in Amerika gekommen, die sich von der Bandenkriminalität der zwanziger über die heftigen Arbeitskämpfe der dreißiger Jahre bis zum Blutvergießen des Zweiten Weltkriegs und des Korea-Kriegs bis zu den kaltblütigen Massenmorden eines Perry Smith oder Charles Starkweather Ende der fünfziger Jahre erstreckt hatte. Die konservative Eisenhower-Zeit war vorbei, bald würde Kennedy seine Amtsperiode antreten. Die ersten Proteste gegen die Todesstrafe wurden laut. Das Land trat ein in einen wissenschaftlich-technischen Wettlauf mit der Sowjetunion. Dies sollte Arbeitsplätze schaffen und die Wirtschaft ankurbeln. Überall eröffneten sich neue Möglichkeiten. Die Stimmung im Land war gut. Mit Amerika ging es wieder voran.

Doch der Tod von Caryl Chessman markierte nicht nur ein Ende, sondern zugleich einen Anfang – den Anfang einer neuen Zeit des Blutvergießens, die noch nicht vorüber ist. Durch eine merkwürdige Laune des Schicksals waren Chessmans Leben und Sterben Auslöser für eine bizarre und grausame Serie von Morden, die – mehr als ein Jahrzehnt später – Gesetzeshüter im ganzen Land in Atem halten sollte. Selbst höchste Regierungskreise waren involviert. Um die Hintergründe zu verstehen, müssen wir in die frühen Nachkriegsjahre von Los Angeles zurückgehen. Uniformen waren jetzt, wo der Krieg vorbei war, seltener auf den Straßen zu sehen. Im Valley wurden neue Reihenhäuser zu Tausenden gebaut. Es gab auch wieder mehr Lebensmittel. Henry J. Kaiser gründete seine Firmen, die vom Toaster bis zum Auto praktisch alles herstellten. In Washington versuchte die Truman-Administration, Europa vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch zu retten. Aber wie üblich tat niemand etwas gegen das Wetter. Es war heiß und feucht an jenem 3. September 1947. Die Leute waren heilfroh, als an diesem Tag endlich die Sonne unterging. Irgendwann am Abend entschied ein Mann mit dunklem Haar und buschigen Augenbrauen, dass dies eine gute Nacht wäre für Raub und Vergewaltigung.

Die meisten Leute in der Stadt amüsierten sich, spielten Karten, tranken Bier, sahen sich einen Kinofilm an. Andere – unverheiratete Pärchen – waren im Auto unterwegs und fuhren mit ausgeschalteten Scheinwerfern zu Plätzchen an abgelegenen Straßen, wo sie ungestört knutschen konnten. Diese einsamen Orte waren beliebt, und so sah man hier Fords, Chevies und gelegentlich sogar Cadillacs parken – in respektvollem Abstand, sodass niemand gestört wurde.

Im Innern der Wagen wurde heftig gefummelt, und wenn das Mädchen dem Jungen im letzten Moment Einhalt gebot, pflegte er ein Päckchen Zigaretten herauszuholen und leise das Radio einzuschalten. Man rauchte und lauschte der Musik. Zwischendurch unterhielt man sich im Flüsterton. Bei denjenigen, denen es ernst war, wurde die harmlose Plauderei bald durch leidenschaftliche Schwüre von ewiger Liebe abgelöst.

In weniger zugänglichen Gegenden parkten die Autos so weit voneinander entfernt, dass die jungen Pärchen wirklich das Gefühl haben konnten, allein auf der Welt zu sein. Zu einem solchen Ort für Verliebte kam der Mann, um nach Opfern Ausschau zu halten. Seine Suche wurde bald belohnt.

Der Wagen, der abseits in dem Waldstück stand, war ein blauer Plymouth Sedan. Das Fenster auf der Fahrerseite war heruntergekurbelt. Im Innern waren leise Stimmen zu vernehmen. Draußen auf dem Boden lag ein Haufen Zigarettenstummel aus einem ausgeleerten Aschenbecher. Andere Autos waren nicht zu sehen, als der Mann lautlos näherschlich. Er hielt eine Schusswaffe in der rechten Hand und eine Rotlichtlampe in der linken. Beim Plymouth angekommen, verharrte er und leuchtete dann mit der Lampe in den Wagen.

Erschrocken zuckte der Fahrer hinter dem Lenkrad zusammen. Er wandte sich nach der Lichtquelle um, konnte aber, derart geblendet, niemanden erkennen. Eine Stimme fragte ihn, was er hier mache. Bevor er antworten konnte, wurde ihm befohlen, die Tür aufzumachen. Verängstigt kam er der Aufforderung nach. Dann wurde ihm befohlen, mit den Wagenschlüsseln auszusteigen und seine Taschen zu entleeren. Als er die Waffe sah, kam er auch dieser Anweisung schleunigst nach. Dann musste er nach hinten gehen und wurde aufgefordert, sich in den Kofferraum zu legen. »Du kommst bald wieder raus«, sagte die Stimme zu ihm. »Keine Sorge!« Der Fahrer gehorchte. Dann wurde der Kofferraum geschlossen.

Im nächsten Moment war der Mann neben dem Mädchen und leuchtete ihr mit der Lampe ins Gesicht. Sie war keine große Schönheit, aber recht hübsch, vielleicht ein bisschen mollig, aber mit weichen, weiblichen Rundungen. Das hellbraune Haar war kurz. Nach der Mode der Zeit rahmten Löckchen das Gesicht ein. Sie trug ein gelbes Kleid und eine grüne Strickjacke. Diese Sachen musste sie im Fond des Wagens ausziehen, nachdem der Mann ihr nach hinten gefolgt war. Er war höflich und sagte ihr, dass ihr nichts geschehen werde, wenn sie keinen Widerstand leistete. Er fragte sie zweimal, ob sie ihn verstanden habe.

Sara Bishop, einundzwanzig Jahre alt, verstand nur zu gut. Mit dreizehn war sie zum ersten Mal von ihrem Onkel missbraucht worden, dem Bruder ihrer toten Mutter, der sie aus der Kleinstadt geholt und mit nach Oklahoma City zu seiner Familie genommen hatte. Wenn seine Frau nicht zu Hause gewesen war und seine alte, verschrobene Schwiegermutter im oberen Stockwerk schlief, musste Sara sich zu ihm auf den Schoß setzen. Sie hatte seine Hände überall an ihrem Körper gespürt, bis es eines Tages nicht nur seine Hände gewesen waren. Drei Jahre lang hatte Sara nichts gesagt und sich seine Zudringlichkeiten stumm gefallen lassen. Sie hätte ja nirgendwo sonst hingehen können.

Mit sechzehn heiratete Sara Bishop einen Arbeiter von den Ölfeldern. Er verließ sie nach drei Monaten.

Mit siebzehn wurde Sara hinter dem Imbisslokal, wo sie arbeitete, von drei Oberstufenschülern überfallen.

Mit achtzehn verließ sie Oklahoma City und ging nach Phoenix. Ein Mann verschaffte ihr einen Job als Animiermädchen in einer Bar, nahm ihr schließlich alles Geld ab, bevor er sie eines Nachts verließ, nachdem er ihr ein blaues Auge verpasst und ein paar Zähne locker geschlagen hatte.

Als Sara Bishop zwanzig war, empfand sie für Männer nur noch Hass. Aber sie war intelligent genug, um zu wissen, dass Männer manchmal auch ganz nützlich sein können. Aus Sex machte sie sich nicht viel, aber sie setzte ihn mitunter ein, um ihre Ziele durchzusetzen. Sie konnte nur darüber staunen, dass sie während all dieser Jahre nicht schwanger geworden war – ein Mysterium. Im folgenden Jahr klärte sich die Sache dann auf. Sie war nach Los Angeles gezogen, und während einer Operation hatte ein Arzt nebenbei auch einen Eileiterverschluss behoben. Dafür verfluchte Sara ihn lautstark. Als die Rechnung eintraf, schrieb sie nur zwei Worte darauf und schickte sie zurück. Sie hörte nie wieder von dem Arzt. Für Sara war es ein weiterer Beleg dafür, dass ihr Hass auf die Männer nur allzu gerechtfertigt war.

Jetzt lag Sara Bishop auf dem Rücksitz des blauen Plymouth und betete. Sie wollte nicht sterben, und sie wollte auch nicht schwanger werden. Und doch lag sie nackt hier, die Beine gespreizt, und dieser Fremde auf ihr hatte seinen Spaß. Und das alles nur, weil er ein Mann war und eine Waffe hatte. Zum Teufel mit den Männern!

Sara versuchte, an etwas anderes zu denken. Sie dachte, an den jungen Mann im Kofferraum. Seit einem Monat trafen sie sich, und Sara hoffte, dass er ihr einen Heiratsantrag machen würde. Sie war pleite, und sie war einsam. In der Hauptsache aber war sie einfach erschöpft. Mit einem Mann würde vielleicht doch alles leichter sein, auch wenn es sich in diesem Fall um einen dreiundzwanzigjährigen Herumtreiber handelte. Aber er hat schon viele Jobs gehabt, dachte sie. Also könnte er vielleicht auch eine richtige Arbeit aufnehmen, um uns zu ernähren. Bisher war sie mit ihm nicht intim geworden, weil sie auf diese Weise sein Interesse an ihr wachhalten wollte, bis …

Der Mann stieg von ihr herunter. Es war vorbei. Sie wusste nicht, ob er in ihr gekommen war oder nicht. Wahrscheinlich schon, dachte sie niedergeschlagen. Aber er hatte nur ihren Körper bekommen, gewiss nicht ihr Gefühl. Sie hatte nur starr dagelegen, hatte nicht geächzt oder gestöhnt, hatte nicht gefleht oder gebettelt. Sie war kalt geblieben wie ein toter Fisch, sagte sie zu sich selbst. Hoffentlich mochte er toten Fisch. Sie korrigierte sich: Nein, hoffentlich mochte er toten Fisch nicht!

Er warf ihr die Wagenschlüssel zu. »Lass ihn raus, wenn ich weg bin«, sagte er leise. Dann bedankte er sich bei ihr. Einfach so. »Danke.« Und weg war er.

Sie lag ganz ruhig im Dunkeln da und hielt die Tränen zurück. Sie kam sich schmutzig vor und kraftlos. Was hatte es für einen Sinn, sich zu wehren? Zu kämpfen? Männer bekamen ja doch immer, was sie haben wollten. Verdammte Bastarde! Sie machten Versprechungen oder gaben ein paar Dollar oder wendeten Gewalt an. Es lief immer aufs Gleiche hinaus. Sie bekamen ihren Spaß, und dann waren sie wieder fort. Wenn es nach ihr ginge, dann würde sie alle Männer bis auf den allerletzten umbringen! Diese miesen Schweine! Sie öffnete schon den Mund, um es laut hinauszuschreien. Aber kein Laut kam ihr über die Lippen. Angenommen, der Kerl war noch in der Nähe. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie von ihm gesehen hatte. Er hatte eine Waffe bei sich gehabt. Und so eine komische Lampe. Er hatte dunkles Haar gehabt und buschige Augenbrauen. Und eine große Nase. Der Rest von ihm war klein, dachte sie mit grimmiger Zufriedenheit.

Lautes Pochen ließ sie zusammenfahren. Hastig streifte sie ihr Kleid über. Büstenhalter, Höschen und Unterrock schob sie unter das Sitzpolster. Sie beugte sich über den Vordersitz, sah in den Spiegel und richtete notdürftig ihr Haar etwas her. Erschöpft oder nicht, verängstigt oder nicht, sie wusste, was sie zu tun hatte. Nur so für alle Fälle.

Sie fummelte mit dem Schlüssel herum und bekam den Kofferraum schließlich auf.

Der junge Mann war außer sich. Er wollte mit einem schweren Schraubenschlüssel hinter dem Mann her, er rannte herum, aber niemand war zu sehen. Sein Stolz und seine Männlichkeit waren schwer getroffen, und er verfluchte seinen Feind lautstark, während das Mädchen ihn langsam zum Wagen zurückführte. In seiner maßlosen Wut merkte er nicht einmal, dass Sara ihn auf den Rücksitz gezogen hatte.

Jetzt schmiegte sie sich eng an ihn, sprach leise und besänftigend auf ihn ein, streichelte seine Wange. So beruhigte er sich allmählich, sein Zorn flaute ab. Nach einer Weile nahm sie seine Hand und legte sie auf ihre üppige Brust. Sie sah ihn leidenschaftlich mit großen, unschuldigen Augen an. Doch innerlich verwünschte sie ihn. Er war auch bloß ein Mann, der so mit sich selbst beschäftigt war, dass er keinen Gedanken daran verschwendete, was sie soeben durchgemacht hatte. Kein Wort des Mitleids, keine Geste des Bedauerns. Für ihn zählten nur sein dummer Stolz und seine eigenen verletzten Gefühle. »Du Mistkerl!«, hätte sie ihn am liebsten angeschrien.

Aber ihr Gesicht verriet nichts von ihren Empfindungen. Sie glitt auf dem Sitz weiter nach unten und zog den jungen Mann auf sich. Ihr heiseres Flüstern wurde intensiver. Sie atmete schneller und schwerer. Sie spürte seine Hände unter ihrem Kleid, das sie geschickt höher schob. Ihr offener Mund fand seine Zunge und saugte sich an ihr fest. Als Sara hörte, wie er seinen Reißverschluss aufzog, schwor sie sich, in dieser Nacht auf dieser einsamen, abgelegenen Straße eine preisverdächtige Vorstellung hinzulegen. Sie würde diesem Typen hier den tollsten Sex bescheren, den er jemals gehabt hatte. Sie würde es tun, weil sie es tun musste. Sie brauchte ihn.

Zwei Monate später heirateten sie in Las Vegas. Die Trauung kostete 20 Dollar. Die anderen achtzig verloren sie am Spieltisch. Mit den Rückfahrkarten in der Hand bestiegen sie den letzten Bus zurück nach Los Angeles. Sara sagte ihrem Mann nicht, dass sie schwanger war.

Sie hatte ihm damals im Auto jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Ihre Vorstellung war so perfekt, dass er hinterher davon überzeugt war, ohne sie nicht mehr leben zu können. Er hatte nicht geahnt, dass Frauen so leidenschaftlich sein konnten und so willig.

Nach der Heirat setzte Sara ihre Schauspielerei fort, wenn auch etwas weniger leidenschaftlich, wie es sich für eine anständige Ehefrau geziemte. Sie selbst hatte kein großes Bedürfnis nach Sex. Ein Mann hatte ihr jedenfalls noch nie zu einem Höhepunkt verholfen. Aber das Gefühl der Sicherheit, dass das Zusammenleben mit sich brachte, war die kleine Verstellung durchaus wert. Und das Geld half natürlich auch. Sein Lohn bei der Tankstelle war viel mehr, als sie jemals in der Bäckerei hätte verdienen können. Mit zwei Lohntüten konnten sie sogar etwas ansparen.

Einen Monat später sagte sie ihrem Mann, dass er Vater werden würde. Es war eine Lüge, denn im Grunde ihres Herzens wusste sie, wie es eben nur eine Frau wissen konnte, dass der wahre Vater ein Vergewaltiger mit dunklem Haar und großer Nase sowie mit einer komischen Rotlichtlampe war. Er war nicht hier. Aber der Ehemann war es. Also war er der Vater. Klarer Fall. Ausgleichende Gerechtigkeit, sagte sich Sara. Hier hatte sie wenigstens ein einziges Mal Gelegenheit, es diesen Bastarden heimzuzahlen.

Ihr Ehemann war begeistert. Dumm, wie es nur ein dreiundzwanzigjähriger Einfaltspinsel sein konnte, sagte er sich, dass das Vaterdasein ihn noch mehr zu einem Mann machen würde. Und als Sara ihm versprach, dass das Baby nichts an ihrem Sex ändern würde, machte er auf der Stelle die Probe aufs Exempel. Anschließend ging er raus, um in einer Kneipe ein paar Bier zu trinken.

Am 24. Januar 1948 las Sara Bishop, die jetzt Sara Owens hieß, in den Zeitungen von Los Angeles von der Ergreifung eines Vergewaltigers, der sich für gewöhnlich Liebespärchen in Autos an abgelegenen Straßen als Opfer gesucht hatte. Sie sah sich das veröffentlichte Bild an. Das war er! Dann sah sie noch einmal genauer hin. Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Immerhin hatte sie diesen Mann nur einmal gesehen, als er wenige Minuten auf ihr gelegen hatte. Und doch war es der Vater ihres Kindes! Sie las den Namen des Verbrechers: Caryl Chessman.

Als ihr Mann nach Hause kam, zeigte sie ihm die Zeitung.

Der Kerl hatte ihm damals 30 Dollar abgenommen. Eine verdammte Sauerei!

»Hoffentlich kommt er auf den elektrischen Stuhl, der Hundesohn!«, sagte er. Das war alles.

Tagelang überlegte Sara, ob sie zur Polizei gehen sollte. Aber was hätte das jetzt noch genützt? Sie hatten es damals nicht gemeldet, weil beide nichts mit der Polizei zu tun haben wollten. Und Sara hatte ihrem zukünftigen Ehemann gesagt, dass der Fremde impotent gewesen sei und nur ein bisschen an ihr herumgespielt habe, bevor er wieder verschwunden sei. Ob Owens ihr das geglaubt hatte, wusste sie nicht, aber es kümmerte sie auch nicht sonderlich. Jedenfalls hatte sie ihm diese Geschichte aufgetischt. Und jetzt, wo das Baby unterwegs war, war es vielleicht keine gute Idee, alles noch einmal aufzuwühlen. So entschied Sara schließlich, in dieser Sache nichts zu unternehmen. Aber sie verfolgte den Fall in den Zeitungen, und als man begann, Chessman als den »Rotlicht-Banditen« zu bezeichnen, weil er die Insassen der Autos mit einer roten Lampe geblendet hatte, war Sara beinahe davon überzeugt, dass dieser Mann ihr Vergewaltiger war.

Am 30. April 1948 brachte Sara Owens einen Sohn zur Welt – Thomas William Owens. Er hatte dunkelbraune Augen und schwarzes Haar. Sara und ihr Mann hatten hellbraunes Haar. Das Baby sah seinem Vater in keiner Weise ähnlich, aber eine Krankenschwester wies freundlich darauf hin, dass typische Merkmale oft eine Generation überspringen. Der Vater nickte ernst.

Am 18. Mai 1948 wurde Caryl Chessman in siebzehn von achtzehn Anklagepunkten wegen bewaffneten Raubüberfalls, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung sollte im Juli stattfinden. In Handschellen und unter Hochsicherheitsvorkehrungen wurde er nach San Quentin gebracht. Doch seine Hinrichtung verzögerte sich. Jede Menge Berufungs- und Revisionsanträge wurden gestellt. Ende des Sommers verlor die Presse vorerst das Interesse an dem Fall.

Im Haushalt der Owens hatte der Familienzuwachs unterdessen für einige Veränderungen gesorgt. Die Geburt des Kindes hatte Sara zu schaffen gemacht, körperlich wie seelisch. Sie schwor sich, nie wieder ein Baby zu bekommen, ganz gleich, was geschehen würde. Eher wollte sie sterben. Sie konnte auch ihre Enttäuschung darüber, dass es kein Mädchen geworden war, auf die Dauer nicht verbergen. Sie begann sich über den Jungen zu ärgern, anfangs, ohne es selbst recht zu merken. Auch ihr Mann erregte ihren Unmut. Nachdem er seinen Job bei der Tankstelle verloren hatte, hatte er eine ganze Reihe anderer Beschäftigungen angenommen, aber das Geld, das er nach Hause brachte, reichte vorne und hinten nicht. Offenbar nahm er seine Verantwortung der Familie gegenüber überhaupt nicht mehr ernst. Sara ärgerte sich darüber, dass er immer mehr Zeit außerhalb des Hauses mit Freunden verbrachte, die sie für Nichtsnutze und Strolche hielt. Sie fürchtete zudem, dass er andere Frauen haben könnte. Kurzum, sie fühlte sich einmal mehr von den Männern betrogen.

Doch Harry Owens kam sich ebenfalls betrogen vor. Seine Frau war nicht mehr die willige Sexpuppe, die er geheiratet hatte. Am Anfang hatte sie ihm das Gefühl vermittelt, wirklich lebendig zu sein, doch das war längst vorbei. Jetzt nörgelte sie ständig an ihm herum. Sie verlangte von ihm, Tag und Nacht zu arbeiten, aber sie selbst dachte überhaupt nicht daran, Geld zu verdienen. Gewiss, er verstand etwas von Autos und verdiente auch ganz gern Geld, aber er sah keinen Sinn darin, sich zu Tode zu schuften, nur um seine Frau und den Bengel zu ernähren. Er hätte nie heiraten sollen. Er war dafür nicht geschaffen. Er hatte das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. Er würde versuchen müssen, genügend Geld zusammenzubekommen, um Sara verlassen zu können.

Im dritten Jahr war ihre Ehe nur noch ein Trümmerfeld. Sara hatte angefangen, Wein zu trinken. Harry war strikter Biertrinker und vertrat die Ansicht, dass Frauen überhaupt nicht trinken sollten, vor allem verheiratete Frauen und ganz entschieden nicht seine eigene Ehefrau. Als Harry seine Frau zum ersten Mal betrunken antraf, als er nach Hause kam, schlug er sie. Danach bekam Sara häufiger Prügel von ihrem Mann.

Am 24. Juni 1951 kam Caryl Chessman mit einer seiner vielen Gerichtsverhandlungen erneut in die Zeitungen von Los Angeles.

Sara las mit großem Interesse den Artikel. Chessman war wieder einmal in aller Munde. Jeder schien etwas über ihn zu wissen. Sogar die Magazine hatten über ihn berichtet. Chessman war für Sara nicht mehr länger nur ein Triebtäter, der sie vergewaltigt hatte, sondern er hatte Gesicht und Namen, er war eine Berühmtheit, und er kam ihr dadurch seltsam vertraut vor. Natürlich war er immer noch ein Verbrecher, den sie verachtete. Aber immerhin war dieser Mann hinter Schloss und Riegel und konnte sie nicht mehr quälen, wie ihr Ehemann dies jeden Tag tat.

Als Harry nach Hause kam, hatte Sara schon allerhand getrunken. Dann begann das übliche Geschrei und Gezänk. Auf dem Höhepunkt ihres Streits drehte Sara sich plötzlich nach ihm um und warf ihm an den Kopf, dass er nicht der Vater des Jungen war. Harry lachte. Sara ärgerte sich maßlos darüber und platzte damit heraus, dass sie ihn damals belogen habe.

»Der Mann in jener Nacht im Auto war Caryl Chessman, du dämlicher Kerl!«, schrie sie ihm ins Gesicht. »Und er war alles andere als impotent! Er ist mehr Mann, als du jemals sein wirst!« Jetzt war Sara an der Reihe zu lachen. »Du hältst dich für so toll! Aber als ich dir erlaubt habe, mich endlich zu besitzen, da hatte ich seinen Samen schon in mir drin! Na, was sagst du jetzt?«

In ihrem Eifer merkte sie nicht, wie Harrys Augen immer schmaler wurden.

»Du glaubst mir wohl nicht, was?«, rief Sara und stürmte ins Nebenzimmer. Einen Moment später kam sie zurück und zerrte den Jungen hinter sich her. Er hatte geschlafen, und er torkelte schlaftrunken. »Da, sieh dir sein Haar an!«, schrie sie ihrem Mann ins Gesicht. »Es ist schwarz. Und sieh dir seinen Mund an, seine Augen! Keinerlei Ähnlichkeit mit dir. Er hat nicht mal die gleiche Hautfarbe.« Sie schnappte sich die Zeitung vom Tisch. »Möchtest du wissen, wessen Junge das ist, he? Möchtest du das nicht wissen?« Sie schleuderte ihrem Mann die Zeitung entgegen. »Da ist ein Bild von seinem Vater. Gleich auf dieser Seite. Sieh es dir gut an!«

Harry stand einen Moment wie erstarrt da, dann nahm er die Zeitung und betrachtete das Bild. Schließlich sah er den Jungen an, der verängstigt schniefte. Wieder betrachtete Harry das Bild, diesmal sehr lange und eingehend. Dann starrte er erneut den Jungen an. Ohne ein Wort zu sagen, legte Harry die Zeitung behutsam auf den Tisch, ging zu seiner Frau hinüber und rammte ihr mit voller Kraft die Faust ins Gesicht.

Sara taumelte zurück.

Harry schlug sofort noch einmal zu.

Sara stürzte zu Boden und lag regungslos da.

Der Junge riss entsetzt die Augen auf. Harry trat auf den Jungen zu, schlug auch ihm die Faust ins Gesicht.

Der Junge verlor das Bewusstsein.

Harry kam erst drei Tage später wieder nach Hause. Er war unrasiert und stank nach Schnaps und süßlichem Parfüm. Mit keinem Wort erwähnte er den Zwischenfall.

Auch Sara sagte nichts. Sie hatte ein blaues Auge und eine geschwollene Wange. Der Junge lag krank von dem brutalen Faustschlag im Bett.

Sara wusste, dass ihr Mann sie bald für immer verlassen würde. Aber es kümmerte sie nicht. Sie überlegte nur, warum er sich überhaupt noch einmal die Mühe gemacht hatte, nach Hause zu kommen.

In dieser Nacht träumte Sara von Caryl Chessman. Er verfolgte sie, und in dem Traum war sie nicht in der Lage, ihm zu entrinnen. Er war überall um sie herum. Es gab auch noch andere Leute in ihrem Traum. Scharen von Männern. Aber am nächsten Morgen konnte sich Sara nicht mehr genau daran erinnern, was diese Männer getan hatten.

An diesem Nachmittag gabelte Sara in einer Bar einen Mann auf und hatte zum ersten Mal seit ihrer Heirat außerehelichen Geschlechtsverkehr. Das Erlebnis war unbefriedigend. Sara kam müde und niedergeschlagen nach Hause. Sie legte sich aufs Bett, weinte bitterlich und flehte Gott an, er möge alle Männer ausnahmslos ins Verderben stürzen. Sie sollten sterben, augenblicklich, und auch alle Kinder männlichen Geschlechts.

Sechs Wochen später wurde ihr Junge mit Verbrennungen zweiten Grades am linken Arm und an der linken Seite ins Krankenhaus eingeliefert. Ein Unfall, sagte Sara dem Arzt. Sie hatte Kaffeewasser aufgesetzt, und der Junge war während des Spielens gegen den Herd geprallt. Als sie darauf hingewiesen wurde, dass für Verbrennungen solchen Ausmaßes aber sehr viel kochendes Wasser erforderlich gewesen wäre, antwortete sie, dass sie an diesem Morgen Kaffee für eine halbe Kompanie gekocht hatte. »So spart man später viel Zeit«, säuselte sie mit einem Augenaufschlag.

Am Nachmittag traf sich der ärztliche Direktor des Krankenhauses mit dem Assistenzarzt, der den Jungen mit den schrecklichen Verbrennungen aufgenommen hatte.

»Wo ist er?«

»Ich habe ihn in 412 untergebracht.«

»Wie schlimm ist es?«

»Verbrennungen vom Hals bis zur Hüfte. Gleiche Verletzung am linken Arm fast bis zum Handgelenk. Blasenbildung und hyperämischer, feuchter Wundgrund. Aber es könnte schlimmer sein, denke ich.«

»Sie sind ein Optimist.«

»In solchen Fällen muss ich das sein, sonst würde ich wohl irgendwann verrückt werden.«

»Das würden wir wohl alle.«

»Ist die Mutter im Krankenhaus?«

»Zu Hause. Oder sonst wo. Ich glaube, sie hat’s mit der Angst zu tun bekommen.«

»Was ist das für eine Mutter!«

Eine Krankenschwester betrat den Raum.

»Joanne, sorgen Sie dafür, dass nachts jemand bei ihm bleibt. Für alle Fälle.«

»Ja, Doktor.«

»Himmel, was für ein schmächtiger Kerl.«

»Wie alt ist er?«

»Drei Jahre.«

»Du liebe Zeit!«, sagte der Direktor.

»Und was wird mit ihm geschehen, wenn er hier entlassen wird?«

»Zurück nach Hause, nehme ich an.«

»Also zurück dahin, wo man ihm das angetan hat?«

Sie standen am Fußende des Betts und beobachteten den Jungen, der schlief. Der ganze Körper war, so weit man sehen konnte, bandagiert.

»Kann er nicht irgendwohin gebracht werden?«, fragte die Schwester mit brüchiger Stimme. »Ich meine, kann nicht irgendjemand …« Sie brach ab, und ihre Augen schwammen in Tränen.

Der Direktor schüttelte den Kopf.

»Fälle wie diesen hier gibt’s überall in der Stadt«, sagte er ruhig. »Tausende. Eltern, die ihre Kinder verbrühen, verprügeln, hungern lassen. Manchmal bringen sie sie um. Und wenn es schiefgeht, bekommen sie Angst und rennen ins Krankenhaus. Dann ist es natürlich ein Unfall gewesen.« Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Das Schlimme an der Sache ist doch, dass man es in der Regel nicht beweisen kann. Der Junge könnte sich ja tatsächlich selbst verbrüht haben!«

»Sehr unwahrscheinlich«, sagte der Assistenzarzt.

»Ja, sehr«, stimmte der Direktor zu. Müde fuhr er fort: »Aber ohne eindeutige Beweise kann sich das Krankenhaus nicht an die Behörden wenden. Das kann niemand.«

Der Assistenzarzt schüttelte den Kopf. »Und so wird sie es eben ein zweites und drittes Mal mit dem Jungen versuchen.«

»Ja … wenn er Pech hat, den zweiten Versuch zu überleben«, flüsterte der Direktor und ging zur Tür. »Aber man kann nie vorhersehen, wie solche Dinge ausgehen. Wir dürfen nicht schwarzmalen.«

»Vielleicht«, sagte der Assistenzarzt heftig, als sie wieder auf den Korridor hinausgegangen waren. »Aber in diesem Fall bin ich mir verdammt sicher.« Seine Stimme zitterte vor mühsam unterdrücktem Zorn. »Der Junge da hat keine Chance. Ganz gleich, was geschieht. Das Schicksal hat es nicht gut gemeint mit diesem Jungen!«

Aber ob das Schicksal es nun gut mit ihm meinte oder nicht, der Junge wurde jedenfalls tagtäglich von seiner Mutter besucht. Sie schien vor Kummer und Sorge außer sich zu sein. Als sie ihn schließlich nach Hause brachte, kaufte sie ihm einen Riesenbecher Schokoladeneis, die Sorte, die er am liebsten aß.

Am nächsten Tag schlug sie den Kopf des Jungen heftig auf den Rand der Badewanne, weil er seine Mutter zufällig mit Wasser bespritzt hatte. Der Kleine schrie gellend auf und verlor das Bewusstsein.

Sara beschloss, das Trinken im Haus lieber aufzugeben. Sie war nun doch ehrlich erschrocken und verängstigt, denn sie hegte immer noch Gefühle für das Kind, auch wenn er ein Junge war, also ein Vertreter des verhassten männlichen Geschlechts. Sie suchte Hilfe bei einem selbst ernannten Priester der Astrological Church of the Planets – einer der vielen religiösen Sekten, die im südlichen Kalifornien zu der Zeit wie Pilze aus dem Boden schossen.

Der Mann hörte sich aufmerksam ihr Problem an, dann sagte er ihr, dass er ihr Horoskop studieren würde, für eine Spende von 50 Dollar für die Kirche. Zwei Tage später informierte er sie traurig, dass ihr Leben momentan unter einem Unstern stehe, einem doppelten kosmischen Kreuz. »Wahrscheinlich das schicksalschwerste Himmelszeichen überhaupt«, wie er sagte. Doch dann hellte sich seine Miene auf. Doch die Konstellation ihrer Planeten deutete darauf hin, dass sie schon bald eine friedvolle Phase erreichen werde. Große Veränderungen warteten auf sie, und sie werde reich belohnt werden. Wie bald? Das konnte er nicht sagen. Dafür müsste er ein ausführlicheres Horoskop erstellen. Das wiederum würde natürlich eine weitere Spende erfordern. Sara bedankte sich, verließ den Priester und ging in die nächste Bar.

Nach dem dritten Glas Wein fühlte sie sich schon besser. Sie dachte an die friedvolle Phase, die ihr bald beschert sein sollte. Sie verdiente weiß Gott ein wenig Frieden!

Als kurz darauf ein Mann hereinkam und sich neben ihr hinsetzte, lächelte sie ihn an.

Als Sara später im Motelzimmer den Fremden betrachtete, der schlafend neben ihr lag, wusste sie, dass die neue Phase bereits begonnen hatte.

Ende September erfuhr sie, dass sie wieder schwanger war. Es war ein Schock. Sie hatte mehr Angst denn je zuvor in ihrem Leben. Eine wahnsinnige Wut befiel sie – auf die Götter, aber vor allem natürlich auf die Männer, die sich alle gegen sie verschworen hatten, die ihr das Leben zur Hölle machen wollten. Doch Sara Owens’ Entschluss stand fest: Sie würde kein Baby mehr bekommen. Nein! Niemals! Was immer mit ihr geschehen sollte, würde sie hinnehmen, aber das nicht. Nie wieder!

Nachdem ihre erste Angst etwas nachgelassen hatte, versuchte sie herauszufinden, wie es dazu hatte kommen können. All die Jahre in ihrer Ehe war nichts mehr passiert. Und jetzt, nachdem sie nach fast vier Jahren einen kleinen Seitensprung gemacht hatte, war sie sofort wieder schwanger! Es war eine Strafe des Himmels. Ein Zufall war es jedenfalls nicht. Und plötzlich hatte sie die Antwort. Natürlich! Ihr Mann war unfruchtbar! Das musste es sein. Trotz all seiner verrückten Sexgelüste konnte er kein Kind zeugen, selbst wenn er es versuchte. Dieser Gedanke war so köstlich, dass Sara beinahe laut aufgelacht hätte. Er ist also ein halber Mann, der elende Mistkerl! Und wenn Harry unfruchtbar war, dann musste ihr Junge tatsächlich Chessmans Sohn sein. Oder eben der Sohn jenes Vergewaltigers, wer immer er auch gewesen sein mochte.

Sara schüttelte den Kopf. Nein, nein, es war Chessman. Sie musste das ganz einfach glauben, denn es war leichter, mit einem Namen zu leben als mit einem Niemand ohne Gesicht. Deshalb hatte sich Sara ja im Lauf der Jahre immer stärker eingeredet, dass Chessman sie damals vergewaltigt hatte.

Sara wusste, was als Nächstes zu tun war. Sie musste das Kind abtreiben. Aber dafür musste sie zuerst einmal Geld haben. Danach würde sie sich nie wieder auf Sex mit einem Mann einlassen, auch nicht mit dem Ehemann. Zur Hölle mit ihm und mit allen Männern! Sara brauchte sie nicht. Eigentlich hatte sie nie etwas anderes gewollt, als in Ruhe gelassen zu werden.

Von da an zog Sara jeden Nachmittag ihr schönstes Kleid an, dazu die besten Strümpfe und die elegantesten, hochhackigen Schuhe. Sie schminkte sich aufwendig und suchte dann in den besten Stadtteilen noble Bars auf. Während sie Männer, die nach Geld aussahen, aufreizend anlächelte, hatte sie Mordgedanken im Herzen. Aber sie konnte immer noch sehr gut schauspielern, und wenn sie für ihre jetzigen Vorstellungen zwar kaum noch einen Oscar bekommen würde, so war sie immer noch besser als viele Hausfrauen, die zu Hause geduldig auf ihren Ehemann warteten.

Nach drei Wochen hatte Sara 900 Dollar beisammen. Für 50 Dollar erfuhr sie den Namen eines Arztes, der bereit sein würde, sich mit ihrem Problem zu befassen. 800 Dollar verlangte der Doktor. Sie musste über Nacht in einer eleganten Wohnung am Mulholland Drive bleiben, dann war sie wieder frei und konnte gehen, wohin sie wollte.

Frei!

Sara fand sogar die Luft in diesem Stadtteil besser als anderswo. Sie ließ das Taxi bei einer Bar anhalten, ging hinein und bestellte ein Glas Wein von der teuersten Sorte. Dann noch eins. Obwohl es noch recht früh am Nachmittag war, saßen mehrere gut gekleidete Männer an der Bar. Sara erwiderte das Lächeln der Männer, und als einer von ihnen zu ihr herüberkam, verwickelte sie ihn in eine angeregte Unterhaltung. Sara war charmant, lebhaft und verführerisch, kurzum alles, was ein Mann sich von einer Frau nur wünschen konnte. Aber als er ihr schließlich ein unzweideutiges Angebot machte, sah sie ihn aus großen, unschuldigen Augen und mit süßem Lächeln an, während sie ihm in genauso unzweideutiger Weise und in recht deftiger Sprache sagte, was er mit seiner Männlichkeit tun könne. Dann legte sie geziert ihren Fünfzigdollarschein auf den Tisch, um den Wein zu bezahlen, und ging hoch erhobenen Hauptes hinaus.

Zu Hause gab sie dem Jungen zu essen, denn er hatte seit gestern nichts mehr bekommen. Anschließend schlief sie fünfzehn Stunden. Sie hatte nicht die Absicht, ihrem Ehemann irgendetwas zu erzählen. Er war ohnehin kaum noch zu Hause, und Sara wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er nie mehr zurückkommen würde.

Aber Harry war offensichtlich noch nicht bereit für einen endgültigen Bruch. Er hatte das Gefühl, er müsse noch irgendeinen Treffer landen, irgendwo dick abkassieren, und dann – lebe wohl für immer! Seit Sara ihm von dieser Geschichte mit Chessman erzählt hatte, gab es für Harry zu Hause nichts mehr, was ihn hielt. Die Sache mit dem wahren Vater des Kleinen hatte Harry ganz und gar nicht gefallen. Er war sich reichlich dumm vorgekommen. Immer wieder hatte er sich seitdem gesagt, dass er einfach seine Sachen packen und abhauen sollte. Würde ihr ganz recht geschehen. Allen beiden. Ihr und diesem gottverdammten Balg.

Seit Monaten hatte Harry über diesen Chessman und jene Nacht vor Jahren in dem kleinen Wäldchen nachgedacht. Er zweifelte, ob es wirklich Chessman gewesen war. Harry konnte sich nämlich an kein rotes Blinklicht oder etwas in der Art erinnern. Aber Sara war sich so verdammt sicher. Wahrscheinlich hatte es ihr sogar Spaß gemacht, dieser Schlampe! Und wie hinterhältig sie ihn dann belogen hatte! Er hätte sie damals verprügeln und einfach davonfahren sollen. Aber sie hatte ihm leidgetan. Harry war davon überzeugt, dass seine Frau schrecklich leiden würde, wenn er sie verließ. Das freute ihn.

Vier Monate später ergab sich für Harry Owens die große Chance, auf die er so sehnsüchtig wartete – ein ganz großes Ding, das ganz große Geld! Die Summe, die er brauchen würde, um endlich fortzukommen. Er war jetzt achtundzwanzig Jahre alt und hatte in seinem Leben eigentlich nie viel gehabt. Als Teenager hatte er sich herumgetrieben. In den Slums von West-Texas hatte er jeden Job angenommen, den er bekommen konnte. Mit einundzwanzig Jahren war er nach Los Angeles gekommen. Hier war er einige Zeit geblieben. Dann hatte er Sara Bishop kennengelernt und sich von ihr den Kopf verdrehen lassen. Jetzt war die Gelegenheit gekommen, seine Freiheit wiederzugewinnen – wahrscheinlich die einzige, die er jemals bekommen würde.

Harry verstand was von Autos, er konnte Motoren reparieren und einen defekten Wagen wieder flottmachen. Das war einer Gruppe von Männern in seiner Stammkneipe nicht verborgen geblieben. Es waren Männer wie er. Keiner von ihnen hatte eine Ausbildung und Aussicht auf einen anständigen Arbeitsplatz. Sie waren jedoch keine Kriminelle im üblichen Sinn. Sie lebten in den Tag hinein, hielten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser und lauerten auf ihre große Chance, irgendwann, irgendwie das große Geld zu machen. Sie waren Träumer, aber doch realistisch genug, um zu wissen, dass ein solcher Coup große Risiken in sich barg. Vier der fünf Männer waren Kriegsveteranen. Sie hatten Gewalt erlebt und dem Tod ins Auge gesehen, und sie waren bereit, für das große Geld alles auf eine Karte zu setzen.

Harry schloss sich dieser Gruppe als sechstes Mitglied an. Man diskutierte und spekulierte und wartete, bis man endlich an der Reihe sein würde, den großen Coup zu landen.

Sie brauchten nicht lange zu warten.

Am 26. Februar 1952 überfielen sechs Männer einen Panzerwagen der Overland Pacific, einer der größten Geldtransportfirmen des Landes, und erbeuteten 1 000 000 Dollar.

Fünf Mitglieder der Bande konnten mit der Beute entkommen. Nur einer von ihnen fiel der Polizei in die Hände. Es war Harry Owens, der das Fluchtauto gefahren hatte, aber offensichtlich bei einem Streit mit seinen Komplizen von diesen niedergeschossen worden war. Eine Kugel war in seine rechte Seite eingedrungen, die andere hatte den rechten Oberarm durchschlagen. Der Schwerverletzte wurde ins nahe gelegene städtische Krankenhaus gebracht, wo er drei Tage später starb, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.

Für die Polizei war es eine bittere Enttäuschung, denn man hatte gehofft, über ihn an seine flüchtigen Mittäter heranzukommen. Die sofort eingeleitete Fahndung verlief zunächst erfolglos.

Aber am 26. März fiel der Polizei einer der anderen Täter in die Hände. Der Mann hatte sich in Glendale einen neuen Wagen gekauft und ihn mit 3000 Dollar bar bezahlt. Der Verkäufer hatte sich zwar über dieses Geschäft gefreut, war aber doch seiner Pflicht nachgekommen, die Sache der Polizei zu melden. So wurde es routinemäßig bei allen größeren Bargeld-Transaktionen gemacht. Der Mann hatte dem Verkäufer die Fahrerlaubnis mit Namen und Adresse gezeigt. Nachforschungen ergaben, dass es sich bei dem Mann um einen gewissen Hank Green handelte. Er konnte kein geregeltes Einkommen nachweisen, geschweige denn erklären, woher er die 3000 Dollar für den Kauf eines neuen Autos gehabt hatte. Natürlich bestritt er energisch seine Beteiligung an dem Überfall auf den Geldtransporter, legte aber dann doch ein Geständnis ab, als er zweifelsfrei als einer der Täter identifiziert wurde. Innerhalb von zwei Wochen konnten drei weitere Mitglieder der Bande erwischt werden.

Nur ein einziger Mann entkam: Carl Hansun, 36, Kriegsveteran. Er war und blieb mit einem Beuteanteil von 100 000 Dollar verschwunden. Die Akte über den Overland-Raub in Highland Park, Kalifornien, im Februar 1952 wurde amtlicherseits niemals abgeschlossen.

Es folgten lange Monate der Untersuchung. Im Juni kamen die vier Männer vor Gericht. Für Sara Owens war das Leben eine Hölle. Natürlich gab sie Harry an allem die Schuld. Er hatte sie geheiratet, als sie gar nicht heiraten wollte. Seinetwegen hatte sie den Jungen bekommen, obwohl sie niemals Kinder haben wollte. Und wenn er auch nicht der leibliche Vater war, so war er doch dafür verantwortlich, dass sie schwanger geworden war, denn wäre sie in jener Nacht nicht mit ihm im Auto auf diesem Waldweg gewesen, hätte Caryl Chessman sie auch nicht vergewaltigen können. Und was hatte sie jetzt, nach vier, beinahe fünf Jahren? Nichts als Kummer und Elend und keinen Cent in der Tasche. Ihr Ehemann hatte sich mit Gangstern eingelassen und war dabei getötet worden. Die Tatsache als solche kümmerte Sara herzlich wenig, aber die Schande, die es bedeutete, immer wieder seinen Namen in der Zeitung zu lesen, war unerträglich. Die Nachbarn wussten es. Die Polizei wusste es. Jedermann wusste, wer sie war. Die Ehefrau eines Gangsters, der so blöd gewesen war, dass er von seinen eigenen Gangsterfreunden umgebracht worden war! Für Sara war dies der letzte Tropfen, der das Fass ihres unglücklichen Lebens zum Überlaufen brachte. Offensichtlich hatten die Götter sie für immer verlassen. Jetzt war sie allein, ohne jede Hoffnung. Daher beschloss sie, Los Angeles zu verlassen und nie mehr hierher zurückzukehren.

Am 1. August 1952 verließ Sara Bishop, wie sie sich jetzt wieder nannte, die Stadt. Es war mitten in einer der schlimmsten Trockenperioden des Jahrhunderts. Sara bestieg mit ihrem vierjährigen Jungen einen Bus und reiste nach San Francisco. Hier fand sie eine kleine Wohnung und einen Job als Kellnerin. Abends erzählte sie ihrem Jungen von seinen beiden Vätern, von denen einer ein Vergewaltiger, der andere ein Bankräuber gewesen war. Sie verspottete und verhöhnte den Kleinen und ließ all ihren Hass und ihre Wut an dem Jungen aus. Eines Tages brachte sie einen braunen Lederriemen mit nach Hause … 

Im folgenden Jahr zog Sara in eine kleine Landgemeinde, ungefähr zweihundert Meilen nördlich von San Francisco. Sie lebte in einem alten Holzhaus am Rande der Stadt und führte ein isoliertes Dasein. Doch sie war nicht unglücklich. Tagsüber arbeitete sie als Kellnerin in einem kleinen Speiselokal. Um ihren Job zu behalten, schlief sie wöchentlich einmal mit dem Boss, einem dicken, alten Kerl mit fettigem Haar. Wenn er sie bestieg, pflegte sie einfach die Augen zuzumachen.

Abends erzählt sie ihrem Jungen Schauermärchen, grässliche Geschichten von blutrünstigen Monstern, die entsetzliche Dinge mit den Menschen anstellten. Natürlich waren alle Monster Männer und ihre Opfer Frauen. Und irgendwie hießen diese Monster stets Caryl Chessman oder Harry Owens. Im Laufe der Jahre verschmolzen die beiden Monster zu einem einzigen, das weiterhin auf den Namen Caryl Chessman hörte, denn Harry Owens spielt im Leben von Sara keine Rolle mehr, über Chessman hingegen las sie immer mal wieder Berichte in den Zeitungen. Diese las sie dann ihrem Jungen vor und schmückte sie auf ihre eigene Weise mit schrecklichen Details aus. Immer ging es dabei um Frauen, die furchtbar leiden mussten, weil Männer ihnen schreckliche Dinge antaten. Nach solchen Geschichten schlug Sara den Jungen stets mit diesem braunen Lederriemen.

Im Jahre 1956 zog Sara noch ein Stück weiter aus der Stadt hinaus, in ein kleines Bauernhaus, das etwa drei Meilen entfernt war. Das Haus hatte keinen Strom, aber es gab fließendes Wasser und einen großen Küchenherd, der mit Holz geheizt wurde. Ihre nächsten Nachbarn lebten eine Viertelmeile entfernt. Um zu ihrer Arbeitsstelle in der Stadt zu gelangen, kaufte sie einen Gebrauchtwagen für 100 Dollar, die sie angespart hatte. Gegen Ende dieses Jahres kaufte sie auch einen weiteren Lederriemen. Er war breiter und schwerer als der erste.

Ihren Job als Kellnerin hatte Sara schon vor einigen Jahren aufgegeben, nachdem sie eines Nachts die Geschlechtsteile des alten Fettsacks, der neben ihr schlief, mit dem glühenden Ende einer Zigarette verbrannt hatte.

Anschließend arbeitete sie für den Zimmermann der Stadt, beantwortete Telefonanrufe und kümmerte sich um den kleinen Laden nebst Werkstatt. Als der Mann eines Nachts in stark betrunkenem Zustand zudringlich wurde, schlug Sara ihm mit einem Handbeil beinahe den linken Arm ab.

Weitere ähnliche Vorfälle brachten Sara den Ruf ein, geistig nicht ganz normal zu sein. So wurde sie immerhin nicht mehr von Männern belästigt, was ihr nur recht war. Sie fand aber auch keine Jobs mehr, denn sie war wirklich sonderbar geworden. Sie war zänkisch und verschlossen, misstrauisch gegen jedermann, hatte keine Freunde und lud niemanden zu sich nach Hause ein. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie durch Näharbeiten. Gelegentlich verbrachte sie auch ein Wochenende in San Francisco. Dann ließ sie den Jungen einfach allein zurück. So schaffte sie es mit Mühe, sich über Wasser zu halten. Aber, so dachte Sara, wenigstens wurde sie von niemandem mehr belästigt. Wenn sie einmal von ihrem Jungen absah.

Dass dieser Junge größer und größer wurde, quälte Sara über alle Maßen. Vier, sechs, acht Jahre alt – er wurde schnell zu einem verhassten Mann. Sara glaubte, ihn auf ihre Weise durchaus zu lieben, wenngleich sie es nur selten zeigte. Zugleich hasste sie aber auch, was er war, und dies zeigte sie ihm nur zu deutlich. Der Junge fehlte oft in der Schule. Oft hatte er blaue Flecken, Beulen, Striemen. Er war nicht dumm, aber sehr verschlossen. Manchmal bekam er merkwürdige Anfälle. Die Leute machten sich Sorgen um den Jungen. Aber es war eine Zeit, da Eltern noch die absolute Verfügungsgewalt über ihre Kinder hatten. Außerdem mischten sich in jener Gegend Nachbarn niemals in die Familienangelegenheiten anderer ein. Der Junge gehörte zu seiner Mutter, und die Leute meinten, es läge eben alles in Gottes Hand.

Im Herbst 1957 berichteten die Zeitungen wieder einmal über Caryl Chessman. Er hatte erneut ein Buch veröffentlicht, es war bereits sein drittes. Anscheinend hatte er das Manuskript heimlich aus dem Gefängnis geschmuggelt, nachdem man ihm weitere Publikationen untersagt hatte. Bei ihrem nächsten Trip nach San Francisco kaufte sich Sara dieses Buch. Sie hatte auch seine beiden früheren Bücher gelesen: Cell 2455 Death Row und Trial by Ordeal. Sara war keine große Leserin, aber Chessmans Bücher gefielen ihr, denn sie dachte daran, dass er wie ein Tier in einem Käfig eingesperrt war und nur noch darauf wartete zu sterben. Sie stellte sich im Geiste oft vor, wie die Männer in San Quentin rastlos in ihren kleinen Käfigen herumstrichen, allein und hilflos. Sara wünschte sich, dass alle von ihnen sterben sollten.

Sara war aber auch davon beeindruckt, wie werbewirksam Chessman sich in Szene setzte. Er war jetzt wirklich eine Berühmtheit, und berühmte Leute in aller Welt sprachen über ihn. Aber eins konnte sie nicht verstehen: Wieso wurde ein Vergewaltiger berühmt, während niemand ein Wort über seine Opfer verlor?

Als Sara an diesem Abend aus San Francisco nach Hause kam, las sie in dem Buch, das sie sich gekauft hatte. Es trug den Titel The Face of Justice, und auf der Rückseite des Schutzumschlages war ein großes Porträt von Chessman abgebildet. Er lächelte. Sara betrachtete das Gesicht sehr lange, das schwarze Haar, die dunklen Augen, die große Nase. Dann holte sie sich ein paar Blätter Papier und begann, über sich selbst zu schreiben – von der Vergewaltigung vor zehn Jahren, von ihrer Ehe mit Harry Owens, von ihrem früheren Leben und ihren jugendlichen Träumen, von ihrem späteren Leben, von ihrer Angst und von ihrem Hass auf Männer. Stundenlang schrieb sie Seite um Seite voll, während sie am Küchentisch saß und diesen schmerzlichen Erinnerungen unter Tränen nachhing. Als sie fertig war, faltete sie die Blätter in der Mitte zusammen und steckte sie in Chessmans Buch, ohne noch einmal gelesen zu haben, was sie da alles aufgeschrieben hatte. Dann legte sie das Buch zu anderen Sachen in einen Pappkarton im Schrank.

Anschließend schlug sie den Jungen sehr lange mit dem schweren Lederriemen. Sie schlug ihn und weinte dabei und schlug ihn wieder, während sie ihm grausige Geschichten über Männer erzählte, und dann schlug sie ihn noch einmal. In der nächsten Woche ging der Junge nicht zur Schule. Seine Mutter gab an, dass er mit einer starken Erkältung im Bett liege.

Am 27. Mai 1958 wurde Caryl Chessman unter hohen Sicherheitsvorkehrungen von San Quentin nach Sacramento gebracht. Es ging um seine Berufung, die vor dem höchsten Gericht des Staates verhandelt werden sollte. Es war sein siebenunddreißigster Geburtstag.

Sara hörte am Abend zuvor etwas darüber im Radio. Da beschloss sie hinzugehen, um ihn zu sehen. Sie traf am Vormittag in Sacramento ein und fuhr direkt zum Gericht. Viele Leute hatten sich hier versammelt, um gegen die Todesstrafe zu demonstrieren und Chessmans Freilassung zu verlangen. Verwirrt von dem Trubel saß Sara in ihrem Wagen und wusste zunächst nicht, was sie nun tun sollte. Schließlich raffte sie allen Mut zusammen und ging die Stufen zum Eingang hinauf. Hier wurde sie von einem Gerichtsdiener höflich darauf aufmerksam gemacht, dass an diesem Tag keine Zuschauer bei Gericht zugelassen waren. Sie versuchte ihm zu erklären, dass sie keine Zuschauerin war, sondern dass sie Chessman kannte – am liebsten hätte sie das Wort »intim« laut hinausgeschrien. Sie behauptete, ihn unbedingt sehen zu müssen. Aber der Gerichtsdiener ließ sich nicht erweichen. Er hatte seine Anweisungen und bat Sara höflich, aber entschieden, sich wieder zu entfernen.

Niedergeschlagen setzte sich Sara auf den Rasen. Chessman war in diesem Gebäude, und sie konnte nicht zu ihm. Während der letzten Jahre war ihr Hass immer stärker geworden. Sara hatte Visionen, wie sie Chessman tötete, wie sie mit einem Revolver auf ihn schoss, wie sie ein Messer nahm und ihm die Geschlechtsteile abschnitt, wie sie sicherheitshalber noch einmal auf ihn schoss, um dafür zu sorgen, dass er auch wirklich tot war. Harry war tot. Warum war Chessman nicht tot? Es war ungerecht. Man sollte Frauen Schusswaffen geben und sie im Schießen unterrichten. Dann könnten sich alle Frauen zusammentun und alle Männer töten. Danach würden Frauen glücklich leben können. So wie es jetzt war, war es einfach ungerecht.

Jetzt ging eine Bewegung durch die Menge. Sara zuckte zusammen. Chessman! Man brachte ihn offensichtlich heraus. Sie rannte zum Eingang, während mehrere Männer aus dem Gebäude gestürmt kamen. Und da war er! Das musste er sein! Sara starrte in sein Gesicht. Nach elf Jahren sah sie ihn zum ersten Mal wieder, denn dass er es war, den sie in jener Nacht gesehen hatte, stand für sie seit Langem fest. Sie starrte ihn weiter an, dann begann sie zu schreien, ohne zu wissen, was sie da so laut hinausschrie. Einen Moment später war er fort. Das Gesicht war weg. Sara war wieder allein.

Während der Heimfahrt fühlte sie sich elend. Sie kam sich innerlich ausgebrannt vor und war schrecklich müde. Immer wieder sagte sie sich, dass sie ihn irgendwie hätte töten müssen. Sie war ja in gewisser Hinsicht auch tot, und dann sollte er eben auch tot sein.

In den folgenden Monaten erzählte Sara ihrem Jungen immer scheußlichere Horrorgeschichten. Die ganze Welt war bevölkert mit Monstern, grässlichen, unerbittlichen Monstern in Gestalt von Männern, die nur ein Ziel kannten – Frauen zu vernichten. Sie schilderte ihrem Jungen jedes noch so grausame Detail. Das Blut floss im Überfluss. Schmerz war normal. Tod war Befreiung und Erlösung. Sara packte den Jungen bei den schmalen Schultern, rüttelte ihn, umklammerte mit beiden Händen seinen Kopf, zerrte an seinen Haaren, knuffte ihn, stieß ihn herum und schlug ihn. Ihre Augen waren vor Grauen weit aufgerissen. Schaum trat ihr aus dem Mund. Sie schrie den Jungen an, prügelte ihn, warnte ihn. Monster! Ungeheuer! Im Haus. Überall. Zu spät! Schattenhafte, seelenlose Dinge drangen durch die Wände. Blutrünstige Dämonen waren auf der Suche nach Beute. Rissen Fleisch von Knochen. Klauen zerfetzten Muskeln. Riesige Mäuler verschlangen Eingeweide, Herz, Leber, Nieren. Klatschende Schläge mit dem wuchtigen Lederriemen. Und dann schrien beide, Mutter und Sohn, in namenlosem Entsetzen, blicklos stierten die Augen, von Lustschmerz gepeitschte Körper sanken langsam und leise in stummen Schlaf.

Im September kaufte Sara eine Peitsche. Sie sagte dem Verkäufer, dass sie sich ein Pferd anschaffen wollte. Er sagte ihr, dass sie sich zuerst das Pferd anschaffen sollte. Aber Sara kaufte nur die Peitsche.

Der Winter setzte in diesem Jahr schon früh ein. Sara und der Junge blieben die meiste Zeit im Haus. Das Feuer in dem großen Herd brannte prasselnd und hell. Saras Geist begann sich immer mehr zu verwirren. Manchmal erkannte sie den Jungen nicht mehr. Mitunter rief sie ihn bei anderen Namen. Sie sprang immer übellauniger mit dem Jungen um, schrie ihn ständig an und fand an allem, was er tat, irgendetwas auszusetzen. Sie begann ihn zu verfluchen und machte bald aus ihm das Monster in ihren Horrorgeschichten anstelle von Caryl Chessman. Immer öfter bekam der Junge die Peitsche zu spüren.

Eines Nachts Ende Dezember verlor der Junge endgültig den Verstand. Als seine Mutter vor dem großen Holzofen hockte, stieß er sie mit Wucht in die Flammen und beobachtete, wie der Körper zu brennen begann, wie das Fleisch geröstet und bis auf die bleichen Knochen verbrannt wurde.

Drei Tage später kam eine Frau ins Haus, um Stoff für eine Näharbeit zu bringen. Sie fand den Jungen auf dem Fußboden vor dem erloschenen Feuer sitzend. Er warf seinen Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, wobei er einen merkwürdigen, kehligen Singsang von sich gab. In einer Hand hielt er ein verkohltes Stück Fleisch, von dem er gegessen hatte. Sein Oberkörper wies schwärende Wunden auf und war von verkrustetem Blut überzogen.

Die Polizei kam und brachte den Jungen fort.

Über Sara Bishops Tod wurde in keiner überregionalen Zeitung berichtet. In der lokalen Presse wurde lediglich berichtet, dass die Frau tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden war. Aber jedermann in dem kleinen Ort wusste, was geschehen war.

Der Junge wurde kurzerhand für geisteskrank erklärt und in eine nahe gelegene staatliche Nervenheilanstalt eingewiesen.

Der Junge war einer der Ersten, der in einem neuen Flügel der Anstalt untergebracht wurde. Er war für psychisch gestörte Kinder bestimmt, die – wie Thomas William – getötet hatten. Am Anfang wurde er streng isoliert gehalten. Er verbrachte seine Zeit damit, laut zu schreien und sich auf den Boden zu werfen. Mitunter saß er aber auch ganz ruhig da und erzählte sich selbst mit leiser Stimme Geschichten von Ungeheuern und Dämonen. Wenn sich jemand näherte, hörte er sofort damit auf. Manchmal saß er einfach auf dem kalten Betonfußboden, warf den Oberkörper vor und zurück und jammerte und winselte stundenlang vor sich hin.

Der Junge musste regelmäßig fixiert werden, denn er pflegte andere Kinder und auch Erwachsene anzugreifen, plötzlich und ohne jeden ersichtlichen Grund. Immer häufiger verbrachte er die Zeit in der Isolationszelle, denn er galt als gewalttätig und gemeingefährlich.

Die Jahre gingen dahin, und Thomas William Owens war einsamer als je zuvor.

Am 19. Februar 1960 gewährte Edmund Brown, Gouverneur von Kalifornien, Caryl Chessman einen Aufschub von sechzig Tagen. Manche Leute unterstellten dem Gouverneur politische Motive, weil der Präsident der Vereinigten Staaten eine Tournee durch Südamerika unternahm, und die Regierung war nicht erpicht auf antiamerikanische Demonstrationen, solange Eisenhower dort war. Doch der Aufschub nützte Chessman nicht viel. Das Parlament von Kalifornien lehnte eine Umwandlung der Todesstrafe in lebenslange Haft ab. Daraufhin richtete Chessman, der nach wie vor beteuerte, nicht der »Rotlicht-Bandit« zu sein, eine Petition an den Obersten Gerichtshof. Am 2. Mai um acht Uhr früh trat der Oberste Gerichtshof von Kalifornien zu einer außergewöhnlichen Sitzung zusammen. Um 9.15 Uhr wurde das Urteil verkündet. Mit vier gegen drei Stimmen war Chessmans letzte Petition abgelehnt worden. Jetzt gab es keine Zeit mehr für weitere rechtliche Schritte. Chessman hatte zwölf Jahre in der Todeszelle von San Quentin verbracht. Er hatte zweiundvierzig Anträge gestellt, zum Teil an den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten. Seit 1952 hatte er achtmal einen Hinrichtungsaufschub erwirkt. Jetzt wurde Caryl Chessman innerhalb einer Stunde nach Bekanntgabe der gerichtlichen Entscheidung hingerichtet. Sein Leichnam wurde am folgenden Tag auf dem Mount-Tamalpais-Friedhof im nahe gelegenen San Rafael eingeäschert. Soweit bekannt war, hatte Caryl Chessman keine lebenden Verwandten.

Am Tag von Chessmans Hinrichtung kam es in verschiedenen Teilen der Welt zu Demonstrationen. Resolutionen wurden an Regierungen weitergeleitet.

Unterdessen befand sich in einer staatlichen Nervenheilanstalt etwa zweihundert Meilen nördlich von San Quentin noch immer ein Junge, dessen Mutter ihn für Caryl Chessmans Sohn gehalten hatte. Er war jetzt knapp zwölf Jahre alt. Von der Hinrichtung wusste er nichts, aber in seinem verwirrten Geist, der bevölkert war von nebulösen Gestalten und düsteren Schatten, war ein Gedanke fest umrissen wie eine deutliche Erinnerung: Er hatte einen Vater, und sein Name war Caryl Chessman. In seiner Welt voller Ungeheuer und Dämonen, voller grässlicher Schmerzen und Strafen, voller Frauen, die von Männern gepeinigt wurden, war ihm der Name seines Vaters stets gegenwärtig und bewusst. Und er wollte genauso werden wie er.

Während der folgenden Jahre sammelte der Junge alles, was er über seinen Vater in Zeitungen und Magazinen finden konnte. Viel war es nicht, denn in der Anstalt gab es nur wenig Gedrucktes für die Insassen. Aber was der Junge finden konnte, hütete er wie einen kostbaren Schatz. Er faltete alles zu winzig kleinen Quadraten zusammen und verstaute sie in der Brieftasche, die er einmal geschenkt bekommen hatte und die er seitdem ständig bei sich trug. Oft holte er spät in der Nacht diese Schriftstücke heraus, faltete sie auseinander und las sie aufmerksam durch, faltete sie wieder zusammen und tat sie zurück in die Brieftasche.

Während des nächsten Jahrzehnts, als der Junge schließlich zu einem Mann heranwuchs, der lernte, mit seiner Umwelt zurechtzukommen, indem er sich die notwendigen Verhaltensweisen aneignete, um von den Menschen zu bekommen, was er haben wollte, vergilbten diese Papierschnitzel allmählich immer stärker und zerfielen schließlich zu nichts.

Außerhalb der Anstaltsmauern hatte sich die Welt verändert. Politische Attentate waren zu einer Waffe geworden. Der Vietnamkrieg hatte eine Regierung gestürzt und eine soziale Revolution ausgelöst. Moral und Sitten hatten sich radikal verändert. Die schwarze Bevölkerungsminderheit hatte im ganzen Land ein neues Bewusstsein geschaffen. Das Leben war schneller und hektischer geworden. In dieser so turbulenten Zeit war der Name Caryl Chessman kein Begriff mehr. Die Todesstrafe hatte während dieses Jahrzehnts immer mehr an Boden verloren. In vielerlei Hinsicht waren die sechziger Jahre eine unselige Zeit für die USA gewesen. Man hoffte, dass die Siebziger besser werden würden oder doch wenigstens friedvoller.

Am 5. Mai 1973 sendete die Rundfunkstation KPFA – der Hauptsender von Pacifica Radio in San Francisco – ein Zweistundenprogramm über die Todesstrafe. Einer der Teilnehmer sprach mit einfühlsamen Worten von Caryl Chessman, von seinem verlorenen Kampf gegen die Hinrichtung. Andere Sender übernahmen dieses Programm, sodass es auch in verschiedenen anderen Gegenden von Kalifornien empfangen werden konnte.

Empfangen wurde es auch auf der Station einer Nervenheilanstalt im nördlichen Teil des Staates. Es war diese Rundfunksendung, die den Beginn einer grauenvollen Herrschaft des Schreckens markierte, einer Zeit des Horrors, die an den Nerven einer ganzen Nation zerren sollte.

Auf dieser Station, wo an diesem verhängnisvollen Maiabend das Radio lief, lebte ein Mann namens Thomas William Bishop, geborener Owens. Er war fünfundzwanzig Jahre alt.

2

Thomas Bishop schaltete das Radio neben seinem Bett ab, klopfte das Kopfkissen zurecht und rutschte etwas höher hinauf. Sein Blick wanderte über die anderen Betten in seiner Nähe und musterte die stummen Gestalten, die im Schlaf zusammengekauert unter den Laken und blauen Decken lagen. Dann machte er die Augen zu, um seiner Umgebung für eine Weile zu entfliehen.