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Neben dem »Dschungelbuch« ist »Kim« der berühmteste Roman Rudyard Kiplings, ein Abenteuer- und Kindheitsroman und einer der schönsten, die über Indien geschrieben worden sind. Kim ist ein Waisenjunge aus Lahore, ein Herumtreiber voller Charme und Witz, der auf der Suche nach seinem Namen mit einem tibetanischen Lama den Subkontinent durchstreift - ein Land voller Farben, Menschen und Gerüche. Mit Biographie, ausführlichem Kommentar und detaillierter Zeittafel.
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Seitenzahl: 602
Rudyard Kipling
Kim
Roman
Aus dem Englischen von Gisbert Haefs
Fischer e-books
Zam-Zammah
Oh ye who tread the Narrow Way
By Tophet-flare to Judgment Day,
Be gentle when »the heathen« pray
To Buddha at Kamakura!
[Ihr, die ihr geht bei Höllenglast
den Schmalen Pfad zum Jüngsten Tag,
seid milde, wenn »Die Heiden« beten
zum Buddha in Kamakura!]
Er saß, allen behördlichen Anordnungen trotzend, rittlings auf der Kanone Zam-Zammah auf ihrem Ziegelsockel gegenüber dem alten Ajaib-Ghar – dem Wunder-Haus, wie die Eingeborenen das Museum von Lahore nennen. Wer Zam-Zammah besitzt, jenen »feuerspeienden Drachen«, der besitzt den Punjab, denn das große Geschütz aus grüner Bronze ist immer wichtigstes Beutestück des Eroberers.
Es gab eine gewisse Rechtfertigung für Kim – mit den Füßen hatte er Lala Dinanaths Sohn von den Schildzapfen gestoßen –, da die Engländer den Punjab besaßen und Kim Engländer war. Zwar war er schwarzgebrannt wie nur irgendein Eingeborener; zwar benutzte er mit Vorliebe die Umgangssprache und seine Muttersprache nur in einem verstümmelten, ungewissen Singsang; zwar verkehrte er mit den kleinen Jungen des Basars auf völlig gleichem Fuß; aber Kim war ein Weißer – ein armer Weißer, einer von den allerärmsten. Die halbblütige Frau, die sich um ihn kümmerte (sie rauchte Opium und gab vor, an dem Platz, wo die billigen Droschken stehen, einen Laden mit gebrauchten Möbeln zu betreiben), erzählte den Missionaren, sie sei die Schwester von Kims Mutter; aber seine Mutter war Kindermädchen in der Familie eines Obersten gewesen und hatte Kimball O’Hara geheiratet, einen jungen Fahnensergeanten von den Mavericks, einem irischen Regiment. Später nahm er eine Stellung bei der Sind-Punjab-Delhi-Eisenbahn an, und sein Regiment kehrte ohne ihn in die Heimat zurück. Seine Frau starb in Firozpur an Cholera, und O’Hara begann zu trinken und mit dem dreijährigen Kind, das lebhafte Augen hatte, die Bahnlinie entlangzustromern. Gesellschaften und Geistliche, die sich um den Jungen sorgten, suchten ihn einzufangen, aber O’Hara trieb weiter, bis er der Frau begegnete, die Opium nahm, und von ihr lernte er den Geschmack daran und starb, wie arme Weiße in Indien sterben. Beim Tod bestand sein Besitz aus drei Papieren – das eine nannte er sein »ne varietur«, weil diese Wörter auf dem Papier unter seiner Unterschrift standen; das zweite sein »Klarierungs-Zeugnis«. Das dritte war Kims Geburtsschein. Diese Dinger, pflegte er in seinen glorreichen Opiumstunden zu sagen, würden aus dem kleinen Kimball noch einmal einen Mann machen. Kim solle sich auf keinen Fall von ihnen trennen, denn sie seien Teil einer großen Magie – solch einer Magie, wie Männer sie drüben hinter dem Museum betreiben, in dem großen blau-weißen Jadū-Ghar – dem Zauber-Haus, wie wir die Freimaurer-Loge nennen. Alles würde, sagte er, irgendwann in Ordnung kommen, und Kims Horn würde erhöht werden zwischen Säulen – ungeheuren Säulen – der Schönheit und Kraft. Der Oberst selbst, auf einem Pferd sitzend, an der Spitze des feinsten Regiments der Welt, würde sich um Kim kümmern – den kleinen Kim, der es besser haben sollte als sein Vater. Neunhundert erstklassige Teufel, deren Gott ein Roter Stier auf einem grünen Feld sei, würden sich um Kim kümmern, wenn sie O’Hara nicht vergessen hätten – den armen O’Hara, der Rottenführer auf der Firozpur-Linie gewesen war. Dann weinte er immer bitterlich, in seinem zerbrochenen Binsenstuhl auf der Veranda. So kam es, daß die Frau nach seinem Tod Pergament, Papier und Geburtsschein in eine Amulettscheide aus Leder nähte, die sie Kim um den Hals hängte.
»Und irgendwann«, sagte sie, wobei sie sich verworren an O’Haras Prophezeiungen erinnerte, »wird deinetwegen ein großer Roter Stier auf einem grünen Feld kommen, und der Oberst auf seinem großen Pferd, ja, und« – hier fiel sie ins Englische – »neunhundert Teufel.«
»Ah«, sagte Kim, »ich werde daran denken. Ein Roter Stier und ein Oberst auf einem Pferd werden kommen, aber zuerst, hat mein Vater gesagt, kommen die beiden Männer, die den Boden für diese Dinge bereiten. Genauso, hat mein Vater gesagt, haben sie es immer gemacht; und überhaupt ist es immer so, wenn Männer Magie machen.«
Wenn die Frau Kim mit diesen Papieren zum örtlichen Jadū-Ghar geschickt hätte, wäre er natürlich von der Provinz-Loge aufgenommen und ins Freimaurer-Waisenhaus in den Bergen geschickt worden; aber was sie von Magie gehört hatte, machte sie mißtrauisch. Kim hatte ebenfalls seine eigenen Ansichten. Als er in die Flegeljahre kam, lernte er, Missionare und ernst dreinblickende weiße Männer zu meiden, die wissen wollten, wer er war und was er machte. Denn Kim machte mit großem Erfolg gar nichts. Er kannte zwar die wunderbare, umwallte Stadt Lahore vom Delhi-Tor bis zum äußeren Festungsgraben, war bestens vertraut mit Männern, deren Dasein merkwürdiger war als alles, was einst Harun al-Raschid träumte, und selbst lebte er ein Leben, das so phantastisch war wie das in Tausendundeiner Nacht, aber Missionare und Sekretäre mildtätiger Gesellschaften waren blind für die Schönheit dieses Daseins. Kims Spitzname im Viertel war »Kleiner Freund der ganzen Welt«; und da er geschmeidig und unauffällig war, übernahm er oft Botengänge für gewandte und feine junge Herren, nachts, auf den dichtbelebten Hausdächern. Natürlich ging es um Liebeshändel – das wußte er wohl, so wie er von allem Übel wußte, seit er sprechen konnte –, aber was er daran liebte, war das Spiel um des Spieles willen – verstohlen durch dunkle Kanäle und Gassen streifen, Wasserrohre hinaufkriechen, Anblick und Klang der Frauenwelt auf den Dachterrassen und die jähe Flucht von Dach zu Dach im Schutz des heißen Dunkels. Dann gab es da heilige Männer, aschebeschmierte Fakire neben ihren Schreinen aus Ziegeln, unter den Bäumen am Flußufer; mit ihnen war er gut bekannt – er begrüßte sie, wenn sie von Bettelreisen zurückkehrten, und wenn niemand in der Nähe war, aß er mit ihnen aus einer Schüssel. Die Frau, die sich um ihn kümmerte, bedrängte ihn unter Tränen, europäische Kleidung zu tragen – Hosen, ein Hemd, einen abgeschabten Hut. Kim fand es einfacher, in Hindu- oder Mohammedanertracht zu schlüpfen, wenn er mit gewissen Geschäften befaßt war. Einer der feinen jungen Herren – und zwar jener, der in der Nacht des Erdbebens tot auf dem Grund eines Brunnens gefunden wurde – hatte ihm einmal eine komplette Hindu-Ausstattung geschenkt, die Kleidung eines Straßenjungen aus niedriger Kaste, und Kim verwahrte sie in einem geheimen Versteck unter einigen Balken von Nila Rams Zimmerplatz, hinter dem Obersten Gerichtshof des Punjab, wo die duftenden Deodarstämme zum Auswittern liegen, nachdem sie den Ravi herabgetrieben sind. Wenn Geschäfte oder Unfug angesetzt waren, holte Kim seine Besitztümer hervor; im Morgengrauen kam er dann zur Veranda zurück, völlig erschöpft davon, daß er am Ende einer Hochzeitsprozession gejubelt oder bei einer Hindufeier gejohlt hatte. Manchmal gab es im Haus etwas zu essen, häufiger nichts, und dann ging Kim wieder los, um mit seinen eingeborenen Freunden zu essen.
Während er mit den Fersen gegen Zam-Zammah trommelte, wandte er sich manchmal von seinem Wer-ist-der-Herr-der-Burg-Spiel mit dem kleinen Chota Lal und Abdullah, dem Sohn des Zuckerwerk-Verkäufers, um dem einheimischen Polizisten, der am Museumstor neben Reihen von Schuhen Wache stand, eine Frechheit zuzurufen. Der dicke Punjabi grinste nachsichtig: Er kannte Kim schon ewig. Ebenso der Wasserträger, der aus seinem Schlauch aus Ziegenfell Wasser auf die trockene Straße rieseln ließ. Ebenso Jawahir Singh, der Tischler des Museums, der sich über neue Packkisten beugte. Überhaupt kannten ihn alle in Sichtweite, außer den Bauern aus dem Hinterland, die zum Wunder-Haus hinaufliefen, um die Dinge zu betrachten, die Leute in ihrer eigenen Provinz und anderswo verfertigten. Das Museum war indischen Künsten und Handwerkserzeugnissen gewidmet, und jeder, der Weisheit suchte, konnte den Kurator um Erklärungen bitten.
»Runter! Runter! Laß mich rauf!« rief Abdullah; er kletterte Zam-Zammahs Rad hinauf.
»Dein Vater, der bäckt Zuckerwerk, deine Mutter klaut das ghi«, sang Kim. »Alle Moslems sind längst von Zam-Zammah runtergefallen!«
»Laß mich rauf!« kreischte der kleine Chota Lal mit seiner goldbestickten Kappe. Sein Vater war vielleicht eine halbe Million in Sterling wert, aber Indien ist das einzige demokratische Land der Welt.
»Die Hindus sind auch von Zam-Zammah runtergefallen. Die Moslems haben sie runtergeschubst. Dein Vater, der bäckt Zuckerwerk …«
Er hielt inne; um die Ecke, vom lärmenden Moti-Basar her, kam nämlich mit schleppenden Schritten ein Mann, wie Kim, der alle Kasten zu kennen glaubte, ihn noch nie gesehen hatte. Er war beinahe sechs Fuß groß, gekleidet in Falten über Falten eines schmutzigbraunen Stoffs, ähnlich einer Pferdedecke, und keine einzige dieser Falten konnte Kim einem ihm bekannten Gewerbe oder Beruf zuschreiben. An seinem Gürtel hingen ein langer, durchbrochen gearbeiteter Federbehälter aus Eisen und ein hölzerner Rosenkranz, wie heilige Männer ihn tragen. Auf dem Kopf trug er eine spitze Mütze mit Ohrenklappen. Sein Gesicht war gelb und runzlig wie das von Fook Shing, dem chinesischen Stiefelmacher im Basar. Seine Augen bogen sich an den Winkeln hoch und sahen aus wie schmale Schlitze aus Onyx.
»Wer ist das denn?« sagte Kim zu seinen Kameraden.
»Vielleicht ist es ein Mensch«, sagte Abdullah; er hatte einen Finger im Mund und starrte.
»Ohne Zweifel«, erwiderte Kim; »aber er ist kein Mensch aus Indien, wie ich ihn je gesehen hab.«
»Vielleicht ein Priester«, sagte Chota Lal; er entdeckte den Rosenkranz. »Sieh mal! Er geht ins Wunder-Haus!«
»Nein, nein«, sagte der Polizist; dabei schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe Eure Rede nicht.« Der Constable sprach Punjabi. »O Freund der ganzen Welt, was sagt er?«
»Schick ihn her«, sagte Kim; er rutschte von Zam-Zammah herab und schwenkte dabei seine bloßen Füße. »Er ist ein Fremder, und du bist ein Büffel.«
Der Mann wandte sich hilflos ab und kam langsam zu den Jungen. Er war alt, und sein wollener Kaftan roch noch nach dem stinkenden Beifuß der Gebirgspässe. »O Kinder, was ist dies große Haus?« sagte er in sehr gutem Urdu.
»Das Ajaib-Ghar, das Wunder-Haus!« Kim redete ihn nicht mit einem Titel an – etwa Lala oder Mian. Er konnte nicht erraten, welchem Glauben der Mann angehörte.
»Ah! Das Wunder-Haus! Darf jeder eintreten?«
»So steht es über der Tür geschrieben – jeder darf hinein.«
»Ohne Bezahlung?«
»Ich gehe ein und aus. Bin ich ein Bankier?« Kim lachte.
»Ach! Ich bin ein alter Mann. Ich wußte es nicht.« Dann tastete er nach seinem Rosenkranz und wandte sich halb zum Museum um.
»Was ist Eure Kaste? Wo steht Euer Haus? Kommt Ihr weit her?« fragte Kim.
»Ich bin über Kulu gekommen – von jenseits des Kailas –, aber was wißt ihr denn? Aus den Bergen, wo« – er seufzte – »die Luft und das Wasser frisch und kühl sind.«
»Aha! Khitai [ein Chinese]«, sagte Abdullah stolz. Fook Shing hatte ihn einmal aus dem Laden gejagt, weil er den Götzen über den Stiefeln angespuckt hatte.
»Pahari [ein Bergmensch]«, sagte der kleine Chota Lal.
»Ja, Kind – ein Bergmensch aus Bergen, die du niemals sehen wirst. Hast du schon mal von Bhotiyal [Tibet] gehört? Ich bin kein Khitai, sondern ein Bhotiya [Tibeter], wenn ihr es wissen müßt – ein Lama – oder auch, in eurer Sprache, ein Guru.«
»Ein Guru aus Tibet«, sagte Kim. »So einen Mann habe ich noch nie gesehen. Die in Tibet sind dann also Hindus?«
»Wir folgen dem Mittleren Pfad und leben in Frieden in unseren Lamaklöstern, und ich bin aufgebrochen, um die Vier Heiligen Stätten zu sehen, bevor ich sterbe. Jetzt wißt ihr, die ihr Kinder seid, so viel wie ich, der ich alt bin.« Er lächelte gütig auf die Jungen hinab.
»Hast du gegessen?«
Der Lama
Unbeholfen tastete er im Gewand vor seiner Brust herum und zog eine abgenutzte, hölzerne Bettelschale hervor. Die Jungen nickten. Alle Priester, die sie kannten, bettelten.
»Ich will noch nicht essen.« Er drehte seinen Kopf wie eine alte Schildkröte in der Sonne. »Ist es wahr, daß es viele Bildwerke gibt im Wunder-Haus von Lahore?« Er wiederholte die letzten Wörter wie jemand, der sich einer Adresse versichern will.
»Das stimmt«, sagte Abdullah. »Es ist voll von heidnischen būts. Du bist auch so ein Götzendiener.«
»Kümmer dich nicht um den da«, sagte Kim. »Das Haus gehört der Regierung, und es gibt darin keine Götzendienerei, sondern nur einen Sahib mit weißem Bart. Komm mit, ich zeig es dir.«
»Fremde Priester essen kleine Jungen«, flüsterte Chota Lal.
»Und er ist ein Fremder und ein būt-parast [Götzendiener]«, sagte Abdullah, der Mohammedaner.
Kim lachte. »Er ist was Neues. Rennt ihr doch zu euren Müttern und kriecht ihnen auf den Schoß; da seid ihr sicher. Komm!«
Kim ließ das zählende Drehkreuz klicken; der alte Mann folgte und blieb verwirrt stehen. In der Eingangshalle standen die größeren Gestalten der gräko-buddhistischen Bildhauerei, angefertigt vor so langer Zeit, daß nur die Gelehrten es wissen, von vergessenen Handwerkskünstlern, deren Hände nicht ohne Geschick versucht hatten, den geheimnisvoll vermittelten griechischen touch zu erfühlen. Da gab es Hunderte von Stücken, Friese mit Gestalten in Relief, Fragmente von Statuen und von Figuren wimmelnde Platten, die einmal die Ziegelwände der buddhistischen stupas und viharas des Nordlands bedeckt hatten und nun, ausgegraben und etikettiert, der Stolz des Museums waren. Staunend und mit offenem Mund wandte sich der Lama hierhin und dorthin, und schließlich hielt er verzückt und hingerissen inne vor einem großen Hochrelief, das eine Krönung oder Apotheose des Buddha darstellte. Der Meister saß in dieser Darstellung auf einem Lotos, dessen Blätter so tief unterhöhlt waren, daß sie beinahe losgelöst schienen. Es umgab Ihn eine anbetende Hierarchie von Königen, Ältesten und Buddhas der Vorzeit. Unter ihnen waren lotosbedeckte Gewässer mit Fischen und Wasservögeln. Zwei devas mit Schmetterlingsflügeln hielten ein Blumengewinde auf Sein Haupt; über ihnen stützten zwei weitere einen Sonnenschirm, den der juwelenbesetzte Kopfschmuck des Bodhisat überragte.
»Der HErr! Der HErr! Es ist Sakya Muni selbst«, sagte der Lama beinahe schluchzend, und mit verhaltender Stimme begann er die herrliche buddhistische Anrufung:
To Him the Way – the Law – Apart –
Whom Maya held beneath her heart,
Ananda’s Lord – the Bodhisat.
[Sein sind allein Pfad und Gesetz,
den Maya unterm Herzen barg:
Anandas HErr, der Bodhisat.]
»Und Er ist hier! Das Höchst Vortreffliche Gesetz ist auch hier. Meine Pilgerreise hat gut begonnen. Und welch ein Kunstwerk! Welch ein Kunstwerk!«
»Da drüben ist der Sahib«, sagte Kim; er verdrückte sich zur Seite, zwischen die Schaukästen des Flügels der Kunst- und Handwerkserzeugnisse. Ein weißbärtiger Engländer schaute den Lama an, der sich würdevoll umwandte, ihn grüßte und nach einigem Tasten ein Notizbuch und ein Stück Papier hervorzog.
»Ja, das ist mein Name.« Der Engländer lächelte über die unbeholfene, kindliche Druckschrift.
»Einer von uns, der die Pilgerreise zu den Heiligen Stätten gemacht hat – er ist jetzt Abt des Klosters Lung-Cho –, gab es mir«, stammelte der Lama. »Er sprach von diesen Dingen.« Seine hagere Hand wies bebend rundum.
»Dann sei willkommen, o Lama aus Tibet. Hier sind die Bildwerke, und hier bin ich« – er blickte in das Gesicht des Lamas –, »um Wissen zu sammeln. Komm zunächst einmal mit in mein Arbeitszimmer.« Der alte Mann zitterte vor Erregung.
Das Arbeitszimmer war nur ein kleiner hölzerner Verschlag, abgetrennt von der mit Skulpturen gefüllten Galerie. Kim legte sich auf den Boden, das Ohr an einem Spalt in der Tür aus Zedernholz, das durch die Hitze rissig geworden war; er gehorchte seinen Instinkten und streckte sich aus, um zu lauschen und zu beobachten.
Der größte Teil des Gesprächs war für ihn viel zu hoch. Zunächst stockend berichtete der Lama dem Kurator von seinem Kloster Such-zen, gegenüber den Bunten Felsen, hundertzwanzig Tagesmärsche entfernt. Der Kurator holte ein großes Buch mit Fotos hervor und zeigte ihm das Kloster, hoch auf seinem schroffen Felsen, wie es das gewaltige Tal mit den vielfarbigen Gesteinsschichten überschaute.
»Ja, ja!« Der Lama setzte eine Hornbrille chinesischer Fertigung auf. »Hier ist die kleine Tür, durch die wir vor dem Winter das Holz tragen. Und du – die Engländer wissen von diesen Dingen? Der, der nun Abt von Lung-Cho ist, hat es mir gesagt, aber ich konnte es nicht glauben. Der HErr – der Erhabene – auch hier genießt Er Verehrung? Und man weiß von Seinem Leben?«
»All dies ist in die Steine gemeißelt. Komm und schau, wenn du ausgeruht bist.«
Der Lama schlurfte hinaus in die große Halle, und mit dem Kurator an seiner Seite ging er durch die Sammlung, mit der Ehrfurcht eines Gläubigen und der feinfühligen Wertschätzung eines Kunsthandwerkers.
Jede einzelne Begebenheit der wunderschönen Geschichte identifizierte er auf dem verwitterten Stein; hie und da stutzte er angesichts der ungewohnten griechischen Darstellungsweise; bei jedem neuen Fund war er jedoch entzückt wie ein Kind. Wo die Reihenfolge unvollständig war, wie bei der Verkündigung, ergänzte der Kurator sie aus dem Berg seiner französischen und deutschen Bücher mit Fotografien und Reproduktionen.
Hier war der fromme Asita, Entsprechung des Simeon in der christlichen Geschichte, der das Heilige Kind auf den Knien hielt, während Mutter und Vater lauschten; und da waren Begebenheiten aus der Legende vom Vetter Devadatta. Hier war die schlimme Frau, die den Meister der Unreinheit bezichtigt hatte, nun völlig beschämt; da war die Predigt im Gazellenhain; das Wunder, das die Feueranbeter verblüffte; dort der Bodhisat in königlichem Gepränge als Prinz; die wundersame Geburt; der Tod in Kusinagara, wo der schwache Jünger ohnmächtig wurde; allenthalben fanden sich Wiedergaben der Meditation unter dem Bodhi-Baum; und die Anbetung der Almosenschale war überall zu sehen. Binnen weniger Minuten begriff der Kurator, daß sein Gast kein bloßer rosenkranzleiernder Bettler war, sondern ein bemerkenswerter Gelehrter. Und sie gingen alles noch einmal durch; dabei schnupfte der Lama, wischte seine Brillengläser und sprach im Eilzugtempo eine verwirrende Mischung aus Urdu und Tibetisch. Er hatte von den Reisen der chinesischen Pilger Fa-hsien und Hsüan-tsang gehört und war begierig zu erfahren, ob es Übersetzungen ihrer Berichte gab. Er atmete tief, während er hilflos die Seiten von Beal und Stanislas Julien durchblätterte. »Alles ist hier. Ein versperrter Schatz.« Dann faßte er sich, um ehrfürchtig Bruchstücken zu lauschen, die der Kurator hastig ins Urdu übersetzte. Zum ersten Mal hörte er von der mühsamen Arbeit europäischer Gelehrter, die mit Hilfe dieser und hundert anderer Dokumente die Heiligen Stätten des Buddhismus identifiziert haben. Danach wurde ihm eine riesige Karte gezeigt, voll gelber Punkte und Linien. Hier war Kapilavastu, da das Mittlere Königreich, und dort Mahabodhi, das Mekka des Buddhismus; und hier Kusinagara, traurige Stätte von des Heiligen Tod. Der alte Mann beugte für eine Weile schweigend das Haupt über die Blätter, und der Kurator zündete sich eine neue Pfeife an. Kim war eingeschlafen. Als er erwachte, strömte das Gespräch noch immer reißend schnell, war aber nun eher innerhalb seines Begreifens.
»Und so kam es, o Springquell der Weisheit, daß ich beschloß, zu den Heiligen Stätten zu reisen, die Sein Fuß betreten hat – zum Ort der Geburt, selbst nach Kapila; dann nach Mahabodhi, was Buddh Gaya ist – zum Kloster – zum Gazellenhain – zur Stätte Seines Todes.«
Der Lama senkte die Stimme. »Und ich komme allein hierher. Seit fünf – sieben – achtzehn – vierzig Jahren habe ich bei mir erwogen, daß das Alte Gesetz nicht wohl befolgt wird; es ist, wie du weißt, von Teufelswerk, Amuletten und Götzendienerei überdeckt. Wie sogar das Kind draußen eben erst sagte. Ja, genau wie das Kind es gesagt hat, būt-parasti.«
»So ergeht es jedem Glauben.«
»Meinst du? Ich habe die Bücher meines Klosters gelesen, und sie waren vertrocknetes Mark; und das Ritual, mit dem wir, die Anhänger des Erneuerten Gesetzes, uns später beladen haben – auch das hatte in diesen meinen alten Augen keinen Wert. Sogar jene, die dem Erhabenen folgen, tragen Fehde um Fehde miteinander aus. All das ist Trug. Ja, maya, Trug. Aber ich habe ein anderes Verlangen« – das gefurchte gelbe Gesicht näherte sich bis auf drei Zoll dem des Kurators, und der lange Nagel des Zeigefingers tippte auf den Tisch. »Mit diesen Büchern sind eure Gelehrten den Seligen Füßen auf allen Wanderungen gefolgt; aber es gibt Dinge, die sie nicht zu wissen gesucht haben. Ich weiß nichts – nichts weiß ich –, aber ich werde mich vom Rad der Dinge befreien, und dazu gehe ich eine breite, offene Straße.« Er lächelte in ganz schlichtem Triumph. »Als Pilger zu den Heiligen Stätten erwerbe ich Verdienst. Aber da ist noch mehr. Lausche einer Sache, die wahr ist. Als unser gütiger HErr noch ein Jüngling war und eine Gefährtin suchte, sagten die Leute am Hof Seines Vaters, Er sei noch zu zart für eine Heirat. Du weißt es?«
Der Kurator nickte, neugierig auf das, was folgen würde.
»Also machten sie die dreifache Kraftprobe gegen alle Bewerber. Und bei der Bogenprobe zerbrach unser HErr den Bogen, den sie Ihm gaben, und verlangte nach einem Bogen, den keiner zu spannen vermöchte. Du weißt es?«
»So steht es geschrieben. Ich habe es gelesen.«
»Und der Pfeil flog über alle von anderen erreichten Ziele hinweg, immer weiter und weiter, außer Sicht. Endlich fiel er zu Boden, und wo er die Erde berührte, brach ein Wasserstrom hervor, der alsbald zum Fluß wurde; und durch die Gnade unseres HErrn und jenen Verdienst, den Er erwarb, ehe Er sich befreite, ist der Fluß in seinem Wesen so beschaffen, daß einer, der darin badet, sich so jeden Makel und Flecken der Sünde abwäscht.«
»So steht es geschrieben«, sagte der Kurator traurig.
Der Lama tat einen tiefen Atemzug. »Wo ist dieser Fluß? Springquell der Weisheit, wo fiel der Pfeil nieder?«
»Ach, mein Bruder, ich weiß es nicht«, sagte der Kurator.
»Nein, du hast es sicher nur vergessen – das einzige, was du mir nicht gesagt hast. Gewiß mußt du es doch wissen? Schau, ich bin ein alter Mann! Ich frage mit dem Haupt zwischen deinen Füßen, o Springquell der Weisheit. Wir wissen, daß Er den Bogen spannte! Wir wissen, daß der Pfeil fiel! Wir wissen, daß das Wasser schwoll! Wo also ist der Fluß? Mein Traum hieß mich ihn finden. Deshalb kam ich. Nun bin ich hier. Aber wo ist der Fluß?«
»Wenn ich es wüßte, glaubst du denn, ich würde es nicht hinausschreien?«
»Durch ihn erreicht man Befreiung vom Rad der Dinge«, fuhr der Lama achtlos fort. »Der Fluß des Pfeils! Denk noch einmal nach! Irgendein kleiner Bach vielleicht – ausgetrocknet in der Hitze? Aber der Heilige würde niemals einen alten Mann so betrügen.«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
Der Lama brachte sein Gesicht mit den tausend Runzeln noch einmal eine Handbreit nah an das des Engländers. »Ich sehe, daß du es wirklich nicht weißt. Da du dem Gesetz nicht angehörst, ist diese Sache dir verborgen.«
»Ja – verborgen – verborgen.«
»Wir sind beide gefesselt, du und ich, mein Bruder. Aber ich« – er erhob sich mit einem Schwung des weichen dicken Gewands – »ich gehe, mich loszuschneiden. Komm mit!«
»Ich bin gebunden«, sagte der Kurator. »Aber wohin gehst du?«
»Zuerst nach Kashi [Benares]: wohin sonst? Dort werde ich einen vom reinen Glauben treffen, in einem Jain-Tempel der Stadt. Auch er ist insgeheim ein Suchender, und von ihm kann ich vielleicht lernen. Vielleicht geht er mit mir nach Buddh Gaya. Von dort nördlich und westlich nach Kapilavastu, und da werde ich den Fluß suchen. Nein, überall werde ich suchen, während ich wandere – denn der Ort, wo der Pfeil fiel, ist nicht bekannt.«
»Und wie willst du reisen? Nach Delhi ist es weit, und noch weiter nach Benares.«
»Auf der Straße und mit Zügen. Von Pathânkot, wo ich die Berge verließ, bin ich in einem te-rain hierhergekommen. Er fährt schnell. Zuerst haben mich die hohen Pfosten am Straßenrand verwirrt, die ihre Fäden immer wieder aufraffen« – er illustrierte das Neigen und Schwirren eines Telegrafenmastes, der am Zug vorübersaust. »Aber später fühlte ich mich eingezwängt und wollte nur wandern, wie ich es gewöhnt bin.«
»Und du kennst deinen Weg bestimmt?« sagte der Kurator.
»Ach, da braucht man nur zu fragen und Geld zu bezahlen, und die zuständigen Personen schicken jeden an den gewünschten Ort. So viel wußte ich schon in meinem Kloster, aus zuverlässigen Berichten«, sagte der Lama stolz.
»Und wann wirst du reisen?« Der Kurator lächelte über die Mischung aus uralter Frömmigkeit und modernem Fortschritt, die das Kennzeichen des heutigen Indien ist.
»So bald wie möglich. Ich folge den Stätten Seines Lebens, bis ich zum Fluß des Pfeils komme. Außerdem gibt es ein geschriebenes Papier mit den Stunden der Züge, die nach Süden gehen.«
»Und Nahrung?« Lamas haben gewöhnlich einen guten Geldvorrat irgendwo bei sich, aber der Kurator wollte sichergehen.
»Auf der Reise begnüge ich mich mit der Bettelschale des Meisters. Ja. Genau wie Er wanderte, so wandere ich, und ich entsage der Muße meines Klosters. Als ich die Berge verließ, war ein chela [Jünger] bei mir, der für mich bettelte, wie die Regel es verlangt, aber als wir eine Weile in Kulu haltmachten, hat ihn ein Fieber befallen, und er ist gestorben. Nun habe ich keinen chela, aber ich will die Almosenschale halten und so den Mildtätigen den Erwerb von Verdienst möglich machen.« Er nickte tapfer. Gelehrte Doktoren eines Lamaklosters betteln nicht, aber der Lama war auf seiner heiligen Suche ein Enthusiast.
»So sei es«, sagte der Kurator lächelnd. »Dann laß zu, daß nun ich Verdienst erwerbe. Du und ich, wir sind beide kunstfertige Männer vom gleichen Fach. Hier ist ein neues Buch mit weißem englischen Papier; hier sind gespitzte Bleistifte, zwei und drei – dick und dünn, alle gut für einen Schriftgelehrten. Nun laß mich deine Brille sehen.«
Der Kurator schaute durch die Gläser. Sie waren arg zerkratzt, aber von fast der gleichen Stärke wie die seiner eigenen Brille, die er dem Lama in die Hand gleiten ließ; dabei sagte er: »Versuch diese.«
»Eine Feder! Wahrlich eine Feder auf dem Gesicht!« Der alte Mann wandte entzückt den Kopf hin und her und legte die Nase in Falten. »Wie wenig ich sie spüre! Wie deutlich ich sehe!«
»Die Gläser sind aus bilaur [Kristall] und bekommen niemals Kratzer. Mögen sie dir zu deinem Fluß verhelfen, denn sie sind dein.«
»Ich will sie und die Bleistifte und das weiße Notizbuch annehmen«, sagte der Lama, »als Zeichen der Freundschaft zwischen Priester und Priester – und nun …« Er zerrte an seinem Gürtel, löste den durchbrochen gearbeiteten Federkasten aus Eisen und legte ihn auf den Tisch des Kurators. »Dies ist zum Andenken zwischen dir und mir – mein Federkasten. Er ist etwas Altes – genau wie ich.«
Es war ein Stück nach alter Art, chinesisch, aus einem Eisen, wie es heutzutage nicht mehr geschmolzen wird; und das Sammlerherz in der Brust des Kurators hatte sich ihm von Anfang an zugeneigt. Alle Überredung war vergebens; der Lama wollte sein Geschenk nicht zurücknehmen.
»Wenn ich den Fluß gefunden habe und zurückkehre, werde ich dir ein geschriebenes Bild von der Padma Samthora bringen – eines, wie ich sie oft im Kloster auf Seide gemacht habe. Ja – und vom Rad des Lebens« – er kicherte –, »denn wir sind kunstfertige Männer vom gleichen Fach, du und ich.«
Der Kurator hätte ihn gern zurückgehalten: Es gibt nur wenige auf der Welt, die noch das Geheimnis der alten buddhistischen Pinselfeder-Bilder kennen, die gewissermaßen halb geschrieben und halb gemalt sind. Aber der Lama schritt aus, hocherhobenen Hauptes, und nachdem er einen Moment vor der großen Statue eines Bodhisat in Meditation haltgemacht hatte, eilte er durch das Drehkreuz.
Kim folgte wie ein Schatten. Was er heimlich gehört hatte, machte ihn wild vor Aufregung. Bei all seiner Erfahrung war dieser Mann etwas völlig Neues, und er wollte ihn weiter erforschen, genau wie er ein neues Gebäude oder ein seltsames Fest in Lahore erforscht hätte. Der Lama war sein Fund, und er gedachte, ihn in Besitz zu nehmen. Auch Kims Mutter war ja aus Irland gekommen.
Der alte Mann blieb bei Zam-Zammah stehen und sah sich um, bis sein Auge auf Kim fiel. Die Inspiration, seine Pilgerreise, hatte ihn für den Moment verlassen, und er fühlte sich alt, verloren und sehr leer.
»Man darf sich nicht unter diese Kanone setzen«, sagte der Polizist hochnäsig.
»Schuhu, du Eule!« Kim antwortete an Stelle des Lamas. »Setz dich ruhig unter die Kanone, wenn es dir gefällt. Wann hast du der Milchfrau die Pantoffeln gestohlen, Dunnoo?«
Das war eine völlig grundlose Bezichtigung, in diesem Moment aus der Luft gegriffen, aber sie brachte Dunnoo zum Schweigen; er wußte, daß Kims helles Gellen wenn nötig Legionen böser Basarjungen herbeirufen konnte.
»Und wen hast du da drin angebetet?« sagte Kim freundlich; er hockte sich neben dem Lama in den Schatten.
»Ich habe niemanden angebetet, Kind. Ich habe mich vor dem Vortrefflichen Gesetz verneigt.«
Kim akzeptierte diesen neuen Gott gelassen. Er kannte schon etliche Dutzend.
»Und was machst du jetzt?«
»Ich werde betteln. Mir fällt nun ein, daß es lange her ist, seit ich etwas gegessen oder getrunken habe. Wie sind in dieser Stadt die Gebräuche der Mildtätigkeit? Schweigend, wie wir Tibeter es tun, oder laut redend?«
»Wer schweigend bettelt, verhungert schweigend«, sagte Kim mit einem Sprichwort der Einheimischen. Der Lama versuchte sich zu erheben, aber er sank wieder zurück und seufzte nach seinem Jünger, der im fernen Kulu und tot war. Kim schaute zu – den Kopf auf die Seite gelegt, abwägend und interessiert.
»Gib mir die Schale. Ich kenne die Leute in dieser Stadt – alle, die mildtätig sind. Gib sie mir, und ich bringe sie dir gefüllt zurück.«
Schlicht wie ein Kind reichte der alte Mann ihm die Schale.
»Ruh du dich aus. Ich kenne die Leute.«
Er machte sich davon zum offenen Laden einer kunjri, einer Gemüsehändlerin niedriger Kaste, gegenüber der Ring-Tram am Moti-Basar. Sie kannte Kim seit langem.
»Oho, bist du ein yogi geworden, mit deiner Bettelschale?«
»Nein«, sagte Kim stolz. »In der Stadt ist ein neuer Priester – ein Mann, wie ich ihn noch nie gesehen hab.«
»Alter Priester – junger Tiger«, sagte die Frau unwirsch. »Ich habe neue Priester satt! Sie hocken sich auf unsere Waren wie die Fliegen. Ist der Vater meines Sohnes denn ein Brunnen der Mildtätigkeit, daß er allen geben soll, die betteln?«
»Nein«, sagte Kim. »Dein Mann ist eher yagi [übellaunig] als yogi [ein heiliger Mann]. Aber dieser Priester ist neu. Der Sahib im Wunder-Haus hat mit ihm geredet wie mit einem Bruder. O meine Mutter, füll mir diese Schale. Er wartet.«
»Ausgerechnet diese Schale, ja? Diesen kuhbäuchigen Korb! Du bist ungefähr so liebenswürdig wie Schiwas heiliger Bulle. Er hat heute früh schon den größeren Teil aus einem Zwiebelkorb gefressen; und jetzt soll ich auch noch deine Schale füllen. Da kommt er schon wieder.«
Der riesige, mausfarbene Brahmanenbulle des Viertels schob sich mit wiegenden Schultern durch die vielfarbige Menge; eine gestohlene Pisangfrucht hing aus seinem Maul. Er hielt geradenwegs auf den Laden zu, im Bewußtsein seiner Privilegien eines heiligen Tiers, senkte den Kopf und prustete heftig die Reihe der Körbe entlang, bevor er seine Wahl traf. Kims harte kleine Ferse flog hoch und traf ihn auf die feuchte blaue Schnauze. Er schnaubte indigniert, stampfte quer über die Trambahnschienen von hinnen, und sein Widerrist zitterte vor Zorn.
»Siehst du! Ich habe dir mehr gespart, als die Schale dreimal gefüllt kostet. Jetzt, Mutter, ein bißchen Reis und trockenen Fisch darauf – ja, und ein bißchen Gemüsecurry.«
Ein Grollen drang aus dem Hintergrund des Ladens, wo ein Mann lag.
»Er hat den Stier verjagt«, sagte die Frau halblaut. »Es ist gut, den Armen zu geben.« Sie nahm die Schale und gab ihn mit heißem Reis gefüllt zurück.
»Aber mein yogi ist keine Kuh«, sagte Kim würdevoll; mit den Fingern machte er ein Loch in die Spitze des Berges. »Ein wenig Curry kann nicht schaden, und er hätte bestimmt nichts gegen einen heißen Kuchen und ein bißchen Eingemachtes, glaub ich.«
»Das Loch ist so groß wie dein Kopf«, sagte die Frau verdrossen. Aber trotzdem füllte sie es mit gutem dampfenden Gemüsecurry, klatschte einen heißen Kuchen darauf und ein Stückchen geklärter Butter auf den Kuchen, klitschte einen Klumpen säuerlich eingemachter Tamarinde an den Rand, und Kim blickte liebevoll auf die Ladung.
»Das ist gut. Wenn ich im Basar bin, wird der Stier nicht zu diesem Haus kommen. Er ist ein unverschämter Bettler.«
»Und was bist du?« Die Frau lachte. »Aber sprich nicht schlecht über Stiere. Hast du mir denn nicht erzählt, daß eines Tages ein Roter Stier von einem Feld kommen wird, um dir zu helfen? Jetzt halt alles grade und bitte den heiligen Mann, mich zu segnen. Vielleicht weiß er ja eine Heilung für die kranken Augen meiner Tochter. Frag ihn auch danach, o du Kleiner Freund der ganzen Welt.«
Aber Kim war längst vor dem Ende des Satzes davongetanzt; er wich streunenden Hunden und hungrigen Bekannten aus.
»So betteln wir, die wir die Sache verstehen«, sagte er stolz zum Lama, der angesichts des Schaleninhalts die Augen aufriß. »Iß jetzt, und – ich esse mit dir. Ohé, bhisti!« rief er dem Wasserträger zu, der die Krotonen am Museum begoß. »Bring uns Wasser. Wir Männer haben Durst.«
»Wir Männer!« sagte der bhisti lachend. »Ob denn wohl ein einziger Schlauch für so ein Paar reicht? Also trinkt, im Namen des Allerbarmers.«
Er ließ einen dünnen Strahl in die Hände von Kim rinnen, der wie ein Eingeborener trank; der Lama jedoch mußte aus seinem unerschöpflichen Obergewand einen Becher hervorziehen und mit geziemender Feierlichkeit trinken.
»Pardesi [ein Fremder]«, erklärte Kim, als der alte Mann in einer unbekannten Sprache etwas sagte, was offenbar ein Segen war.
In großer Zufriedenheit aßen sie gemeinsam und leerten die Bettelschale. Danach nahm der Lama Schnupftabak aus einer wunderbaren hölzernen Kürbisflasche, ließ seinen Rosenkranz eine Weile durch die Finger gleiten und fiel dann in den leichten Schlaf des Alters, während Zam-Zammahs Schatten länger wurde.
Kim schlenderte zum nächsten Tabakverkäufer hinüber, einer sehr lebhaften jungen Mohammedanerin, und erbettelte eine stinkende Zigarre von der Sorte, wie man sie den Studenten von der Punjab-Universität verkauft, die englische Sitten nachahmen. Dann rauchte er und dachte nach, unter dem Bauch der Kanone, die Knie am Kinn, und das Ergebnis seines Denkens war ein jäher und verstohlener Aufbruch in Richtung von Nila Rams Zimmerplatz.
Der Lama erwachte nicht, bis das abendliche Leben der Stadt begonnen hatte, mit dem Anzünden von Laternen und der Heimkehr weißgekleideter Schreiber und Unterbeamter aus den Regierungsbüros. Benommen starrte er in alle Himmelsrichtungen, aber niemand schaute ihn an, außer einem Hinduknirps mit schmutzigem Turban und isabellfarbener Kleidung. Plötzlich ließ er den Kopf auf die Knie sinken und begann zu wehklagen.
»Was ist denn?« sagte der Junge, der vor ihn trat. »Hat man dich bestohlen?«
»Es ist, weil mein neuer chela [Jünger] von mir gegangen ist, und ich weiß nicht, wo er ist.«
»Und was für ein Mann war dein Jünger?«
»Es war ein Junge, der für den, der gestorben ist, zu mir kam, wegen des Verdienstes, das ich mir erworben habe, als ich mich da drinnen vor dem Gesetz verneigte.« Er deutete auf das Museum. »Er ist zu mir gekommen, um mir einen Weg zu zeigen, den ich verloren hatte. Er hat mich in das Wunder-Haus geführt und durch sein Reden ermutigt, mit dem Hüter der Bildwerke zu sprechen; das hat mich getröstet und gekräftigt. Und als ich schwach war von Hunger, da hat er für mich gebettelt, wie es ein chela für seinen Lehrer tun würde. Plötzlich ist er geschickt worden. Plötzlich ist er gegangen. Ich hatte ihn auf dem Weg nach Benares im Gesetz unterweisen wollen.«
Kim stand völlig verblüfft da, denn er hatte das Gespräch im Museum belauscht und wußte, daß der alte Mann die Wahrheit sagte, etwas, was ein Eingeborener selten einem Fremden auf der Straße darbringt.
»Aber nun weiß ich, daß er nur zu einem bestimmten Zweck gesandt worden ist. Daran erkenne ich, daß ich einen gewissen Fluß, nach dem ich suche, finden werde.«
»Den Fluß des Pfeils?« sagte Kim mit überlegenem Lächeln.
»Ist dies denn noch eine Sendung?« rief der Lama. »Zu keinem habe ich über meine Suche gesprochen, außer zum Priester der Bildwerke. Wer bist du?«
»Dein chela«, sagte Kim einfach; er ließ sich auf die Hacken nieder. »Jemand wie dich hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Ich geh mit dir nach Benares. Und außerdem glaub ich, daß ein Mann, der so alt ist wie du und der nach Sonnenuntergang jedem Hergelaufenen die Wahrheit sagt, einen Jünger sehr nötig hat.«
»Aber der Fluß – der Fluß des Pfeils?«
»Ach, das hab ich gehört, als du mit dem Engländer geredet hast. Ich hatte mich vor die Tür gelegt.«
Der Lama seufzte. »Und ich dachte schon, du seiest mir als Führer gewährt worden. Solche Dinge geschehen manchmal – aber ich bin nicht würdig. Du kennst den Fluß also nicht?«
»Ich doch nicht.« Kim lachte gezwungen. »Ich bin auf der Suche nach … nach einem Stier – einem Roten Stier auf einem grünen Feld, und er soll mir helfen.« Wenn ein Bekannter Pläne schmiedete, war Kim wie jeder Junge gleich mit einem eigenen dabei; und wie ein Junge hatte er tatsächlich zwanzig Minuten hintereinander an die Prophezeiungen seines Vaters gedacht.
»Wobei soll er dir helfen, Kind?« sagte der Lama.
»Das weiß Gott, aber mein Vater hat es mir so erzählt. Ich habe deine Rede im Wunder-Haus gehört, über all diese neuen, seltsamen Orte in den Bergen, und wenn einer, der so alt ist und so wenig … so sehr daran gewöhnt, die Wahrheit zu sagen, wenn so einer wegen so etwas Kleinem wie einem Fluß auszieht, dann, hab ich mir gedacht, muß ich auch auf die Reise gehn. Wenn es uns bestimmt ist, diese Dinge zu finden, dann werden wir sie auch finden – du deinen Fluß; und ich meinen Stier und die Großen Säulen und noch andere Sachen, die ich vergessen hab.«
»Es sind keine Säulen, sondern ein Rad, von dem ich frei werden möchte«, sagte der Lama.
»Das ist alles eins. Vielleicht machen sie einen König aus mir«, sagte Kim, der in seiner Gelassenheit auf alles vorbereitet war.
»Auf dem Weg werde ich dich andere und bessere Wünsche lehren«, erwiderte der Lama im Tonfall der Autorität. »Laß uns nach Benares gehen.«
»Nicht in der Nacht. Diebe treiben sich herum. Warte, bis es Tag wird.«
»Aber es gibt keinen Ort zum Schlafen.« Der alte Mann war die Ordnung seines Klosters gewohnt, und wenn er auch auf dem Boden schlief, wie die Regel es vorschreibt, legte er bei diesen Dingen doch Wert auf Schicklichkeit.
»Wir werden im Kaschmir-Serai gutes Quartier kriegen«, sagte Kim; er lachte über die Besorgnis des Lamas. »Ich habe da einen Freund. Komm!«
Die heißen, wimmelnden Basare loderten von Lichtern, als sie sich ihren Weg durch das Gedränge aller Rassen Oberindiens bahnten, und der Lama nachtwandelte hindurch wie einer, der träumt. Es war seine erste Begegnung mit einer großen, gewerbetreibenden Stadt, und der überfüllte Tramwagen mit seinen unausgesetzt quietschenden Bremsen erschreckte ihn. Halb gestoßen, halb gezerrt erreichte er das große Tor des Kaschmir-Serai: jenes riesigen offenen Gevierts gegenüber der Eisenbahnstation, umgeben von Bogengängen, wo die Kamel- und Pferdekarawanen einkehren, wenn sie aus Zentralasien zurückkommen. Hier fanden sich alle möglichen Leute aus dem Norden; sie versorgten angebundene Pferde und kniende Kamele, luden Ballen und Bündel auf und ab, schöpften für das Nachtmahl Wasser mit den knarrenden Brunnenwinden; sie schütteten den schrill wiehernden, wildäugigen Hengsten Heu auf, knufften die rauhen Karawanenhunde, entlohnten Kameltreiber, stellten neue Knechte ein, fluchten, schrien, stritten und feilschten auf dem übervollen Platz. Die Bogengänge, die man über drei oder vier gemauerte Stufen erreichte, waren Häfen der Zuflucht um diese aufgewühlte See. Die meisten von ihnen waren an Händler vermietet, wie bei uns die Bögen eines Viadukts; der Raum zwischen Pfeiler und Pfeiler war mit Ziegeln oder Brettern in Kammern unterteilt, die von schweren Holztüren und sperrigen Vorhängeschlössern einheimischer Machart gesichert wurden. Verschlossene Türen zeigten an, daß der Besitzer abwesend war, und ein paar grobe – manchmal reichlich grobe – Kritzeleien mit Farbe oder Kreide gaben bekannt, wohin er gegangen war. Etwa so: »Lutuf Ullah ist nach Kurdistan gereist.« Darunter, in plumpen Verszeilen: »O Allah, der du duldest, daß Läuse leben im Rock eines Kabuli – warum nur lässest du diese Laus Lutuf so lange leben?«
Kim beschirmte den Lama zwischen erregten Männern und erregten Tieren und drückte sich seitwärts die Bogengänge entlang, hin zum äußersten Ende nahe dem Bahnhof, wo Mahbub Ali der Pferdehändler hauste, wenn er aus dem geheimnisvollen Land jenseits der Pässe des Nordens nach Lahore kam.
Kim hatte in seinem kurzen Leben schon viel mit Mahbub zu tun gehabt – vor allem zwischen seinem zehnten und seinem dreizehnten Jahr –, und der große kräftige Afghane, der seinen Bart scharlachrot gefärbt hatte (denn er war schon älter und wollte nicht, daß man seine grauen Haare sah), kannte den Wert des Jungen als Nachrichtenquelle. Manchmal trug er Kim auf, einen Mann, der gar nichts mit Pferden zu tun hatte, zu beobachten: ihm einen ganzen Tag lang zu folgen und sich jeden zu merken, mit dem er redete. Kim entledigte sich dann abends seiner Geschichte, und Mahbub hörte zu, ohne ein Wort oder eine Geste. Es ging um irgendein Ränkespiel, das wußte Kim; aber der Reiz der Sache war, daß er zu niemandem ein Sterbenswörtchen sagen durfte, außer zu Mahbub, der ihm herrliche Mahlzeiten dafür gab, noch ganz heiß, aus der Garküche am Kopfende des Serai, und einmal sogar ganze acht Annas in Münzen.
»Er ist da«, sagte Kim; dabei schlug er einem übellaunigen Kamel auf die Nase. »Ohé, Mahbub Ali!« Er machte bei einem düsteren Bogen halt und schlüpfte hinter den verwirrten Lama.
Mahbub Ali
Der Pferdehändler, den tiefsitzenden, bestickten Buchara-Gürtel nicht gelöst, lag auf zwei Satteltaschen aus seidenem Teppichstoff und sog träge an einer riesigen silbernen hukah. Bei dem Ruf wandte er kaum den Kopf, und als er nur die hohe, stumme Gestalt sah, kam tief aus seiner Brust ein kicherndes Glucksen.
»Allah! Ein Lama! Ein Roter Lama! Es ist weit von Lahore nach den Pässen. Was machst du hier?«
Der Lama streckte mechanisch die Bettelschale aus.
»Gottes Fluch über alle Ungläubigen!« sagte Mahbub. »Ich gebe keinem lausigen Tibeter was; aber frag meine Baltis, da drüben, hinter den Kamelen. Vielleicht legen die Wert auf deinen Segen. He, Burschen, hier ist ein Landsmann von euch. Vielleicht hat er Hunger.«
Ein geschorener, geduckter Balti, der mit den Pferden aus den Bergen gekommen und angeblich Anhänger eines ziemlich verkommenen Buddhismus war, katzbuckelte vor dem Priester und ersuchte den Heiligen mit dicken Kehllauten, sich an das Feuer der Pferdeknechte zu setzen.
»Geh!« sagte Kim; er stieß ihn sanft an, und der Lama schritt davon und ließ Kim am Rand des Bogengangs zurück.
»Geh!« sagte Mahbub Ali. Er wandte sich wieder seiner hukah zu. »Verschwinde, kleiner Hindu. Gottes Fluch über alle Ungläubigen. Du kannst die von meinem Anhang anbetteln, die deines Glaubens sind.«
»Maharadsch«, wimmerte Kim. Er verwendete die unter Hindus übliche Form der Anrede, und die Situation machte ihm großen Spaß. »Mein Vater ist tot, meine Mutter ist tot, mein Magen ist leer.«
»Bettle bei meinen Pferdeknechten, sag ich dir. Bei den Leuten müssen ein paar Hindus sein.«
»Oh, Mahbub Ali, bin ich vielleicht ein Hindu?« sagte Kim auf Englisch.
Der Händler zeigte kein Erstaunen, sondern blickte nur unter zottigen Augenbrauen hervor. »Kleiner Freund der ganzen Welt«, sagte er, »was soll das?«
»Nichts. Ich bin jetzt der Jünger von diesem heiligen Mann, und wir machen zusammen eine Pilgerreise – nach Benares, sagt er. Er ist ziemlich verrückt, und ich habe Lahore satt. Ich brauch andere Luft und anderes Wasser.«
»Aber für wen arbeitest du? Warum kommst du zu mir?« Die Stimme war harsch vor Argwohn.
»Zu wem soll ich sonst gehen? Ich habe kein Geld. Es ist nicht gut, ohne Geld zu reisen. Du wirst den Offizieren viele Pferde verkaufen. Es sind feine Pferde, die neuen: Ich habe sie gesehen. Gib mir eine Rupie, Mahbub Ali, und wenn ich zu meinem Reichtum komme, geb ich dir einen Schuldschein und bezahle.«
»Mhm!« machte Mahbub Ali; er überlegte schnell. »Du hast mich noch nie belogen. Ruf diesen Lama – und stell dich da ins Dunkel.«
»Ah, er wird dasselbe sagen«, sagte Kim lachend.
»Wir gehen nach Benares«, sagte der Lama, sobald er begriffen hatte, in welche Richtung Mahbub Alis Fragen zielten. »Der Junge und ich. Ich will einen bestimmten Fluß suchen.«
»Mag sein – aber der Junge?«
»Er ist mein Jünger. Ich glaube, er ist mir geschickt worden, damit er mich zu diesem Fluß leitet. Ich saß unter einer Kanone, als er plötzlich gekommen ist. Solche Dinge sind Glücklichen geschehen, denen Führung gewährt wurde. Aber jetzt erinnere ich mich, er hat gesagt, er sei von dieser Welt – ein Hindu.«
»Und wie heißt er?«
»Das habe ich ihn nicht gefragt. Ist er denn nicht mein Jünger?«
»Sein Land – seine Rasse – sein Heimatdorf? Moslem – Sikh – Hindu – Jain – niedrige oder hohe Kaste?«
»Wozu sollte ich das fragen? Auf dem Mittleren Pfad gibt es weder hoch noch niedrig. Wenn er mein chela ist – soll, will, kann dann jemand ihn mir nehmen? Denn, siehst du, ohne ihn werde ich meinen Fluß nicht finden.« Er schüttelte feierlich den Kopf.
»Niemand wird ihn dir nehmen. Geh, setz dich zu meinen Baltis«, sagte Mahbub Ali, und der Lama wandelte davon, beruhigt durch das Versprechen.
»Ist er nicht ziemlich verrückt?« sagte Kim; er trat wieder vor, ins Licht. »Warum sollte ich dich belügen, Hadschi?«
Mahbub paffte schweigend an seiner hukah. Dann begann er, beinahe flüsternd: »Ambala liegt am Weg nach Benares – wenn ihr beide wirklich dorthin geht.«
»Tck! Tck! Ich sag dir doch, er kann gar nicht lügen – was wir beide sehr gut können.«
»Und wenn du für mich eine Botschaft bis nach Ambala mitnimmst, gebe ich dir Geld. Es geht um ein Pferd – einen weißen Hengst, den ich einem Offizier verkauft habe, als ich das letzte Mal von den Pässen zurückgekommen bin. Aber damals – komm näher und halt die Hände hoch, wie zum Betteln – war der Stammbaum des weißen Hengstes noch nicht völlig geklärt, und dieser Offizier, der jetzt in Ambala ist, hat mich gebeten, das zu klären.« (Hier beschrieb Mahbub Ali das Haus und das Äußere des Offiziers.) »Also, die Botschaft an den Offizier lautet: ›Der Stammbaum des weißen Hengstes ist vollständig ermittelt‹. Daran wird er erkennen, daß du von mir kommst. Er wird dann sagen: ›Welchen Beweis hast du dafür?‹, und du wirst antworten: ›Mahbub Ali hat mir den Beweis gegeben.‹«
»Und all das bloß für einen weißen Hengst«, sagte Kim; er kicherte, und seine Augen flackerten.
»Den Stammbaum gebe ich dir jetzt – auf meine eigene Weise – und ein paar grobe Worte dazu.« Ein Schatten strich hinter Kim vorbei, und ein kauendes Kamel.
»Allah! Meinst du, du wärst der einzige Bettler in der Stadt? Deine Mutter ist tot. Dein Vater ist tot. Das sagen alle von sich. Na gut …« Er drehte sich um, tastete neben sich auf dem Boden und warf dem Jungen einen Fladen weichen, fettigen Moslembrots zu. »Jetzt geh und schlaf diese Nacht bei meinen Pferdeknechten – du und der Lama. Morgen gebe ich dir vielleicht eine Arbeit.«
Kim schlich beiseite, die Zähne im Brot, und wie er erwartet hatte, fand er ein Stückchen Seidenpapier, in Öltuch gewickelt, und drei silberne Rupien – ein dickes Geschenk. Er lächelte und stopfte Geld und Papier in seine lederne Amulettscheide. Der Lama, prächtig bewirtet von Mahbubs Baltis, schlief bereits in einer Ecke eines der Ställe. Kim legte sich neben ihn und lachte. Er wußte, daß er Mahbub Ali einen Dienst erwiesen hatte, und nicht eine Sekunde glaubte er an die Geschichte vom Stammbaum des Hengstes.
Kim ahnte jedoch nicht, daß Mahbub Ali, bekannt als einer der besten Pferdehändler im Punjab, als reicher und wagemutiger Handelsherr, dessen Karawanen bis weit in unbekannte Länder vordrangen, in einem der weggesperrten Bücher des Indischen Vermessungsamts als C.25.1 B geführt wurde. Zwei- oder dreimal im Jahr schickte C.25 eine kleine Geschichte ein, schlecht erzählt, aber höchst interessant und im allgemeinen der Wahrheit entsprechend – man überprüfte die Geschichten anhand der Berichte von R.17 und M.4. Die Geschichten betrafen alle möglichen entlegenen Fürstentümer in den Bergen, Forscher, die keine Engländer waren, und den Handel mit Gewehren – sie waren, kurz gesagt, ein kleiner Teil der großen Menge »eingegangener Informationen«, auf Grund derer die Indische Regierung handelt. Vor kurzem waren jedoch fünf verbündete Könige, die sich nicht zu verbünden hatten, von einer liebenswürdigen Macht im Norden informiert worden, daß durch ein Leck Neuigkeiten aus ihren Territorien nach Britisch- Indien sickerten. Dies verdroß die Premierminister jener Könige ernstlich, und sie unternahmen Schritte auf orientalische Art. Unter vielen anderen verdächtigten sie auch den polternden rotbärtigen Pferdehändler, dessen Karawanen, bis zum Bauch im Schnee, ihre befestigten Lande durchzogen. Jedenfalls war seine Karawane dieses Mal bei der Heimreise zweimal aus dem Hinterhalt überfallen und beschossen worden; dabei hatten Mahbubs Männer drei fremde Strolche erledigt, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht für diese Sache bezahlt worden waren. Deshalb hatte Mahbub darauf verzichtet, in der ungesunden Stadt Peshawar haltzumachen, und war ohne Unterbrechung bis nach Lahore weitergezogen, wo er, da er die Leute seines Landes kannte, mit seltsamen Entwicklungen rechnete.
Und Mahbub Ali trug etwas bei sich, das er keine Stunde länger als nötig zu behalten wünschte – ein Stückchen enggefalteten Seidenpapiers, in Öltuch gewickelt –, ein unpersönlicher, nicht adressierter Bericht, mit fünf mikroskopischen Nadelstichen in einer Ecke, der die fünf verbündeten Könige, die teilnahmsvolle Macht im Norden, einen Hindu-Bankier in Peshawar, eine belgische Firma, die Gewehre herstellte, und einen bedeutenden, halbautonomen mohammedanischen Herrscher weiter im Süden schmählichst verriet. Letzteres war die Arbeit von R.17, und Mahbub hatte es jenseits des Dora-Passes übernommen und leitete es für R.17 weiter, der aus Gründen, die sich seiner Kontrolle entzogen, seinen Beobachtungsposten nicht verlassen konnte. Dynamit war sanft und unschädlich neben diesem Bericht von C.25; und sogar ein Orientale mit orientalischen Auffassungen vom Wert der Zeit konnte sehen, daß es desto besser war, je früher der Bericht in die richtigen Hände geriet. Mahbub lag nicht sonderlich viel daran, gewaltsam zu sterben, denn jenseits der Grenze lagen noch zwei oder drei unerledigte Familienangelegenheiten – Blutfehden – in seinen Händen, und sobald diese Rechnungen beglichen waren, wollte er sich als mehr oder weniger tugendhafter Bürger zur Ruhe setzen. Seit seiner Ankunft vor zwei Tagen war er noch nicht aus dem Tor des Serai getreten, hatte jedoch mit auffälligem Gehabe Telegramme verschickt – nach Bombay, wo er einen Teil seines Geldes hinterlegt hatte; nach Delhi, wo ein Sub-Partner von seiner Sippe dem Agenten eines Rajputana-Staats Pferde verkaufte; und nach Ambala, wo ein Engländer aufgeregt nach dem genauen Stammbaum eines weißen Hengstes verlangte. Der öffentliche Briefschreiber, der das Englische beherrschte, verfaßte treffliche Telegramme wie etwa: »Creighton, Laurel Bank, Ambala. – Pferd wie schon gemeldet Araber. Verzögerung Stammbaum bedauerlich, wird übermittelt.« Und später, an die gleiche Adresse: »Verzögerung sehr bedauerlich. Werde Stammbaum übermitteln.« An seinen Sub-Partner in Delhi drahtete er: »Lutuf Ullah. – Zweitausend Rupien telegrafisch überwiesen, Ihr Konto, Luchman Narains Bank.« Das war vollkommen geschäftsmäßig, aber jedes dieser Telegramme wurde von Interessenten, die sich für davon betroffen hielten, wieder und wieder diskutiert, bevor sie von einem einfältigen Balti, der unterwegs alle möglichen Leute lesen ließ, zur Bahnstation gebracht wurden.
Als Mahbub in seiner eigenen bildhaften Sprache die Brunnen der Nachforschung mit dem Stab der Vorsicht getrübt hatte, war Kim ihm in die Hände gefallen, wie vom Himmel gesandt; und da er gleichermaßen schnell entschlossen wie gewissenlos war, hatte Mahbub Ali, gewöhnt daran, jede jähe Möglichkeit zu nutzen, ihn auf der Stelle in seinen Dienst gepreßt.
Ein wandernder Lama und ein Junge aus niedriger Kaste als Diener mochten auf dem Weg durch Indien, das Land der Pilger, einen Moment lang Interesse erregen; aber niemand würde sie verdächtigen oder, was wichtiger war, berauben.
Er rief nach einer neuen Glutkugel für seine hukah und begrübelte die Angelegenheit. Wenn es zum Allerschlimmsten kam und dem Jungen etwas zustieß, würde das Papier niemandem Scherereien eintragen. Und er würde sich dann in aller Ruhe nach Ambala begeben und – mit einem gewissen Risiko, frischen Verdacht zu erregen – seine Geschichte den betroffenen Personen mündlich vorbringen.
Der Bericht von R.17 war jedoch der Kernpunkt der ganzen Affaire, und es wäre entschieden ungelegen, wenn er nicht in die richtigen Hände geriete. Aber wie auch immer, Allah ist groß, und Mahbub Ali fand, er habe alles getan, was er im Augenblick tun könne. Kim war der einzige Mensch auf der Welt, der ihn noch nie belogen hatte. Das wäre ein verhängnisvoller Fleck auf Kims Charakter gewesen, wenn Mahbub nicht gewußt hätte, daß Kim für seine eigenen Absichten oder Mahbubs Geschäfte lügen konnte wie ein Orientale.
Dann stampfte Mahbub Ali quer über das Serai zum Tor der Harpyien, die ihre Augen anmalen und den Fremden einfangen, und er hatte einige Mühe, jenes Mädchen zu finden, das, wie zu vermuten er Gründe hatte, eng befreundet war mit einem glattgesichtigen kaschmirischen pandit, der seinem einfältigen Balti wegen der Telegramme aufgelauert hatte. Es war ein vollendet unsinniges Unterfangen, denn sie begannen, wider des Propheten Gesetz parfümierten Branntwein zu trinken, und Mahbub wurde herrlich betrunken, und die Gatter seines Mundes öffneten sich, und er stellte der Blume der Wonne auf Füßen des Rausches nach, bis er platt in die Kissen fiel, wo die Blume der Wonne ihn mit Hilfe eines glattgesichtigen kaschmirischen pandits von Kopf bis Fuß überaus gründlich untersuchte.
Etwa zur gleichen Stunde hörte Kim leise Füße in Mahbubs verlassenem Verschlag. Der Pferdehändler hatte, was seltsam genug war, seine Tür nicht abgeschlossen, und seine Männer waren völlig damit beschäftigt, ihre Rückkehr nach Indien mit einem ganzen Schaf zu feiern, das Mahbub in seiner Großmut gestiftet hatte. Ein geschmeidiger junger Gentleman aus Delhi, bewaffnet mit einem Schlüsselbund, den die Blume vom Gürtel des Bewußtlosen gelöst hatte, untersuchte jede einzelne Kiste, jedes Bündel, jede Matte und Satteltasche in Mahbubs Besitz noch weit systematischer, als die Blume und der pandit es mit dem Besitzer taten.
»Und ich glaube«, sagte die Blume eine Stunde später verächtlich, wobei sie einen ihrer rundlichen Ellenbogen auf den schnarchenden Kadaver stützte, »er ist nichts weiter als ein Schwein von einem afghanischen Pferdehändler, ohne andere Gedanken als an Weiber und Pferde. Außerdem hat er es vielleicht schon abgeschickt – wenn es überhaupt je so ein Ding gegeben hat.«
»Nein – in einer Sache, die die Fünf Könige betrifft, würde er so etwas nahe an seinem schwarzen Herzen tragen«, sagte der pandit. »War da gar nichts?«
Der Mann aus Delhi lachte und rückte seinen Turban zurecht, als er eintrat. »Ich habe zwischen den Sohlen seiner Pantoffeln gesucht wie die Blume in seinen Kleidern. Das ist nicht unser Mann, sondern ein anderer. Mir entgeht so leicht nichts.«
»Sie haben nicht gesagt, daß er genau der Mann ist«, sagte der pandit nachdenklich. »Sie haben gesagt: ›Seht nach, ob er der Mann ist, denn wir sind unschlüssig in unseren Beratungen.‹«
»In diesem Nordland gibt es so viele Pferdehändler wie Läuse in einem alten Rock. Da ist Sikander Khan, dann Nur Ali Beg und Farrukh Shah – alles Häupter von kafilas [Karawanen], und alle machen da oben Geschäfte«, sagte die Blume.
»Die sind noch nicht zurück«, sagte der pandit. »Du mußt sie später verstricken.«
»Puh!« sagte die Blume mit tiefem Abscheu; sie rollte Mahbubs Kopf von ihrem Schoß. »Ich verdiene schon mein Geld. Farrukh Shah ist ein Bär, Ali Beg ein Großmaul, und der alte Sikander Khan – yaie! Geht! Ich will jetzt schlafen. Das Schwein hier wird sich nicht vor dem Morgen rühren.«
Als Mahbub erwachte, redete die Blume ihm streng ins Gewissen, die Sünde des Trunks betreffend. Asiaten zwinkern nicht, wenn sie einen Feind überlistet haben, aber als Mahbub Ali sich räusperte, den Gürtel enger zog und im Licht der Sterne des frühen Morgens hinaustaumelte, war er nahe daran, es doch zu tun. ›Was für ein alberner Trick!‹ sagte er sich. ›Als ob den nicht sogar jedes Mädchen in Peshawar kennt! Aber es war nett gemacht. Nun weiß Gott allein, wie viele noch auf der Straße sind, die den Auftrag haben, mich zu überprüfen – vielleicht mit einem Messer. Es steht also fest, der Junge muß nach Ambala – und zwar mit dem Zug –, das Schreiben ist nämlich sehr dringend. Ich bleibe hier, folge der Blume und trinke Wein, wie es einem afghanischen Pferdehändler zusteht.‹
Er blieb beim zweitletzten Verschlag vor seinem eigenen stehen. Dort lagen seine Männer in tiefem Schlaf. Von Kim oder dem Lama war nichts zu sehen.
»Auf!« Er rüttelte einen der Schläfer. »Wohin sind die gegangen, die am Abend hier gelegen haben – der Lama und der Junge? Ist etwas geschehen?«
»Nein«, grunzte der Mann. »Der alte Verrückte ist beim zweiten Hahnenschrei aufgestanden und hat gesagt, er geht jetzt nach Benares, und der Junge hat ihn weggeführt.«
»Allahs Fluch über alle Ungläubigen!« sagte Mahbub aus vollem Herzen und kletterte in seinen eigenen Verschlag; dabei knurrte er in den Bart.
Aber es war Kim, der den Lama geweckt hatte – Kim, der mit einem Auge am Astloch in der Bretterwand gesehen hatte, wie der Mann aus Delhi die Kisten untersuchte. Das war kein gewöhnlicher Dieb, der da Briefe, Rechnungen und Sättel durchwühlte – kein einfacher Einbrecher, der ein winziges Messer von der Seite zwischen die Sohlen von Mahbubs Pantoffeln steckte und so geschickt die Säume der Satteltaschen auftrennte. Zuerst hatte Kim Alarm geben wollen – das langgezogene chu-ur! chuur! [Dieb! Dieb!], das nachts das Serai aufschreckt; aber er schaute dann noch genauer hin, legte die Hand an sein Amulett und zog seine eigenen Schlüsse.
›Es muß um den Stammbaum dieser an den Haaren herbeigezogenen Pferdelüge gehen‹, sagte er sich, ›das Ding, das ich nach Ambala bringe. Besser, wir gehen sofort. Wer Sättel mit Messern durchsucht, durchsucht vielleicht bald auch Bäuche mit Messern. Bestimmt steckt eine Frau dahinter.‹ – »He! He!« flüsterte er dem alten Mann ins Ohr, der einen leichten Schlaf hatte. »Komm! Es ist Zeit – Zeit, nach Benares zu gehen.«
Der Lama erhob sich gehorsam, und wie Schatten verließen sie das Serai.
And whoso will, from Pride released,
Contemning neither creed nor priest,
May hear the soul of all the East
About him at Kamakura.
[Und wer dies will, von Stolz erlöst,
nicht Glauben und nicht Priester schmäht,
mag wohl des Ostens Seele hören
um sich in Kamakura.]
Sie betraten den festungsartigen Bahnhof, schwarz am Ende der Nacht; Stromkabel zischten über den Güterschuppen, wo der große Getreideumschlag des Nordens abgewickelt wird.
»Das ist Teufelswerk!« sagte der Lama; er schauderte zurück vor der hohl widerhallenden Dunkelheit, dem Glitzern der Schienen zwischen den gemauerten Bahnsteigen und dem Balkenlabyrinth in der Höhe. Er stand in einer riesigen steinernen Halle, die mit Leichen in Tüchern ausgelegt schien – Passagieren der dritten Klasse, die ihre Karten am Vorabend gekauft hatten und in den Wartesälen schliefen. Für Orientalen sind alle vierundzwanzig Stunden gleich, und entsprechend ist ihr Passagierverkehr geregelt.
»Da kommen die Feuerwagen her. Ein Mann steht hinter dem Loch da« – Kim deutete auf den Fahrkartenschalter –, »und der gibt dir ein Papier, das dich nach Ambala bringt.«
»Aber wir wollen nach Benares«, erwiderte der Lama verdrossen.
»Das ist eins. Von mir aus Benares. Schnell: Er kommt!«
»Nimm du die Börse.«
Der Lama war mit Zügen doch nicht so vertraut, wie er behauptet hatte, und er schrak zurück, als der nach Süden gehende Frühzug, der 3:25, hereingebraust kam. In die Schläfer fuhr Leben, und die Station füllte sich mit Lärm und Gebrüll, den Rufen der Wasser- und Kuchenverkäufer, Schreien eingeborener Polizisten und schrillem Gellen von Frauen, die ihre Körbe, Familien und Männer zusammensuchten.
»Das ist der Zug – nur der te-rain. Er geht schon nicht auf uns los. Warte!« Verblüfft über die ungeheure Einfalt des Lamas (er hatte ihm einen kleinen Beutel voll von Rupien gegeben), verlangte und bezahlte Kim eine Karte bis Ambala. Ein verschlafener Beamter grunzte und warf ihm eine Karte zur nächsten Station hin, gerade sechs Meilen entfernt.
»Nein«, sagte Kim; er musterte die Karte mit einem Grinsen. »Mit Bauern kann man so etwas machen, aber ich wohne in der Stadt Lahore. Schlau gemacht, Babu. Jetzt gib mir die Karte nach Ambala.«
Der Babu schnitt eine finstere Grimasse und legte die richtige Fahrkarte hin.
»Jetzt noch eine nach Amritsar«, sagte Kim, der keineswegs die Absicht hatte, Mahbub Alis Geld auf etwas so Unwichtiges wie eine Fahrkarte nach Ambala zu verschwenden. »Das kostet soundsoviel. Und soviel bekomme ich wieder raus. Ich kenne mich mit dem te-rain aus … Niemals hat ein yogi so sehr einen chela gebraucht wie du«, fuhr er fröhlich fort, an den verwirrten Lama gewandt. »Wenn ich nicht wäre, hätten sie dich in Mian Mir aus dem Zug geworfen. Hier entlang! Komm!« Er gab ihm das Geld zurück und behielt nur einen Anna von jeder Rupie, die die Karte nach Ambala gekostet hatte, als Provision – die seit Urzeiten übliche Provision Asiens.
Angesichts der offenen Tür eines übervollen Wagens dritter Klasse scheute der Lama zurück. »Wollen wir nicht lieber wandern?« sagte er schwach.
Ein stämmiger Sikh-Handwerker streckte seinen bärtigen Kopf heraus. »Hat er Angst? Du brauchst keine Angst zu haben. Ich kann mich noch erinnern, daß ich auch mal Angst vor dem te-rain hatte. Steig ein! Das Ding hier ist Regierungswerk.«
»Ich habe keine Angst«, sagte der Lama. »Habt ihr noch Platz für zwei?«
»Nicht mal für eine Maus«, keifte die Frau eines wohlhabenden Landwirts, eines Hindu-Jat aus dem reichen Distrikt von Jalandar. Unsere Nachtzüge werden nicht so gut beaufsichtigt wie die am Tag, in denen man die Geschlechter streng getrennt in verschiedenen Wagen fahren läßt.