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LehrerInnen, die SchülerInnen mit auffälligem Verhalten inklusiv unterrichten, begegnen viele Herausforderungen: Was mache ich, wenn SchülerInnen sich selbst oder anderen schaden? Wenn SchülerInnen Arbeitsaufträge verweigern, sich in Szene setzen oder zu viel Nähe suchen? Der Autor erklärt in seinem Buch eine Vielzahl typischer Unterrichtssituationen, in denen SchülerInnen auffälliges Verhalten zeigen und sich dadurch nicht am Unterricht beteiligen können. Alle Situationen werden analysiert und aus erzieherischer und unterrichtlicher Perspektive beleuchtet. Es werden praktische Hilfestellungen gegeben, aber auch mögliche Gefahren und vermeidbare Fehler aufgezeigt.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Inklusive Grundschule konkret
Thomas Müller
Kinder mit auffälligem Verhalten unterrichten
Fundierte Praxis in der inklusiven Grundschule
2., aktualisierte Auflage Mit 6 Abbildungen
Ernst Reinhardt Verlag München
Prof. Dr. phil. habil. Thomas Müller lehrt und forscht als Akademischer Oberrat am Lehrstuhl Pädagogik bei Verhaltensstörungen an der Universität Würzburg.
Außerdem im Ernst Reinhardt Verlag erschienen:
Müller, T.: Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen (2021, ISBN 978-3-8252-5578-7)
Müller, T., Temper, A.: Pädagogisch arbeiten mit Bilderbüchern (2018, ISBN 978-3-497-02759-0)
Koch, K., Jungmann, T.: Kinder mit geistiger Behinderung unterrichten (2017, ISBN 978-3-497-02720-0)
Lüdtke U. M., Stitzinger, U.: Kinder mit sprachlichen Beeinträchtigungen unterrichten (2017, ISBN 978-3-497-02721-7)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-497-03161-0 (Print)
ISBN 978-3-497-61616-9 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61617-6 (EPUB)
2., aktualisierte Auflage
© 2022 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Printed in EU
Cover unter Verwendung eines Fotos von © iStock.com / BraunS (Agenturfoto. Mit Models gestellt.)
Satz: Sabine Ufer, Leipzig
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]
Inhalt
Vorwort
„Was mache ich, wenn …?“ – Eine Einleitung
1 Verhalten und Erleben
1.1 Verhalten und subjektiver Sinn
1.2 Verhalten und Erleben im Wandel
1.3 Auffällig oder originell?
1.4 Was ist auffällig?
1.5 Klassifikation oder Einteilung?
1.6 Erklären und Verstehen
Lernen und auffälliges Verhalten
Bindung und auffälliges Verhalten
1.7 Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten zwischen Exklusion und Inklusion
2 Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten erziehen
2.1 Was ist Erziehung?
2.2 Vertrauen und Verlässlichkeit
2.3 Ich und andere
2.4 Erziehung und Programme
3 Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten unterrichten
3.1 Strukturwissen
Räumliches
Sprachliches
Methodisches
3.2 Bindungswissen
Unterricht bei unsicher-vermeidend-desorganisierter Bindung
Unterricht bei unsicher-ambivalent-desorganisierter Bindung
3.3 Besondere Konzepte und Methoden?
Formen kooperativen Lernens
Lernen mit Lernleitern
4 Situationen aus der Praxis
4.1 Situationen der Übersteigerung
Schüler, die sich selbst schaden
Schüler, die anderen schaden
Schüler, die sich in Szene setzen
Schüler, die sich einmischen
Schüler, die zu viel Nähe suchen
Schüler, die andere manipulieren
Schüler, die sich ungerecht behandelt fühlen
Schüler, die Strafe für sich provozieren
Schüler, die andere bestehlen
4.2 Situationen der Verweigerung
Schüler, die Arbeitsaufträge verweigern
Schüler, die den Raum nicht verlassen
Schüler, die weglaufen
Schüler, die nichts herausgeben
Schüler, die sich nicht helfen lassen
Schüler, die nicht sprechen
Schüler, die nicht zur Schule kommen
Schüler, die Lob nicht aushalten
5 „Was mache ich, wenn …?“ – Ein Ausblick
Literatur
Sachregister
Hinweise zur Verwendung der Icons
Achtung!
Beispiel
Definition
Literatur- und Websiteempfehlung
Methode / Übung / Spiel
Tipp
Vorwort
Gut zehn Jahre war ich an einer bayerischen Schule zur Erziehungshilfe tätig, bevor ich an den Lehrstuhl Pädagogik bei Verhaltensstörungen der Universität Würzburg wechselte. Meine Schüler habe ich dabei nicht vergessen. Ganz im Gegenteil: Sie begleiten mich durch Vorlesungen und Seminare, und tragen mit ihren Lebensgeschichten dazu bei, dass Studenten für ihre berufliche Zukunft lernen können.
Als Hochschullehrer halte ich viele Fortbildungen für Kolleginnen und Kollegen aller Schularten und versuche dazu beizutragen, dass es ihnen gelingt, ihren „auffälligen“ Kindern nach Möglichkeit gerecht zu werden, Unterricht zu gestalten, und nicht nur irgendwie „rumzubringen“, Schüler zu bestrafen oder permanent aus dem Klassenzimmer zu verbannen.
Ein Buch wie das vorliegende zu verfassen, ist daher eine logische Konsequenz aus meiner bisherigen Arbeit. Verhalten und Erleben von Kindern, die sich selbst oft weder verstehen noch verständlich machen können, in dem verstehbarer zu machen, was sie beschäftigt und belastet, halte ich für eine wichtige Aufgabe. Das Ziel ist dabei, die Handlungsfähigkeit aller – der Schüler genauso wie der Lehrkräfte – zu vergrößern, statt Ohnmachtsempfinden und Gefühle des Ausgeliefertseins auszuweiten.
Dazu gehören natürlich auch konkrete Beispiele und praktische Hinweise. Was sich in Fortbildungen auf die persönlichen Anliegen von Lehrkräften „maßschneidern“ lässt, gerät in einem Buch, das konkrete Handlungsmöglichkeiten für die Erziehung und den Unterricht von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten aufzeigen will, in Gefahr, pauschal und wenig hilfreich zu wirken. Schnell können sich beim Lesen Sätze aufdrängen, wie: „Ja, aber bei mir in der Klasse …“ oder „Ja, aber was mache ich, wenn …?“
Hinzu kommt: Als Wissenschaftler stehe ich besonders all den Büchern skeptisch gegenüber, die sich rühmen, mit einer Vielzahl an Tipps und Tricks Erziehung – sei es familiäre oder institutionelle – sowie Unterricht erfolgreich werden zu lassen. Meist sind diese Ratgeber aus reiner Erfahrung heraus geschrieben, pseudowissenschaftlich aufgeblasen und entbehren einer theoretischen Grundlage. Oder aber die Grundlagen sind „nur“ medizinischer, psychologischer oder neurobiologischer Natur, nicht aber pädagogisch fundiert.
Umgekehrt enthalten wissenschaftliche Bücher bisweilen deutlich zu wenig Hinweise für mögliche Konsequenzen in der pädagogischen Praxis. Dies ist auch nicht zwingend Aufgabe von Wissenschaft, aber die Sonderpädagogik versteht sich als angewandte Wissenschaft, die die Praxis auf Grundlage theoretischer Erkenntnisse reflektieren und weiterentwickeln will.
Darüber hinaus sind mir die Anliegen und Fragen der Lehrkräfte, die „anders“ handeln wollen und sich mühen, für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten jeden Tag aufs Neue Unterricht zu gestalten, zu wichtig, um sie unter der Skepsis des Wissenschaftlers zu begraben.
Daher baut dieses Buch zum einen auf ausgewählten theoretischen Grundlagen der Pädagogik bei Verhaltensstörungen und ihren Nachbardisziplinen auf. Zum anderen bemüht es sich darum, diese Grundlagen ins Praxisfeld Grundschule zu übertragen und Hinweise und Lösungsversuche für den Unterricht mit Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten vorzuschlagen.
Thomas Müller, Würzburg 2022
„Was mache ich, wenn …?“ – Eine Einleitung
Spricht man mit Lehrkräften über Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, so kann man bisweilen den Eindruck gewinnen, es werde immer „schlimmer“. Es scheint ein unbestimmtes Gefühl zu geben, dass Kinder zunehmend auffälliger sind und ihre Zahl wächst. Zumindest die Negativqualität der Auffälligkeiten scheint zugenommen zu haben und belastet Lehrkräfte und andere Kinder erheblich – und dies insbesondere vor den Herausforderungen, die ein inklusives Schulsystem mit sich bringt. Doch wie ist es tatsächlich? Ist die Zahl der Kinder mit auffälligen Verhaltensweisen wirklich angestiegen?
ZunahmeauffälligenVerhaltens?
Diese Frage lässt sich weder eindeutig mit „Ja“ noch mit „Nein“ beantworten. Große Metaanalysen, wie beispielsweise von Ihle und Esser (2002; 2008), aber auch die KiGGS-Studie (Hölling et al. 2008; Klipker et al. 2018) zeigen, dass sich die Zahlen seit den 2010er Jahren nicht wesentlich verändert haben – zumindest dann nicht, wenn man auf Kinder schaut, die psychisch erkranken. Im Großen und Ganzen erkranken etwa knapp 20 % aller Kinder zwischen drei und 17 Jahren an einer psychischen Störung. Nur etwa 10 % „nehmen“ diese Erkrankung „mit“ ins Erwachsenenleben. Auffällig dabei ist: Nicht ADHS, aggressive Verhaltensweisen oder Gewaltbereitschaft führen die Liste der Erkrankungen an, sondern Angststörungen. Diese zeigen sich jedoch nicht immer in Form zurückgezogenen, ängstlichen oder zu schüchternen Verhaltens, sondern werden sicher auch durch aggressives Verhalten zu bewältigen versucht. Daraus lässt sich eine erste wichtige Erkenntnis für die pädagogische Praxis gewinnen: Das, was man an auffälligem Verhalten beobachten kann, ist nicht immer das, wonach es aussieht. Mit den Belastungen der Corona-Pandemie steigen die Zahlen psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher im Jahr 2022 jedoch deutlich an.
Angststörungen am häufigsten
Doch nicht jede psychische Erkrankung äußert sich auch in auffälligen Verhaltensweisen; ebenso wie nicht jede Verhaltensauffälligkeit unmittelbar mit einer psychiatrischen Diagnose in Beziehung gebracht werden kann. Verfolgt man die Statistiken der Kultusministerkonferenz zur Beschulung von Kindern mit emotional-sozialem Förderbedarf in allgemeinbildenden Schulen, so wird deutlich, dass sich ihr Anteil seit 2008 verdreifacht (KMK 2019a) hat.
starke Zunahme emotional-sozialen Förderbedarfs
Dies scheint auf den ersten Blick in direktem Widerspruch zu den hier genannten Metaanalysen zu stehen. Oder ist der Zuwachs mit einer erfolgreichen inklusiven Beschulung dieser Kinder zu erklären?
Dem ist nicht so, denn auch die Zahl der Kinder, die eine Schule mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung besuchen, hat sich im gleichen Zeitraum fast verdoppelt (KMK 2019b) – und das, obwohl etliche Bundesländer gerade diese Schulen im Zuge der Realisierung eines inklusiven Schulsystems abgeschafft oder ihre Zahl deutlich reduziert haben.
Es mögen verschiedene Aspekte sein, die dazu führen, dass einerseits die Zahl der Kinder, die psychisch erkranken, nicht ansteigt, und andererseits die Zahl der Kinder, die als auffällig gelten und denen man einen emotional-sozialen Förderbedarf attestiert, in die Höhe schießt. Sicherlich tragen gesamtgesellschaftliche und politische Entwicklungen erheblich dazu bei. Die Soziologie belegt seit Beginn des 21. Jahrhunderts eindrucksvoll, wie sehr sich westliche Gesellschaften zunehmend exkludierend (Bude / Willisch 2006) entwickeln und wie sie von Sozialstaaten zu Versorgungsstaaten werden, deren Motivation für sozialstaatliche Transferleistungen auf Sicherheitsüberlegungen fußt, nicht aber auf echter Solidarität gründet.
immer mehr Exklusionserfahrungen
Die Zahl der Menschen, die weder gebraucht noch gefragt sind, steigt und damit auch die Gefahr des persönlichen und sozialen Scheiterns (Bauman 2005; Bude 2008). Hinzu kommen globale politische Entwicklungen, in denen Nationalismus und nationalstaatliche Identität eine wachsende Bedeutung bekommen. Damit verändert sich auch die Sicht von Teilen einer Gesellschaft darauf, was (noch) normal ist und was (schon) als auffällig gilt, wer dazugehört und wer nicht, wer passt und wer stört. Dies lässt sich für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten auch an zunehmenden Punitivitätstendenzen ausmachen () sowie an der steigenden Zahl an Plätzen in geschlossenen Unterbringungen, im Jugendstrafvollzug und in forensischen Abteilungen. Zugespitzt formuliert: Wo die Inklusion mit diesen Kindern nicht funktioniert, dort drohen sie, in einer Inklusion der anderen Art, in Institutionen mit Einschluss (lat.: in-cludere) zu verschwinden. Pädagogisch und vor allem mit Blick auf Unterricht, Erziehung und Bildung ist das sehr bedenklich.
zunehmendePsychiatrisierung
Tendenzen eines immer rigideren Normalitätsverständnisses scheinen sich aber auch in der Psychiatrie selbst zu finden. Frances (2014) belegt eindrucksvoll, wie normale, wenn auch erzieherisch herausfordernde kindliche Entwicklungsphasen, wie beispielsweise die Trotzphase und damit verbundene Wutanfälle, umgedeutet werden zu manifesten psychischen Störungen. Diese Entwicklungen stoßen auf die erheblichen Belastungen, denen Lehrkräfte in der Umsetzung eines inklusiven Unterrichts ausgesetzt sind. Die fachlich-sonderpädagogische Unterstützung, die sie erfahren, ist meist deutlich zu gering, und die Herausforderungen, vor denen sie stehen, wenn es darum geht, Kindern ohne Förderbedarf und Kindern mit höchst unterschiedlichen Förderbedarfen innerhalb einer Klasse gerecht zu werden, sind schier nicht zu bewältigen. Da erscheint es nachvollziehbar, wenn bisweilen dankbar nach der einen oder anderen psychiatrischen Diagnose gegriffen wird. Diese verspricht Eindeutigkeit und vor allem Entlastung, denn zuständig ist dann die Psychiatrie und nicht die Schule.
Hinzu kommt, dass das allgemeinbildende Schulsystem seine Lehrkräfte in ein Spagat zwingt, das nicht auszuhalten ist: Während im Zuge eines inklusiven Unterrichts möglichst individuell und mit Hilfe von Förderplänen auf jedes einzelne Kind eingegangen werden soll, nehmen Technologisierung und Standardisierung zu.
Schule zwischen Individualisierung und Standardisierung
Individueller Förderplan hin oder her: Am Ende schreiben alle Schüler zur gleichen Zeit die gleichen Leistungsnachweise und Vergleichsarbeiten und haben sich Kompetenzrastern zu fügen. Dem Lernen im individuellen Ungleichschritt lässt sich nicht durch ein Leistungs- und Prüfungsverständnis begegnen, das auf Gleichschritt angelegt ist. Dieser Widerspruch wird besonders in der überaus leistungsorientierten Grundschule offensichtlich. Sicherlich läuft ein solches Schulsystem auch Gefahr, darüber erhebliche Verhaltensstörungen mit zu erzeugen.
Natürlich sind gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen nicht pädagogisch oder durch die Schule alleine zu lösen, auch wenn gerade die Schule seit Ende des 20. Jahrhunderts mit mehr und mehr Erwartungen diesbezüglich konfrontiert wird. Aber: Gesellschaftliche Probleme bedingen die pädagogische Praxis durchaus mit und bilden sich in dieser ab – und dies nicht unbedingt zum Vorteil von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Die Frage „Was mache ich, wenn …?“ schwebt über alldem, und sie ist nicht einfach zu beantworten, wenn auch höchst verständlich ist, dass sie mehr denn je aufgeworfen wird.
Entscheidend ist wohl, dass gerade im Zusammenhang mit Verhaltensauffälligkeiten der Blick nicht ausschließlich darauf gerichtet wird, Defizitäres, Störendes, Auffallendes oder Unangepasstes beseitigen zu wollen. Das verkürzte Pädagogik auf ein pures Reaktionshandeln. Der Blick ist vielmehr immer wieder neu darauf zu richten, was das Kind sein könnte und wie es dabei begleitet werden kann. Dadurch realisiert sich im Ergebnis Bildung.
Im Folgenden wird eine theoretische Grundlage zur möglichen Beantwortung geschaffen: Wichtig erscheint dafür zu klären, mit wem man es zu tun hat, wenn man von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten spricht, und zu klären, wie man über diese Schüler sprechen kann (Kap. 1). Auf dieser Grundlage lassen sich dann Überlegungen für Erziehung (Kap. 2) und Unterricht (Kap. 3) anstellen sowie infolge dessen an konkreten Unterrichtssituationen (Kap. 4) beispielhaft Antwortversuche erarbeiten.
Auf den Punkt gebracht!
−Die Zahl der Kinder mit psychischen Erkrankungen war über Jahre gleichbleibend hoch, steigt mit den Belastungen der Corona-Pandemie jedoch deutlich an.
−Die Zahl der Kinder mit emotional-sozialem Förderbedarf ist immens gestiegen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber nicht eindeutig klärbar.
−Auffälliges Verhalten ist nicht immer das, wonach es aussieht.
−Die Belastungen für Lehrkräfte, die sich aus Individualisierung einerseits und Standardisierung andererseits ergeben, sind erheblich und stehen als Anforderung oft im Widerspruch zueinander.
Bude, H. (2008): Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
Frances, A. (2014): Normal! Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Dumont Buchverlag, Köln
Labor Ateliergemeinschaft (2017): Ich so du so: Alles super normal. Beltz, Weinheim
1Verhalten und Erleben
1.1Verhalten und subjektiver Sinn
Alle Menschen verhalten sich und können sich nicht nicht verhalten. Verhalten dient der biologischen und psychischen Selbsterhaltung. Mit ihm lassen sich Vorstellungen und Wünsche, Erwartungen und Ansprüche zum Ausdruck bringen. Man teilt darüber aber auch mit, ob man mit etwas einverstanden ist, sich wohl fühlt oder ob man Missbefinden einem Sachverhalt gegenüber verspürt. Es dient zur Information, zur Kontaktaufnahme und verhilft dazu, das innere Erleben zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus helfen spezifische Verhaltensweisen in schwierigen Situationen des Lebens. Sie wurden erlernt oder eingeübt und können damit entlasten, wenn es notwendig ist.
VerhaltenbestimmtVerhältnisse
Jedes Verhalten ist also Ausdruck eines Verhältnisses zu anderen Menschen, Gegenständen und Situationen. Das Verhalten anderer Menschen wirkt höchst unterschiedlich: nachvollziehbar und verständlich, aber auch auffällig und störend. Durch das eigene Verhalten und das des Gegenübers bestimmen sich also Verhältnisse zueinander.
Die Erfahrungen, die man im Laufe seines Lebens mit verschiedenen Verhaltensweisen macht, führen dazu, dass man sich nach und nach Strategien zulegt: Man lernt, dass in bestimmten Situationen eine Verhaltensweise sinnvoller oder hilfreicher war, während eine andere zu Schwierigkeiten und Konflikten führte. Geht alles gut, entsteht so etwas wie ein „Pool“ an wirksamen, zielführenden Verhaltensweisen, die dazu beitragen, Identität mit auszubilden und das Selbstwertempfinden zu steigern. Solche Verhaltensweisen halten die Menschen und ihre Umwelt im wahrsten Wortsinne zusammen. Dass nicht immer alles gut geht und dass nicht jeder „Pool“ von Verhaltensweisen einen Gewinn darstellt, machen Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten im Unterricht deutlich.
Werte und Normen bestimmen Verhalten – aber auch umgekehrt
Wie man sich verhält, ist jedoch nicht nur von einem selbst, von anderen Menschen oder Situationen abhängig. Verhalten wird auch von eher objektiven Momenten mitbestimmt und entsteht aus den Wertvorstellungen, die in einer Gesellschaft weitestgehend konsensfähig sind und die in Normen, Geboten, Grundsätzen und Regeln ihren Ausdruck finden. In spezifischen Situationen tauchen diese Normen und Werte in Form von Einstellungen und Haltungen, Überzeugungen oder Gewissheiten auf und bestimmen so mit, wie man sich im Speziellen verhält. Das bedeutet aber nicht, mit den eigenen Verhaltensweisen Werten und Normen ausgeliefert zu sein, denn umgekehrt bestehen Werte und Normen nicht für sich allein, sondern sie sind Ausdruck menschlicher Erfahrungen im Verhalten anderen gegenüber und sie verändern sich mit und durch Menschen und die Lebensverhältnisse, die sie schaffen.
Wenn man sich bewusst ist, dass man nicht anders kann, als sich ständig zu verhalten und zusätzlich bedenkt, wozu Verhaltensweisen dienen, dann lässt sich festhalten:
1.Jedes Verhalten drückt ein Verhältnis zu einem Gegenüber aus.
2.Jedes Verhalten ist daher subjektiv sinnvoll.
jedes Verhalten ist subjektiv sinnvoll
Dass jedes Verhalten subjektiv sinnvoll ist, mag nach den bisherigen Überlegungen logisch klingen. Denkt man aber an Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, so kann dieser Satz gewaltigen Sprengstoff in sich bergen und Widerspruch auslösen, vor allem, wenn man an Verhaltensweisen denkt, durch die jemand sich oder anderen Schaden zufügt. Andererseits wird sich in Kapitel 4 noch zeigen, wie hilfreich das Wissen um diesen Satz sein kann, wenn es darum geht, Unterricht für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten nachhaltig zu gestalten (Kap. 4).
Besonders das Verhalten auffälliger Kinder, mit denen es Lehrkräfte im Unterricht zu tun haben, ist oft genug kaum nachvollziehbar, wirkt befremdlich und bisweilen geradezu rätselhaft. Verhalten kann also auch so etwas wie eine geheime Botschaft sein, die es zu entschlüsseln gilt.
Verhalten – eine Botschaft
Sieht man menschliches Verhalten als eine Botschaft an, dann lassen sich diese Botschaften unterschiedlich lesen, verstehen oder auffassen. Man kann sie unterschiedlich beantworten oder auch auf eine Antwort verzichten und sie ignorieren. Immer wieder passiert es aber auch, dass man Verhaltensbotschaften falsch versteht oder nicht richtig auffasst. Es kommt etwas an, das so nicht gemeint oder gewollt war und daher zu Streit und Konflikten führt – privat und im alltäglichen Leben genauso wie in der Schule, wo man es in einer Klasse permanent mit sehr vielen Botschaften zu tun hat, die gleichzeitig ankommen und „richtig“ entschlüsselt werden wollen. Besonders betroffen sind
„Kinder mit massiven Verhaltensstörungen, die wiederholt […] erleben müssen, dass sie sich als Person nicht verdeutlichen können. Das, was sie anderen mitteilen möchten, kommt nicht an. Ihre Botschaften laufen ins Leere: Aus unterschiedlichen Gründen, unter anderem deshalb, weil ihre inneren Notwendigkeiten keine andere Lösung zulassen. Sie bleiben unverstanden, weil sie sich selbst nicht verstehen, sind in sich selbst verfangen und verstricken andere gleichermaßen“ (Ahrbeck 2011, 61).
Diese Erfahrungen deuten darauf hin, dass es im Umgang mit diesen Kindern nicht nur um deren beobachtbare Verhaltensweisen gehen kann, sondern dass für ein „richtiges“ Auffassen von Verhaltensbotschaften stets zu berücksichtigen ist, dass Verhalten und Erleben in einem unauflösbaren Zusammenhang stehen.
Verhalten und Erleben
Setzt man sich mit schwierigem, auffälligem oder störendem Verhalten in der Schule auseinander, dann bemüht man sich in einem ersten Impuls meist, herauszufinden, warum sich ein Kind so auffallend verhält (z. B.: Warum verhält sich dieser Schüler so, obwohl er sich damit schadet? Warum verhält sich jene Schülerin so, obwohl ich ihr schon so oft gesagt habe, dass dies so nicht geht?).
die Frage nach dem Warum