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Examensarbeit aus dem Jahr 2005 im Fachbereich Didaktik für das Fach Deutsch - Pädagogik, Sprachwissenschaft, Note: 1,5, Universität Bremen, Sprache: Deutsch, Abstract: Um 1900 tauchte in der Kinderliteratur ein bis dahin vollkommen außer Acht gelassenes Motiv auf. Die moderne Großstadt, die neuerdings den Alltag vieler Kinder prägte, fand sich nun auch in vielen zeitgenössischen Erzählungen für Kinder wieder. Bis zum Jahre 1933 erschienen zahlreiche solcher Werke. Viele wurden lediglich in geringer Auflage publiziert, nicht öffentlich rezensiert oder erschienen als Fortsetzungsgeschichten in Zeitschriften. Sie wurden in solch beträchtlicher Anzahl auf den Markt gebracht, dass sie heute als Gesamtheit kaum zu erfassen sind. Sie spielten jedoch in der damaligen Kinderliteratur, vor allem zur Zeit der Weimarer Republik, eine Hauptrolle. Diese Arbeit wird sich also mit den Großstadterzählungen der Weimarer Republik beschäftigen und dabei folgende Fragen aufwerfen: Wieso entwickelte sich ausgerechnet der Schauplatz Großstadt als so prägnantes Motiv in der Kinderliteratur? Wie kam es, dass diese Großstadterzählungen, im Gegensatz zu anderer Kinderliteratur früherer Zeit, heute kaum mehr - mit Ausnahme von Erich Kästners „Emil und die Detektive“ - in den kindlichen Bücherregalen zu finden sind? Und wieso verschwand eben jenes Motiv mit dem Ende der Weimarer Republik ebenso schnell wieder aus den Kinderbüchern? Aufgabe wird es hier also sein, die Großstadterzählung in der Kinderliteratur als ein Phänomen ihrer Zeit zu erklären. Dafür wird in einem ersten Schritt die Neue Sachlichkeit als diesbezüglich bedeutende zeitgenössische Strömung näher betrachtet und beschrieben werden. Die Entwicklung der Kinderliteratur hin zur modernen Großstadterzählung soll anschließend thematisiert werden. Besondere Beachtung wird dabei die Jugendschriftenbewegung um Heinrich Wolgast finden, da sie als die einflussreichste Bewegung hinsichtlich einer sich neu herauskristallisierenden Kinderliteratur gesehen werden muss. Darüber hinaus werden zeitgenössiche politische, (reform-)pädagogische und soziale Aspekte herangezogen. Abschließend werden drei solcher Bücher (Carl Dantz: Peter Stoll; Wolf Durian: Kai aus der Kiste; Erich Kästner: Emil und die Detektive) detailiert untersucht und verglichen.
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Vorwort
Um die formale Richtigkeit dieser Arbeit zu wahren, habe ich mich zu diesem Vorwort entschlossen. Veranlasst wurde ich dazu aus zwei Gründen:
Der Titel meiner Arbeit lautet „Kinderbücher der Neuen Sachlichkeit im Horizont von Kindheit heute“. Der Titel entspricht durchaus auch dem Inhalt dieser Arbeit, da einzelne Kinderbücher dieser literarischen Strömung unter anderem auch darauf untersucht werden, aus welchem Grund sie heute nicht mehr oder aber immer noch aktuell und erfolgreich sind. Eine solche Untersuchung beinhaltet selbstverständlich die heutige Kindheit, einschließlich gegenwärtiger Kindheitsbilder, Moralvorstellungen, Alltagsrealitäten und vieler weiterer Gesichtspunkte. Unter anderem solche Aspekte sind mit der Wortgruppe „im Horizont von Kindheit heute“ gemeint.
Nachdem der Titel dieser Arbeit bereits feststand und ich mich immer weiter in die Thematik zu vertiefen begann, musste ich jedoch feststellen, dass sich eine sinnvolle Betrachtung dieser Bücher aus und unter dem Blickwinkel gegenwärtiger Kindheit nicht losgelöst von der Kindheitsrealität zu Zeiten der Buchveröffentlichungen bewerkstelligen lässt. Zwar war die Berücksichtigung dieser Thematik von mir stets vorgesehen, doch mit der Zeit wurde mir immer bewusster, welch großen Rahmen sie einnehmen werden muss. Die Gründe für das Entstehen jener außergewöhnlichen Kinderliteratur sind von so großem Umfang und zudem eine Verknüpfung verschiedenster gesellschaftlicher, pädagogischer, politischer und literarischer Bedingungen, dass sie von mir nicht in der zunächst angedacht knappen Form zur Ausführung gebracht werden konnten. Ich denke diesbezüglich, dass eine ausführliche Erklärung der Entstehungsgeschichte jener Bücher für die Einordnung in die heutige Zeit unbedingt notwendig ist. Der Umfang dieser Erklärung nimmt daher einen größeren Teil der Arbeit ein, als der zur heutigen Zeit vorgenommene Bezug. Dennoch ist der Titel der Arbeit ihrer Thematik und ihrem Inhalt immer noch angemessen. Es sollte dem Leser an dieser Stelle nur erklärt werden, weshalb der Teilaspekt „ (…) im Horizont von Kindheit heute“ nicht so ausführliche Beachtung findet, wie es der Titel zunächst vermuten lässt.
Des Weitern möchte ich dieses Vorwort nutzen, um darauf hinzuweisen, dass in der vorliegenden Arbeit bei der Bezeichnung verschiedener Personengruppen jeweils ausschließlich das männliche Geschlecht genannt wird. Gemeint sind natürlich immer sowohl die männlichen, wie auch die weiblichen Vertreter jeglicher Personengruppen. Der
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Verzicht auf die weibliche Form soll lediglich einen angenehmen Lesefluss gewährleisten und überflüssige grammatikalische Verkomplizierungen vermeiden.
Um 1900 tauchte in der Kinderliteratur ein bis dahin vollkommen außer Acht gelassenes Motiv auf. Die moderne Großstadt, die neuerdings den Alltag vieler Kinder prägte, fand sich nun auch in vielen zeitgenössischen Erzählungen für Kinder wieder. Bis zum Jahre 1933 erschienen zahlreiche solcher Werke. Viele wurden lediglich in geringer Auflage publiziert, nicht öffentlich rezensiert oder erschienen als Fortsetzungsgeschichten in Zeitschriften. Sie wurden in solch beträchtlicher Anzahl auf den Markt gebracht, dass sie heute als Gesamtheit kaum zu erfassen sind. Sie spielten jedoch in der damaligen Kinderliteratur, vor allem zur Zeit der Weimarer Republik, eine Hauptrolle.
Diese Arbeit wird sich also mit den Großstadterzählungen der Weimarer Republik beschäftigen und dabei folgende Fragen aufwerfen:
•Wieso entwickelte sich ausgerechnet der Schauplatz Großstadt als so prägnantes Motiv in der Kinderliteratur?
•Wie kam es, dass diese Großstadterzählungen, im Gegensatz zu anderer Kinderliteratur früherer Zeit, heute kaum mehr - mit Ausnahme von Erich Kästners „Emil und die Detektive“ - in den kindlichen Bücherregalen zu finden sind?•Und wieso verschwand eben jenes Motiv mit dem Ende der Weimarer Republik ebenso schnell wieder aus den Kinderbüchern?
Diese Fragen zu klären, wird Aufgabe meiner Arbeit sein. Will man solche literarischen oder in diesem Fall kinderliterarischen Fragestellungen erörtern, kommt man jedoch nicht umhin, sie im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Die Zeit der ersten deutschen Republik war in vielerlei Hinsicht sehr pluralistisch geprägt: So wird heute einerseits von den „Goldenen Zwanzigern“ gesprochen, während in eben jenen zwanziger Jahren die Inflation und die Weltwirtschaftskrise der Bevölkerung erhebliche Bürden auflastete. So spricht man zum einen von der „Moderne“ und von „Modernisierung“, zum anderen breitete sich das Proletariat immer weiter aus, die Verarmung der unteren
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Schichten konnte nicht aufgehalten werden und verschlimmerte sich durch die Folgen des Ersten Weltkrieges sogar. Es war eine Zeit in der die gesamte Bevölkerung, politisch wie gesellschaftlich, neue Erfahrungen sammelte. Sie ist geprägt von unterschiedlichsten Bewegungen, ob auf politischer, kultureller oder pädagogischer Ebene. Diese Vielschichtigkeit spiegelt sich letztlich auch in der Kinder- und Jugendliteratur wider. So wird die weitere Arbeit zeigen, dass auch die Großstadterzählungen keineswegs als homogenes Genre gesehen werden können. Darüber hinaus existierten in dieser Zeit neben den Großstadterzählungen auch zahlreiche andere Arten von Kinderliteratur. Die Weimarer Republik kann somit auf verschiedenen Ebenen als Sammelbecken unterschiedlichster Strömungen betrachtet werden. Eine dieser Strömungen wird als „Neue Sachlichkeit“ bezeichnet. Welchen Einfluss sie auf eben jene Kinderliteratur hatte, wird in dieser Arbeit ebenfalls Beachtung finden.
Aufgabe wird es hier also sein, die Großstadterzählung in der Kinderliteratur als ein Phänomen ihrer Zeit zu erklären. Dafür wird in einem ersten Schritt die Neue Sachlichkeit näher betrachtet und beschrieben werden. Die Entwicklung der Kinderliteratur hin zur modernen Großstadterzählung soll anschließend thematisiert werden. Besondere Beachtung wird dabei die Jugendschriftenbewegung um Heinrich Wolgast finden, da sie als die einflussreichste Bewegung hinsichtlich einer sich neu herauskristallisierenden Kinderliteratur gesehen werden muss.
Doch das Phänomen der neusachlichen Großstadterzählungen allein auf die literarische Ebene zu reduzieren, würde zu kurz greifen. Es kann nur im Zusammenhang mit einer sich verändernden und insbesondere einer durch zunehmende Urbanisierung geprägten Gesellschaft gesehen werden. Kindheit veränderte sich zu dieser Zeit stark. Seit der Jahrhundertwende bildete sich zudem eine reformpädagogische Bewegung, welche in den zwanziger Jahren zunehmend an Einfluss und Bedeutung gewann. Es entstand ein neues Kindheitsbild, welches sich auch in den Großstadterzählungen widerspiegelt. Dementsprechend wird sich der weitere Teil der Arbeit mit dem neuen Kindheitsalltag, geprägt unter anderem durch die zunehmende Urbanisierung sowie dem sich neu herausbildenden Kindheitsbild beschäftigen.
Anschließend werden exemplarisch drei Kinderbücher, in welchen sich die Großstadt als Handlungsort darbietet und welche unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit entstanden, näher untersucht werden. Die Werke werden dabei jeweils inhaltlich vorgestellt. Darauf folgend werden ideologische und thematische Aspekte geklärt werden, so dass später eine Einordnung in ihre Zeit und die Klärung der Fragestellungen dieser Arbeit möglich sind.
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Insofern stellt diese Arbeit keine rein kinderliterarische Untersuchung dar. Vielmehr werden die Fragen im Zusammenspiel verschiedener Teildisziplinen bearbeitet. Der historische Hintergrund spielt dabei eine wichtige Rolle, weil geklärt werden wird, dass nur die Zeit nach der Jahrhundertwende, insbesondere die Zeit der Weimarer Republik, das Fundament für diese spezielle Kinderliteratur bieten konnte. Auch soziologische und sozialwissenschaftliche Aspekte werden ihren Platz finden, da meines Erachtens der Kinderalltag jener Tage ebenfalls eine fundamentale Rolle bei der Entstehung der Großstadterzählungen spielte. Schließlich werden auch die reformpädagogischen Bewegungen Erwähnung finden und somit einen pädagogischen Aspekt in diese Arbeit tragen. Das Zusammenspiel all dieser Disziplinen soll schließlich die Großstadterzählung als Phänomen der zwanziger und dreißiger Jahre erklären.
2. Die Neue Sachlichkeit
„Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere
Umwelt, nichts phantasievoller als die Sachlichkeit“1
Was genau ist die Neue Sachlichkeit und was sind ihre entscheidenden Merkmale? Diese Frage eindeutig zu beantworten, fällt schwer. Zwar haben schon viele Autoren, Literaturwissenschaftler etc. sich daran versucht, doch kommen sie vielfach zu unterschiedlichen Ergebnissen und Erkenntnissen.
Als unumstrittenes Faktum kann die Tatsache genannt werden, dass der Begriff von der Malerei auf die Literatur übertragen wurde. Zum ersten Mal tauchte er im Jahre 1900 in Verbindung mit einer neuen und funktionalistisch ausgerichteten Architektur auf.2Als Terminus einer Epoche wurde der Begriff jedoch nicht in der Architektur, sondern in der Malerei der zwanziger Jahre geläufig. 1923 plante Gustav Friedrich Hartlaub, seinerzeit Direktor der Mannheimer Kunsthalle, eine Ausstellung mit dem Titel „Die Neue Sachlichkeit“3, welche 1925 auch unter eben diesem Titel eröffnet wurde4. Dieser Begriff wurde prägend für eine neue Stilrichtung in der Malerei, die sich in erster Linie durch eine betont starke Abgrenzung zum Expressionismus auszeichnete. Gegenstand der Kunstwerke
1Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter, 1925, in: Becker, 1997, Bd. 2, S.163
2vgl. Schmied, 1977, S.162
3vgl. Becker, Sabina: Neue Sachlichkeit im Roman, in: Becker / Weiß, 1995, S.14
4vgl. Paucker, 1974, S.13
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