Kinderhaben - Heide Lutosch - E-Book

Kinderhaben E-Book

Heide Lutosch

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Beschreibung

Müttertreffen und Spielplatz, WG und ICE sind die Orte, an denen sich genaue Beobachtungen wie Puzzlestücke zu einer Analyse verdichten, deren Erkenntnisgegenstand das Kinderhaben ist. In kurzen, in sich geschlossenen Abschnitten betreibt Heide Lutosch so radikal wie lustvoll und so neugierig wie treffsicher Theoriebildung, die marxistisch, feministisch und psychoanalytisch geschult ist und dabei schonungslos nah an der eigenen Erfahrung bleibt. Sie spricht aus, was nicht ansprechbar scheint: die Mühen, den Frust und das ganz individuelle Gefühl des Scheiterns an dem Vorsatz, alles anders zu machen – vor allem anders als die eigene Mutter. Wütend fragt sie, warum Feministinnen heute noch immer mit denselben Problemen kämpfen wie vor fünfzig Jahren, warum die gerechte Verteilung von Sorgearbeit nach wie vor so wenigen Paaren gelingt, und was sich gewinnen lässt, wenn wir diese vermeintlich privaten Fragen gesellschaftlich zu lösen versuchen. Denn in der scheinbaren Selbstverständlichkeit des Kinderhabens verbirgt sich ein Pulverfass, das auf eine progressive Veränderung der gesamten Gesellschaft drängt.

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Heide Lutosch

Kinderhaben

Fröhliche Wissenschaft 215

In liebevoller Freundschaft,für Mats

Inhalt

1 In dieser Welt

2 Luxusproblem

3 Selber schuld

4 Stille

5 Yvonne und ich

6 Patriarchin

7 Bloß nicht

8 Leere Räume

9 Unversorgt

10 Familienfest

11 Multibionta

12 Schmidtchen Schleicher

13 Rabenmutter

14 Oma

15 Fifty-fifty

16 Das bisschen Haushalt

17 Kreuze an

18 Bonbonladen

19 Putzteufel

20 Väter und Söhne

21 Du, Schatz?

22 Unsichtbar

23 Gefühlsgeschichte

24 Die Macht der Familie

25 Sich ändern

26 Klarstellung

27 Das Schweigen der Männer

28 Mitmutter

29 Allein

30 Schöner scheitern

31 Lassen

32 Besser

1 In dieser Welt

»Was mache ich hier eigentlich?« Hunderte Male habe ich mir diese Frage gestellt, als meine Kinder klein waren: auf Spielplätzen, in Kinderschuhläden, als Besucherin zahlloser Elternabende, Weihnachts-, Frühlings- und Sommerfeste, beim Anziehen von Schneeanzügen und Sonnenhüten, beim Tupperdoseneinpacken, beim Tupperdosenauspacken, beim Telefonieren mit den Schwiegereltern, Badeöl- und Breikaufen, Fotosmachen. Die Frage hatte nichts von analytischer Zurückgelehntheit, kein Deut von: »Es interessiert mich, unter welchen Bedingungen ich handle und was mich antreibt«, sondern eher etwas von einem comichaften Aufschrei: »Argggghh!! Was mache ich hier eigentlich?«

Ich sah mich selbst als Witzfigur: fuchtelnd, schnaufend, stolpernd und schimpfend.

Es ging mir nicht gut. Und wenn ich genau hinsah, merkte ich, dass es auch den anderen Müttern nicht gut ging. Keiner einzigen Mutter, mit der ich in all den Jahren zu tun hatte, ging es wirklich gut.

Diese Sätze so stehen zu lassen, ohne sie einzuschränken, ist für mich noch heute ein Ding der Unmöglichkeit, etwas, das ich einfach nicht schaffe. Also: Natürlich gab es schöne Momente. Natürlich mag ich meine Kinder. Meine Beziehungen zu ihnen sind so freundlich, interessant, intensiv und verbindlich wie nur ganz wenige in meinem Leben. Ich bin keine regretting mother und natürlich würde ich es noch einmal genauso machen. Noch einmal genau so machen? Ja, aber nicht in dieser Welt. Nicht unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen, nicht auf diesem Stand des Geschlechterverhältnisses.

2 Luxusproblem

Das Anstrengendste, was ich je gemacht habe, bevor ich Kinder bekam, war, tief in den Grand Canyon zu steigen, und am selben Tag wieder heraus. Ich hatte mich für sportlich gehalten, vernünftig, robust, humorvoll und durchhaltefähig. Aber zwischendurch wollte ich einfach nur sterben. Ich war umgeben von Menschen in Funktionskleidung, die das Gleiche taten wie ich, trotzdem bekam ich Einsamkeitsanfälle, schreckliche Selbstzweifel und sogar Todesangst. Ich hatte das Gefühl, ich hätte niemals hier runtergehen dürfen. Ich wunderte mich, dass ich so wenig Freude verspürte, schließlich ging es bei der Sache doch eigentlich genau darum. Ich hatte Angst, dass es dunkel werden könnte, bevor ich wieder oben war. Dabei wusste ich, dass ein Hubschrauber mich retten würde, wenn ich wirklich nicht mehr konnte. Ich verglich meine Situation mit echten Extremsituationen, Hunger, Flucht, Obdachlosigkeit, und schämte mich für meine Schwäche. Ich schleppte mich vorwärts und kam mir unglaublich lächerlich vor.

Seltsamerweise musste ich, als meine Kinder klein waren, oft an diese lange Wanderung denken. Das mochte daran liegen, dass es gewisse Gemeinsamkeiten mit meiner Lebenslage als Mutter gab, zum Beispiel die körperliche Überlastung und das Gefühl des Gehetztseins. Die wichtigsten Parallelen waren aber diese:

Ich fühlte mich

schrecklich

in einer Situation, die qua Definition schön war.

Ich schämte mich für dieses Leid und hielt mir vor Augen, wie unglaublich luxuriös meine Situation war.

Ich fühlte mich sehr allein.

Hier enden die Gemeinsamkeiten.

Was es beim Kinderhaben jedenfalls nicht gibt, ist der Hubschrauber.

3 Selber schuld

Die Schönheit des Kindergroßziehens ist eine bürgerliche Erfindung. Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein wurden beim fast durchgängig männlichen Nachdenken über die Mutterschaft die unendlichen Mühen der Kinderaufzucht betont: die Schmerzen beim Gebären, das »Auslaugen« beim Stillen, die Schlaflosigkeit, die Mühen der Krankenpflege, der Dreck, der Lärm, die Undankbarkeit der Kinder.1 Ich war dagegen schon als Schwangere einem Diskurs ausgesetzt, der penetrant die Einzigartigkeit und Schönheit des Kinderkriegens und -habens betont. Die Schwangerschaft wird zum neunmonatigen Körpererlebnis, die Geburt zum kreativen Akt, das Stillen ein Erlebnis bisher ungekannter Nähe. Und die bei allen Menschen weitgehend identisch ablaufende körperliche und kognitive Entwicklung vom Neugeborenen zum krabbelnden und brabbelnden Kleinkind wird zur großartigen Entfaltung eines einzigartigen Individuums verklärt – die nur mit absoluter Aufmerksamkeit der Mutter gelingen kann.

Auf so einen Scheiß bin ich reingefallen?

Ja, bin ich.

Der Diskurs ist zu laut, zu dominant und vor allem zu passend in einer Gesellschaft, die nicht nur das Gesellschaftliche als natürlich und unabänderlich hinstellt, sondern auch umgekehrt gewisse Natur- und Körperprozesse wie Altern, Wachstum, Tod oder Geburt gnadenlos individualisiert, indem sie sie in die Verantwortung und permanente Entscheidungspflicht des oder der Einzelnen stellt. Will sagen: Wenn ich unter der Geburt vor Angst, Kälte und Verzweiflung geschlottert habe, dann konnte ich nicht der Natur oder dem Schicksal die Schuld geben, und schon gar nicht der spöttelnden Mischung aus Bevormundung und Vernachlässigung, die den Gebärenden in vielen Kreißsälen nach wie vor entgegenschlägt. Sondern nur mir selbst, die ich mich nicht fallenlassen oder entspannen konnte, die ich mich nicht für geburtsvorbereitende Akupunktur, eine Beleghebamme, die Wanne, den Hocker, den richtigen Begleiter, das richtige Öl oder die richtige Musik entscheiden konnte oder wollte.

»Die nächste Geburt will ich besser machen«, hat mir eine Bekannte gesagt, kurz nachdem wir beide unser erstes Kind entbunden hatten. Ich habe kurz gestutzt, aber irgendwie wusste ich, was sie meinte. Dass es nämlich schön ist.

Und wenn es nicht schön ist, dann liegt es an dir.

1 Herrad Schenk, Wieviel Mutter braucht der Mensch? Der Mythos von der guten Mutter, Köln 1996, S. 25–27.

4 Stille

Das war übrigens alles, was diese Bekannte und ich einander über unsere kürzlich abgelaufenen Entbindungen zu sagen hatten. Hinter dem lauten, wortreichen und penetranten Diskurs über die Schönheit und Einzigartigkeit des Kinderbekommens und -habens steht eine Mauer des weiblichen Schweigens. Es klingt komisch, das zu sagen, aber man spricht heute nicht über Geburt. Man tut es einfach nicht. Es ist ein Tabu. Jede Magen-Darm-Grippe wird detaillierter beschrieben als eine Geburt. Man sagt: »Gut, alles gut gelaufen.« Dann ein paar Zeitangaben und medizinische Begriffe. Zehn Stunden, Blasensprung, Muttermund, Presswehen. Kein Wort über Gefühle. Kein einziges. Auch von mir nicht. Obwohl ich mir während der Geburt etwas anderes geschworen hatte. Denn in meiner Agonie kam ich mir vor wie jemand, den man jahrelang belogen hatte. Die zentrale Frage war: »Warum hat mir das keiner gesagt?«

Ist es wirklich undenkbar, dass mich jemand gewarnt hätte? Mir gesagt hätte: »Zieh dich warm an, man friert in diesen Scheiß-Kreißsälen. Keiner wird nett zu dir sein. Alle, die sich in deiner Nähe befinden, sind entweder hilflos und unsicher oder schwer beschäftigt. Zähle in diesem Fall nicht auf den Mann an deiner Seite. Du wirst vermessen und verkabelt oder zugesülzt mit esoterischem Mist. Im schlimmsten Fall beides. Beurteilt wirst du auf jeden Fall. Sei froh, wenn dein Kind heil rauskommt, und versuch das Ganze so schnell wie möglich zu vergessen.«

Und es geht weiter mit dem Schweigen, das sich häufig hinter unerträglichem Geschwätz verschanzt. Während das Kind wächst und sich bewegt und immer weiter fortbewegt, häufen sich bestimmte obligatorische Konsumgegenstände: Tragetücher, Kinderwagen, Fahrradsitze, Dreiräder, Buggys, Laufräder, Fahrräder in allen Größen und Farben, Roller, Skateboards, Roll- und Schlittschuhe. Darüber wird unter Müttern ausführlich und gern gesprochen, ein nie versiegender Schwall aus Konsumentinnengebrabbel: Das gibt es da, das gibt es hier, es kostet dies, es kostet das, wir gucken hier, wir finden da, man soll jetzt dies und soll jetzt das. Als würde jede von ihnen buchstäblich das Rad neu erfinden. Dabei könnte man eine Liste ausgeben, auf der mit zugehörigem Lebensmonat exakt das zu erwerbende Fortbewegungsmittel verzeichnet ist. Das Gleiche könnte man für Spielzeug, Essen und Hygieneartikel machen. Und dann ein für alle Mal darüber schweigen.

Aber das Schweigen heben sich Mütter für andere Bereiche auf.

5 Yvonne und ich

Was war also das Problem? Warum ging es mir und den Frauen mit kleinen Kindern um mich herum nicht gut? Weil Geburt keinen Spaß macht? Come on! Geburt hat nie Spaß gemacht, und noch vor zweihundert Jahren war das Gebären von Kindern für Frauen in unseren Breitengraden ein lebensgefährliches Unterfangen. Skandalöserweise ist das für einen Teil der weiblichen Weltbevölkerung bis heute so geblieben.2 Dabei muss ich zeitlich oder räumlich noch nicht einmal besonders weit gucken, um Frauen zu finden, die unter ungleich schwierigeren Bedingungen ihre Kinder großziehen. Eigentlich nur einen Stadtteil weiter. Ich denke oft an Yvonne, eine junge Frau, die ich, als ich selbst noch keine Kinder hatte, während eines Semesterferienjobs jeden Morgen um 6:05 Uhr mit ihren beiden noch halb schlafenden Kleinkindern an der Bushaltestelle getroffen habe. Frauen, die – anders als Yvonne – ihren Kindern halbwegs solide Winterkleidung kaufen können, sind eindeutig besser dran als solche, die auf Billigware zurückgreifen müssen. Nichtfunktionierende Reißverschlüsse, undichte Schuhe, Mützen, die nicht eng genug anliegen, sind, wenn man frühmorgens mit den Kindern auf der Straße stehen muss, um pünktlich um 7 Uhr in der Putzkolonne oder im Supermarkt anfangen zu können, echte Stolpersteine.3 Sei du mal ganz still, habe ich gedacht, wenn ich viele Jahre später – nun selbst mit Karre – eine Frau wie Yvonne in der Straßenbahn traf: Dir geht’s ja so was von gut, das ist Jammern auf hohem Niveau.

Und ich wurde ganz still. Nach außen und nach innen.

Bis mir nach langem Schweigen einfiel, dass vielleicht die Mutter aus der Putzkolonne oder dem Supermarkt, die Frau mit Kindern, die in der Pflege arbeitet, im Friseursalon oder im Nagelstudio, im Callcenter, als Kellnerin oder bei Amazon, die gleichen Probleme haben könnte wie ich. Und zusätzlich die Probleme, die aus einer Drecksarbeit, aus Zukunftsangst und miesen Winterklamotten resultieren. Dass ihr womöglich mein Leben und seine Voraussetzungen – Abitur, Studium, halbwegs guter Job – vor Augen steht als das, was alle ihre Probleme lösen würde. Und ein paar ihrer Probleme wären sicher gelöst. Ihre Zukunftsangst wäre kleiner und weniger berechtigt, vielleicht könnte sie sich alle vier Wochen eine Haushaltshilfe leisten, die den schlimmsten Dreck und das schlimmste Chaos für sie beseitigt. Sie könnte wenigstens alle zwei Jahre in Urlaub fahren und sich auf höherem Niveau von ihrer Chefin herumkommandieren lassen. Ihre Arbeitszeiten ließen sich mit den Öffnungszeiten der Kinderbetreuung leichter vereinbaren. Trotzdem mag ich ihr mein Leben als Mutter nicht wirklich ans Herz legen. Denn ein paar andere Probleme, ihre und meine, wären nicht gelöst.

2 Über 290 000 Frauen haben laut UNICEF im Jahr 2017 weltweit ihr Leben durch Komplikationen während der Schwangerschaft oder Geburt verloren, wobei die Gefahren sehr ungleich verteilt sind: Für Frauen im südlichen Afrika ist das Risiko, dass sie im Lauf ihres Lebens während der Schwangerschaft oder Geburt sterben, 1:37 – im Vergleich zu 1:6500 in Europa. »Neue Zahlen zu Kindersterblichkeit und Müttersterblichkeit«, in: unicef.de, 19.09.2019, {https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2019/neue-zahlen-kindersterblichkeit-und-muettersterblichkeit/199458}, letzter Aufruf 10.08.2022.

3 Laut Statistischem Bundesamt (2019) verfügt nahezu die Hälfte der alleinerziehenden Mütter in Deutschland über ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von unter 1700 Euro. Trotz stabiler Teilzeitbeschäftigung befinden sich 20,1 Prozent der Einelternfamilien (die überwiegend aus alleinerziehenden Frauen und ihren Kindern bestehen) in dauerhaften oder wiederkehrenden Armutslagen, weitere 41,4 Prozent erleben zumindest kurzzeitige Armutsperioden. »Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Gleichstellung und Frauen«, {https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/191219_Stellungnahme_Alleinerziehende_NRW_Landtag_NRW_09._Januar_2020_af_F.pdf}, letzter Aufruf 10.08.2022.