King Zeno - Nathaniel Rich - E-Book

King Zeno E-Book

Nathaniel Rich

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

New Orleans, nach dem Ersten Weltkrieg. Jazz, die Spanische Grippe, Rassismus, Prostitution, Mafia, dazu ein Axt-Mörder, der sein Unwesen treibt – eine Stadt wie ein Hexenkessel. Mittendrin der Ermittler Bill Bastrop, der traumatisiert aus dem Krieg in Europa zurückgekehrt ist und auf der Suche nach dem Axt-Mörder das verruchte French Quarter durchkämmt; die italienische Mafia-Patin Beatrice Vizzini, die nicht ahnt, dass sie den Mörder gut kennt, und mit allen Mitteln den Bau eines gigantischen Kanals zwischen Mississippi und Lake Pontchartrain vorantreibt; schließlich der junge schwarze Trompeter Izzy Zeno, der beim Bau des Kanals schuftet, um Frau und Tochter durchzubringen. Bei den Kanalarbeiten aber wird nicht nur Erde zutage gefördert – in New Orleans, das auf Schlamm gebaut ist, bleibt nichts und niemand lange begraben. Nathaniel Rich verwebt in «King Zeno» die Geschichten seiner drei Helden und genau recherchierte historische Hintergründe zu einem atmosphärisch dichten, filmisch packenden Spannungsroman. Das Porträt einer Stadt, in der Rassenkonflikte aufbrechen, aber auch der Jazz erfunden wird, und zugleich die Hommage an eine mythenumwobene Ära.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 543

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nathaniel Rich

King Zeno

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

 

Über dieses Buch

New Orleans, nach dem Ersten Weltkrieg. Jazz, die Spanische Grippe, Rassismus, Prostitution, Mafia, dazu ein Axtmörder, der sein Unwesen treibt – eine Stadt wie ein Hexenkessel. Mittendrin der Ermittler Bill Bastrop, der traumatisiert aus dem Krieg in Europa zurückgekehrt ist und auf der Suche nach dem Axtmörder das verruchte French Quarter durchkämmt; die italienische Mafia-Patin Beatrice Vizzini, die nicht ahnt, dass sie den Mörder gut kennt, und mit allen Mitteln den Bau eines gigantischen Kanals zwischen Mississippi und Lake Pontchartrain vorantreibt; schließlich der junge schwarze Trompeter Izzy Zeno, der beim Bau des Kanals schuftet, um Frau und Tochter durchzubringen. Bei den Kanalarbeiten aber wird nicht nur Erde zutage gefördert – in New Orleans, das auf Schlamm gebaut ist, bleibt nichts und niemand lange begraben.

Nathaniel Rich verwebt in «King Zeno» die Geschichten seiner drei Helden und genau recherchierte historische Hintergründe zu einem atmosphärisch dichten, filmisch packenden Spannungsroman. Das Porträt einer Stadt, in der Rassenkonflikte aufbrechen, aber auch der Jazz erfunden wird, und zugleich die Hommage an eine mythenumwobene Ära.

Vita

Nathaniel Rich, geboren 1980 in New York City, ist Schriftsteller. Zudem schreibt er Reportagen, Essays und Kritiken für das «New York Times Magazine», die «New York Review of Books» und den «Atlantic». 2019 erschien «Losing Earth», das für den PEN-Award nominiert wurde; «eine Erzählung wie ein antikes Epos», schrieb die «Welt am Sonntag». «King Zeno» ist sein dritter Roman. Nathaniel Rich lebt in New Orleans.

Für Meredith

Erster TeilGlyptodont

The New Orleans Item, 23. Mai 1918

PAAR IM SCHLAF MIT AXT GETÖTET
Joseph Maggio und seine Frau nachts in Wohnung hinter ihrem Lebensmittelladen erschlagen
BRUDER DES MANNES HÖRTE STÖHNEN NEBENAN

Joseph Maggio, gebürtiger Sizilianer, führte seit sechs Jahren einen kleinen Lebensmittelladen, 4091 Magnolia, Ecke Upperline Street.

Die Räumlichkeiten sind typisch für solche Läden – vorne der Laden, im hinteren Bereich die Zimmer von Maggio und seiner Frau. Eines wurde von Maggios Bruder, einem Friseur, bewohnt.

Der Laden hatte eine kleine und gemischte Kundschaft, halb weiß, halb schwarz. Der Umsatz war nicht groß, aber Maggio und seine Frau konnten davon gut leben.

HATTEN OFFENBAR KEINE FEINDE

Soweit bekannt, hatte das Ehepaar keine Feinde. Beide stammten aus Bauernfamilien und erfüllten sich mit dem Laden den Traum vieler Einwanderer. Sie waren seit fünfzehn Jahren verheiratet. Unter dem Strich ein normales, zufriedenes Paar, das ein langes und friedliches Leben vor sich hatte.

Am Donnerstagmorgen erhielt die Polizei um fünf Uhr dreißig einen Anruf von Andrew Maggio. Er bat sie, sofort zur Upperline, Ecke Magnolia Street zu kommen. Sein Bruder und seine Schwägerin seien ermordet worden.

Die Polizeieinheit entdeckte die Leichen des Ehepaars Maggio im Bett. Auf Kehlen und Schädel war mit einer Axt eingeschlagen worden. Schon die Tatsache, dass es ein gutes Dutzend Hiebe waren, obwohl ein oder zwei genügt hätten, beweist die Mordlust. Der Täter wollte offenbar sichergehen …

 

New Orleans States, 24. Mai1918

TERROR: VIER MÄNNER WERDEN OPFER VON BANDITEN; EINER VERLIERT SEINE SCHUHE

Bei drei frühmorgendlichen Überfällen auf insgesamt vier Passanten im Osten von Downtown machte der schwarze Straßenräuber kaum Beute.

Die Opfer der Überfälle: Charles Lowe, Fahrkartenverkäufer in der Union Station; Florin Bodemuller, sechzehn, wohnhaft in 1748 Jackson Avenue; Joseph Tolozzio, Bananenpacker der United Fruit Company; und Richard Boland, Zeitungsverkäufer in der Canal und der Royal Street.

Lowe hatte am Freitagmorgen um zwei Uhr dreißig in einer Bäckerei in der Clio, Ecke Liberty Street zwei Brotlaibe gekauft. Er wartete auf die Straßenbahn, als er von einem Schwarzen mit vorgehaltenem Revolver genötigt wurde, die Hände über den Kopf zu heben. Der Schwarze raubte Lowe dreißig Cent und den blauen Kammgarnmantel.

Bodemuller kehrte um ein Uhr früh vom Tanzen heim, als er an der Jackson Avenue, Ecke Brainard Street von einem Schwarzen mit einem Revolver bedroht wurde. Nachdem dieser eine Taschenuhr und Uhrkette im Wert von dreißig Dollar eingesteckt hatte, musste Bodemuller noch seine Schuhe im Wert von vier Dollar fünfzig hergeben. Der junge Mann war gezwungen, barfuß nach Hause zu laufen.

Tolozzio und Boland stiegen Howard Avenue, Ecke Carondelet Street aus der Straßenbahn und sahen sich kurz darauf einem Schwarzen gegenüber, der sie mit vorgehaltenem Revolver zwang, die Hände zu heben. Der Bandit raubte Tolozzio einen Dollar fünfzig und Boland zwanzig Cent in Pennys. Tolozzio und Boland riefen um Hilfe, und der fliehende Straßenräuber feuerte auf sie.

 

The New Orleans Item, 25. Mai 1918

FAHRER EINER BÄCKEREI VON SCHWARZEM STRASSENRÄUBER VERWUNDET

Theodore Blaum, Fahrer einer Bäckerei, in der Nacht von Freitag auf Samstag um zwei Uhr früh durch einen Schuss eines schwarzen Straßenräubers verwundet, liegt im Charity Hospital, sein Zustand ist kritisch. Wie es heißt, sei die Hoffnung auf Genesung gering. Er wurde in die linke Brust getroffen, die Kugel verfehlte das Herz nur knapp.

Blaum verließ eine Gasse auf der Rückseite von 1813 Baronne Street, wo er Brot ausgeliefert hatte, als ohne Vorwarnung auf ihn geschossen wurde. Anschließend, so Blaum, durchwühlte der Schwarze seine Kleider und raubte drei Dollar. Blaum stieg wieder auf seinen Wagen und fuhr zum Krankenhaus. Der Schwarze konnte entkommen.

Einige Stunden zuvor feuerte ein schwarzer Straßenräuber beim Coliseum, in der Nähe der First Street, auf Charlton R. Beattie, US-Staatsanwalt a.D. Dieser blieb unverletzt. Auch auf Henry Baldwin, Präsident von A. Baldwin & Co., der von der Empore seines Hauses Zeuge des Überfalls wurde und den Banditen anbrüllte, wurde geschossen. Mr. Baldwin blieb unverletzt. Der Schwarze erbeutete nichts.

Die Polizei geht davon aus, dass Mr. Beattie und Mr. Blaum Opfer desselben Täters wurden. Die Beschreibungen decken sich. Der Straßenräuber ist etwa fünfundzwanzig, sechzig Kilo schwer und einen Meter siebzig groß. Er trug ein braunes Hemd und eine schwarze Hose.

Mit den Vorfällen des frühen Samstagmorgens sind es nun fünf Raubüberfälle innerhalb von achtundvierzig Stunden. Der Täter war stets ein Schwarzer.

Beattie fügte sich selbst dann nicht, als ihm der Schwarze den Revolver an den Kopf hielt.

«Das mache ich nicht», sagte er, als der Bandit befahl, er solle die Hände über den Kopf heben.

Das Gebrüll des Schwarzen erregte die Aufmerksamkeit von Mr. Baldwin.

«Ich ging auf die Empore, um zu schauen, wer da brüllt», sagte Mr. Baldwin der Polizei, «und erblickte einen Schwarzen, der einem Weißen einen Revolver an den Kopf hielt. Ich schrie den Schwarzen an, der daraufhin die Flucht ergriff, aber noch zwei Schüsse abfeuerte.»

Mr. Blaum ist verheiratet.

 

New Orleans Times-Picayune, 26. Mai 1918

VERDÄCHTIGER IM AXTMORDFALL AUF FREIEM FUSS
Hält Kreuzverhör durch Polizeichef stand

Andrew Maggio, seit Donnerstag im Zusammenhang mit den Morden an Bruder und Schwägerin inhaftiert, die einen Lebensmittelladen in der Magnolia Street betrieben, wurde am Samstagabend von Superintendent Mooney auf freien Fuß gesetzt.

«Ich bin unschuldig, und es ist entsetzlich, dass mir unterstellt wird, ich hätte meinen Bruder ermordet», meinte Maggio. «Ich sage bei anderer Gelegenheit mehr dazu, heute Abend kann ich nicht darüber sprechen.»

 

New Orleans States, 26. Mai 1918

SECHSTER ÜBERFALL DURCH BEWAFFNETEN BANDITEN KOSTET OPFER FAST DAS LEBEN

Auch am Samstag kam es zu einem Raubüberfall, dem sechsten seit Mittwoch. Täter war in allen Fällen ein Schwarzer, der seine Opfer mit einem Revolver bedrohte.

Neuestes Opfer des Straßenräubers wurde J. E. Ragan, Aufseher der Illinois Central Railroad in der Union Station.

Mr. Ragan war auf dem Heimweg. Gegen dreiundzwanzig Uhr sprang ein Schwarzer an der Ecke Baudin, Rendon Street aus dem Versteck und befahl Ragan, die Hände über den Kopf zu heben. Dieser gehorchte nicht, sondern packte die Hand, die den Revolver hielt. Während des Gerangels wurden Schüsse abgefeuert. Zum Glück gingen alle daneben. Der Schwarze konnte entwischen. Er erbeutete nichts.

POLIZEIEINHEIT AM TATORT

Eine mit Flinten bewaffnete Polizeieinheit unter dem Kommando von Senior Captain Capo durchkämmte das Viertel, leider ergebnislos.

Der Straßenräuber entkam am Samstagabend nicht, ohne ein verräterisches Beweisstück zu hinterlassen. Die Polizei konnte einen dunklen Schlapphut sicherstellen, den Mr. Ragan dem Schwarzen bei dem verzweifelten Versuch entriss, ihn bis zum Eintreffen von Unterstützung festzuhalten.

 

New Orleans Times-Picayune, 26. Mai 1918

STRASSENRÄUBER ERBEUTET KLEIDUNG

Am frühen Sonntagmorgen wurde der Polizei ein weiterer Raubüberfall gemeldet, von einem bewaffneten Schwarzen an einem Weißen begangen. Richard Bray, siebzehn, büßte an der Ecke Banks, Clark Street einen Dollar vierzig und ein Kleiderbündel ein.

Die Personenbeschreibung deckt sich mit der des Schwarzen, der wenige Stunden zuvor J. E. Ragan bedroht und mehrere Schüsse abgefeuert hatte. Der Straßenräuber ließ bei der Flucht wieder den Hut zurück.

26. Mai 1918 – Irish Channel

Polizisten nannten es Instinkt. Nicht Gespür, Fertigkeit oder Talent – Instinkt. Entweder man besaß ihn, oder man besaß ihn nicht. Die Wahrheit aus einer Lüge zu filtern. In einer überfüllten Straßenbahn den Gauner zu wittern. Eine Mutter zu überreden, den eigenen Sohn zu verraten. Den Kniff zu finden, der einem Mann die Zunge löste. Verdrehung des Handgelenks um dreihundertsechzig Grad? Ein Stoß in die zarte Haut der Kniekehle? Kartoffelsack um den Hals binden? Und vor allem: zu merken, wenn man kaltschnäuzig belogen wurde. Da hatte er massive Defizite. Zumal, wenn die betreffende Person eine Frau war, noch dazu die eigene Frau. Nein, das war ungerecht – Maze hatte ihn nie belogen. Jedenfalls soweit er wusste. Und hätte Maze ihn belogen, dann hätte er das nicht gemerkt, deshalb war es sowieso egal. So funktionierte sein Gehirn nun mal, in geschlossenen Kreisläufen, es stellte sich stets in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage, stellte sich in Frage.

Bill verfügte über zwei Fähigkeiten, die jeder Polizist brauchte: eine genaue Beobachtungsgabe und ein gutes Gedächtnis. Er hatte beide zusammen mit auf den Weg bekommen, sie glichen dem zweiköpfigen Jungen, der mit beiden Mündern grinste. Beobachtung und Gedächtnis, das waren treue, alte Gefährten, die ihn nie im Stich gelassen hatten, wenngleich sie im letzten Jahr eher Fluch als Segen gewesen waren. Neunzehn Minuten waren verstrichen, seit sich Obitz und Dodson von ihm und Charlie Breaux getrennt hatten, und er konnte sich fotografisch genau an jede Person erinnern, die er danach erblickt hatte. In der Clio Street einen ausgemergelten Kahlkopf, der einen Erdnusskarren schob, krumm wie ein Baum bei Sturm, wahrscheinlich im Schlaf. Zwei Frauen im Highschoolalter, aber sicher nicht eingeschrieben, schwebten über die Kreuzung der Erato Street, ihre Seidenkleider fegten den Dreck. Ein etwa dreißigjähriger Hüne mit langem Trenchcoat und dunklem Homburg bog mit federnden Schritten oben in der Thalia um die Ecke. Und kurz vor der Terpsicore blockierte eine Schnapsleiche den Bürgersteig, auf dem Bauch liegend, die Wange voller Matsch. In einer gewöhnlichen Nacht hätten sie die Schnapsdrossel auflesen lassen. Nur war dies keine gewöhnliche Nacht, weil ein durchgedrehter Straßenräuber sein Unwesen trieb.

Die stille Straße war ein Vorwurf, aber was hatte Bill erwartet? Bürgerwehren auf Patrouille? Eine marschierende Kapelle? Die Familien in diesem Viertel, eingeklemmt zwischen dem Massiv namens Irish Channel und dem Strudel namens Storyville, viele kürzlich mit dem Dampfer aus Nestern wie Naples oder Queenstown gekommen, igelten sich nachts ein und überließen die Straßen den Besoffenen, Gaunern und Dieben. An allen größeren Kreuzungen standen elektrische Straßenlaternen, aber die meisten Glühbirnen waren kaputt. Der reine Irrsinn: Die Stadt verpulverte sechs Millionen Dollar für den Bau eines überdimensionierten Kanals, der den Mississippi River mit dem Lake Pontchartrain verbinden sollte, verschlampte aber die Wartung der Straßenlaternen? Andererseits nützten sogar funktionierende Lampen wenig, weil die Blocks sehr lang und über weite Strecken in Finsternis getaucht waren.

Charlies Hinkebein schlurfte über den Kies, eine unbeholfene Perkussion, die den dunklen Häuserreihen ihr Nahen verriet. Schritt-Schlurf, Schritt-Schlurf, Schritt-Schlurf.

«Gefällt mir nicht, Billy», sagte Charlie. «Ist verdächtig.»

«Zu still? Zu dunkel?»

«Zu verdächtig.»

Drei Uhr früh. Bill hatte seit der letzten Mütze Schlaf eine ganze Tagesreise hinter sich gebracht. Er war in aller Frühe aufgestanden, um bei einer Veranstaltung im Rathaus, bei der im Rahmen eines Frühstücks für den Kauf von Kriegsanleihen geworben werden sollte, für Sicherheit zu sorgen; mittags wurde er zur Ecke Annunciation, Second Street gerufen, wo eine Sechsjährige vor die Straßenbahn gelaufen war; um siebzehn Uhr, er hatte für die Aufnahme des Mädchens im Charity Hospital gesorgt, sollte er auf der Wache eine Einweisung für eine Streife erhalten, die wegen des schwarzen Straßenräubers für die ganze Nacht angesetzt war. Sie fand mit drei Stunden Verspätung statt, weil Superintendent Mooney mit dem Verhör von Andrew Maggio beschäftigt war, Bruder des abgeschlachteten italienischen Lebensmittelhändlers. Mooney wirkte bei den spektakulärsten Fällen gern federführend mit, und vor dem Raubzug des Straßenräubers war das der Mord am Ehepaar Maggio. Der einzige Verdächtige war Andrew Maggio, ein Friseur, der angab, das Gemetzel mitangehört zu haben, dann aber auf freien Fuß gesetzt werden musste, weil man ihn nicht weichkochen konnte. Mooney wies seine Leute erst gegen einundzwanzig Uhr ein. Bill und Charlie waren jetzt sechs Stunden ohne Ablösung auf Streife.

«Ich bin hundemüde», sagte Charlie. «Meine Füße summen schon.»

«Müde. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie das ist. Müde.»

«Das ist, als hätte dein Gehirn höllischen Durst.»

«Mein Gehirn hat längst vergessen, was Müdigkeit ist.»

«Das ist, als würden deine Füße einem Fremden gehören.»

Bill empfand vor allem panische Rastlosigkeit. Er wusste, dass der Verrückte irgendwo lauerte, und deshalb waren seine Sinne aufs Äußerste geschärft. In der quälenden Stille der Baronne Street schrie alles in seinen Ohren, das Knirschen von Charlies demoliertem Knie, das gespenstische Schlurfen seiner Schritte, das Quietschen der eigenen Militärstiefel.

Deshalb glich der Schuss einem Donnerschlag.

Noch ein Polizeiinstinkt: auf Schüsse zulaufen. Bill hatte diesen Instinkt nie besessen und sich obendrein oft gefragt, ob es ihn tatsächlich gab, aber seit seiner Rückkehr nach New Orleans sehnte er sich nach einer Feuertaufe, und dies war die erste Gelegenheit. Er folgte Charlie nach Downtown, wo die Schüsse ertönt waren. Ihre Beine flogen auf und ab wie Kolben, grüne Schleimfäden spritzten auf ihre Hosen.

Kurz vor der Calliope Street stießen sie auf zwei Männer, die auf der Treppe eines Shotgun Cottage aufeinanderlagen. Der größere – bestimmt neunzig Kilo schwer und gut einen Meter achtzig groß – mit unnatürlich hochgerecktem Gesäß auf dem anderen. Seine Mütze lag auf dem Boden, der Mond erhellte seine strohblonden Haare und die Messingknöpfe der Uniformjacke. Der kleinere, unter ihm liegende Mann war kaum zu sehen. Bill begriff sofort, dass es Harry Dodson war, der von Teddy Obitz plattgedrückt wurde.

«Runter von mir.» Dodson klang wie ein Ballon, dem die Luft ausging.

Charlie blieb mitten im Gehen stehen, wie ein Automat, der auf einmal keinen Saft mehr hatte. «Bist du das, Harry?»

«Zieht ihn runter!»

Sie zerrten an den Schultern des Hünen, aber Big Blond rührte sich nicht vom Fleck. Harry ächzte gequält.

«Was is’n los, Big Blond?», fragte Charlie. «Du tust Harry weh.» Der arme Charlie war seit jeher ein Schwachkopf, und wenn er Schiss hatte, verblödete er fast völlig.

«Teddy wurde erschossen, Charlie.»

«Big Blond wurde erschossen?»

Sie nahmen einen neuen Anlauf. Dieses Mal zogen sie an Obitz’ mächtigen, steifen Schultern. Er fiel mit einem grotesken schmatzenden Geräusch zurück, und als sein Kopf gegen die Säule vor der Tür knallte, klang es, als würde eine Axt in einen Baum schlagen. Das Geräusch hallte durch die verwaiste Straße. Obitz’ blonde Haare waren feucht. Seine offenen Augen schauten ungläubig drein. Auf seiner Brust zeichnete sich eine dunkle, klebrige Sauerei ab. Ebenso auf Harrys.

«Hat’s dich auch erwischt?», wollte Charlie wissen.

Harry schüttelte den Kopf. Er saugte die Nachtluft ein und verschränkte die Arme vor der Brust, als wollte er sie vor noch mehr Schmutz schützen. «Ist Teddys Blut», sagte er. «Aus dem Bauch.»

«Das war dieser Mistkerl», sagte Bill. «Wo steckt er?»

Harry hustete feucht und schleimig. Er atmete komisch. Er quetschte Laute hervor, die wie «Telefon» klangen.

«Welches Telefon?», fragte Charlie.

«Unten in der Baronne. Richtung Battlefield.»

Mehr musste Charlie nicht hören. Er rannte los – es war ein krummbeiniger, hoppelnder Sprint. Genug Instinkt für zwei.

Angesichts der beiden Kollegen, die auf der Treppe saßen und ihn anglotzten – einer japsend wie ein Fisch auf dem Trockenen, der andere mausetot –, wurde Bill klar, dass er etwas sagen musste, etwas Beruhigendes. Er suchte nach passenden Worten, aber die Gewalt hatte ihn erschüttert. «Ich verspreche …», begann er. «Ich verspreche …»

«Los!», rief Harry.

Charlie war schon fast einen Block weiter. Bill rannte ihm nach, stolperte aber nach den ersten paar Schritten über einen losen Stein und knallte auf das Straßenpflaster. Als er auf die Beine kam, war Charlie verschwunden. Dieser Abschnitt der Baronne hatte keine Lücken – die Häuser standen dichtgedrängt –, und als er die Ecke erreichte, war niemand zu sehen. Das einzige Lebendige war ein Köter mit deformierter Vorderpfote, der mit gesenktem Kopf und wütend mahlendem Kiefer ständig im Kreis lief. Rechts hinter dem Hund befand sich der Lee Circle. Links die Union State Plaza, dahinter der Battlefield-Park. Bill blieb stehen und horchte, hörte aber nur das klagende Wimmern des Köters. Richtung Battlefield, hatte Harry gesagt. Bills Instinkt riet ihm, sich nach rechts zu wenden, zum kranken Hund und fort von Battlefield, also rannte er nach links.

Fünf Palmenspaliere verliefen quer über die grasbewachsene Plaza vor der Union Station. Elektrische Kugellampen, an schwarzen, hohen Pfosten hängend, umringten das Ganze. Die Palmen warfen Schatten wie lange Finger auf den Rasen. Die Palmenalleen auf der Plaza waren ein naheliegendes Versteck, die Palmwedel glichen riesigen Händen mit gespreizten Fingern, die ein Geheimnis hüteten.

Billy streifte zwischen den Palmen umher, wobei die starren Wedel seine Mütze streiften. Ein scharfer Schmerz durchschoss sein Handgelenk – er hielt den Revolver zu fest. Er nahm die Waffe in die linke Hand und bewegte die rechte, bis die Taubheit verflog. Er sah Teddy Obitz vor sich, auf den Stufen des Cottage liegend und in die Unendlichkeit starrend. Detective Obitz: der klügste Ermittler der Stadt, vor dem Krieg Billys Förderer, treu, gewieft, stark. Wenn ein Mann wie Obitz der Gewalt zum Opfer fiel, dann konnte ihr jeder zum Opfer fallen, dann kam man gegen ihr finsteres Schlummerlied nicht an. Billy fand es hilfreich, sich das ins Gedächtnis zu rufen.

Er stürmte auf die erste Allee, die Waffe schussbereit, und schaute abwechselnd nach links und rechts. Nur eine ebene, rechteckige Rasenfläche, dahinter noch ein Palmenspalier. Er horchte auf ein Rascheln, aber das Gras dämpfte alles, und die Stille dröhnte wie ein Horn in seinen Ohren.

Er rannte über den Weg und tauchte ins nächste Palmenspalier ein. Die riesigen Hände teilten sich, um ihn durchzulassen. Da: eine Bewegung jenseits des nächsten Weges. Er erstarrte. Ein Schatten, krumm wie ein winkender Finger. Die Person stand hinter zwei tiefhängenden Palmwedeln, keine fünf Meter entfernt. Das Licht der Kugellampen reichte nicht bis zur Mitte der Plaza, und Bill spähte mit zugekniffenen Augen ins Dunkel. Es war sehr kalt geworden. Der Himmel war aschgrau, die Palmen waren schwärzlich grün, das Gras war blau. Auf der anderen Seite des Weges schwankten die Palmwedel wie in einer Brise, aber es ging kein Wind.

«New Orleans Police Department!» Bill rief zwar, kam sich aber vor wie ein Feigling, denn er duckte sich hinter den Blättern. Allerdings war er hier, auf dieser Plaza mitten in New Orleans, nur halb anwesend. Er befand sich zugleich in einem finsteren Lindenwald in der Nähe der elsässischen Grenze, wo Zweige sein Gesicht zerkratzten, Kletten in den Strümpfen hingen und das Blut in seinem Gehirn pulsierte.

Die Blätter bebten.

«Du kannst mich nicht sehen», sagte Bill. «Aber ich sehe dich. Ich ziele mit einem Revolver auf dich.»

Die Wedel klatschten lauter, sie applaudierten. Die Nacht war eine Weile still. Dann wieder ein Rascheln, und ein schwarzer Keiler preschte ins Freie.

Ein dicker Brocken, sicher hundertfünfzig Kilo schwer, seine Hauer schimmerten im Mondschein. Die borstige Flanke war silbergrau gestreift, die Stirn glich der Rückseite eines Schaufelblatts, die Winkel seines breiten und clownhaften Mauls reichten fast bis zu den Ohren. Der Keiler interessierte sich jedoch nicht für Detective William J. Bastrop. Er grunzte, ein Ton wie der eines Lufthorns, als wollte er irgendeine Aussage unterstreichen. Er preschte in Richtung Baronne Street. Bill beobachtete, wie er über die Bordsteinkante setzte, wie sich sein Rumpf hob und senkte, als er verschwand. Er legte sich eine Hand auf die Brust und zog sie, als er sein rasendes Herz spürte, so schnell zurück, als hätte er eine glühende Pfanne berührt. Er hätte sich am liebsten ins weiche Gras unter der Palme gesetzt, gegen den Stamm gelehnt und bis zum Morgengrauen gepennt. Er verspürte das tiefe Bedürfnis, hier zu schlafen.

«Bill!»

Eine ferne, aber deutliche Stimme. Sie ertönte aus Richtung Downtown. Einen Polizeiinstinkt hatte er dann doch: Wenn sein Kollege rief, rannte er hin. Bill spurtete zum Ende der Plaza. Er scherte nach rechts aus, eilte durch die Rampart Street.

«Bill!» Charlies Stimme klang immer noch schwach – er war mindestens einen Block entfernt.

Er gelangte zur Mündung des New-Orleans-Kanals. Hier war er eine Zielscheibe, ohne selbst etwas sehen zu können. Er folgte der Rampart Street, passierte die Texas Gas Station in der Julia Street und erreichte ein Betriebsgelände von den Ausmaßen eines ganzen Blocks. Die Aufschrift des Schildes lautete: LOUISIANADEMOLISHINGCOMPANY, HECTORSCHMITZ, PROP. Das Tor stand offen. Dahinter türmten sich amputierte Zypressen mit gut fünfundzwanzig Meter langen Stämmen.

Hinter dieser mächtigen Wand aus Stämmen ertönte ein Schmerzensschrei.

«Er haut ab!», schrie Charlie.

Bill machte sich bereit. Er ging leicht in die Knie, um seinen Körperschwerpunkt zu verlagern, hob die Waffe und betete stumm, aber inbrünstig.

Dann stürmte eine laut stammelnde Gestalt hinter dem Wall aus Baumstämmen hervor, und Bill fragte sich kurz, ob es der Keiler war, der nun schnaubend, mit weit aufgerissenen, irren Augen auf ihn losging. Die Stille dröhnte in Bills Ohren, das Horn heulte so laut, dass er glaubte, er würde taub.

Bill fiel auf, dass die rechte Gesichtshälfte des Straßenräubers fehlte. Der Mann stolperte und riss einen Arm hoch. Er drehte die Hand hin und her, als würde er eine unsichtbare Glühbirne herausschrauben. Das Heulen wurde noch lauter und kulminierte in mehreren Detonationen.

Dann trat Stille ein.

Charlies körperlose Stimme ertönte hinter dem Holz. «Hast du ihn erwischt?»

Bill bemühte sich, Wörter zu formen.

Charlie pirschte um die Ecke. «Ist wohl nervös geworden, als er dich gehört hat», sagte er, indem er sich zögernd näherte. «Als ich ihn entdeckt habe, hat er geratzt.»

«Er hat geratzt?»

«Jetzt schläft er todsicher.»

Hinter Bill wurden Schritte hörbar.

«New Orleans Police Department!», rief jemand. «Hallo! NOPD!»

«Wir sind’s, Harry.» Charlie hob die Hände. «Bastrop und Beaux.» Charlie gab Bill durch einen Wink zu verstehen, den Revolver zu senken.

Bill wurde bewusst, dass er die Waffe noch auf den am Boden liegenden Toten richtete.

Er drehte sich um und erblickte Harry Dodson, der sich durch das Tor zwängte. In dem hohen Eingang wirkte Harry winzig. Er hatte die blutdurchtränkte Jacke ausgezogen, trug aber noch die Mütze. Lustig, dachte Bill. Ein winziger Bulle im Unterhemd, mit Mütze, aber ohne Uniform. Ein lustiger Anblick.

Harry kam näher, beruhigt durch Charlies Stimme. Beim Anblick der Leiche erschrak er heftig. Er beugte sich über sie. Musterte, was vom Gesicht übrig war. Er schien baff zu sein.

«Ist er doch, oder?», fragte Bill.

Harry Dodson drehte sich zu Bill um, sein Mund war zu einem verzerrten Grinsen erstarrt.

«Harry? Das ist er doch, richtig? Dieser Kerl hat Big Blond erschossen.»

Harry war nicht verwirrt, wie Bill begriff. Sondern entsetzt.

«Das ist er Harry – korrekt?»

«Billy», sagte Charlie.

Bill überhörte ihn. Er wünschte sich, Harry würde den Mund aufmachen.

«Harry?», sagte er, nun lauter. «Das ist der Mann, oder? Der Straßenräuber?»

Seine Stimme klang in seinen Ohren wie die eines Fremden. War es die eines Fremden? Die des am Boden liegenden Toten? Je länger er nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt. Ja, die Leiche sprach zu ihm. Charlie glotzte blöde, Harry starrte ihn ernst an, und der Tote brüllte derweil mit der verbliebenen Mundhälfte. Er flehte durch seine blutigen, zertrümmerten Zähne, er schrie. «Das ist er – stimmt doch, Harry, oder? Das ist der Straßenräuber, der Big Blond erschossen hat. Ist doch richtig, Harry, wie? Harry?»

26. Mai 1918 – Uptown

Ein fetter, rothaariger Kerl stand im fahlen Bonbonlicht der Straßenlaterne vor der Gasse. Seine Haltung – gebeugt und grinsend, die feisten Arme vor der breiten Brust verschränkt – wirkte so lässig und selbstsicher, als hätte er sich mit Isadore genau hier verabredet, in der St. Charles Avenue, auf der Mitte des Blocks 2100 neben den Mülltonnen, morgens um Punkt vier Uhr neun, und er schien sich mächtig auf das Stelldichein zu freuen. Isadore zeigte seine Handflächen, die hellste Haut seines Körpers. Seine Hände zitterten; er stopfte sie in die Taschen. Er dankte im Stillen Gott dafür, aus hundert Metern Entfernung entdeckt und nicht von hinten überrumpelt worden zu sein. Er bemühte sich, gleichmäßig auszuschreiten, er unterdrückte den Fluchtimpuls und sah seinem Gegenüber in die Augen. Als er in den Schein der Straßenlaterne trat, zwang er sich ein breites, flehentliches Lächeln ab.

«Sir.» Isadore nickte, zwei unbeholfene Kerle, die auf dem Weg zur Arbeit aneinander vorbeikamen.

«Ich kenn dich nicht.» Der Paddy wirkte so selbstzufrieden wie ein Kleinkind, das soeben den ersten vollständigen Satz von sich gegeben hatte.

«Ich weiß, was Sie denken», sagte Isadore. Die St. Charles Avenue war so still, dass er die Vibrationen der Straßenbahngleise im Schotter hören konnte, obwohl die Bahn noch nicht in Sicht war. «Sie fragen sich, ob ich irgendwas im Schilde führe.»

«Irgendwas.» Der Mann war fast genauso voluminös wie die Mülltonnen neben ihm. «Gab da ein paar Vorfälle mit einem schwarzen Straßenräuber. Vielleicht hast du ja davon gehört.»

«Ich wohne in der Nähe», log Isadore. «Weiter hinten im Block.»

«Ach was?»

«Wirklich sonderbar», wagte er anzumerken, «dass ich Sie hier noch nie gesehen habe.» Er fragte sich, wo Bailey steckte. Hoffentlich war er so klug gewesen, sofort heimzukehren, nachdem sie sich beim Anblick der Polizisten getrennt hatten, hoffentlich spielte er nicht den streunenden Hund und hetzte weitere Fahrer von Bäckereiwagen. «Ich wohne hier seit einer guten Woche.»

«Und bei wem hast du dich eingenistet?»

«Meine Alte arbeitet hier für’n paar feine Leute.»

«Welche Leute?»

Isadore lachte – vielleicht zu laut, aber das Lachen war das einzige Ventil für seine Wut. So erging es ihm oft, dann schlug seine Furcht plötzlich in Wut um. Es machte ihn wütend, die ganze Zeit Angst haben zu müssen. Es machte ihn wütend, und es war anstrengend, stets um sein Leben bangen zu müssen, wenn er das Verbrechen beging, eine falsche Straße zu nehmen, die falsche Person anzusehen, das Falsche zu sagen oder auch das Richtige, nur leider mit der falschen Betonung. Ganz zu schweigen davon, die falsche Hautfarbe zu haben oder gar keine Farbe, nicht weiß genug zu sein, um unbehelligt zu bleiben, und nicht dunkel genug, um unsichtbar zu sein. In den Momenten, wenn er mit seiner Angst konfrontiert wurde – wenn er in finsterer Nacht auf der weißesten Straße von New Orleans einem Paddy mit roter Rübe gegenüberstand, der das gesetzlich verbriefte Recht hatte, ihn zu töten –, dann empfand er fast etwas wie Erleichterung. Ihm konnte nichts Schlimmes mehr passieren. Denn es passierte schon. Dieses Bewusstsein linderte seine Angst, oder anders gesagt seine Wut, und er war auf einmal hellwach.

Er konnte nicht verraten, dass er seine Frau besuchen wollte, denn wenn die Tiltons Wind davon bekämen, würde man sie feuern. Er konnte nicht weglaufen, weil der Wachmann ihn dann erschießen würde, ohne mit der Wimper zu zucken. Er konnte weder nach Battlefield zurückkehren noch weiter aufs Geratewohl durch die Nacht ziehen, denn er hatte gerade behauptet, in diesem Block zu wohnen. Er konnte gar nichts tun. Ein vertrautes Gefühl.

Er ahmte den Wachmann nach, indem er die Arme vor seiner Brust verschränkte. Er wollte signalisieren, ebenfalls nicht in Eile zu sein – nichts dagegen zu haben, bis zum Morgengrauen zu plaudern. Mit der linken Hand, die sich hinter dem rechten Ellbogen verbarg, ertastete er den Griff des Revolvers, der unter der Jacke im aufgerollten Hosenbund steckte. Diese Berührung flößte ihm Selbstvertrauen ein, und er tischte die nächste Lüge auf.

«Ich rede sie bloß mit Sir und Missus an.» Isadore sprach jetzt in einem lispelnden Singsang, für den er sich im Stillen hasste, er hatte einen schwarz geschminkten Weißen vor Augen, der ein Buck-and-Wing-Tänzchen hinlegte. «Dann jedenfalls», ergänzte er, «wenn ich Gelegenheit dazu habe. Meine Arbeit bringt es mit sich, dass ich bis in die Puppen auf den Beinen bin.»

Der Wachmann nickte. «Und welche Arbeit wäre das?»

«Sir?» Isadore schaute verstohlen zur Gasse. Sie war keine zehn Meter entfernt. Der Hintereingang zum Haus der Tiltons befand sich auf halber Strecke der Gasse.

«Du schiebst Nachtschichten.»

«Ich spiele in Kneipen, Sir.» Isadore bemerkte seinen Fehler schon, da hatte er den Satz noch nicht beendet. Die meisten Kneipen waren in District oder Battlefield. Er hätte genauso gut behaupten können, Huren auf den Strich zu schicken, Karten zu spielen oder Kokain zu strecken. Er hätte auch behaupten können, ein Komplize des Straßenräubers zu sein.

Der Paddy grinste weiter wie erstarrt, aber sein Blick schärfte sich wie ein Foto im Entwicklerbad.

«Wenn ich keine regulären Auftritte habe, meine ich», fügte Isadore hinzu. Er hätte beim Klang seiner Stimme am liebsten gekotzt. «Im New Orleans Country Club», log er. «Economy Hall. An den Wochenenden finden Sie mich in Spanish Fort, da spiele ich bei den Picknicks feiner Pinkel. Das Kornett ist mein Instrument. Hätte mir heute fast das Gehirn aus dem Schädel gedudelt.»

«Jass.» Der Mann spuckte aus. «Is doch keine Musik.»

«Nein, Sir. Aber der Jass ernährt mich.»

«Und wo ist dein Instrument?»

Tja, das war mal eine gute Frage. Das gespenstische Grinsen des Wachmanns wurde noch breiter, im Schein der Straßenlaterne füllten sich seine Wangenfalten mit Schatten. Die Straßenbahngleise summten lauter. Isadore senkte den Blick so demonstrativ verblüfft auf seine Arme, als würde ihm erst jetzt dämmern, dass sein Kornett fehlte. Der Webley-&-Scott-Revolver lastete schwer auf seiner Hüfte.

«Mr. Webley im Country Club?», erwiderte er. «Mr. Webley bewahrt unsere Instrumente über Nacht auf, damit wir sie nicht nach Hause schleppen müssen.» Isadore sprach jetzt schnell – vielleicht zu schnell – und hätte wohl weitergeredet, aber der Wachmann bohrte sich plötzlich einen Wurstfinger ins Auge. Er wühlte mit dem Finger in der Höhle, als wollte er den Augapfel ausgraben.

«Hab da was drin», murmelte der Paddy. «Irgendwas, das nicht rausgeht.» Isadore versuchte, seinen Ekel zu zügeln, während der Mann seinen Schmuddelfinger immer tiefer in den Schädel bohrte. «Der Arzt hat Silbernitrat verschrieben. Aber mit dem Gehalt, das ich vom Nachbarschaftsbund erhalte …» Er wühlte weiter. Die Gleise rumpelten; die nächste Straßenbahn war sicher nur noch fünf Blocks entfernt. Und in der Bahn säßen bestimmt Bullen. Heute Nacht waren die Polizisten überall in der Stadt auf Streife.

«Wie viel kostet die Medizin, Sir?»

«Hä?», sagte der Paddy und zog den Finger aus dem Auge. Isadore hätte schwören können, dass die Kuppe von einer wachsartigen Substanz bedeckt war. «Ungefähr einen Dollar, würde ich meinen.»

Das war ein Trick. Wenn Isadore einen Schein zückte, wäre der Mann wieder misstrauisch.

«Würden Sie eine bescheidene Spende für Ihren Augen-Fonds akzeptieren?» Isadore griff in seine Tasche und kramte hinter den aufgerollten Scheinen nach Kleingeld. «Hier sind zweiundsiebzig Cent. Mehr habe ich nicht.»

Der Wachmann brummte gereizt, nahm das Geld aber an. «Na komm. Ich begleite dich nach Hause.»

«Ich kenne den Weg. Sie setzen besser Ihren Rundgang fort.»

«Sei nicht albern. Ist eine gefährliche Nacht. Du wohnst also in diesem Block?» Er verstummte kurz. «Oder in der Gasse?»

Die Männer starrten einander eine Weile an.

«In der Gasse.»

Der Paddy bedeutete Isadore mit einer großmütigen Geste, er solle vorangehen.

Die Gasse, gesäumt von den Lieferanteneingängen der Villen, lag voller Müll: ein demolierter Spülkasten, ein Kinderwagengestell, eine geborstene Palette mit dem Aufdruck RIZZO’SGROC. Isadore sah seine eigene Leiche mit dem Gesicht nach unten in der Gasse liegen, noch ein weggeworfenes, kaputtes Ding. Die Tür der Tiltons war die vierte, etwa zwanzig Schritte entfernt. Isadore umklammerte den Griff des Revolvers. Im Mondschein schienen die Abwasserpfützen, über denen Moskitos schwärmten, grünlich zu glühen. Eine Ratte beäugte ihn aus einem Nest von Hühnerknochen und rieb ihre Pfoten wie ein Weinsäufer die Hände vor einem Feuer. Würden die Ratten seinen Körper früher finden als Orly, falls ihn der Wachmann niederschlüge? Der Paddy ging so dicht hinter ihm, dass er den Gin im Stoppelbart riechen konnte. Er hörte das feuchte Ausatmen des Mannes. Isadore wirbelte herum, ohne groß nachzudenken, und stieß ihm den Revolverlauf in sein triefendes Auge. Ein lautes Ploppen, dann ging der Mann zu Boden. Er regte sich nicht mehr. Die Panik elektrisierte Isadore. Sie sagte ihm: Lauf.

Keinen Herzschlag später stand er vor der kleinen Hintertür zur Villa der Tiltons. Er warf einen Blick über die Schulter – der Wachmann lag noch reglos auf dem Rücken – und riss die Tür auf. Seine verblüffte Frau stand ihm gegenüber. Sie trug einen dicken braunen Bademantel aus Musselin, den sie auf Taillenhöhe mit einer Kordel geschlossen hatte.

«Izzy!»

«Nicht reden.» Er schloss die Tür hinter sich. «Kann man die abschließen?»

«Nein, kann man nicht», flüsterte sie. «Was tust du denn hier?»

Mitten in dem winzigen Raum stand eine Kupferlaterne auf einem Puppentisch, der mit einem grünen Öltuch bedeckt war. Die Laterne warf die wogenden Wellen eines schwarzen Ozeans auf die Wände.

«Mach die Laterne aus», sagte er.

«Warum flüstern wir?»

«Ich wollte dich überraschen. Ein Wachmann hat mich entdeckt und wurde misstrauisch.»

«Mr. Boyle. Wo ist er?»

Isadore löschte die Laterne, kehrte zur Tür zurück und horchte auf Geräusche. Er hörte nur seinen eigenen flachen Atem. Dann ließ er den Blick zum ersten Mal durch Orlys mondhelles Zimmer schweifen – er hatte sie oft bis zur Tür begleitet, aber nie gewagt einzutreten. Das Zimmer war kaum höher als zwei Meter. Vor einer Wand stand ein schmales Bett, das Bettzeug war zerwühlt. Ein winziger ovaler, brauner Läufer bedeckte den übrigen Fußboden. Das Zimmer war winzig, aber blitzsauber. Ganz hinten, zwischen Puppentisch und Bett, befand sich die Verbindungstür zum Wohnbereich der Tiltons. Der Anblick des rissigen Drucks, den Orly über ihrer Matratze aufgehängt hatte – Sankt Petrus Claver mit Papageien auf den Schultern und einem Säugling in den Armen –, berührte ihn.

«Hier sind wir sicher», sagte Isadore schließlich. Selbst wenn dieser Boyle wieder zu Bewusstsein käme, wüsste er nicht, wohin Isadore verschwunden war. Er würde wohl annehmen, Isadore sei durch die Gasse geflohen.

«Warum bist du hier?»

«Um dich zu besuchen.»

Orly sah ihn eindringlich an.

«Ich war aufgeregt nach dem Auftritt. Lief echt gut heute. Wir kamen so richtig in Schwung. Das Blut in unseren Adern fing plötzlich an zu kochen.»

Orly schlug ihn auf den Mund.

«Wie blöd bist du eigentlich?» Sie zügelte sich, um nicht laut zu werden, und wiederholte leise: «Wie blöd bist du eigentlich?»

Isadore rieb seinen Mund. Eine Welle der Erschöpfung schlug über ihm zusammen. Er lehnte sich gegen den Tisch.

«Du wärst fast draufgegangen.» Das sagte sie ganz sachlich. Ihre braunen Augen – sonst so offen, warmherzig, verführerisch – verengten sich zu Schlitzen. «Mr. Boyle ist ein Monstrum.»

«Ach, komm schon.»

Sie zeigte hinter sich, vermutlich auf das Zimmer, in dem die zwei Kinder der Tiltons schliefen. «Weißt du nicht, wie rasch ich gefeuert werden kann?» Er merkte, dass sie zitterte, obwohl sie wütend war. Sie zitterte sonst nie. Sie ließ sich aufs Bett sacken. «Ich liebe dich, Izzy, aber du bringst Unheil mit nach Hause.»

«Der Wachmann weiß nicht, dass ich hier bin.»

«Vergiss Boyle. Man findet rasch eine andere, die Kinderpopos wäscht. Wenn die Tiltons argwöhnen, ich hätte Männerbesuch, selbst wenn es mein Ehemann wäre …»

Er seufzte. Seit einiger Zeit betonte sie dieses Wort jedes Mal. Schwer zu sagen, ob sie das bewusst tat oder nicht, aber es schwang der Vorwurf darin mit, dass er seine Pflichten als Ehemann vernachlässigte, nicht genug Geld zur Unterstützung der Familie mit nach Hause brachte. «War eine lange Nacht im Savocca’s», sagte er, «und auf den Straßen ist die Hölle los …»

Sie warf ihm einen verkniffenen, bohrenden Blick zu. «Du warst in der Spelunke von Joe Savocca?»

«… weil dieser Straßenräuber sein Unwesen treibt, aber der beunruhigt mich weniger als die Bullen. Heute Nacht sind sie zahlreicher als Termiten ausgeschwärmt, um sich jeden schwarzen Hurensohn vorzuknöpfen, den sie auf der Straße aufstöbern.»

«Heute Morgen hast du vom Ferrantelli’s gesprochen …»

«Savocca’s. Mensch, du hättest Sore Dick sehen sollen …»

Sie ließ ihn reden, bis er außer Puste war. Sie hatte sich darauf gefreut, ihn mal richtig anzuschnauzen, aber das musste nicht gleich sein. Er schien es ihr jedoch nicht leicht machen zu wollen. Er rief sich halbherzig in Erinnerung, dass er nichts Falsches getan hatte. Jedenfalls nicht, was Orly anging. Er gab sich immerhin wegen ihr mit Bailey ab. Nur durfte er das leider nicht erzählen.

Sie nickte geduldig, langmütig – wenn die Kinder der Tiltons Ausflüchte für irgendwelchen Mist, den sie verzapft hatten, vorbrachten, nickte sie sicher auch so. «Du hast im Savocca’s gespielt», sagte sie verständnisvoll.

«Ja, wie gesagt.»

«Und wo ist dein Horn?»

«Lustig, das hat der Paddy auch gefragt.»

«Was ist das?» Sie schnupperte – etwas melodramatisch, wie Isadore fand. «Du stinkst nach Gosse.»

Nein, nicht nach Gosse, aber sie war nahe dran. Es war Angst – Angst roch ähnlich wie Schweiß, nur schärfer, wie ein Giftpilz.

Sie schüttelte den Kopf. «Verschwinde.»

«Was?»

«Verzieh dich ans andere Ende der Gasse.»

«Und der Wachmann?»

«Entweder bewusstlos oder hinüber, das hast du doch selbst gesagt.» Sie rieb zerstreut ihren Bauch. Auch eine neue Angewohnheit. Es sah aus, als wäre sie die ganze Zeit hungrig. «Dieser Job sorgt für unser einziges regelmäßiges Einkommen.»

«Dick hat sich bereiterklärt, mein Horn aufzubewahren. Er wohnt gegenüber vom Savocca’s. Das Kornett ist bei Dick.»

Sie schwieg eine Weile und versuchte, seine Miene zu deuten. «Na schön», sagte sie schließlich etwas milder. Sie erhob sich vom Bett. «Gib mir deine Jacke.»

«Danke, Baby.» Er zog die Jacke aus und reichte sie ihr. Er knöpfte das Hemd auf. Er war so richtig alle. Hätte im Stehen pennen können, gegen die Wand gelehnt. Wenn er bedachte, wie klein ihr Bett war, würde ihm wohl auch nichts anderes übrigbleiben. «Heute Abend haben wir saugut gespielt, ehrlich. Wir waren so richtig in Form. Wir sind in die Vollen gegangen. Donner und Blitz. Ein Tornado. Und weißt du was? Die Leute kapieren es langsam.»

Als er aufblickte, hielt sie das Geldbündel. Sie hatte die Jacke aufs Bett geworfen. Die Taschen waren umgekrempelt.

«Wenn du elf Dollar Trinkgeld kassiert hast, muss es ein wahrer Orkan gewesen sein.»

«Orly.»

«Ich weiß, dass du besser spielst als jeder andere in dieser Stadt. Aber elf Dollar?»

«Wir haben es richtig krachen lassen.»

«Du bringst irgendein Unheil mit nach Hause. Mit zu uns.»

«Baby …»

Sie wies auf die Tür.

«Und wohin?»

«Zu meiner Mutter. Oder wohin auch immer. Ich bin müde.»

Er fragte sich, was sie täte, wenn er sich einfach auf den Boden fallen ließe und schnarchte. Sie würde ihm vermutlich Kopfnüsse verpassen, bis er aufwachte.

Sie stopfte das Geldbündel wieder in die Tasche und hielt ihm die Jacke hin, als wäre sie ein Müllsack mit einer toten Ratte darin. Er wollte sich in ihre Arme sinken lassen, aber sie wich aus und ließ die Jacke auf seine Schulter fallen. Er bückte sich, um ihr einen Kuss zu geben, doch sie riss den Kopf zurück. Ihre Augen waren feucht.

«Ich nehme an, du hast dich nicht nach dem Kanal erkundigt?», fragte sie, indem sie den Blick von ihm abwandte.

Er erstarrte. Er wusste nicht, was sie meinte.

«Ich habe dich etwas gefragt.»

«Welchen Kanal meinst du?»

«Die Erdarbeiten, Izzy.»

Richtig. Vor einigen Tagen hatte sie ihm eine Anzeige aus der Times-Picayune der Tiltons ausgeschnitten. Man suchte Männer für ein großes Bauprojekt am Ostrand der Stadt. Man hob ein Flussbett aus, das den Mississippi im schmalsten Abschnitt der Stadt, dem Ninth Ward, mit dem See verbinden sollte. Das versprach, eine schmutzige Schufterei zu werden. Er war zu niedergeschlagen, um weiter zu lügen.

«Ich habe mich noch nicht erkundigt. Mache ich aber noch. Versprochen.»

Orly ging an ihm vorbei zur Tür. Sie legte die Hand auf den Knauf – und zögerte. Mit der Rasanz eines Vogels, der von Ast zu Ast hüpft, lüpfte sie das Tuch vor dem kleinen, blauen Sprossenfenster und ließ es sofort wieder fallen. Sie hielt sich den Mund zu, um nicht zu schreien.

Isadore ging zu ihr und hob langsam das Tuch. Draußen vor der Tür, einen guten Meter entfernt, stand der Fettklops. Ein Auge war zugeschwollen. Er neigte den Kopf zur Seite und horchte.

«Ich bringe ihn um», sagte Isadore halblaut.

Sie presste ihm eine Hand auf den Mund.

Sie betrachteten durch das zerschlissene Tuch die Silhouette der Melone des Mannes, ein Hügel, dunkler als die stockdunkle Nacht. Hatte Boyle sie gehört? In Isadore breitete sich die Angst aus wie Schimmel.

«Die Kinder erwachen frühestens um sieben», flüsterte Orly. «Der Wagen von Rizzo, dem Lebensmittelhändler, kommt um sechs. Ich kenne den Fahrer, Reginald.»

«Woher?»

«Pst.»

«Woher kennst du den Fahrer Reginald?»

«Er liefert täglich um sechs die Lebensmittel.» Sie saugte Luft durch die Zähne. «Er lässt dich hinten auf den Lieferwagen steigen und versteckt dich hinter ein paar Säcken Reis oder so. Der Laden liegt zwischen der Danneel und der Terpsichore Street. Von dort kannst du unbehelligt heimkehren.»

Sie entfernte sich auf Zehenspitzen vom Fenster. Er hörte die Federn des Bettes unter ihrem Gewicht knarren. Er zählte bis fünfzehn, dann schaute er wieder hinaus. Boyle war weg. Die Melone des Paddys tanzte durch die Gasse zur Carondelet Street.

Orly drehte sich zur Wand um, und Isadore zog den Revolver aus dem Hosenbund, um ihn in die Jacke zu stopfen. Das war nicht gerade ein Daunenkissen, aber es würde reichen, und falls Boyle wiederkäme, musste er die Waffe rasch zur Hand haben. Der Fußboden war hart, aber tausendmal besser als das langsam auseinanderfallende Bett im Zimmer in der Liberty Street, das er sich mit Orly und ihrer Mutter teilte.

«Orly», sagte er, «ich werde es tun.»

«Er hat uns nicht gehört.»

«Ich meine nicht den Wachmann. Ich meine das Slim Izzy Quartet.»

«Ich weiß, Liebling», sagte sie nach einer Weile. «Ich weiß, dass du das tun wirst.»

«Wir haben es fast geschafft. Das Savocca’s brummt. Letzte Woche war Kid Ory da. George Baquet kommt zwischen seinen Gigs im Funky Butt. Außerdem die Leute, die Shows buchen wollen – aus dem Country Club und der Jackson Hall. Sogar der Conférencier aus dem Butt, der Nachschub für die Bühne sucht. Sie müssen mich nur hören.» Es überraschte ihn selbst, wie energisch er klang. Und nach Orlys Schweigen zu urteilen, war auch sie überrascht. Doch er hatte den starken Drang, sein Können unter Beweis zu stellen. Trotz Orlys Lob glaubte er, auch sie noch nicht ganz überzeugt zu haben. Er trug das Geheimnis seiner Genialität mit sich herum wie Bauchschmerzen. Wenn er spielte, fühlte er sich erleichtert, aber die Erleichterung ging nie tief genug, und es gab zu vieles, was ihn von der Musik trennte: Geldsorgen, seine Hautfarbe, die abwehrende Reaktion der Menschen auf originelle Klänge.

«Warum liegst du auf dem Fußboden?», fragte Orly.

«Wenn ich vor der Tür liege, kann sich Mr. Boyle keinen Zutritt verschaffen.»

Sie holte zischend Luft. Die Bettfedern knarrten. Isadore konnte im Dunkeln sehen, dass Orly ihren Bauch rieb.

«Es tut mir leid», sagte er. «Verzeih mir, Orly.» Er hatte das ploppende Geräusch von Boyles Augenhöhle im Ohr.

«Das muss dir nicht leidtun», sagte Orly leise. «Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe.»

«Ich helfe beim Ausheben des Kanals. Und ich organisiere mir ein paar große Auftritte.»

«Hm.»

«Ich liege hier auf dem Boden und flehe dich an, Frau.»

«Du lügst wie gedruckt.»

«Ich flehe um deine Barmherzigkeit.»

Sie lachte gedämpft. «Na gut, du harter Bursche.» Ihre Stimme war jetzt so leise, dass er die Ohren spitzen musste, um sie zu hören. «Und jetzt komm zu mir ins Bett.»

26. Mai 1918 – Heinemann Park

Dick Robertson, Ballabschlecker der Pelicans, nach den ersten sechs Spielen ungeschlagen, würde zeigen müssen, ob er seine makellose Bilanz auch im heutigen Spitzenspiel der Southern League gegen die Little Rock Travelers halten konnte. Wie man ein Spiel gegen die Pelicans gewann, wenn «Robby» warf – diese harte Nuss hatte bislang kein Rivale zu knacken vermocht. «Ein glücklicher Sieg», meinten die Mobile Bears am 21. April nach nur fünf Hits und keinem einzigen Run; «das Glück war auf seiner Seite», kommentierten die Birmingham Barons, deren neun Hits am 27. April erfolglos blieben und die fünf Tage später nicht viel besser spielten («heute Nachmittag war Fortuna ein treuloses Flittchen»). Von den Memphis Chicks, den Chattanooga Lookouts und den Nashville Vols kamen ähnliche Reaktionen, die mit jeder Verlautbarung jämmerlicher klangen. Robby war zurzeit Spitzenpitcher der Southern League und definitiv in Topform, der schmale Mann warf besser denn je – und das auch noch für einen Spottpreis, denn Prexy Heinemann hatte ihn im Vorfeld der Saison 1917 für schlappe fünfhundert Dollar von den Barons geholt. Das heutige Spiel könnte sich für Robby jedoch als der zäheste Brocken erweisen, denn Kid Elberfelds Travelers würden mit Ham Hyatt, Bob Fisher und Dutch Distel antreten: Schlagmänner, die sich vom Experten für bombige Würfe nicht so schnell ins Bockshorn jagen ließen.

Und welch ein herrlicher Tag für das Spiel – knallblauer Himmel, strahlende Sonne, eine milde Brise vom Mississippi –, so herrlich, dass sogar der unter der Tribüne hervorkommende Detective Bill Bastrop vorübergehend seine Sorgen vergaß. Der Anblick des weiten Rasens im Heinemann Park weckte die Aufregung seiner Jugendzeit. Die Pelicans, den Davidstern mit dem Baseball auf der linken Brust ihrer cremefarbenen Trikots, hatten sich auf dem Outfield verteilt und wärmten sich in aller Ruhe auf. Dick Robertson, ohne Mütze, die Flanelljacke locker auf den Schultern, plauderte vor der Tribüne an der Third Base mit ein paar Frauen. Die Farben leuchteten, die vom Sturm durchgepustete Luft war frisch. Die Hitze nahm zu, der Himmel war klar – keine Verstecke.

Das beruhigte Bill, der allmählich argwöhnte, dass sich die Dinge vor ihm verbargen. Sonderbare Dinge, direkt vor seiner Nase versteckt und am Rand des Sichtfelds auftauchend. Als er die Augen zusammenkniff, um die St. Louis Cathedral zu betrachten, verwandelte sie sich in den Glockenturm von Ypern; der Geist von Leonard Perl aus dem 69. Regiment glotzte ihn einäugig aus einer vorbeifahrenden Straßenbahn an; auf dem Lafayette Square lief ein schwarzer Köter auf den Hinterbeinen, als wollte er die Menschen veralbern, jedenfalls bis Bill ihn direkt ins Visier nahm. Einen ebensolchen Hund mit weißer, platter Schnauze hatte er gegen Ende seiner Dienstzeit durch den Wald von Purroy trotten sehen, damals aber angenommen, er sei ein Produkt seines kriegsbedingten Deliriums. Nun war er sich dessen nicht mehr sicher.

An einem so lichten, klaren Tag konnten ihm die Augen hier, im Heinemann Park, keine Streiche spielen. Bill war erleichtert, als er Maisie erspähte, jedenfalls ihren breiten, gelben Strohhut mit einer lila Iris auf der Krempe. Sie saß hinter der Trainerbank der Pelicans allein am Rand einer Sitzreihe, die für Soldaten und deren Gäste reserviert war. Vielleicht lag es an seiner Erschöpfung – gewiss tat es das –, aber beim Anblick des großen, breiten Hutes auf dem zarten Köpfchen war ihm nach Heulen zumute. Ein Wunder, dass diese unschuldige Frau überhaupt aus dem Bett kam, denn sie barst förmlich vor Widersprüchen und Rätseln. Als er schließlich hinter ihr stand, zog er ihren Hut vom Kopf, was sie erschrocken herumfahren ließ. Er lachte und gab ihr den Hut zurück.

«Billy.» Sie runzelte die Stirn. «Du hast mir Haare ausgerissen.» Sie strich ihre schütteren braunen Haare mit delikater und gezierter, fast komischer Geste hinter ihre weißen, wie Muschelschalen leuchtenden Ohren und setzte den Hut wieder auf. «Ich habe schon genug Probleme.»

Als sie ihm kurz nach seiner Heimkehr die Haufen gezeigt hatte, die wie verdorrte Grasbüschel auf ihrem Kopfkissen lagen, hatte er versucht, sie zu beruhigen. Haare fielen aus; das war ganz natürlich. Die auf dem Kissen zurückbleibenden Büschel wurden jedoch immer dichter. Sie hatte alle Kopfhauttonika ausprobiert, die in den Zeitungsspalten angepriesen wurden: Knowlton’s Danderine, Honic’s Baldpate Tonic, Frenchy’s Follicle Cure. Ihre Hüte wurden derweil immer größer und breiter, sodass er sich irgendwann zur Seite neigen musste, wenn er neben ihr saß. Sie glaubte, die Angst sorge für den Haarausfall – zuerst die Angst, keinen Job zu finden, danach die Angst, in der Kanzlei Dufour & Jancier von ihrem Boss zusammengeschissen zu werden, weil sie Restaurantquittungen falsch abgelegt hatte. Denkbar, dass der Haarausfall an ihrer Angst lag – die dunkle Ränder unter ihre Augen tuschte und sie abmagern ließ, bis sich die Rippen abzeichneten –, nur war es nicht ihre Angst. Sondern seine.

Bill hatte mal eine Geschichte über einen Mann gelesen, der äußerlich unverändert blieb, obwohl er seinen Körper durch Schnaps, Drogen und verbotenen Sex schändete. Ein Porträt des Mannes, auf dem Dachboden versteckt, enthüllte jedoch den Preis seiner Ausschweifungen, es zeigte ihn aufgedunsen, altersfleckig, verfallen. Bill fragte sich, ob sich seine Ehe auf ähnliche Art verwandelte. Er hatte sich äußerlich kaum verändert, seit er zur Grundausbildung aufgebrochen war. Bei seiner Rückkehr aus Europa war er «ganz der alte Billy Bastrop» gewesen – das hatten jedenfalls alle behauptet. Maze dagegen hatte sich stark verändert, und nach ihrem Wiedersehen hatte sich das weiter beschleunigt. Nicht dass sie verfallen würde, aber sie hatte eine ebenso langsame wie unmerkliche Veränderung durchmachen müssen. Fast so, als würde sie durch seine Albträume vergiftet. Er hatte ihr nicht in allen Details geschildert, was sich im Wald von Purroy zugetragen hatte – das hätte sie nicht erfassen können –, aber Frauen hatten ein intuitives Gespür für das Böse. Wenn sie erführe, was heute Morgen bei der Louisiana Demolishing Company passiert war, würde sie sich noch rasanter verändern.

«Einfach herrlich», sagte sie.

«Das Feld ist unglaublich grün.»

«Du kannst so laut schreien, wie du willst, und niemanden juckt es.»

«Du kannst so still sein, wie du willst, und keiner guckt dich komisch an.»

«Du hast nicht geschlafen», sagte sie, denn sie bemerkte seine zerknitterte Uniform und den getrockneten Matsch unten auf den Hosenbeinen. Seine blutunterlaufenen Augen. «Schon wieder.»

«Woran siehst du das?»

«Du bist so bleich wie der Sand.»

Er folgte ihrem Blick, der auf die gut gepflegte Raute mit den sauber geharkten Pfaden gerichtet war. Diese waren von einer speziellen Farbe, einem gräulichen Weiß. Genau genommen war es kein Sand, sondern Schlick, der bei Point Manchac, ungefähr hundert Meilen flussaufwärts, von Jahncke Service, Inc., Sponsor von Heinemann Park, aus dem Mississippi geholt worden war. JAHNCKE verkündete ein Banner, das links vom Spielfeld am Zaun hing, mit knallroten Lettern auf schwarzem Grund. WIRMACHENUNSDIEHÄNDESCHMUTZIG, DAMITESIHNENERSPARTBLEIBT.

«Ich wollte eigentlich vor dem Spiel zu Hause sein. Aber das hat dann doch nicht geklappt.»

«Ich werde wohl nie begreifen, warum du nachts arbeiten musst.»

«Hast du Zeitung gelesen?»

«Den States. ‹Briten versenken U-Boot›. ‹Wilson tritt für Rotes Kreuz ein›. ‹Bau des Industrial Canal – Triumph des Südens, soll fortgesetzt werden›.»

Ein junges Mädchen kreischte, als ein Ball ein paar Reihen weiter auf die Tribüne flog. Zwei Jungs flitzten durch den Gang, um vor dem Vater des Mädchens an den Ball zu kommen.

«Ein Polizist wurde erschossen», sagte Bill.

«Was?» Maze bekam große Augen. Sie waren noch immer prachtvoll: haselnussbraun, klar und durch flatternde, lange Wimpern geschützt.

«Teddy Obitz.»

Einer der Jungs, der unter einen Sitz gekrochen war, um sich den Ball zu schnappen, kam triumphierend zum Vorschein und tanzte durch den Gang.

«Der Mann, der dich ausgebildet hat? Der fesche, blonde Kerl?»

«Er wurde Big Blond genannt.»

Maze erschauderte sichtlich.

«Er hat eine Frau und zwei Töchter», hörte Bill sich sagen. Der Junge warf den Ball zu einem Fielder der Pelicans und jubelte vor Freude. «Es war der schwarze Straßenräuber.»

Maze hörte nicht mehr zu. Sie wand sich nun vor Wut. «Quittier endlich den Dienst, ja?»

«Du hast recht. Wir müssen nicht darüber reden.»

«Nein – du musst die Abteilung verlassen.»

«Maze.»

«Ich ertrage das nicht. Ich hätte nie gedacht, dass ich den Krieg überstehe, aber das hier – dies ist ein endloser Krieg, einer, der ewig währt.»

«Ich habe den Krieg doch gewonnen.»

«Was soll das nun wieder heißen?»

«Ich habe den Straßenräuber erschossen.» Bill hoffte, dass sein Lachen in ihren Ohren nach heiterem Heldentum klang.

Er ließ den Blick über das Spielfeld schweifen und musterte die Spieler. Sie warfen Bälle, rissen Witze, lagen im Gras und machten Dehnübungen. Ja, dank ihm – und den anderen Polizisten – konnten diese Männer im Sonnenschein dieses kindische Spiel austragen, konnten sich Tausende behäbiger Bürger an einem Sonntagnachmittag versammeln, ohne dass ihnen Gefahr drohte, und ihre Sorge auf die Frage beschränken, wie es um die Konsistenz von Dick Robertsons Spucke bestellt war. Bill schaute Maze prüfend an, vielleicht war ihr anzusehen, wie seine Bravour auf sie wirkte. Sie hatte einen Mundwinkel tief nach unten gezogen.

«Was denn?»

«Du hast einen Menschen getötet?»

«Nicht irgendeinen Menschen. Einen Mörder.»

«Mörder sind auch Menschen.» Sie schüttelte den Kopf. «Mein Gott. Du bist sicher schrecklich aufgewühlt.»

«Nein, eigentlich nicht.»

Sie sah ihn eine Weile stumm an. «Und wieso nicht?»

Irgendjemand beugte sich vor und tippte auf den Rand von Bills Mütze. Als er sich umdrehte, erblickte er das verschwitzte, grinsende Gesicht von Captain Thomas Capo.

«Billy Bastrop.» Capo war glattrasiert, und als er die Mütze abnahm, enthüllte er schwarze, pomadenglänzende Haare. Er hatte vormittags kurz nach Hause gehen können, während Bill noch im Verhörraum gewesen war. Nach einem belastenden Besuch bei Obitz’ Witwe, Eloise, hatte Bill bei der Befragung von etwa vierundzwanzig potenziellen Zeugen geholfen – jede Person, die sie zwischen drei und sechs Uhr früh in Irish Channel draußen hatten auftreiben können. Nur zwei waren bereit, den Toten als denjenigen zu identifizieren, der Obitz erschossen hatte und danach auf das Gelände der Louisiana Demolishing Company geflohen war. Der erste war ein kleiner Ganove, gegen den mehrere Haftbefehle vorlagen. Der zweite war ein Spanier ohne Papiere. Bill klärte die Sache mit den Haftbefehlen und schrieb einem Freund bei der Einwanderungsbehörde. Die Zeugenaussagen, die lediglich eine Bestätigung darstellten, wären ohne die Aussage von Obitz’ Partner allerdings wertlos gewesen.

Harry Dodson, der vierzehn Jahre Erfahrung im Polizeidienst hatte, war klar, dass er umgehend eine schlüssige Aussage machen musste. Nicht nur wegen Bill – dem er nichts schuldig war –, sondern wegen der Abteilung, der leicht in Panik geratenden Öffentlichkeit, Captain Capo und Superintendent Mooney, vor allem aber wegen Obitz’ Witwe und der jungen Töchter. Nachdem Dodson und Bill die Familie Obitz informiert hatten, bestand Teddies achtjährige Tochter Carrie darauf, sie durch den Kriegsgarten ihres Vaters zu führen, und zählte stolz die Namen der exotischen Gemüsesorten auf, die sie für Uncle Sam anbauten: Mangold, Haferwurzel, Kohlrabi. Das war von A bis Z verstörend und belastend. Nachdem sich Carrie eine quälende halbe Stunde über Düngemethoden und Eindosen ausgelassen hatte, ließ Dodson vorsichtig verlauten, er müsse wieder zur Wache. Carrie brach in Tränen aus. Eine grauenhafte Szene: Dodson stand in der Tür des Hauses seines ermordeten Partners; die schluchzende Carrie zerrte an seinen Beinen; die in Tränen aufgelöste Mrs. Obitz zerrte an Carries Beinen.

Wenn Dodson erklärte, der Mann, den Bill erschossen hatte, sei der Straßenräuber, und wenn sich Captain Capo damit zufriedengab, dann, so dachte Bill, konnte auch er zufrieden sein. Er stand auf, um seinen Boss zu begrüßen.

«Captain Cap.» Bill lächelte angespannt. «Kennen Sie meine Frau, Maisie Bastrop?»

Bill war erleichtert, denn Maze hatte eine Miene aufgesetzt, die höfliche Erwartung imitierte.

«Ihr Kriegshelden.» Capo schüttelte den Kopf. «Ihr zieht immer die bezauberndsten Frauen an.»

Bastrop bemerkte, dass der Captain nicht von den «schönsten» gesprochen hatte. Der Fall von schön zu bezaubernd war tief, und Maze hatte ihn in knapp sieben Monaten hinter sich gebracht. Sicher, bezaubernd konnte als liebenswert und verführerisch gelten. Bezaubernd war herrlich. Und doch etwas anderes.

Capo – stämmig, muskulös, mit berufsbedingten Falten links und rechts des Mundes und einem lila Leberfleck in der Größe eines Auges unter dem linken Auge – legte Bastrop eine Hand auf die Schulter.

«Dürfen wir kurz unter vier Augen reden?», fragte Bill.

Maze wirkte erleichtert, sich abwenden zu können. Sie schien dem Spielfeld ihre volle Aufmerksamkeit zu widmen, als wäre es kein banales, lahmes Fangspiel, sondern das neunte Inning bei Gleichstand, mit dem Läufer kurz vor dem Punktgewinn, zwei vom Platz gestellten Spielern, einem Full Count.

«Diese Teenager», sagte Capo, als er Bastrop durch den Gang bugsierte, «hatten Puddingbeine. Sie waren zum ersten Mal in einem Leichenschauhaus.»

«Sie haben sich also gut dirigieren lassen?»

«Sie mussten nicht dirigiert werden. Jedenfalls nicht mit Worten. Der Hunne – Bodemuller? Er meinte, er sei ‹so gut wie sicher›, dass der Schwarze auf dem Tisch derjenige sei, der ihn am Freitag ausgeraubt habe. Und der kleine Richard Bray meint: ‹Ja, sieht aus wie der Schwarze, aber wenn Sie meine professionelle Meinung hören wollen – die sehen alle gleich aus.›»

Capo entließ ein hohles Lachen. Die Anstrengung der letzten Tage war seinem Gesicht anzusehen – seine Wangen, schon immer wabbelig, schienen jetzt zu schmelzen.

«Ich will nicht undankbar sein», sagte Bill, «aber wie lange geht das noch?»

«Sie traben auf den Hügel, werfen den Ball, schütteln ein paar Hände. Anschließend können Sie nach Hause gehen.» Capo legte Bill wieder eine Hand auf die Schulter. «Superintendent Mooney richtet seinen Dank aus. Diese gehen aufs Haus.»

Capo schwenkte zwei Nickel zwischen Daumen und Zeigefinger. Sofort stand ein Junge neben ihm, der ihm für die Münzen zwei Becher Dixie-Bier reichte.

«Freut mich, der Truppe Ehre zu machen», sagte Bill.

«Ich meinte letzte Nacht.»

«Mooney war zufrieden?» Ohne Zeitungslektüre konnte man kaum sagen, was der Boss dachte. Wie man munkelte, plante er, für ein höheres Amt zu kandidieren; Bürgermeister Behrmann, nun in der vierten Amtszeit, alterte in Hundejahren. Im Vergleich mit Capo, der das Auftreten eines Karrierepolizisten hatte – lässige Autorität, schneidig, großmütig –, wirkte Mooney wie ein Schreibtischtäter. Im Grunde seines Herzens war er Politiker. Bevor er von Behrmann zum Superintendent ernannt worden war, hatte er in führender Position bei der Eisenbahn gearbeitet. Nicht ganz einfach, einem solchen Mann gerecht zu werden.

«Er war begeistert», sagte Cap. «Stellen Sie sich mal vor, dieser Schwarze hätte noch einen Tag länger sein Unwesen getrieben. Mooney hat mich gebeten, Ihnen persönlich zu danken.» Capos Hängebacken wabbelten. «Ein Held im Feld, und nun ein Held daheim. Das ist eine Ehre, Billy. Ja, verflucht, eine echte Ehre.»

Bill zwang sich, in Capos wässrige Augen zu schauen, als sie Hände schüttelten.

Zwei andere Polizistenfrauen hatten sich zu Maze gesellt. Bill erkannte in einer John Mestres Frau, laut und gedrungen, mit leuchtend karminrot geschminkten Lippen. Sie verfolgte Dick Robertson mit ihrem Blick. Der Pitcher zog die Jacke aus und begann, seinem Catcher an der Third-Base-Linie gemächlich Bälle zuzuwerfen.

«Wenn er doch bloß nicht ständig diesen dreckigen Baseball ablecken würde», sagte die andere Frau, deren Nasenspitze nach oben gebogen war, als hätte derjenige, der sie entworfen hatte, den Stift etwas zu lange angesetzt.

«Aber das macht er so zärtlich. So liebevoll.»

«Ruth!» Die Frauen schauten sich um, ob ihnen jemand zuhörte, und liefen rot an, als sie Capo und Bill am Ende der Reihe entdeckten, gefolgt von John Mestre und einem Mann, den Capo als Okie vorstellte. Capo hielt noch zwei Nickel hoch. Die Ehefrauen rückten weiter, um im Gang Platz zu machen, und Bill fiel auf, dass Maze von den anderen Frauen geschnitten wurde, die ihre Köpfe zusammensteckten und verschwörerisch lachten.

Die Pelicans joggten um das Spielfeld. Robertson hinkte zwanzig Meter hinterher, eskortiert von einem Balljungen. Der Junge reichte ihm einen kleinen Krug, aus dem er einen Schluck trank. Der Krug schien eine weiße Flüssigkeit zu enthalten, aber Bill wusste, dass er seinen Augen nicht trauen durfte. Mestre, der seinem Blick gefolgt war, dachte aber das Gleiche.

«Milch!», sagte er verblüfft. «Der scheißt sich noch die Hosen voll.» Mestre war im Februar zurückgekommen, nachdem er sich von einem Unfall erholt hatte, und wartete darauf, dass sich sein Hörvermögen regenerierte. «Man kann nicht zugleich laufen und Milch trinken.»

«Vermutlich irgendein Gebräu mit Kalk», meinte Okie. «Mit verjüngenden Vitaminen.»

«Da spricht ein wahrer Okie», sagte Capo. «Milch verdickt die Spucke. Alter Trick, wenn man Papierkugeln mit dem Blasrohr schießt.»

Okie kratzte sich am Ohr. «Vielleicht ist es beides.»

«Man kann nicht zugleich laufen und Milch trinken», sagte der schwerhörige Mestre. «Der wird furzen.»

«Sie stammen nicht aus Oklahoma?», sagte Bill, indem er sich an Okie wandte.

«Ich wurde in der Melpomene Street geboren, Block Nummer elfhundert.» Er schnaubte. «Captain Cap glaubt, dass er waschechten Grabenkämpfern ebenbürtig wäre, nur weil er mal vor zwanzig Jahren in Manila gedient hat. Waren Sie im Grabenkrieg?»

Bill nickte, eine unbestimmte Geste, die entweder bedeutete, dass er am Grabenkrieg teilgenommen hatte, oder ausdrückte, dass auch er Capos Mundwerk zu lose fand.

«Ich war in Cambrai.» Kämm-Brie.