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Rowohlt E-Book Theater Die Urenkel von Tschechows Figuren treffen aufeinander, und noch erbitterter als ihre Vorfahren streiten sie um den Kirschgarten, der eigentlich längst nicht mehr existiert. Die Familie Ranjewskaja ist in den USA zu Reichtum gekommen. Doch Anja, benannt nach ihrer Großmutter, fühlte schon immer die Sehnsucht nach der alten Heimat. Zusammen mit ihrem Bruder Gajew, einem eher unsentimentalen Militär, ist sie zurückgekehrt, um Lopachin den ehemaligen Familiensitz wieder abzukaufen und den Kirschgarten neu aufzuforsten. Denn tatsächlich: Der Nachfahre des Kaufmanns führt die Geschäfte weiter, allerdings mittlerweile mit besten Kontakten in das Mafiamilieu. Noch weitere alte Bekannte begegnen sich in diesem «Kirschgarten revisited», durch den möglicherweise sogar noch der Geist des alten Dieners Firs spukt. Trotz diverser Systemumbrüche gelten erstaunlich schnell wieder die alten Herrschaftsverhältnisse. Doch dann kommt es erneut zu einem sentimentalen Abschied und zu einem skrupellosen Sieg des schlitzohrigen Lopachin. Und der Kirschgarten bleibt abgeholzt.
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Seitenzahl: 83
Veröffentlichungsjahr: 2015
John von Düffel
Kirschgarten – Die Rückkehr
Ihr Verlagsname
Rowohlt E-Book Theater
Die Urenkel von Tschechows Figuren treffen aufeinander, und noch erbitterter als ihre Vorfahren streiten sie um den Kirschgarten, der eigentlich längst nicht mehr existiert. Die Familie Ranewskaja ist in den USA zu Reichtum gekommen. Doch Anja, benannt nach ihrer Großmutter, fühlte schon immer die Sehnsucht nach der alten Heimat. Zusammen mit ihrem Bruder Gajew, einem eher unsentimentalen Militär, ist sie zurückgekehrt, um Lopachin den ehemaligen Familiensitz wieder abzukaufen und den Kirschgarten neu aufzuforsten. Denn tatsächlich: Der Nachfahre des Kaufmanns führt die Geschäfte weiter, allerdings mittlerweile mit besten Kontakten in das Mafiamilieu. Noch weitere alte Bekannte begegnen sich in diesem «Kirschgarten revisited», durch den möglicherweise sogar noch der Geist des alten Dieners Firs spukt. Trotz diverser Systemumbrüche gelten erstaunlich schnell wieder die alten Herrschaftsverhältnisse. Doch dann kommt es erneut zu einem sentimentalen Abschied und zu einem skrupellosen Sieg des schlitzohrigen Lopachin. Und der Kirschgarten bleibt abgeholzt.
John von Düffel, geboren 1966 in Göttingen, arbeitet als Autor und Dramaturg und lehrt zudem an der Universität der Künste, Berlin. Er hat Romane, Essays, Übersetzungen und Bearbeitungen veröffentlicht. Für seinen Debütroman «Vom Wasser» (1998) wurde er u. a. ausgezeichnet mit dem Aspekte-Literaturpreis des ZDF, dem Ernst-Willner-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt sowie dem Mara-Cassens-Preis des Literaturhauses Hamburg. Für seinen Roman «Houwelandt» (2004) erhielt er den Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen. Zu seinen Stücken und Bearbeitungen zählen «Buddenbrooks» nach Thomas Mann (2005), «Traumjobs» (2009) und «Alle sechzehn Jahre im Sommer» (2012).
ANJA
GAJEW ihr Bruder
TROFIMOW ehemaliger Tierarzt, neu in der Politik
LOPACHIN eine Größe der Halbwelt
SASCHA seine «rechte Hand»
DUNJASCHA Saschas Freundin
OLEG der Glückspilz
Ort
Das einstige Gutshaus der Ranewskaja
Zeit
Anfang der 1990er
«Mama, der Kirschgarten ist verkauft, es gibt ihn nicht mehr, das ist die Wahrheit, aber weine nicht, weine nicht, Mama, komm, gehen wir weg von hier. Wir werden einen neuen Garten pflanzen, schöner noch als diesen, du wirst ihn wachsen sehen, und du wirst lächeln, Mama …»
Anjas Traum, aus Der Kirschgarten von Anton Tschechow, Ende III. Akt
Salon des einstigen Herrenhauses, baufällig, abgehängt und in Teilen als Büro genutzt. Es ist zwei Uhr nachts. Sascha und Dunjascha kommen vom Kirschblütenfest zurück, sie trägt eine Blütenkrone im Haar.
SASCHA
Jetzt hab dich nicht so, Dunjascha, immer hast du dich so!
DUNJASCHA
Lass mich! Lass uns zurück zum Fest.
SASCHA
Zum Fest! Damit sie dich weiter anstarren, mit solchen Augen!
DUNJASCHA
Na und? Ich bin die Königin, ich bin zum Anstarren da.
SASCHA
Aber nicht mit solchen Augen! Hey!
DUNJASCHA
Das ist der Neid. Ist doch schön.
SASCHA
Ich bring sie um.
DUNJASCHA
Du bist ja bloß eifersüchtig, weil ich gewählt wurde, unter Hunderten auserwählt. Ich bin eine Kirschblüte, guck!
SASCHA
Du bist blau.
DUNJASCHA
Königinnen sind nie blau, Königinnen haben einen Schwips!
SASCHA
Mann, Mann, Mann!
DUNJASCHA
Ich hab dir die Hälfte abgegeben, meine Freigetränke, alles, geteilt durch zwei! Ich sorge nämlich für meine Untertanen, du Fallobst! So und jetzt komm, sonst gibt’s nichts mehr. – Was war das?
SASCHA
Was?
DUNJASCHA
Da war was.
SASCHA
Soll’n gewesen sein?
DUNJASCHA
Lass uns abhauen, Sascha, hier spukt’s. (Flüstert) Firs …
SASCHA
Firs!
DUNJASCHA
Marianna sagt, er ist ihr erschienen!
SASCHA
Marianna sind hier auch drei Engel erschienen und der größte Teil vom lieben Gott. Erst hat sie den Malern das Terpentin weggesoffen, dann wollt sie mit ihrem Freier in eins von den Zimmern im Hinterhaus und fällt durch ’n Loch in ’n Dielen. Mann, Mann, Mann! So tief kann man sinken, dass man sich auf ’m Autostrich zu Fuß abschleppen lässt.
DUNJASCHA
Du denkst wirklich immer nur an das eine.
SASCHA
Aber mit dir, Dunjascha, nur mit dir.
DUNJASCHA
Das ist traurig.
SASCHA
Frauen können einfach nicht trinken. Ich versteh das nicht. Ein und derselbe Alkohol, aber Männer werden gemütlich, Frauen anstrengend. Warum ist das so?
DUNJASCHA
Ich geh jetzt. Ich will feiern!
SASCHA
Warte! (Geht zum Schreibtisch, öffnet ihn) Guck, was ich hier habe. Die eiserne Ration – oder wie der Kenner sagt: «Die Weisheit des Verwalters».
DUNJASCHA
Wie du’s hier jeden Tag aushältst in diesem Geisterhaus …
SASCHA
Trink, ist gut gegen Gespenster!
DUNJASCHA
Nee, dann weiß ich morgen nichts mehr, und ich will mich doch erinnern an diese Nacht.
SASCHA
Einen für den Weg.
DUNJASCHA
Du hast ja nicht mal Musik hier, das ist so traurig. Ach, Sascha.
SASCHA
Weinst du?
DUNJASCHA
Weiß ich doch nicht.
SASCHA
Frauen können nicht trinken, ich sag’s ja. Mann, Mann, Mann! Ein und derselbe Alkohol, aber wenn’s lustig wird, heulen sie los.
Er trinkt. Gajew kommt. Dunjascha erschrickt.
GAJEW
Knock, knock. Ist es gestattet?
SASCHA
Beachten Sie die Bürozeiten, irgendwo hängt ’n Schild.
GAJEW
Nur eine Frage.
SASCHA
Wir haben geschlossen.
GAJEW
Mit Verlaub, ich suche den Kirschgarten –
SASCHA
Gibt keinen Kirschgarten!
GAJEW
Aber das Gut – oder wie sagt man?
SASCHA
Sie meinen die Siedlung.
GAJEW
Aber das Haus hier – bin ich nicht richtig? – ist doch das Gutshaus?
SASCHA
Diese Ruine ist mein Büro, Gott sei’s geklagt.
DUNJASCHA
Jetzt lass doch. Lass uns gehen.
GAJEW
Dann sind Sie Lopachin?
SASCHA
Was?
GAJEW
Lopachin?
SASCHA
(zu Dunjascha) Er hält mich für Lopachin, he, he.
DUNJASCHA
Auch das noch.
SASCHA
(zu Gajew) Glauben Sie, Lopachin würde hier sitzen zu nachtschlafender Zeit? Er hat Besseres zu tun!
GAJEW
Und, wenn ich fragen darf, wer sind Sie?
SASCHA
Ich? Seine rechte Hand. Instandhaltung und Inkasso. Also hauptsächlich Inkasso.
Dunjascha seufzt schwer.
GAJEW
(zu ihr) Es friert Sie? Man sagt, es gibt Nachtfrost.
DUNJASCHA
Ich frier wegen ihm.
GAJEW
Es ist nicht gut, wenn die Kirschblüten Frost bekommen.
SASCHA
Wovon reden Sie eigentlich?
GAJEW
Meine Sprache ist ein wenig rostig, ich habe sie noch nie gesprochen, außer mit meiner Großmutter. Sie ist jetzt fünfunddreißig Jahre tot.
DUNJASCHA
Der Typ ist voll unheimlich, Sascha.
SASCHA
Sie sind wohl nicht von hier.
GAJEW
(zu Dunjascha) Ich wollte Ihnen keine Angst einjagen – sagt man einjagen?
SASCHA
Ich hab gefragt, ob Sie von hier sind!
GAJEW
Meine Familie, ja, meine Großmutter, Urgroßmutter, ich bin aus den Staaten.
SASCHA
Welchen Staaten?
GAJEW
Sagt man nicht Staaten?
SASCHA
Gibt viele Staaten.
DUNJASCHA
Er meint –
GAJEW
Man sagt doch Staaten? USA?
SASCHA
Sie sind aus Amerika?
GAJEW
Ja.
SASCHA
Warum nicht gleich so. Mann, Mann, Mann!
GAJEW
Dort bin ich um diese Zeit immer im Schießstand. Deswegen kann ich nicht schlafen.
SASCHA
Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Mister Vereinigte Staaten!
DUNJASCHA
Sascha …
SASCHA
Schnauze! – Passen Sie auf, ich mach Ihnen ’n Angebot. Sie sagen mir jetzt einen Satz, den ich Lopachin sage, und dann verduften Sie, verstanden? Ich habe hier nämlich gerade meine Privatsphäre.
DUNJASCHA
Sascha. Ich will tanzen!
SASCHA
Ich arbeite! – Also, Mister. Was wollen Sie? Wer ist Ihr Auftraggeber?
GAJEW
Ich reise mit meiner Schwester, Anja …
SASCHA
Ein Satz, hab ich gesagt.
GAJEW
Sie hat einen Traum, von Kindesbeinen.
SASCHA
Das ist doch kein Satz! Wenn ich das Lopachin sage, reißt er mir den Kopf ab!
GAJEW
Es geht um den Kirschgarten. Sie will ihn zurück.
SASCHA
Was?
GAJEW
Sie will den Kirschgarten zurück. Den unserer Großmutter selig.
SASCHA
Den Garten vom Haus hier oder …
GAJEW
Und das Land dahinter, bis zum Fluss. Dreitausend Morgen.
SASCHA
Dreitausend? Aber das ist ja – die komplette Siedlung!
GAJEW
Wir zahlen in Dollar.
SASCHA
Das … das wird aber verdammt teuer für einen Garten!
GAJEW
Sofern es Lopachin überhaupt gehört.
SASCHA
Was soll das heißen?
GAJEW
Die Eigentumsverhältnisse sind ungeklärt.
SASCHA
Von wegen.
GAJEW
Ein Bombeneinschlag ’43. Die Grundbücher, alles verbrannt.
SASCHA
Die Eigentumsverhältnisse sind geklärt. Und wenn nicht, klärt sie Lopachin!
GAJEW
Überlassen wir das den Anwälten.
SASCHA
Nee, Mister. Wissen Sie, was Lopachin aus Ihnen macht, Ihnen und Ihrer Großmutter? Wissen Sie was Borschtsch ist? Das macht er aus Ihnen, Borschtsch!
DUNJASCHA
Sascha. Mir ist langweilig.
SASCHA
Halt die Klappe.
DUNJASCHA
Du hast mir überhaupt nichts zu befehlen, ich bin hier die Königin!
Sascha schlägt sie kurzerhand, Dunjascha fliegt in eine Ecke, ihr Blütenkranz in eine andere.
SASCHA
’schuldigung, Mister, aber Frauen können einfach nicht saufen.
DUNJASCHA
Du bist ein Arschloch, Sascha, so ein Arschloch.
SASCHA
Wo waren wir? Ach ja! Sagen Sie Ihrer Großmutter einen schönen Gruß, aber: Vergessen Sie’s.
GAJEW
Schwester. Anja ist meine Schwester, aber sie heißt nach unserer Großmutter.
SASCHA
Lassen Sie ihn bloß mit Familiengeschichten in Ruhe, Lopachin hasst Familiengeschichten! – Dunjascha? He! Sag ihm, was Lopachin mit deiner Schwester gemacht hat!
DUNJASCHA
Du meinst das Baby?
SASCHA
Nein, die andere Sache.
DUNJASCHA
Ach so.
SASCHA
Jedenfalls: Mit Lopachin ist nicht gut Kirschen – he, he – nicht gut Kirschen essen. Und die Siedlung hier ist seine Haupteinnahmequelle seit der Katastrophe.
GAJEW
Welcher Katastrophe?
SASCHA
Perestroika. Also ich sag ihm kein Wort, Mister, bin ja nicht lebensmüde. Und wenn er mich fragt – hörst du, Dunjascha? – wenn Lopachin uns fragt: Dieses Gespräch hat nie stattgefunden. Ist das klar?
DUNJASCHA
(betastet ihr Gesicht) Wie seh ich aus? Scheiße! Sieht man was?
SASCHA
Ob das klar ist?!
DUNJASCHA
Ja, Mann.
Draußen hört man eine kleine Kapelle vorüberziehen, den letzten Rest vom Blütenfest. Einen Moment lang lauschen alle.
DUNJASCHA
Schade.
SASCHA
Was?
DUNJASCHA
Sie spielen den Auszug der Musikanten. Das Fest ist vorbei. Schad.
SASCHA
Du hast den Ernst der Lage nicht erfasst. Dieser Mann hier – weißt du, was er gesagt hat?!
DUNJASCHA
Ich dachte, wir wissen von nichts.
SASCHA
Ah, ja. Sie haben’s gehört, Mister, wir sind uns nie begegnet.
GAJEW
Keine Sorge. Meine Schwester ist die Geschäftsfrau, ich bin Offizier und hege keinerlei Absichten.
SASCHA
Gut, gut. Waffengattung?
GAJEW
General Infantry.
SASCHA
Panzergrenadier. Da haben wir ja richtig Glück, dass Frieden ist.
GAJEW
Wie man’s nimmt.
SASCHA
Also, auf Ehre: Wir kennen uns nicht.
Sie geben sich die Hände. Dunjascha lauscht …
DUNJASCHA
Jetzt sind sie weg. Und nächstes Jahr trägt eine andere den Kranz …
Lopachin kommt, sieht Gajew, scheint sich aber nicht für ihn zu interessieren und geht an ihm vorbei.
LOPACHIN